Verwaltungsgerichtshof
17.10.2023
Ra 2021/21/0339
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der A K, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2021, W103 2200170-3/15E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die 1982 geborene Revisionswerberin, eine aus Dagestan stammende russische Staatsangehörige, befindet sich seit März 2013 im Bundesgebiet, wo auch ihr Ehemann, ebenfalls ein russischer Staatsangehöriger, den die Revisionswerberin im September 2013 standesamtlich geheiratet hat, als anerkannter Konventionsflüchtling lebt.
2 Zur Vorgeschichte wird auf das in dieser Rechtssache ergangene Erkenntnis VwGH 8.7.2021, Ra 2021/20/0188, verwiesen. Mit diesem Erkenntnis hat der Verwaltungsgerichtshof die von der Revisionswerberin erhobene Revision gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 1. April 2021, soweit damit die Beschwerde gegen die mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 22. Februar 2021 erfolgte Zurückweisung des (zweiten) Antrages auf internationalen Schutz der Revisionswerberin wegen entschiedener Sache und (amtswegige) Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen abgewiesen wurde, zurückgewiesen. Dagegen hat er in teilweiser Stattgebung der Revision das erwähnte Erkenntnis des BVwG, soweit damit die Beschwerde gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation und die Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen worden war, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben. Dem lag zugrunde, dass das BVwG trotz entsprechenden Beschwerdevorbringens der Revisionswerberin hinsichtlich des Familienlebens mit ihrem Ehemann, der wegen einer Behinderung auf ihre Unterstützung angewiesen sei, keine Feststellungen getroffen hatte, die eine Beurteilung der Zulässigkeit des mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung verbundenen Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte ermöglicht hätten.
3 Im fortgesetzten Verfahren wies das BVwG mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 15. Oktober 2021 die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - hinsichtlich der verbliebenen Spruchpunkte neuerlich als unbegründet ab. Unter einem sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 In seiner Begründung stellte das BVwG unter anderem fest, dass der Ehemann der Revisionswerberin während des Tschetschenienkrieges den rechten Unterarm verloren habe und an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Dazu führte das BVwG im Rahmen der Beweiswürdigung aus, dass die Revisionswerberin trotz Aufforderung keinerlei Unterlagen zur Behinderung ihres Ehemannes vorgelegt habe. Deshalb könne nicht festgestellt werden, wie schwer seine Behinderung sei und inwieweit er im Alltag auf Unterstützung durch die Revisionswerberin angewiesen sei.
5 Im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG berücksichtigte das BVwG den achteinhalbjährigen Aufenthalt der Revisionswerberin und das im gemeinsamen Haushalt geführte Familienleben mit ihrem Ehemann, das jedoch - so das BVwG dessen Bedeutung maßgeblich relativierend - zu einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem sich beide des unsicheren Aufenthaltsstatus der Revisionswerberin in Österreich hätten bewusst sein müssen. Der Ehemann der Revisionswerberin benötige „sicherlich zum Teil“ Hilfe im Alltag, doch sei er bereits vor der Einreise der Revisionswerberin invalide gewesen, ohne von ihr Unterstützung gehabt zu haben. Insgesamt erscheine es daher zumutbar, eine allenfalls benötigte anderweitige Unterstützung für den Ehemann der Revisionswerberin während der Dauer eines ordnungsgemäß geführten Niederlassungsverfahrens zu organisieren.
6 Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG entfallen können, weil die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse und der Sachverhalt durch das BFA vollständig erhoben worden sei. Die Beschwerde enthalte ein lediglich unsubstantiiertes Vorbringen, welches nicht geeignet sei, die Entscheidung des BFA in Frage zu stellen.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
8 Die Revision erweist sich - wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt.
9 Nach der Aufhebung seines Erkenntnisses vom 1. April 2021 hatte das BVwG im fortgesetzten Verfahren die Revisionswerberin auf schriftlichem Weg aufgefordert, innerhalb einer Frist von einer Woche unter anderem Unterlagen zur eventuellen Einstufung der Behinderung des Ehemannes der Revisionswerberin, insbesondere diesbezügliche Bescheide, vorzulegen.
10 Die Revisionswerberin kam dieser Aufforderung nur insofern nach, als sie die Bestätigung eines Psychotherapeuten über die psychotherapeutische Behandlung ihres Ehemannes wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung vorlegte. Dieser Bestätigung zufolge sei die Behandlung unter anderem auch deshalb sehr positiv verlaufen, weil der Ehemann der Revisionswerberin die erforderliche Unterstützung erhalte und notwendige Strukturen als Resilienzfaktoren habe etablieren können. Da zu dieser notwendigen Unterstützung auch seine Ehefrau gehöre, sei zu erwarten, dass sich der Zustand ihres Ehemannes wieder verschlimmern werde, sollte seine Ehefrau abgeschoben werden.
11 Dem BVwG ist einzuräumen, dass nach den auf schriftlichem Weg eingeholten Unterlagen der Sachverhalt hinsichtlich der Unterstützungsbedürftigkeit des Ehemannes der Revisionswerberin wegen seiner Behinderung nicht ausreichend geklärt war und folglich auf dieser Grundlage vom BVwG auch keine entsprechenden Feststellungen in dieser Hinsicht - wie sie der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 8. Juli 2021 für erforderlich gehalten hatte - getroffen werden konnten. Allerdings hätte es daher - wie die Revision zutreffend aufzeigt - insoweit einer näheren Klärung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bedurft, die in der Beschwerde auch beantragt worden war. Die Annahme des BVwG zum Vorliegen eines geklärten Sachverhalts iSd § 21 Abs. 7 BFA-VG, der ein ausnahmsweises Absehen von einer mündlichen Beschwerdeverhandlung erlaubt, war daher verfehlt (siehe überdies zur besonderen Bedeutung der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen etwa VwGH 17.11.2022, Ra 2020/21/0049, Rn. 12, mwN).
12 Das BVwG zog sich in Verletzung der Verhandlungspflicht jedoch darauf zurück, lediglich Negativfeststellungen zur vom Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtsgang (auch) als entscheidungswesentlich angesehenen Frage der Unterstützungsbedürftigkeit des Ehemannes der Revisionswerberin wegen seiner Behinderung zu treffen und bei der Interessenabwägung diesbezüglich bloß spekulative Erwägungen anzustellen (dazu, dass es im Allgemeinen nicht die Aufgabe eines Verwaltungsgerichts ist, sich auf negative Feststellungen zu beschränken, vgl. des Näheren VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0060, Rn. 10). Damit hat sich das BVwG über die nach § 63 Abs. 1 VwGG gegebene Bindungswirkung des Erkenntnisses VwGH 8.7.2021, Ra 2021/20/0188, hinweggesetzt.
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
14 Von der Durchführung der in der Revision beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 17. Oktober 2023
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021210339.L00