Verwaltungsgerichtshof
19.06.2024
Ra 2023/22/0001
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Zettl, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien (als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht) gegen das am 10. Oktober 2022 mündlich verkündete und mit 11. November 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien, VGW-151/073/6919/2022-13, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: L B, vertreten durch Mag. Hubert Wagner, LL.M., Rechtsanwalt in 1130 Wien, Wattmanngasse 8/6), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
1 Die Mitbeteiligte, eine Staatsangehörige der Vereinigten Staaten von Amerika, stellte am 8. April 2021 unter Berufung auf ihre Ehe mit dem österreichischen Staatsbürger PK einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).
2 Mit Bescheid vom 19. April 2022 wies der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde, Amtsrevisionswerber) diesen Antrag gestützt auf § 11 Abs. 1 Z 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 6 NAG ab, weil die Mitbeteiligte die sichtvermerkfreie Zeit im Schengenraum überschritten habe.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht Wien der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten statt, behob den angefochtenen Bescheid und erteilte der Mitbeteiligten einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ für die Dauer von zwölf Monaten. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
4 Das Verwaltungsgericht stellte - soweit für die vorliegende Revisionssache maßgeblich - fest, die Mitbeteiligte sei seit dem 11. Februar 2012 mit dem österreichischen Staatsbürger PK verheiratet. Sie habe im Zeitraum von 15. Jänner 2021 bis 15. April 2021 über ein Visum D verfügt und am 8. April 2021 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gestellt. In der Folge sei sie am 14. April 2021 aus dem Bundesgebiet ausgereist und habe sich zwischen dem 28. Mai 2021 und dem 27. Oktober 2021 sowie zwischen dem 28. Dezember 2021 und dem 3. März 2022 erneut im Bundesgebiet aufgehalten. In dieser Zeit habe sich PK auch nach dem Verfahrensstand erkundigt.
Die Mitbeteiligte und ihr Ehemann seien Musiker und bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen versichert. Deutschkenntnisse, ein Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Unterkunft und ausreichende finanzielle Mittel für den Aufenthalt der Mitbeteiligten seien nachgewiesen worden. Die Mitbeteiligte habe - so das Verwaltungsgericht - bei ihren Aufenthalten in Amerika im Haus ihrer Familie gewohnt. Ihre Großmutter leide an Lungenkrebs und sei in palliativer Pflege zuhause gewesen. Aus Angst, ihre Großmutter im Fall einer Covid-Infektion zu gefährden, sei die Mitbeteiligte nicht (aus dem Bundesgebiet) ausgereist.
5 Unter der Überschrift „Rechtlich folgt“ führte das Verwaltungsgericht (nach Wiedergabe der einschlägigen Rechtsvorschriften) wie folgt aus:
„Gegenständlich hat die Bf ihren Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels Familienangehöriger am 8.4.2021 rechtmäßig im Inland gestellt. Die Beschwerdeführerin hat zweifelsfrei die sichtvermerksfreie Zeit überschritten. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass sie bemüht war, im Verfahren sämtliche Unterlagen vorzulegen und sich auch nach dem Verfahrensstand erkundigt hat. Des Weiteren wohnte die Beschwerdeführerin in den USA im Haus ihrer Familie und war ihre Großmutter dort in palliativer Pflege. Wie die behandelnden Ärzte mitteilten, war jeder Kontakt zu ,Corona-positiven‘ Personen zu vermeiden. Die Beschwerdeführerin hatte Angst, ihre Großmutter zu gefährden, weshalb sie nicht ausreiste. Durch das strenge Testregime bestand die jederzeitige Wahrscheinlichkeit eines positiven Tests und hätte dies zu einer unmittelbaren Gefährdung der Großmutter führen können. Zudem ist anzumerken, dass die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin zunächst über sieben Monate gar nicht und dann schleppend bearbeitet hat. Die Beschwerdeführerin hätte daher im Falle ihrer Ausreise über einen nicht absehbaren Zeitraum von ihrem Ehemann, mit dem sie seit 2012 verheiratet ist, getrennt leben müssen, was ihr nicht zumutbar gewesen wäre, zumal sie mit diesem auch zusammen arbeitet.“
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision der belangten Behörde.
7 Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie beantragt, die Revision zurück- bzw. abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß Paragraph 12, Absatz eins, Ziffer 2, VwGG gebildeten Senat - erwogen:
8 In der Zulässigkeitsbegründung der Revision wird zusammengefasst vorgebracht, die im angefochtenen Erkenntnis durchgeführte Abwägung nach Art. 8 EMRK stünde nicht mit den vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen in Einklang. Die Ausführungen zu § 11 Abs. 3 NAG in Verbindung mit Art. 8 EMRK seien äußerst knapp und nur allgemein gehalten. Das Verwaltungsgericht habe es unterlassen, nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen der Mitbeteiligten und ihres Ehepartners zu treffen und diese in seine Abwägung nach Art. 8 EMRK einzubeziehen. Dass die Mitbeteiligte bemüht gewesen sei, im Verfahren sämtliche Unterlagen vorzulegen und sich auch nach dem Verfahrensstand erkundigt habe, stelle - wie auch die Corona-Pandemie - keinen ausreichenden Grund dar, um bei einer Abwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG die Verpflichtung zur Ausreise aufzuwiegen. Zudem sei die Mitbeteiligte nach Antragstellung mehrmals ein- und ausgereist, weshalb eine Ausreise - entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichtes - auch möglich und zumutbar gewesen sei. Zudem sei die Mitbeteiligte nur über einen kurzen Zeitraum im Bundesgebiet aufhältig gewesen.
9 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und begründet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 17.9.2019, Ra 2019/22/0063, Rn. 10, mwN).
11 Lässt eine Entscheidung die notwendigen Begründungselemente in einer Weise vermissen, dass die Rechtsverfolgung durch die Partei im Wege einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts maßgeblich beeinträchtigt wird, dann führt ein solcher Begründungsmangel zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung schon aus diesem Grund (vgl. etwa VwGH 10.6.2021, Ra 2018/22/0189, Pkt. 6.4., mwN).
12 Das Verwaltungsgericht ist - wie bereits die belangte Behörde - in seiner rechtlichen Beurteilung erkennbar davon ausgegangen, es liege der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG (Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalts) vor.
13 Ausgehend davon wäre eine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG (vgl. diesbezüglich VwGH 22.9.2022, Ra 2022/22/0042, Rn. 11, mwN) und dabei unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Versagung des Aufenthaltstitels mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen unter Berücksichtigung der im § 11 Abs. 3 NAG näher angeführten Kriterien in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen gewesen (vgl. erneut VwGH 17.9.2019, Ra 2019/22/0063, nunmehr Rn. 13, mwN).
14 Das Verwaltungsgericht hat in seiner rechtlichen Beurteilung weder ausdrücklich auf § 11 Abs. 3 NAG Bezug genommen noch hat es in erkennbarer Weise alle in dieser Bestimmung näher angeführten Kriterien - wie den Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat oder die Art und Dauer des Aufenthalts (vgl. zu letzterem im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen zum Aufenthalt der Mitbeteiligten im Bundesgebiet etwa VwGH 21.1.2016, Ra 2015/22/0119, wonach einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt) - berücksichtigt. Der Amtsrevisionswerber verweist in diesem Zusammenhang auch zutreffend darauf, dass die vom Verwaltungsgericht ins Treffen geführten Umstände, die Mitbeteiligte sei bemüht gewesen, sämtliche Unterlagen vorzulegen, und sie habe Angst gehabt, ihre Großmutter in den USA zu gefährden, ein Überwiegen der privaten Interessen der Mitbeteiligten fallbezogen nicht zu tragen vermögen.
15 Wenn das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis festhält, es sei der Mitbeteiligten nicht zumutbar, von ihrem Ehemann getrennt zu leben, ist zwar auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach der Bindung eines Fremden zu einem österreichischen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zukommt. In einem solchen Fall müssen nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners sowie zur Möglichkeit der Führung eines Familienlebens außerhalb Österreichs getroffen werden (vgl. etwa VwGH 18.1.2023, Ra 2020/22/0269, Rn. 8, mwN).
16 Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht ungeachtet seiner eigenen Feststellungen betreffend die wiederholte Ein- und Ausreise der Mitbeteiligten, jedoch keine näheren Feststellungen zu den Lebensverhältnissen (wie etwa zu den Wohnverhältnissen; vgl. dazu VwGH 11.6.2014, 2012/22/0142, mwN) der Mitbeteiligten und ihres Ehepartners getroffen und es hat in seiner rechtlichen Beurteilung - abgesehen vom pauschalen Hinweis, es sei der Mitbeteiligten nicht zumutbar, von ihrem Ehemann getrennt zu leben - keine anderen - für das Überwiegen der privaten bzw. familiären Interessen der Mitbeteiligten sprechenden - Umstände in Anschlag gebracht.
17 Im Hinblick auf diese Begründungsmängel erweist sich die angefochtene Entscheidung als für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar.
18 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
19 Bei diesem Ergebnis hat die Mitbeteiligte gemäß § 47 Abs. 3 VwGG keinen Anspruch auf Aufwandersatz.
Wien, am 19. Juni 2024
ECLI:AT:VWGH:2024:RA2023220001.L00