Verwaltungsgerichtshof
04.08.2021
Ra 2021/18/0024
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A A, vertreten durch Mag. Stefanie Lugger, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Jordangasse 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Dezember 2020, I413 2172931-1/24E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens aus Basra, beantragte am 22. Juni 2015 internationalen Schutz und brachte zunächst - zusammengefasst - vor, vor schiitischen Milizen in seiner Heimatstadt geflohen zu sein.
2 Im Beschwerdeverfahren brachte seine Rechtsvertretung erstmals vor, als zusätzlicher Asylgrund werde geltend gemacht, dass der Revisionswerber homosexuell sei. Aufgrund der offenen Homophobie in seinem Heimatland könne er dort kein Leben als Homosexueller führen. Er fürchte sich diesbezüglich vor den Milizen, die Homosexuelle wegen ihrer „mangelhaften Männlichkeit“ foltern und auch töten würden. Der Revisionswerber habe seine Homosexualität auch gegenüber der eigenen Familie nicht offenbart. Dies sei auch der Grund, warum er seine Homosexualität erst im Beschwerdeverfahren bekannt gebe, weil er davor Angst habe, dass seine Mutter, die mit seinen Geschwistern im Jahr 2013 in die USA geflüchtet sei, davon erfahre. Der Revisionswerber lebe mit seinem Freund Hussain, dessen Namen er sich sogar unter das Schlüsselbein habe tätowieren lassen, zusammen. Er sei bereit, sich untersuchen zu lassen.
3 In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wurde der Revisionswerber zunächst eingehend zu seinen ursprünglich angegebenen Fluchtgründen befragt. Die weitere Einvernahme gestaltete sich - auszugsweise - wie folgt [RI = Richter, BF = Beschwerdeführer]:
„RI: Gibt es neben dem was Sie geschildert haben, noch einen anderen Fluchtgrund?
BF: Nein, ich habe keinen anderen Fluchtgrund.
RI: Hatten Sie im Irak ein sonstiges Problem, dass Sie der Behörde nicht geschildert haben, dass Sie aus dem Irak geflüchtet sind?
BF: Nein, es gibt nur Sachen, die ich bei der Erstbefragung vor dem BFA nicht erwähnt habe. Erst im Nachhinein, nachdem mein Rechtsbeistand mir geraten hat, dass ich es erwähnen soll, was ich auch gemacht habe.
RI: Haben Sie alle diese Sachen, die Sie nicht vor dem BFA erwähnt haben, heute vorgebracht und mir gegenüber erwähnt?
BF: Ich habe mit der Rechtsvertretung darüber geredet, aber heute habe ich es nicht erwähnt.
Der RI gibt dem BF die Gelegenheit allfällige nicht erwähnte Themen anzusprechen.
BF: Ja, wo ich 17 Jahre alt war, habe ich in der Schule im Irak eine Beziehung mit einem männlichen Bekannten gehabt, der hat sich gut um mich gesorgt. Im Irak ist es ein großes Problem und ich habe noch dazu diese Krankheit entwickelt, was mich gehindert hat, sexuell aktiv zu sein. Danach bin ich nach Europa gekommen, wo ich auch jemanden kennengelernt habe. Mit dem kann ich auch keinen Geschlechtsverkehr haben, da meine gesundheitliche Situation das nicht zulässt, aber ich habe schon mehrmals Geschlechtsverkehr gehabt.
Nach Rückübersetzung: Ich lebe mit dieser Person zusammen, die ich kennengelernt habe, seit drei Jahren und habe seinen Namen an der linken Brust tätowiert.
RI: Sind Sie wegen Ihrer sexuellen Neigung im Irak verfolgt worden?
BF: Ja, ich wurde teilweise verfolgt, aber ich halte es geheim. Ich kann mich nicht so anziehen wie ich will, ich kann es nicht an die große Glocke hängen bzw. mich so äußern oder benehmen, sodass irgendjemand Verdacht schöpft, das kann ich mir nicht leisten, da habe ich immer den Tod vor den Augen.
Nach Rückübersetzung: Ich fühle mich unterdrückt.
RI: ... Was ist der Grund dafür, einen solchen zentralen Fluchtgrund erst Jahre später bekannt zu geben?
BF: Ich habe ... vor dem Bundesamt nichts davon erwähnt, da der Dolmetscher ein Iraker aus Bagdad war, dadurch war ich ziemlich eingeschüchtert ... noch dazu war ich erst 18 Jahre und zwei Monate, wo ich nach Österreich gekommen bin und hatte Angst gehabt überhaupt über dieses Thema zu reden. Erst nachdem meine Rechtsvertretung mich mehrmals gefragt hat, was ich verheimliche, habe ich mich getraut ihr alles zu erzählen, dass ich homosexuell bin. Daraufhin hat sie mir gesagt, dass es hier in Österreich kein Problem ist, dass ich keine Angst haben soll, im Gegenteil hier wird einem geholfen. Sogar in Österreich habe ich noch Angst, da viele Landsleute bzw. arabische Nationalitäten hier sind, denen ich immer wieder auffalle.
Nach Rückübersetzung: Ich habe Angst, dass ich im YouTube auftauche und dass jeder was mitbekommt. Ich würde freiwillig eine Untersuchung mitmachen, was meine Aussage zu meiner Homosexualität bisher bestätigen würde. Ich habe Angst, weil ich nicht weiß, wie es mit mir weitergeht.
RI: Wenn ich in ein Land käme und dort um Asyl ansuchte, würde ich alle in Betracht kommenden Gründe sofort angeben, da ich ja sonst mir eine Chance nähme Asyl zu bekommen, dann wäre es mir egal, ob ich auf YouTube auftauche oder nicht; tritt diese Annahme nicht zu und wenn sie zutrifft, warum haben Sie dann eine Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nicht gleich erwähnt?
BF: Wenn Sie wüssten, wie es im Irak genau abläuft, dann würden Sie mich besser verstehen, würde das bekannt werden, würde es keine Stunden dauern bis ich tot wäre. Ich habe das am Anfang nicht erwähnt, da der Dolmetscher aus Bagdad war und ich überhaupt kein Vertrauen in ihn hatte, vielleicht kennt er jemanden, den ich kenne. Ich habe mich einfach gefürchtet. Jetzt lerne ich weiter und erfahre viele Sachen hier in Österreich, die mir die Angst nehmen, sodass ich es jetzt erwähnen kann. Ich wusste, dass [die Nichterwähnung meiner Homosexualität] kontraproduktiv für mein Asylverfahren ist, nur war die Angst größer als der Gewinn, den ich durch das Asylverfahren habe. Sie können über einen Doktor sehen, dass ich die Wahrheit sage.
Nach Rückübersetzung: Im Irak sagt man zu uns Homosexuellen nicht Gay, sondern Jerrou (eine Bezeichnung für Hund) und dadurch verliere ich alle meine Rechte, was dazu führt, dass ich einfach gemobbt und teilweise gefoltert werde, wenn nicht getötet. ...
RI: Aber gerade deshalb ist es für mich nicht verständlich, dass man nicht sofort beim Asylantrag angibt, als Homosexueller im Irak verfolgt zu werden. Sie haben fast über vier Jahre gebraucht, um mitzuteilen, als Homosexueller verfolgt zu werden.
BF: Ich verstehe Sie, ich kann nur sagen, dass es die Angst ist, die mich davon abgehalten hat und bis heute habe ich das Problem. Ich bin gestern von Wien nach Innsbruck gekommen und ich bin ausgestiegen und wurde von einer Person gefragt, ob ich Gay bin, dadurch war ich wieder so ängstlich, dass ich nein gesagt habe.
Der BF legt sodann ein Konvolut von Fotos vor und gibt an, dass er diese noch niemandem gezeigt hat, die in Österreich entstanden sind, wo man Transsexuelle sieht. Das sind Freunde von mir, die ich persönlich kenne.
RI: Wie soll der Doktor, von dem Sie sprechen, die Homosexualität bestätigen?
BF: Das weiß ich nicht genau, vielleicht kann man da einen Abstrich nehmen und dadurch zurückverfolgen, wie lange man schon homosexuell ist.
RI: Sie haben vorher gesagt, dass Sie seit drei Jahren in einer Beziehung leben. Eingangs habe ich Sie gefragt, ob Sie in einer Beziehung leben und Sie haben es verneint. Bitte erklären Sie mir diesen Widerspruch.
BF: Ich habe das falsch verstanden am Anfang, ich bin davon ausgegangen, dass es um Heirat oder eine Beziehung gegangen ist.
RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?
BF: Ich kann nicht in den Irak zurück, ich habe mich hier mit der Zeit geöffnet und zugelassen so zu sein wie ich bin. Das würde im Irak darauf hindeuten, dass ich homosexuell bin. ... Mich wieder so kleiden wie normal oder wie ich nicht bin. Ich kann das nicht. ...“
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG - im Wesentlichen in Bestätigung des entsprechenden Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
5 Begründend erachtete das BVwG das ursprüngliche Fluchtvorbringen des Revisionswerbers (erlittene Verfolgung durch schiitische Milizen) als nicht glaubhaft. Im Übrigen stellte es fest, dass der Revisionswerber nicht homosexuell sei und deshalb bei Rückkehr in den Irak keiner Bedrohung ausgesetzt wäre. Auch die vom Revisionswerber behauptete Lebensgemeinschaft in Österreich mit einem Mann bestehe nicht. Im Folgenden führte das BVwG aus, es liege auf der Hand, dass das Vorbringen zur Homosexualität dem Neuerungsverbot des § 20 Abs. 1 BFA-VG unterliege. Es wäre am Revisionswerber gelegen gewesen, vor der Asylbehörde auf eine konkrete Gefährdung als Angehöriger einer sexuellen Minderheit hinzuweisen. Ein solches Vorbringen wäre ihm nicht nur möglich, sondern auch zumutbar gewesen, zumal der von ihm angegebene Grund, Angst gehabt zu haben, dass seine Mutter von diesem Vorbringen erfahren könnte, gänzlich unplausibel sei. Ihm sei im Zuge seiner Einvernahme vor dem BFA Gelegenheit dazu gegeben worden, alle seine Fluchtgründe vorzubringen. Er sei ausdrücklich gefragt worden, ob er noch weitere Angaben machen wolle und er habe dies verneint. Zum Zeitpunkt der Einvernahme sei der Revisionswerber schon fast zwei Jahre in Österreich aufhältig gewesen. Es sei davon auszugehen, dass er damals schon gewusst habe, dass ein Bekenntnis, homosexuell zu sein, in Österreich kein Problem darstelle. Seine Erklärung für das verspätete Vorbringen, er habe kein Vertrauen in den Dolmetscher gehabt, sei nicht nachvollziehbar. Verständigungsprobleme mit dem Dolmetscher seien nicht angegeben worden. Er habe durch seine Unterschrift unter das Protokoll der Einvernahme auch bestätigt, dass die Angaben vollständig, verständlich und richtig wiedergegeben worden seien und dass die Befragung in einer respektvollen und angenehmen Atmosphäre stattgefunden habe, was gegen die Behauptung spreche, durch den Dolmetscher eingeschüchtert gewesen zu sein. Das BVwG gehe deshalb von einer „Missbrauchsabsicht“ des Revisionswerbers im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur aus.
6 Ungeachtet des Umstandes, dass das Vorbringen zur Homosexualität dem Neuerungsverbot unterliege, sei festzuhalten, dass es auch gänzlich unglaubhaft sei. So gehe auch der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass ein spätes, gesteigertes Vorbringen als unglaubwürdig qualifiziert werden könne, denn kein Asylwerber würde wohl eine sich bietende Gelegenheit, ein zentral entscheidungsrelevantes Vorbringen zu erstatten, ungenützt vorübergehen lassen und ein solches erst etwa zweieinhalb Jahre nach dem abweisenden Bescheid in das Verfahren einzubringen. Aufgrund des persönlichen Eindrucks, den der Richter gewinnen konnte, sei der nachträglich behaupteten Homosexualität jegliche Glaubhaftigkeit abzusprechen. So habe der Revisionswerber diese sexuelle Orientierung nicht initiativ angegeben, sondern gegenüber dem Richter zunächst sogar verneint, einen weiteren Fluchtgrund zu haben. Das BVwG verkenne nicht, dass vor dem Hintergrund der einschlägigen Länderberichte zum Irak Homosexuelle ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich ausleben könnten und sie sich Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und Gewalt (bis hin zu Ehrenmorden durch Familienangehörige) ausgesetzt sähen. Eine gewisse Hemmung für irakische Staatsangehörige, ein derartiges Vorbringen zu erstatten, sei im Lichte der Länderberichte zumindest denkmöglich. Dies ändere jedoch nichts daran, dass der Revisionswerber nicht ansatzweise darlegen, geschweige denn bescheinigen habe können, dass das diesbezügliche Vorbringen den Tatsachen entspreche. Er habe den Eindruck vermittelt, dass die behauptete Homosexualität ein abstraktes Konstrukt sei, dass man diese gleichsam erwerben könne und sie durch einen Arzt feststellbar sei, womit er letztlich typische Vorurteile in Bezug auf Homosexualität offengelegt habe. Das BVwG würdige die Aussage des Revisionswerbers dahingehend, dass er kein Homosexueller sei, sondern dieses Vorbringen aus Gründen, sich günstigere Chancen im gegenständlichen Verfahren zu verschaffen, erstattet habe. Dem Revisionswerber habe nach über viereinhalb Jahren Aufenthalt klar sein müssen, dass es sich bei Österreich um einen Rechtsstaat handle, in welchem die Menschenrechte geachtet würden und auch das Ausleben von Homosexualität mit keinerlei Verfolgungsgefahr verbunden sei. Da dem Vorbringen zur sexuellen Orientierung die Glaubwürdigkeit zu versagen sei, bedinge dies auch die Unglaubwürdigkeit der behaupteten gleichgeschlechtlichen Beziehung in Österreich. Zudem habe der Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung zunächst auch ausdrücklich angegeben, in keiner Lebensgemeinschaft zu leben.
7 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache vorbringen, das BVwG habe die Äußerungen des Revisionswerbers zu den Gründen für sein erst spät erstattetes Vorbringen zur Homosexualität nicht ausreichend beurteilt. Es habe nicht beachtet, dass ein im Einreisezeitpunkt gerade erst Volljähriger, welcher in einem Land aufgewachsen sei, in dem das offene Ausleben einer von der Heterosexualität abweichenden Orientierung einem Todesurteil gleichzusetzen sei, sich nicht bei der ersten Gelegenheit einem Landsmann [erkennbar gemeint: dem Dolmetscher vor dem BFA] anvertraue. Auch das Vorbringen des Revisionswerbers bezüglich der Möglichkeit zur Feststellung der behaupteten Homosexualität deute darauf hin, dass er in einem Land aufgewachsen sei, in dem Homosexualität als „Krankheit“ betrachtet werde. Aufgrund des mangelnden Zugangs zu anderen Quellen seien diese Falschinformationen für den Revisionswerber die Realität. Diese internalisierten Vorstellungen könne der Revisionswerber nicht von heute auf morgen ändern. Das bedeute aber nicht, dass der Revisionswerber - wie im Erkenntnis behauptet werde - unglaubwürdig sei.
8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig und begründet.
11 Das BVwG hat nicht weiter geprüft, ob eine homosexuelle Orientierung für den Betroffenen bei Rückkehr in den Irak asylrelevante Verfolgung nach sich ziehen würde. Es hat eine solche allerdings auch nicht ausgeschlossen, sondern auf die Länderberichte zum Irak verwiesen, wonach Homosexuelle ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich ausleben könnten und sich Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und Gewalt bis hin zu Ehrenmorden durch Familienangehörige ausgesetzt sähen. Vor diesem Hintergrund kann der Frage, ob der Revisionswerber tatsächlich homosexuell orientiert ist, entscheidungsrelevante Bedeutung zukommen (zur Asylrelevanz von Verfolgung wegen homosexueller Orientierung im Allgemeinen vgl. VwGH 23.2.2021, Ra 2020/18/0500, mwN).
12 Das BVwG verneint in seinen Tatsachenfeststellungen eine (behauptete) homosexuelle Orientierung des Revisionswerbers. Begründend stützt es sich zum einen darauf, dass dieses Vorbringen erst im Beschwerdeverfahren erstattet worden sei und dem Neuerungsverbot des § 20 Abs. 1 BFA-VG widerspreche. Zum anderen führte das Verwaltungsgericht - unter Außerachtlassung des Neuerungsverbots - aus, dass die homosexuelle Orientierung des Revisionswerbers nicht glaubhaft sei.
13 Dazu ist vorweg auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach die Annahme eines Neuerungsverbots im Sinne des § 20 Abs. 1 BFA-VG eine missbräuchliche Verlängerung des Asylverfahrens voraussetzt (vgl. etwa VwGH 16.6.2021, Ra 2020/18/0534, mwN).
14 Die Einschätzung des BVwG, der Revisionswerber habe seine behauptete sexuelle Orientierung missbräuchlich lange verschwiegen (so die Erwägungen zum Verstoß gegen das Neuerungsverbot) bzw. es liege diese sexuelle Orientierung in Wirklichkeit gar nicht vor (so die Beweiswürdigung), fußt zentral auf der Überlegung, dass der Revisionswerber das Vorbringen zur Homosexualität nicht schon im Verfahren vor dem BFA oder in der Beschwerde geltend gemacht hatte. Das BVwG verweist auch darauf, dass der Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung - selbst nach Erstattung eines diesbezüglichen Vorbringens in einer Stellungnahme seiner Rechtsvertretung -nicht initiativ auf seine Homosexualität zu sprechen gekommen sei. All das erscheint dem BVwG gegen seine Glaubwürdigkeit zu sprechen bzw. eine Missbrauchsabsicht (in Richtung einer Verzögerung des Verfahrens) zu begründen.
15 Bei diesen Überlegungen lässt das BVwG wesentliche Umstände außer Acht, die im Rahmen der gegenständlichen Beweiswürdigung zu beachten gewesen wären:
16 So legte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bereits ausdrücklich dar, dass die Asylbehörden die Aussagen eines (behauptetermaßen homosexuellen) Asylwerbers nicht allein deshalb für nicht glaubhaft erachten dürfen, weil er seine behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht habe. Angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere seine Sexualität, betreffen, könne allein daraus, dass diese Person, weil sie zögerte, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben habe, nicht geschlossen werden, dass sie unglaubwürdig sei (EuGH 2.12.2014, Rechtssache A., B., C., C-148/13, C-149/13, C-150/13; insbesondere Rn. 69 und 72).
17 Gerade diese - vom EuGH abgelehnte - Schlussfolgerung zog jedoch das BVwG. Besonders deutlich wird dieser Umstand auch aus der im Einzelnen wiedergegebenen Befragung des Revisionswerbers im Zuge der mündlichen Verhandlung, aus der erkennbar wird, dass der erkennende Richter ihm vernünftig erscheinende Vorgangsweisen im Asylverfahren zugrunde legte und darauf aufbauend sein Unverständnis für das Zögern des Revisionswerbers artikulierte, ohne auf die Erklärungsversuche des Revisionswerbers für seine Ängste und sein Verhalten erkennbar näher einzugehen.
18 Auch die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses weist insoweit Mängel auf: Wenn das BVwG dem Revisionswerber vorhält, es sei „gänzlich unplausibel“, dass er seine Homosexualität aus Scham vor der eigenen Familie nicht offenbart habe, bleibt das Verwaltungsgericht eine Erklärung für diese beweiswürdigende Annahme schuldig. Die getroffenen Länderfeststellungen zum Irak lassen jedenfalls den Schluss zu, dass Homosexuelle aus diesem Kulturkreis ihre sexuelle Orientierung möglichst verschweigen, und zwar auch vor der eigenen Familie. Aus demselben Grund ist auch nicht überzeugend, wenn das BVwG die Erklärung des Revisionswerbers, seine sexuelle Ausrichtung vor dem Dolmetscher wegen dessen Herkunft aus dem Irak nicht angegeben zu haben, als nicht nachvollziehbar bezeichnet. Dass der Revisionswerber mit dem Dolmetscher sprachlich - wie das BVwG argumentiert - keine Verständigungsschwierigkeiten hatte, mag zutreffen; dass er ihm aus den von ihm ausgesagten Gründen trotzdem misstraute, bleibt aber weiterhin möglich. Auch der Umstand, dass der Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung (also zu einem Zeitpunkt, zu dem seine Rechtsvertretung in einer Stellungnahme bereits auf die Homosexualität des Revisionswerbers hingewiesen hatte) nicht initiativ auf die sexuelle Orientierung zu sprechen kam, sondern darüber erst nach mehrmaliger Nachfrage des Richters Auskunft gab, spricht im Lichte des bisher Gesagten nicht unbedingt gegen seine Glaubwürdigkeit; im Gegenteil: Es untermauert eher die Annahme, dass es dem Revisionswerber selbst zu diesem Zeitpunkt noch sehr schwer fiel, über seine sexuelle Ausrichtung Auskunft zu geben.
19 Das BVwG führt gegen den Revisionswerber auch ins Treffen, dass seine Vorstellungen von Homosexualität auf Vorurteilen beruhten, weil er etwa glaubte, sie durch einen medizinischen Test belegen zu können. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH in dem bereits zitierten Urteil den Asylbehörden auferlegte, keine Befragungen durchzuführen, die allein auf stereotypen Vorstellungen von Homosexuellen beruhen, und keine Beweise wie etwa „Tests“ zum Nachweis der Homosexualität zu akzeptieren. Aus der - aus welchen Gründen auch immer gegebenen - Bereitschaft des Asylwerbers zu derartigen Beweisaufnahmen aber auf dessen Unglaubwürdigkeit zu schließen, findet in den rechtlichen Vorgaben des EuGH keine Deckung.
20 Keine Auseinandersetzung findet sich in der Beweiswürdigung des BVwG zu Umständen, die für die Glaubwürdigkeit des Revisionswerbers sprechen könnten: Nur beispielhaft sei erwähnt, dass der Hinweis des Revisionswerbers, den Namen des (behaupteten) Lebensgefährten am Körper eintätowiert zu haben, vom Verwaltungsgericht weder überprüft noch gewürdigt wurde. Die von ihm vorgelegten Lichtbilder, die ihn im Kreis von transsexuell orientierten Personen zeigen sollen, finden in der Beweiswürdigung keine Erwähnung.
21 Im Lichte all dessen ist weder die vom BVwG angenommene Absicht der missbräuchlichen Verfahrensverlängerung noch die Unglaubwürdigkeit des Revisionswerbers in Bezug auf die vorgebrachte sexuelle Orientierung mangelfrei begründet.
22 Das angefochtene Erkenntnis war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
23 Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 4. August 2021
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180024.L01