Verwaltungsgerichtshof
13.06.2024
Ra 2022/10/0119
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2022/10/0120
Ra 2022/10/0121
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revisionen 1. des Magistrates der Stadt Wien (protokolliert zu Ra 2022/10/0119), und 2. der K GmbH und der D AG, beide in W, beide vertreten durch die Onz & Partner Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Schwarzenbergplatz 16 (protokolliert zu Ra 2022/10/0120, 0121), gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 11. Mai 2022, Zl. VGW-101/069/10780/2021-76, betreffend Abweisung eines Antrags auf Bewilligung einer Ausnahme gemäß Paragraph 11, Absatz 2, Wiener Naturschutzgesetz (mitbeteiligte Partei: Verein „V“ in W, vertreten durch Mag. Wolfram Schachinger, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Hafengasse 16/4-5), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Wien hat den zweitrevisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von insgesamt € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 1.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 11. Mai 2022 wies das Verwaltungsgericht Wien - aufgrund einer Beschwerde des Mitbeteiligten gegen einen Bescheid des Erstrevisionswerbers vom 28. April 2021 - einen Antrag der zweitrevisionswerbenden Parteien auf Erteilung einer Ausnahmebewilligung dafür, auf näher bestimmten Grundflächen Fortpflanzungs- und Ruhestätten der streng geschützten Tierarten Zauneidechse (Lacerta agilis) und Großer Feuerfalter (Lycaena dispar) zu beschädigen und zu vernichten, die streng geschützte Tierart Ziesel (Spermophilus citellus) absichtlich zu stören und in deren Lebensraum einzugreifen sowie Exemplare der streng geschützten Tierarten Ziesel (Spermophilus citellus), Feldhamster (Cricetus cricetus) und Zauneidechse (Lacerta agilis) zu fangen, in lebendem Zustand zu transportieren und vorübergehend zu halten, gemäß § 11 Abs. 4 Z 1 Wiener Naturschutzgesetz (Wr. NSchG) ab; die Revision gegen dieses Erkenntnis ließ das Verwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zu.
2 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung - soweit für die vorliegende Revisionsentscheidung von Belang - zugrunde, der mitbeteiligte (und vor dem Verwaltungsgericht beschwerdeführende) Verein sei als Umweltorganisation gemäß § 19 Abs. 7 Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000 anerkannt.
3 Die zweitrevisionswerbenden Parteien verfolgten das verfahrensgegenständliche Vorhaben der Errichtung von mehreren mehrgeschoßigen Wohnbauten für insgesamt 152 Wohnungen, welches Teil eines größeren, aus mehreren Bauabschnitten bestehenden - teilweise bereits verwirklichten - Bauprojektes sei; dabei sollten insgesamt 1023 Wohnungen errichtet werden. Die Bruttogeschoßfläche des gegenständlichen Bauabschnittes betrage 15.194 m2, jene des gesamten Projektes ca. 100.314 m2.
4 Die zweitrevisionswerbenden Parteien hätten die gegenständlichen Grundflächen „im Wesentlichen“ im Jahr 2008 erworben. In Hinblick auf die geplante Wohnbebauung seien der Flächenwidmungsplan und der Bebauungsplan mit Beschluss des (Wiener) Gemeinderates vom 26. Februar 2010 neu festgesetzt worden.
5 Im Weiteren stellte das Verwaltungsgericht als „Auswirkungen der Baumaßnahmen und des Betriebs der antragsgegenständlichen geplanten Wohnhausanlage auf geschützte Arten“ fest, auf die auf den gegenständlichen Flächen lebenden Ziesel hätte der Bau und Betrieb der Wohnhausanlage eine Stör- und Scheuchwirkung, und zwar durch die Baumaßnahmen selbst, durch die Änderung des gewohnten Umfeldes aufgrund der Silhouettenwirkung der neuen Gebäude, durch die Anwesenheit zusätzlicher Bewohner im unmittelbaren Umfeld des Ziesellebensraumes sowie durch Haustiere (Hunde und Katzen) als Folge der Besiedelung. Von der Störung wären jedenfalls 44 Zieselbaue betroffen; darüber hinaus würden insgesamt 1,17 ha Lebensraum der Ziesel beeinträchtigt. Für den Fall, dass die Ziesel nicht selbständig nach Vergrämungsmaßnahmen die Baue verlassen würden, wäre die Umsiedlung (auf Ausgleichsflächen) geplant; dafür wäre es nötig, die Ziesel kurzfristig zu fangen, in lebendem Zustand zu transportieren und vorübergehend zu halten.
6 Auch für eine Umsiedlung von Exemplaren der Arten Feldhamster und Zauneidechse auf Ausgleichsflächen wäre es nötig, die Tiere zu fangen, in lebendem Zustand zu transportieren und vorübergehend zu halten.
7 Folge der Baumaßnahmen wäre auf der Projektfläche eine Vernichtung von Fortpflanzungs- und Ruhestätten der Ziesel, der Zauneidechse und des Großen Feuerfalters.
8 Schließlich traf das Verwaltungsgericht nähere Feststellungen zu Erhebungen des Vorkommens von Ziesel und Hamster im Zeitraum 2007 bis 2011.
9 Nach Darstellung der relevanten Normen führte das Verwaltungsgericht in rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen aus, die von den eingangs wiedergegebenen Anträgen erfassten Vorhaben stellten Eingriffe in die Verbotstatbestände des § 10 Abs. 3 Z 1 erster Fall, Z 2, Z 4, Z 5 zweiter Fall und Z 6 Wr. NSchG dar.
10 Von den Verboten des § 10 Wr. NSchG könnten gemäß § 11 Abs. 2 Wr. NSchG Ausnahmen bewilligt werden. Voraussetzung für die Erteilung einer solchen Ausnahme-Bewilligung sei - neben dem Vorliegen eines in § 11 Abs. 2 Wr. NSchG genannten Grundes - einerseits, dass der Antragsteller glaubhaft mache, dass es „keine andere zufriedenstellende Lösung“ im Sinne (fallbezogen) des Art. 16 Abs. 1 der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie gebe (§ 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG), sowie andererseits, dass der Erhaltungszustand der betroffenen Art im Gebiet der Bundeshauptstadt Wien trotz Durchführung der bewilligten Maßnahme günstig sei (§ 11 Abs. 4 Z 2 Wr. NSchG).
11 Die von ihm ausgesprochene Abweisung des Antrags der zweitrevisionswerbenden Parteien stützte das Verwaltungsgericht - ausschließlich - darauf, dass die Antragstellerinnen (die zweitrevisionswerbenden Parteien) „schon im Hinblick auf die von ihnen selbst als geeignet beurteilten alternativen Standorte weder im Einzelnen noch im Allgemeinen“ im Sinn des § 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG glaubhaft gemacht hätten, dass diese keine zufriedenstellende Lösung darstellten:
12 Als das im öffentlichen Interesse gelegene zu erreichende Ziel, hinsichtlich dessen etwaige andere zufriedenstellende Lösungen zu prüfen seien, hätten die zweitrevisionswerbenden Parteien in der von ihnen übermittelten Alternativenprüfung (mit Stand Dezember 2021) die Schaffung einer ausreichenden Anzahl von leistbaren Wohnungen im 21. Bezirk angegeben.
13 In dieser (aufgrund eines Mängelbehebungsauftrags des Verwaltungsgerichtes erfolgten) Urkundenvorlage hätten die zweitrevisionswerbenden Parteien andere potentielle Projektstandorte im 21. Wiener Gemeindebezirk untersucht und - zunächst - etwa folgende Standorte ausgeschlossen: Flächen, bei denen aufgrund „übergeordneter Festlegungen“ (z.B. der Raumordnung) Wohnnutzungen nicht umsetzbar seien, bereits bebaute Flächen oder Flächen, die „für leistbares Wohnen“ bzw. den geförderten Wohnbau unwirtschaftlich seien. Mit Blick auf vier als „gleichwertig“ beurteilte Flächen seien Prüfpflichten in Hinblick auf den Artenschutz zu erwarten.
14 Aufgrund einer Aufforderung des Verwaltungsgerichtes (unter anderem) darzulegen, aus welchem Grund lediglich Standortalternativen im 21. Bezirk (und nicht im gesamten Stadtgebiet) zu prüfen seien und „warum im Einzelnen die jeweils dargestellte Alternative mit einer größeren Beeinträchtigung von geschützten Arten verbunden sei bzw. ungeeignet oder unzumutbar sei“, hätten die zweitrevisionswerbenden Parteien in einer Stellungnahme vom 31. März 2022 (näher dargestelltes) Vorbringen zu den als gleichwertig eingestuften vier potentiellen Projektstandorten im 21. Bezirk erstattet. Zur Abgrenzung des Gebiets auf den 21. Bezirk sei dem Anhang dieser Stellungnahme zu entnehmen, diese sei dem Umstand geschuldet, dass in einer Großstadt wie Wien eine räumliche Abgrenzung der Versorgungsleistungen durch leistbares (gefördertes) Wohnen notwendig sei; allerdings werde darin durch die beispielhafte Prüfung von 14 weiteren potentiellen Projektstandorten im 22. Bezirk dargelegt, dass bei den davon als gleichwertige andere potentielle Projektstandorte verbleibenden drei Flächen wiederum „- wie bei praktisch allen Bauprojekten im städtebaulichen Maßstab auf bisher ungestörtem Boden - mit artenschutzrechtlichen Bewilligungspflichten zu rechnen“ sei. „Flächen, die naturschutzfachlich ähnliche Tatbestände auslösen würden und allenfalls nur andere Arten beträfen, könnten daher in der Alternativenprüfung als keine andere zufriedenstellende Lösung bezeichnet werden.“
15 Das Verwaltungsgericht stützte seine Auffassung, dass die zweitrevisionswerbenden Parteien damit ihrer Verpflichtung zur Glaubhaftmachung im Sinn des § 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG nicht nachgekommen seien, im Kern darauf, dass der „vorgebrachte Umstand, dass auf einem alternativen Standort ebenfalls artenschutzrechtliche Bewilligungen notwendig wären, [...] zur Glaubhaftmachung, dass es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt, noch nicht“ ausreiche; „vielmehr wäre es nötig, dass der Antragsteller glaubhaft macht, dass der alternative Standort in einer Gesamtbewertung aller wesentlicher Kriterien, insbesondere aus Sicht des Naturschutzes, ungünstiger ist als der projektierte Standort“. Zu einem solchen Ergebnis gelangten die zweitrevisionswerbenden Parteien als die Antragstellerinnen allerdings nicht, weshalb ihnen die ihnen obliegende Glaubhaftmachung „schon im Hinblick auf die von ihnen selbst als geeignet beurteilten alternativen Standorte“ nicht gelungen sei.
16 1.2. Gegen dieses Erkenntnis richten sich die beiden außerordentlichen Revisionen.
17 Der Mitbeteiligte hat Revisionsbeantwortungen erstattet, in der er jeweils die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die - wegen ihres sachlichen und rechtlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - Revisionssachen erwogen:
18 2. Für die Revisionsfälle sind folgende Bestimmungen in den Blick zu nehmen:
RICHTLINIE 92/43/EWG DES RATES vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (FFH-Richtlinie)
„Artenschutz
Artikel 12
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang römisch IV Buchstabe a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:
a) alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;
b) jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;
c) jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur;
d) jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.
(2) Für diese Arten verbieten die Mitgliedstaaten Besitz, Transport, Handel oder Austausch und Angebot zum Verkauf oder Austausch von aus der Natur entnommenen Exemplaren; [...]
[...]
Artikel 16
(1) Sofern es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und unter der Bedingung, daß die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen, können die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Artikel 12, 13 und 14 sowie des Artikels 15 Buchstaben a) und b) im folgenden Sinne abweichen:
a) zum Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen und zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume;
b) zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum;
c) im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art oder positiver Folgen für die Umwelt;
d) zu Zwecken der Forschung und des Unterrichts, der Bestandsauffüllung und Wiederansiedlung und der für diese Zwecke erforderlichen Aufzucht, einschließlich der künstlichen Vermehrung von Pflanzen;
e) um unter strenger Kontrolle, selektiv und in beschränktem Ausmaß die Entnahme oder Haltung einer begrenzten und von den zuständigen einzelstaatlichen Behörden spezifizierten Anzahl von Exemplaren bestimmter Tier- und Pflanzenarten des Anhangs IV zu erlauben.“
Wiener Naturschutzgesetz (Wr. NSchG), Landesgesetzblatt Nr. 45 aus 1998, in der Fassung Landesgesetzblatt Nr. 27 aus 2021,
„Artenschutz
Paragraph 9, (1) Die Landesregierung kann Arten wildwachsender Pflanzen und freilebender Tiere sowie deren Lebensräume durch Verordnung unter Schutz stellen. Die Verordnung hat zur Erhaltung dauerhaft lebensfähiger Bestände festzulegen:
1. vom Aussterben bedrohte Arten, stark gefährdete Arten und Arten von überregionaler Bedeutung, die eines strengen Schutzes der Vorkommen bedürfen (streng geschützte Arten) und
[...]
Besondere Schutzmaßnahmen
Paragraph 10, (1) [...]
[...]
(3) Für streng geschützte Tiere nach Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins,, mit Ausnahme der Vögel, sind folgende Maßnahmen verboten:
1. alle Formen des Fangens oder der Tötung, ungeachtet der angewandten Methode,
2. jede absichtliche Störung dieser Tiere, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzuchts-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten,
3. jede absichtliche Zerstörung oder Beschädigung sowie die Entnahme von Eiern aus der Natur,
4. jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten,
5. der Besitz, das Halten, der Handel oder der Austausch und das Angebot zum Verkauf oder zum Austausch von aus der Natur entnommenen Tieren im lebenden oder toten Zustand oder deren Körperteilen,
[...]
Ausnahmen
Paragraph 11, (1) [...]
(2) Von den Verboten des Paragraph 10, oder von den in der gemäß Paragraph 9, Absatz 2, erlassenen Verordnung vorgesehenen Verboten zum Schutz des Lebensraumes, kann die Naturschutzbehörde auf Antrag Ausnahmen aus nachstehenden Gründen bewilligen:
[...]
5. aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, wenn das öffentliche Interesse an der beantragten Maßnahme unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohles deutlich höher zu bewerten ist als das öffentliche Interesse an der Erhaltung dauerhaft lebensfähiger Bestände oder
[...]
(4) Die Bewilligung nach Absatz 2, und Absatz 3, kann nur dann erteilt werden, wenn:
1. der Antragsteller glaubhaft macht, dass es keine andere zufriedenstellende Lösung im Sinne der Art. 16 Abs. 1 der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie und Art. 9 Abs. 1 der Vogelschutz-Richtlinie gibt und
2. der Erhaltungszustand der betroffenen Art im Gebiet der Bundeshauptstadt Wien trotz Durchführung der bewilligten Maßnahme günstig ist.
[...]
Form der Ansuchen
Paragraph 11 a, (1) Ansuchen gemäß Paragraph 11, sind schriftlich einzubringen. Dem Ansuchen sind folgende Unterlagen anzuschließen:
[...]
3. Angaben gemäß § 11 Abs. 4 Z 1 und
[...]“
Wiener Naturschutzverordnung - Wr. NschVO Landesgesetzblatt Nr. 5 aus 2000, in der Fassung Landesgesetzblatt Nr. 12 aus 2010,)
„Streng geschützte Tierarten
Paragraph 4, (1) Die im 1. Abschnitt unter Ziffer eins Punkt 2, der Anlage aufgelisteten frei lebenden Tierarten sind streng geschützt. Für diese Tiere gelten die Verbote des Paragraph 10, Absatz 3, Wiener Naturschutzgesetz.“
19 3. Die erstrevisionswerbende Partei bringt zur Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revision (unter anderem) vor, das Verwaltungsgericht sei von maßgeblicher Rechtsprechung zu der „anderen zufriedenstellenden Lösung“ iSd Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie abgewichen (Hinweis auf VwGH 24.4.2018, Ro 2016/10/0037, sowie EuGH 10.10.2019, Rs C-674/17, Tapiola).
20 Die Zulässigkeitsausführungen der zweitrevisionswerbenden Parteien wenden sich gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Beurteilung (unter anderem) mit der Begründung, diese entspreche nicht der hg. Rechtsprechung zu einer vom Gesetz geforderten „Glaubhaftmachung“ (Hinweis u.a. auf VwGH 25.6.2003, 2000/04/0092 = VwSlg. 16.118 A, sowie 19.11.2008, 2004/04/0085); außerdem werfen die zweitrevisionswerbenden Parteien Rechtsfragen in Bezug auf die vom Verwaltungsgericht an die Glaubhaftmachung gemäß § 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG angelegte „Prüftiefe“ auf.
21 Die Revisionen sind mit Blick auf diese Vorbringen zulässig. Sie erweisen sich auch als begründet.
22 4. Dem angefochtenen Erkenntnis liegt die Auffassung des Verwaltungsgerichtes zugrunde, die zweitrevisionswerbenden Parteien seien ihrer Verpflichtung zur Glaubhaftmachung im Sinn des § 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG nicht nachgekommen, weil der „vorgebrachte Umstand, dass auf einem alternativen Standort ebenfalls artenschutzrechtliche Bewilligungen notwendig wären, [...] zur Glaubhaftmachung, dass es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt, noch nicht“ ausreiche; vielmehr „wäre es nötig, dass der Antragsteller glaubhaft macht, dass der alternative Standort in einer Gesamtbewertung aller wesentlicher Kriterien, insbesondere aus Sicht des Naturschutzes, ungünstiger ist als der projektierte Standort“. Derartiges sei den zweitrevisionswerbenden Parteien allerdings „schon im Hinblick auf die von ihnen selbst als geeignet beurteilten alternativen Standorte“ nicht gelungen.
23 Dem kann nicht gefolgt werden.
24 4.1. Bei den von dem verfahrenseinleitenden, vom Verwaltungsgericht abgewiesenen Antrag der zweitrevisionswerbenden Parteien betroffenen Tierarten handelt es sich unstrittig um „streng geschützte Tierarten“ im Sinn des Anhanges IV Buchstabe a) der FFH-Richtlinie bzw. der Z 1.2. des 1. Abschnittes der Anlage zur Wr. NschVO. Die antragsgegenständlichen, zur Verwirklichung des Bauvorhabens der zweitrevisionswerbenden Parteien erforderlichen Vorgangsweisen fallen daher unter die vom Verwaltungsgericht (vgl. oben Rz 9) zutreffend genannten Verbotstatbestände des § 10 Abs. 3 Wr. NSchG, welcher in Umsetzung (insbesondere) des Art. 12 Abs. 1 und 2 FFH-Richtlinie erlassen wurde.
25 Auch die im Wr. NSchG normierten Voraussetzungen für Ausnahmen von den Verboten (u.a.) des § 10 Abs. 3 Wr. NSchG (vgl. die zutreffende Wiedergabe durch das Verwaltungsgericht, oben Rz 10) - darunter auch die allein vom Verwaltungsgericht geprüfte Voraussetzung des § 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG - stellen sich als Umsetzung des unionsrechtlichen Artenschutzrechtes (fallbezogen: nach der FFH-Richtlinie) dar. Der Begriff einer „anderen zufriedenstellenden Lösung“ iSd § 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG ist somit mit Blick auf Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie („anderweitige zufriedenstellende Lösung“) - und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH - auszulegen.
26 Wie die erstrevisionswerbende Partei zutreffend vorbringt, hat der EuGH bereits ausgesprochen, dass eine „anderweitige zufriedenstellende Lösung“ iSd Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie nur dann vorliegt, wenn damit „das verfolgte Ziel in zufriedenstellender Weise erreicht werden kann“ und „die in der Richtlinie vorgesehenen Verbote beachtet werden“ (EuGH 10.10.2019, Rs C-674/17, Tapiola [Rz 47]).
27 Nun vertritt das Verwaltungsgericht selbst die Auffassung, dass an den von den zweitrevisionswerbenden Parteien geprüften (alternativen) Standorten „ebenfalls artenschutzrechtliche Bewilligungen notwendig wären“; diese Standorte kommen somit als „andere zufriedenstellende Lösung“ iSd § 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG (bzw. Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie) nicht in Betracht.
28 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass letztlich auch das Verwaltungsgericht - welches im Verfahren die zweitrevisionswerbenden Parteien (auch) aufgefordert hatte, „nachvollziehbar darzulegen“, aus welchem Grund lediglich Standortalternativen im 21. Bezirk (und nicht im gesamten Stadtgebiet) zu prüfen seien, - zutreffenderweise bei seiner Beurteilung der durch die zweitrevisionswerbenden Parteien erfolgten Glaubhaftmachung gemäß § 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG auf „die von [diesen] selbst als geeignet beurteilten alternativen Standorte“ (insbesondere im 21. Bezirk) abgestellt hat:
29 Wie der Entscheidung des EuGH Tapiola (Rz 47) zu entnehmen ist, ist die Beurteilung des Vorliegens einer „anderweitigen zufriedenstellenden Lösung“ iSd Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie unter dem Gesichtspunkt des „verfolgten Zieles“ vorzunehmen; eine „andere zufriedenstellende Lösung“ iSd § 11 Abs. 4 Z 1 Wr. NSchG kann somit nur dann vorliegen, wenn das mit dem Vorhaben angestrebte Ziel als solches erreichbar bleibt (vgl. in diesem Zusammenhang etwa auch VwGH 16.12.2019, Ra 2018/03/0066 bis 0068 [Rz 55], sowie 23.6.2009, 2007/06/0257, zur Alternativenprüfung im Rahmen der Naturverträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie).
30 Als das „im öffentlichen Interesse gelegene zu erreichende Ziel“, das die zweitrevisionswerbenden Parteien mit ihrem Bauvorhaben verfolgen, hat aber auch das Verwaltungsgericht die „Schaffung einer ausreichenden Anzahl von leistbaren Wohnungen im 21. Bezirk“ identifiziert. Dass dieses Ziel an den in Rede stehenden Alternativstandorten erreicht werden könnte, kann dem angefochtenen Erkenntnis nicht entnommen werden.
31 4.2. Darüber hinaus lässt das angefochtene Erkenntnis außer Acht, dass nach ständiger hg. Rechtsprechung mit der Verpflichtung einer Partei zur Glaubhaftmachung eines Umstandes der erforderliche Überzeugungsgrad der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichtes (das Beweismaß) niedriger angesetzt wird als mit der Verpflichtung zum Beweis einer Tatsache, hat doch dabei die Partei die Behörde lediglich von der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsache - und nicht von deren Richtigkeit - zu überzeugen (vgl. etwa VwGH 7.2.2022, Ra 2021/03/0277, sowie das von den zweitrevisionswerbenden Parteien genannte hg. Erkenntnis 2004/04/0085, weiters VwGH 16.9.1993, 92/01/0787, jeweils mwN).
32 Auch in dieser Hinsicht erscheinen die vom Verwaltungsgericht an die Darlegungen der zweitrevisionswerbenden Parteien angelegten Anforderungen als überschießend.
33 5. Das angefochtene Erkenntnis erweist sich nach dem Gesagten als inhaltlich rechtswidrig, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
34 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 13. Juni 2024
ECLI:AT:VWGH:2024:RA2022100119.L00