Gericht

Verwaltungsgerichtshof

Entscheidungsdatum

05.02.2024

Geschäftszahl

Ra 2023/08/0081

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision der M A in W, vertreten durch Dr. Ingo Riß, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Gußhausstraße 14/7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Mai 2023, W141 2269992-1/4E, betreffend Widerruf und Berichtigung sowie Rückforderung von Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Laxenburger Straße),

Spruch

1. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen den Widerruf und die Berichtigung der Notstandshilfe richtet (Spruchpunkt A.1. des angefochtenen Erkenntnisses).

2. zu Recht erkannt:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben, soweit damit zu Unrecht bezogene Notstandshilfe von der Revisionswerberin zurückgefordert wird (Spruchpunkt A.2. des angefochtenen Erkenntnisses).

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1             Mit Bescheid vom 10. Februar 2022 sprach die zuständige regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) aus, dass der Bezug von Notstandshilfe der Revisionswerberin gemäß § 38 iVm § 24 Abs. 2 AlVG für die Zeiträume 1. Jänner bis 28. Februar 2022 sowie 27. September bis 31. Oktober 2022 „widerrufen bzw. die Bemessung rückwirkend berichtigt“ werde und die Revisionswerberin gemäß § 38 iVm § 25 Abs. 1 AlVG zur Rückzahlung der unberechtigt empfangenen Notstandshilfe in Höhe von insgesamt € 2.581,18 verpflichtet werde. Dies wurde damit begründet, dass die Revisionswerberin die Leistung in den Zeiträumen 1. bis 28. Februar 2022 sowie 27. bis 30. September 2022 zu Unrecht bezogen habe, weil sie gleichzeitig ein anrechenbares Einkommen (Kinderbetreuungsgeld) bezogen habe, das ihren Anspruch auf Notstandshilfe übersteige. Für die Zeiträume 1. bis 31. Jänner 2022 und 1. bis 31. Oktober 2022 habe sie Notstandshilfe in nicht gerechtfertigter Höhe bezogen, weil das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen gewesen sei.

2             Die Revisionswerberin erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde, in der sie sich gegen die Anrechenbarkeit des Kinderbetreuungsgelds wandte, aber auch vorbrachte, dass sie dem AMS immer alle Bezüge offengelegt habe und insofern kein Rückforderungstatbestand erfüllt sei. Sie beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

3             Das AMS erließ eine Beschwerdevorentscheidung vom 30. März 2023, mit der es den Ausgangsbescheid dahingehend abänderte, dass die Notstandshilfe für die Zeit von 1. bis 31. Jänner 2022 von € 33,35 täglich auf € 6,02 täglich sowie von 1. bis 31. Oktober 2022 von € 33,60 täglich auf € 12,60 täglich berichtigt und für die Zeit von 1. bis 28. Februar 2022 sowie von 27. bis 30. September 2022 gänzlich widerrufen werde. Die im Zeitraum 1. bis 28. Februar 2022 zu Unrecht bezogene Notstandshilfe in Höhe von € 1.795,78 wurde zurückgefordert. Hingegen erfolge keine Rückforderung der Notstandshilfe für die Zeiträume 27. September bis 31. Oktober 2022.

4             Die Revisionswerberin stellte einen Vorlageantrag.

5             Mit dem angefochtenen Erkenntnis bestätigte das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerdevorentscheidung und wiederholte in den Spruchpunkten A.1. (Widerruf und Berichtigung der Notstandshilfe), A.2. (Rückforderung der Notstandshilfe für den Zeitraum 1. bis 28. Februar 2022) und A.3. (ausdrückliche Abstandnahme von der Rückforderung für den Zeitraum 27. September bis 31. Oktober 2022) deren spruchgemäßen Inhalt.

6             Es stellte insbesondere fest, dass die Revisionswerberin im Formular für den Notstandshilfeantrag vom 29. November 2021 die Frage nach einem eigenen Einkommen mit „nein“ beantwortet habe. Handschriftlich sei „Kinderbetreuungsgeld“ vermerkt und ebenso wie die ursprüngliche Antwort „ja“ wieder ausgestrichen worden. Weiters sei handschriftlich „Wochengeld“ vermerkt worden. Auf S. 4 des Antragsformulars habe die Revisionswerberin mit ihrer Unterschrift zur Kenntnis genommen, dass jede Änderung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb einer Woche nach Eintritt des Ereignisses sowie alle Änderungen der auf diesem Formular gemachten Angaben unverzüglich dem AMS zu melden seien. Dem Antrag habe die Revisionswerberin die Bestätigung der Österreichischen Gesundheitskasse betreffend Wochengeld und betreffend den Antrag auf Kinderbetreuungsgeld beigefügt.

7             In der Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, die Revisionswerberin habe in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 21. März 2023 angegeben, dass sie am 29. November 2021 sämtliche Unterlagen vorgelegt und somit ihre Meldepflicht erfüllt hätte; sie hätte u.a. die Bestätigung über den Antrag auf Kinderbetreuungsgeld und auf Beihilfe zum Kinderbetreuungsgeld vorgelegt und ihrer Betreuerin mitgeteilt, dass der Kinderbetreuungsgeldbezug von 11. Dezember 2021 bis 16. September 2022 dauern würde. Daraus sei abzuleiten, dass die Revisionswerberin dem AMS zwar ihren bereits gestellten Antrag auf Kinderbetreuungsgeld gemeldet habe, nicht jedoch die Zuerkennung bzw. den tatsächlichen Bezug des Kinderbetreuungsgelds. Mit E-Mail vom 14. Dezember 2021 habe die Revisionswerberin ausschließlich die Mutterschaftsbestätigung übermittelt und auf das Ende des Wochengeldbezugs verwiesen. Den Bezug von Kinderbetreuungsgeld habe sie nicht erwähnt. Sie habe den tatsächlichen Bezug von Kinderbetreuungsgeld erst am 11. März 2022 gemeldet.

8             In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Bundesverwaltungsgericht - was den Widerruf bzw. die Berichtigung der Notstandshilfe betrifft - von der Anrechenbarkeit des Kinderbetreuungsgelds als eigenes Einkommen aus. Im Hinblick auf die Rückforderung des demnach zu Unrecht Empfangenen führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revisionswerberin durch das Unterlassen der Meldung des tatsächlichen Bezugs bzw. der Höhe des Kinderbetreuungsgelds ihre Meldepflicht nach § 50 Abs. 1 AlVG verletzt habe, weshalb die Rückforderung für den Zeitraum 1. bis 28. Februar 2022 auf § 25 Abs. 1 erster Satz AlVG gestützt werden könne. Sie habe die Meldung der Zuerkennung des Kinderbetreuungsgelds unterlassen, obwohl ihr die Verpflichtung dazu aus dem Antragsformular betreffend die Notstandshilfe bekannt gewesen sei. Hingegen komme es für den Zeitraum 27. September bis 31. Oktober 2022 zu keiner Rückforderung, weil die Revisionswerberin am 11. März 2022 ihre Meldepflichten erfüllt habe und das AMS in Kenntnis des bezogenen Kinderbetreuungsgelds gelangt sei.

9             Von der beantragten mündlichen Verhandlung habe gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG abgesehen werden können, weil der Sachverhalt hinreichend geklärt erscheine.

10           Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

11           Über die gegen dieses Erkenntnis - erkennbar mit Ausnahme des begünstigenden Spruchpunkts A.3. - erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem das AMS eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen:

12           Unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG macht die Revision geltend, dass es „noch keine oder eine anderslautende Rechtsprechung“ des Verwaltungsgerichtshofes zur Anrechenbarkeit des Kinderbetreuungsgelds auf die Notstandshilfe nach der Aufhebung der Notstandshilfeverordnung gebe. Insoweit ist die Rechtslage aber eindeutig (vgl. zu einem ähnlichen Revisionsvorbringen VwGH 26.7.2023, Ra 2023/08/0075).

13           Da in Bezug auf den Widerruf und die Berichtigung der Notstandshilfe darüber hinaus keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgezeigt wird, war die Revision insoweit gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

14           In Bezug auf die Rückforderung der zu Unrecht empfangenen Notstandshilfe macht die Revision unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung die Verletzung der Verhandlungspflicht geltend.

15           In diesem Umfang erweist sich die Revision aus dem genannten Grund als zulässig und berechtigt.

16           Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

17           Bei Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um „civil rights“ im Sinn des Art. 6 EMRK. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer - bei der Geltendmachung von „civil rights“ in der Regel auch von Amts wegen durchzuführenden - mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. zuletzt etwa VwGH 22.6.2023, Ra 2023/08/0060, mwN).

18           Die Revisionswerberin hatte in ihrer Beschwerde - wie auch schon in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem AMS - vorgebracht, dass sie das AMS über den Bezug des Kinderbetreuungsgelds vorab informiert und „alles offengelegt“ habe. Das Bundesverwaltungsgericht zitierte in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses zwar die Angaben der Revisionswerberin, wonach sie - zusätzlich zur Abgabe der Bestätigung über den Antrag auf Kinderbetreuungsgeld - ihre Betreuerin genau über die voraussichtliche Bezugsdauer informiert habe, es traf aber keine entsprechenden Feststellungen. Ob die Angaben der Revisionswerberin zutreffen, wäre in der von ihr beantragten mündlichen Verhandlung zu erheben gewesen. Ebenso wäre - auch durch Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von der Revisionswerberin - gegebenenfalls zu klären gewesen, ob ihr vor dem Hintergrund des geschilderten Sachverhalts die unterlassene Meldung des tatsächlichen Bezugs des Kinderbetreuungsgelds als (zumindest bedingt) vorsätzliche Verschweigung einer maßgebenden Tatsache, die gemäß § 25 Abs. 1 AlVG die Rückforderung der Notstandshilfe rechtfertigt, angelastet werden konnte (vgl. zum Kriterium der Vorsätzlichkeit etwa VwGH 19.2.2003, 2000/08/0126, 0127; 19.12.2007, 2004/08/0129). Zwar lag objektiv betrachtet eine Verletzung der Meldepflicht nach § 50 AlVG vor, weil sich mit Beginn des Bezugs des Kinderbetreuungsgelds die wirtschaftlichen Verhältnisse der Revisionswerberin änderten; allerdings könnte fallbezogen - gegründet auf die nicht von vornherein unvertretbare Annahme, dem AMS durch die Bekanntgabe der Antragstellung und voraussichtlichen Bezugsdauer des Kinderbetreuungsgelds schon alle notwendigen Informationen verschafft zu haben - ein Irrtum über den Umfang der Meldepflicht vorgelegen sein, sodass die für den Tatbestand der Verschweigung im Sinn des § 25 Abs. 1 AlVG notwendige subjektive Komponente nicht erfüllt gewesen sei könnte.

19           Das angefochtene Erkenntnis ist daher im Umfang der Rückforderung der Notstandshilfe mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet und war insoweit - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

20           Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

21           Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 5. Februar 2024

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VWGH:2024:RA2023080081.L00