Gericht

Verwaltungsgerichtshof

Entscheidungsdatum

24.06.2024

Geschäftszahl

Ra 2022/11/0124

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm, die Senatspräsidentin Dr. Pollak und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Janitsch, über die Revision der Mag. Dr. P B in W, vertreten durch die Freimüller Obereder Pilz Rechtsanwältinnen GmbH in 1080 Wien, Alser Straße 21, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 2022, Zl. W200 2245412-1/16E, betreffend Einstellung nach Paragraph 14, Absatz 6, Behinderteneinstellungsgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1             Mit Bescheid der belangten Behörde vom 27. April 2021 wurde der Antrag der Revisionswerberin auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten abgewiesen und festgestellt, dass der Grad der Behinderung 40 Prozent betrage.

2             Dagegen erhob die (in Wien wohnhafte) Revisionswerberin Beschwerde. Mit dem angefochtenen Beschluss stellte das Verwaltungsgericht das Beschwerdeverfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 14 Abs. 6 Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) iVm. § 28 Abs. 1 VwGVG ein und erklärte eine Revision gegen diesen Beschluss für unzulässig.

3             Begründend stellte das Verwaltungsgericht zusammengefasst fest, es habe die Revisionswerberin mit Ladung vom 6. Dezember 2021 für den 17. Februar 2022 zu einem in Ybbs an der Donau ansässigen Facharzt zur Untersuchung geladen und auf die Rechtsfolgen des § 14 Abs. 6 BEinstG hingewiesen. Die Revisionswerberin habe dem Verwaltungsgericht am 10. Februar 2022 telefonisch mitgeteilt, sie könne den Termin aus gesundheitlichen Gründen nicht einhalten, und dazu die Atteste zweier Ärzte vorgelegt, denen zufolge ihr wegen ihrer Schmerzsymptomatik ein so langer Anfahrtsweg nicht zumutbar sei. Daraufhin sei am 23. März 2022 eine gleichlautende Ladung für den 11. Mai 2022 an die Revisionswerberin ergangen. Am 28. April 2022 habe sie für 10. Mai 2022 einen Zahnarzttermin bei einem Spezialisten vereinbart. Laut zahnärztlicher Bestätigung vom 4. Mai 2022 sei eine erfolglose Wurzelbehandlung an der Revisionswerberin vorgenommen worden. Mit Schreiben vom 13. Mai 2022 habe die Revisionswerberin dem Verwaltungsgericht unter Anschluss (zahn)ärztlicher Bestätigungen mitgeteilt, sie habe am 6. Mai 2022 die zuständige Referentin des Verwaltungsgerichts telefonisch darüber informiert, dass sie sich einer unvorhergesehenen Wurzelbehandlung habe unterziehen müssen, dass es ihr aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei, den Termin beim Gutachter am 11. Mai 2022 in Ybbs an der Donau wahrzunehmen und dass sie um eine Terminverschiebung gebeten habe, weil sie wegen ihrer Grunderkrankung (ein komplexes chronisches Schmerz- und Erschöpfungssyndrom) und der Zahnschmerzen nicht in der Lage gewesen sei, eine 1 ½-stündige Autofahrt zum Gutachter und wieder zurück auf sich zu nehmen.

4             Dazu führte das Verwaltungsgericht aus, bereits hinsichtlich der Nichtbefolgung der ersten Ladung liege „ein grenzwertiger Sachverhalt“ im Hinblick auf die Zumutbarkeit iSd. § 14 Abs. 6 BEinstG vor. Hinsichtlich der zweiten Ladung für den 11. Mai 2022 erkenne es keinesfalls einen triftigen Grund, der die Revisionswerberin daran gehindert haben sollte, der Ladung zur Untersuchung Folge zu leisten. Entgegen den Angaben der Revisionswerberin habe sie den Zahnarzttermin vom 10. Mai 2022 beim Spezialisten nicht aufgrund einer knapp davor stattgefundenen erfolglosen Wurzelbehandlung vereinbart, sondern bereits Ende April, zu einem Zeitpunkt, als sie bereits Kenntnis vom Untersuchungstermin am 11. Mai 2022 gehabt habe. Aufgrund der Verschiebung dieses Termins durch den Spezialisten am 6. Mai 2022 auf den 13. Juni 2022 sei auch keine allzu große Dringlichkeit der medizinischen Behandlung zu erkennen. Aus der Behandlungsbestätigung ihres Zahnarztes vom 10. Mai 2022 lasse sich nicht erschließen, dass ihr der Besuch beim bestellten Gutachter am 11. Mai 2022 nicht zumutbar gewesen wäre.

5             Dagegen richtet sich die vorliegende Revision, zu der das Verwaltungsgericht die Verfahrensakten vorgelegt hat. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

6             Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7             Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, dass sich das Verwaltungsgericht mit dem Vorbringen der Revisionswerberin zur in ihrer Schmerzsymptomatik begründeten Unzumutbarkeit der Anreise zu den Untersuchungsterminen in Ybbs an der Donau nicht auseinandergesetzt habe und dass es entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe. Die Revision ist deshalb auch begründet.

8             § 14 BEinstG, BGBl. Nr. 22/1970 idF BGBl. I Nr. 57/2015, lautet auszugsweise:

„Feststellung der Begünstigung

Paragraph 14, ...

...

(6) Wenn ein begünstigter Behinderter oder ein Antragswerber ohne triftigen Grund einer schriftlichen Aufforderung zum Erscheinen zu einer zumutbaren ärztlichen Untersuchung nicht entspricht oder sich weigert, die zur Durchführung des Verfahrens unerläßlichen Angaben zu machen, ist das Verfahren einzustellen oder das Erlöschen der Zugehörigkeit zum Kreis der nach diesem Bundesgesetz begünstigten Behinderten (Paragraph 2, Absatz eins, und 3) auszusprechen. Er ist nachweislich auf die Folgen seines Verhaltens hinzuweisen.“

9             Diese Bestimmung enthält eine Sanktion für fehlendes Mitwirken am Verfahren (vgl. VwGH 30.9.2011, 2009/11/0009), die allerdings nur dann zum Tragen kommen soll, wenn kein triftiger Grund für das Fernbleiben von einer zumutbaren ärztlichen Untersuchung vorliegt.

10           Den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zufolge hatte die Revisionswerberin bereits anlässlich der ersten Ladung zum Untersuchungstermin in Ybbs an der Donau für den 17. Februar 2022 unter Vorlage zweier ärztlicher Atteste vorgebracht, der lange Anfahrtsweg aus Wien sei ihr aufgrund ihrer Schmerzsymptomatik nicht zumutbar. Darauf reagierte das Verwaltungsgericht lediglich mit einer neuerlichen Ladung zu demselben Arzt in Ybbs an der Donau, ohne sich mit dem Vorbringen der Revisionswerberin auseinandergesetzt zu haben. Mit der Entschuldigung für den zweiten Untersuchungstermin, die abermals mit der aufgrund der Schmerzsymptomatik unzumutbaren Dauer der Anreise begründet war, befasste sich das Verwaltungsgericht weder in seiner Beweiswürdigung noch in seiner rechtlichen Begründung.

11           Da nicht auszuschließen ist, dass das Verwaltungsgericht bei einer Auseinandersetzung mit der im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Unzumutbarkeit der Anreise zu einem für die Revisionswerberin günstigeren Ergebnis, nämlich dem Vorliegen eines triftigen Grundes für das Fernbleiben von einer zumutbaren ärztlichen Untersuchung iSd. § 14 Abs. 6 BEinstG, gelangen hätte können, leidet der angefochtene Beschluss an einem wesentlichen Begründungsmangel.

12           Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG erwies sich in der vorliegenden Konstellation außerdem zwecks Gewährung von Parteiengehör, Erörterung des Parteienvorbringens sowie Setzen der erforderlichen Ermittlungsschritte die amtswegige Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unerlässlich (vgl. überdies zur ständigen hg. Judikatur zur Verhandlungspflicht in Angelegenheiten des Behindertenwesens etwa VwGH 2.11.2022, Ra 2020/11/0068, mwN).

13           Der angefochtene Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht die Rechtslage im Hinblick auf die Verhandlungspflicht verkannte, war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

14           Die Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG unterbleiben.

15           Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff. VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 24. Juni 2024

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VWGH:2024:RA2022110124.L00