Verwaltungsgerichtshof
22.03.2023
Ra 2021/09/0269
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofräte Dr. Doblinger und Mag. Feiel sowie die Hofrätinnen Dr. Koprivnikar und Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Löffler, LL.M., über die außerordentliche Revision des Disziplinaranwaltes der Österreichischen Ärztekammer in Wien, vertreten durch Dr. Daniela Altendorfer-Eberl, Rechtsanwältin in 1040 Wien, Brucknerstraße 4/5, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 9. November 2021, VGW-172/092/12967/2021-8, betreffend Disziplinarverfahren nach dem Ärztegesetz 1998 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer - Disziplinarkommission für Wien; weitere Partei: Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz; mitbeteiligte Partei: Univ.-Prof. Dr. A B in C, vertreten durch Dr. Mag. Georg Prchlik, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Kolingasse 11/15), den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Österreichische Ärztekammer hat der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit Disziplinarerkenntnis vom 21. Juni 2021 sprach die belangte Behörde den Mitbeteiligten schuldig, wegen näher genannter Äußerungen anlässlich einer Pressekonferenz am 7. Oktober 2020 und in einem Interview mit einer Tageszeitung im Jänner 2021 das Disziplinarvergehen gemäß § 136 Abs. 1 Z 1 Ärztegesetz 1998 (ÄrzteG 1998) begangen zu haben. Über den Mitbeteiligten wurde deshalb gemäß § 139 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 die Disziplinarstrafe der Geldstrafe in der Höhe von € 5.000,-- verhängt. Weiters verpflichtete es den Mitbeteiligten zum Ersatz der Kosten des Disziplinarverfahrens in der Höhe von € 1.000,--.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung der vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde statt, hob das angefochtene Disziplinarerkenntnis auf und sprach den Mitbeteiligten gemäß § 161 Abs. 1 ÄrzteG 1998 frei. Weiters sprach es aus, dass der Mitbeteiligte die Verfahrenskosten nicht zu tragen habe. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
3 Das Verwaltungsgericht stellte dazu folgenden Sachverhalt fest (Schreibweise und Hervorhebungen im Original, Anonymisierung durch den Verwaltungsgerichtshof):
„1.1. Der Disziplinarbeschuldigte ist Facharzt für Innere Medizin und leitet als Univ.-Prof. die Abteilung für Allgemein- und Familienmedizin am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität W. Er betreibt keine Ordination und hat auch keine Patienten.
1.2. Der Disziplinarbeschuldigte nahm am 7.10.2020 an einer Pressekonferenz des Vereins römisch eins. teil und tätigte dort (unter anderen auch) folgende Aussagen (zitiert nach den im Disziplinarakt einliegenden und auch auf der Homepage des römisch eins. abrufbaren Statements der Konferenzteilnehmer):
‚Die Gefährlichkeit von COVID-19 wird aufgrund der Todesopfer, welche die Erkrankung in bestimmten Ländern gefordert hat, massiv überschätzt. Die Todesraten sind auf Lebensumstände, auf Zustand und Ausrichtung des Gesundheitssystems sowie auf die unterschiedliche Zählweise bei Statistiken zurückzuführen - z.B. genügte in Belgien ‚Corona-Verdacht‘, um als COVID-Toter gezählt zu werden. Sie sind daher auf Österreich nicht übertragbar. Die Folge sind unverhältnismäßige Prävention-Maßnahmen, die mehr psychischen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Schaden verursachen als Nutzen. So verständlich die Schutzmaßnahmen im März im Zuge einer ersten Reaktion waren, so sind doch mittlerweile ausreichend Erkenntnisse vorhanden, die einen Strategiewechsel rechtfertigen.‘
‚Die Effektivität von Mund-Nasen-Schutz-Masken ist für den Spitalsbereich mäßig gut belegt. Die Evidenz für alltäglichen Gebrauch in der Öffentlichkeit ist äußerst schwach und stützt sich auf Studien, die unter kontrollierten Bedingungen mit vordefinierten, standardisierten Masken durchgeführt wurden. Für den Effekt von selbst gefertigten Stofflappen, die noch dazu meist unter der Nase getragen, selten gewaschen und zwischenzeitlich in Hosentaschen aufbewahrt werden, fehlt jeglicher Beleg. Diese weit verbreiteten Masken sind hochgradig unhygienisch und richten wahrscheinlich mehr Schaden an als Nutzen. Es ist daher auch nicht anzunehmen, dass verpflichtendes Maskentragen von Kindern im Unterricht irgendeinen Effekt auf die Ausbreitung der Infektion haben könnte, abgesehen davon, dass Kinder per se nicht zu den Hauptträgern der SARS-CoV-2 Infektion zählen.‘
‚Als einzige sinnvolle Maßnahme zum Schutz vor COVID-19, aber auch zum generellen Schutz vor Erkältungskrankheiten, Influenza und Influenza-like-Infections sollte Händehygiene, Hust- und Nies-Etikette und Abstand von Erkrankten empfohlen werden. Darüber hinaus sollte an das Verantwortungsbewusstsein der Bürger appelliert werden, bei Erkältungssymptomen zu Hause zu bleiben und auf Abstand zu achten. Alle weitergehenden Maßnahmen erscheinen in Anbetracht der überschaubaren Gefährlichkeit von COVID-19 unverhältnismäßig. Es ist nicht mehr möglich, das Virus auszurotten. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, mit SARS-CoV-2 zu leben, so wie Menschen seit Jahrmillionen mit immer neuen Varianten von Viren zu leben gelernt haben.‘
1.3. Der Disziplinarbeschuldigte gab im Jänner 2021 in einem Interview mit der Tageszeitung S an, er stehe voll und ganz hinter den im C im Jänner 2020 veröffentlichten ‚[o]ffene[n] Brief an die österreichische Bundesregierung und an die österreichische Bevölkerung‘ enthaltenen Aussagen zum Thema Zwangsimpfung. In diesem offenen Brief ist unter der Überschrift ‚Zwangsimpfung‘ Folgendes zu lesen:
‚Es macht wenig Unterschied, ob staatlicher Zwang direkt angewendet oder eine Impfpflicht über die Hintertür eingeführt wird. So etwa, wenn man am öffentlichen, gesellschaftlichen oder beruflichen Leben, wie etwa an Reisen, Veranstaltungen oder dem Erwerb nur mehr teilnehmen darf, wenn man geimpft ist. Die mRNA Impfung ist nicht verantwortungsvoll geprüft worden und es liegen keine Langzeitstudien vor. Die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler warnt vor den drohenden Nebenwirkungen, insbesondere vor Autoimmunerkrankungen und allergischen Reaktionen bis hin zum anaphylaktischen Schock.‘
Der S gibt das Interview mit dem Disziplinarbeschuldigten wörtlich wie folgt wieder:
‚Das heißt nicht, dass ich gegen die Impfung bin‘
‚Voll und ganz‘ steht [der Disziplinarbeschuldigte] hinter den Aussagen des Inserats über ‚Zwangsimpfungen‘. Der Mediziner erklärt das so: ‚Wir wissen viel zu wenig über die Impfung.‘ Es gebe bisher einen Beobachtungszeitraum von drei Monaten. Klar sei damit nur, dass sie rund drei Monate wirke. Unklar sei, ob geimpfte Personen das Virus weitergeben können. Und ‚Wir wissen nicht, wie sicher die Impfung auf Dauer ist‘.
[Der Disziplinarbeschuldigte]: ‚Das heißt nicht, dass ich gegen die Impfung bin. Man muss die Menschen ehrlich aufklären über den möglichen Nutzen und die Risken. Es ist sinnvoll, die Leute zu impfen, die ein hohes Risiko durch Covid haben‘, also Menschen hohen Alters. ‚Die gesunde Bevölkerung durchzuimpfen ist unsinnig, wenn ich nicht weiß, ob die Weitergabe verhindert wird‘, erklärt der Mediziner.“
4 Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung verneinte das Verwaltungsgericht unter anderem mit näherer Begründung das Vorliegen eines Zusammenhangs der inkriminierten Äußerungen mit der Ausübung des ärztlichen Berufs, weshalb § 53 ÄrzteG 1998 und die Verordnung der Österreichischen Ärztekammer über die Art und Form zulässiger ärztlicher Informationen in der Öffentlichkeit (Arzt und Öffentlichkeit 2014) keine Anwendung fänden. Es liege keine Standespflichtverletzung nach § 136 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 vor. Jedenfalls wäre eine Disziplinierung des Mitbeteiligten eine unverhältnismäßige Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit. Der Mitbeteiligte habe mit seinen Äußerungen einen Beitrag in der Debatte von besonderem allgemeinen Interesse und zum in der Wissenschaft geführten Diskurs zu Themen, in denen in vielen Bereichen noch kein abgesichertes Wissen bestehe, geleistet. Bei den inkriminierten Äußerungen handle es sich um Werturteile, die auf einer im Verfahren ausgebreiteten faktischen Grundlage beruhen würden. Auch die Freiheit der Wissenschaft (Art. 10 EMRK, Art. 17 StGG) stehe einem Verbot sachlich vorgetragener Kritik entgegen. Für die Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzes der Freiheit der Wissenschaft sei es auch unerheblich, ob es sich um eine Minderheitenmeinung in der Wissenschaft handle.
5 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des Disziplinaranwalts. Der Mitbeteiligte erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung, in der die kostenpflichtige Zurück- bzw. Abweisung der Revision beantragt wird.
6 Gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes ist die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
8 Bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG ist der Verwaltungsgerichtshof an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a VwGG). Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 Zur Zulässigkeit der Revision wird unter anderem vorgebracht, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob eine Disziplinierung eines Arztes - insbesondere während einer Pandemie - gerechtfertigt sei und durch den Gesetzesvorbehalt des Art. 10 Abs. 2 EMRK gedeckt sei, wenn er die COVID-19-Pandemie verharmlose und falsche Behauptungen aufstelle, die die Bekämpfung der Pandemie behinderten (Ablehnung aller staatlichen Maßnahmen und der zugelassenen Impfung, die unrichtig als gefährlich dargestellt werde).
10 Gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Vom Schutzumfang dieser Bestimmung, die das Recht der Freiheit der Meinung und der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden einschließt, werden sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen erfasst. Art. 10 Abs. 2 EMRK sieht allerdings im Hinblick darauf, dass die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten oder zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig sind. Ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung muss sohin gesetzlich vorgesehen sein, einen oder mehrere der in Art. 10 Abs. 2 EMRK genannten rechtfertigenden Zwecke verfolgen und zur Erreichung dieses Zweckes oder dieser Zwecke „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein (vgl. anstatt vieler VfGH 24.2.2021, E 607/2020, unter Hinweis unter anderem auf die einschlägige Rechtsprechung des EGMR, darunter grundlegend EGMR 26.4.1979, The Sunday Times/Vereinigtes Königreich, 6538/74).
11 In diesem Sinn hat der Verfassungsgerichtshof in seiner Judikatur keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Disziplinarrecht der Ärzte gehegt und es im öffentlichen Interesse für gerechtfertigt erachtet, die Werbung bestimmter Berufsgruppen, wozu u.a. Rechtsanwälte und Ärzte zählen, Beschränkungen zu unterwerfen (vgl. etwa VfSlg. 6026/1969, 10.700/1985, 11.996/1989, 16.296/2001, 17.382/2004, 17.852/2006, 18.559/2008, 18.763/2009). Das in § 53 ÄrzteG 1998 normierte Verbot unsachlicher, unwahrer oder das Standesansehen der Ärzteschaft beeinträchtigender Informationen liegt sowohl im Interesse der Ärzteschaft als auch im Interesse der Allgemeinheit, sich bei der Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen von sachlichen Erwägungen leiten zu lassen (vgl. VwGH 28.10.2021, Ra 2019/09/0140, unter Verweis auf VfGH 12.6.2012, B 811/11; siehe auch RIS-Justiz RS0108834).
12 Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) differenziert zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen. Die Unterscheidung ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine fließende, die im jeweiligen Einzelfall zu treffen ist. Es wird vom EGMR ausdrücklich eingeräumt, dass in vielen Fällen schwer zu entscheiden ist, ob eine bestimmte Äußerung ein Werturteil oder eine Tatsachenbehauptung darstellt. Selbst ein Werturteil ist nur dann zulässig, wenn es auf einer ausreichenden faktischen Grundlage beruht (EGMR 13.11.2003, Scharsach und News Verlagsgesellschaft mbH/Österreich, 39394/98 = ÖJZ 2004, 512).
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Eingriff durch eine disziplinarrechtliche Bestrafung, die sich gegen die Meinungsäußerungsfreiheit richtet, am Maßstab des Art. 10 EMRK zu messen (vgl. VwGH 28.2.2022, Ra 2021/09/0202). Die Beurteilung der Zulässigkeit eines Eingriffs in eine der grundrechtlichen Gewährleistungen der EMRK wie jene des Art. 10 Abs. 2 EMRK erfordert eine Abwägung zwischen den diesen Eingriff rechtfertigenden öffentlichen Interessen und den Interessen des Betroffenen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichthofes und des EGMR muss die Einschränkung im Einzelfall in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Angesichts der besonderen Bedeutung und Funktion der Meinungsäußerungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft, die auch der EGMR mehrfach betonte, muss die Notwendigkeit der mit einer Bestrafung verbundenen Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung im Einzelfall außer Zweifel stehen (vgl. etwa VfGH 2.3.1994, B 2045/92, mwN auch zur Rechtsprechung des EGMR, unter anderem EGMR 26.11.1991, Observer and Guardian/Vereinigtes Königreich, 13585/88).
14 Nach der Rechtsprechung bedürfen im Fall konfligierender Grundrechte bei der Interessenabwägung Äußerungen über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse einen hohen Grad an Schutz unter Art. 10 EMRK (vgl. in diesem Sinn RIS-Justiz RS0125220; siehe auch RS0125057). Der Verwaltungsgerichtshof hat auch im Zusammenhang mit disziplinären Bestrafungen von Ärzten betont, dass das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR wie auch des Verfassungsgerichtshofes nicht nur für „Nachrichten“ oder „Ideen“ gilt, die ein positives Echo haben oder die als unschädlich oder gleichgültig angesehen werden, sondern auch für solche, die provozieren, schockieren oder stören (vgl. erneut VwGH 28.2.2022, Ra 2021/09/0202, mwN; zur besonderen Zurückhaltung bei der Beurteilung einer Äußerung als Disziplinarvergehen vgl. zuletzt VfGH 24.2.2021, E 607/2020, mwN). Andererseits ist zu beachten, dass der Verwaltungsgerichtshof in Anknüpfung an die bereits dargestellte Judikatur des Verfassungsgerichtshofes bereits darauf hingewiesen hat, dass eine disziplinäre Bestrafung unsachlicher, unwahrer oder das Standesansehen der Ärzteschaft beeinträchtigender Informationen im öffentlichen Interesse des Schutzes der Gesundheit gelegen sein kann (vgl. ebenfalls VwGH 28.2.2022, Ra 2021/09/0202).
15 Die konkrete Gewichtung der zu schützenden Rechtsgüter und die Frage der Verhältnismäßigkeit einer disziplinären Maßnahme ist anhand der konkreten Umstände im Einzelfall vorzunehmen. Eine solche Abwägung ist daher - wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. erneut bereits VwGH 28.2.2022, Ra 2021/09/0202, mwN). Der Frage, ob die besonderen Umstände des Einzelfalls auch eine andere Entscheidung gerechtfertigt hätten, kommt in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung zu. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge nur dann vor, wenn diese Beurteilung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre.
16 Im gegenständlichen Fall sind die vom Mitbeteiligten nach den oben wiedergegebenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts getätigten Äußerungen im Kontext der kontrovers geführten Diskussion, welche präventiven Maßnahmen der Staat im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ergreifen soll, und zur Einführung einer Impfpflicht erfolgt. Der Mitbeteiligte wollte damit erkennbar einen Beitrag zu dieser öffentlichen Debatte leisten, gab er die Äußerung doch im Rahmen einer Pressekonferenz und eines Interviews mit einer Tageszeitung kund und nicht etwa im Rahmen von Aufklärungsgesprächen mit Patienten. Zu berücksichtigen ist weiters der Umstand, dass nach den vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen der Mitbeteiligte entgegen dem Zulässigkeitsvorbringen nicht schlechthin sämtliche staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 abgelehnt hat, sondern eine differenzierte Betrachtung etwa im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Mund-Nasen-Schutz-Masken propagiert und dies auch näher begründet hat. Ausgehend von den getroffenen Feststellungen lehnte der Mitbeteiligte im verfahrensgegenständlichen Interview die „Corona-Impfung“ ebenfalls nicht pauschal als gefährlich ab. Im Zentrum der festgestellten Äußerungen im Zusammenhang mit den Impfungen steht nicht die Frage der Sicherheit der Impfungen, sondern wendet sich der Mitbeteiligte in erster Linie gegen eine „Zwangsimpfung“. Er bezeichnete die Impfung für Menschen, „die ein hohes Risiko durch Covid haben“, sogar als ausdrücklich sinnvoll und lehnte im Zusammenhang mit der „gesunden Bevölkerung“ eine Impfpflicht insbesondere aufgrund der Unklarheit, ob durch eine Impfung auch die Weitergabe des Virus verhindert werden könne sowie im Hinblick auf Unsicherheiten bezüglich Langzeitwirkungen, ab. Dem Revisionswerber ging es demnach erkennbar darum, die - zum Zeitpunkt der Äußerungen - in Aussicht genommene COVID-19-Impfpflicht in Österreich und eine generelle Maskenpflicht, insbesondere den Gebrauch von selbstgenähten Stoffmasken, kritisch zu hinterfragen.
17 Das Verwaltungsgericht ist unter Auseinandersetzung mit der einschlägigen Rechtsprechung und Beurteilung der Aussagen in ihrer Gesamtheit, die es als auf Tatsachen beruhende persönliche Meinung des Mitbeteiligten wertete, zum Ergebnis gekommen, dass die mit der Disziplinierung erfolgte Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit des Mitbeteiligten im Hinblick auf die in Art. 10 Abs. 2 EMRK genannten Ziele unverhältnismäßig wäre. Diese im vorliegenden Einzelfall vom Verwaltungsgericht vorgenommene Beurteilung kann vom Verwaltungsgerichtshof nicht als unvertretbar erkannt werden. Ein vom Verwaltungsgerichtshof in Auslegung einfachgesetzlicher Vorschriften im Lichte des Art. 10 EMRK aufzugreifender Fehler oder ein Abweichen von den dargestellten Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes wird vom Revisionswerber nicht aufgezeigt.
18 Auch Ärzten muss es möglich sein, in dieser Eigenschaft an öffentlichen Debatten über gesundheitspolitische Themen (siehe dazu EGMR 16.2.2016, Ärztekammer für Wien und Dorner/Austria, 8895/10) teilzunehmen und Sachkritik zu äußern, zumal diesen eine höhere Expertise zukommt (vgl. VfGH 2.3.1994, B 2045/92). Zu betonen ist allerdings, dass bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Aussagen von Ärztinnen und Ärzten, insbesondere zum Schutz des Vertrauens der allgemeinen Bevölkerung in die Seriosität der Berufsausübung und Fachexpertise, ein - auch im ärztlichen Berufsrecht verankerter - strengerer Maßstab anzulegen ist (vgl. etwa Kopetzki, Wieviel Unfug verträgt die Meinungsfreiheit, RdM 2022/1). Äußerungen, die „gar der Vernunft“ widersprechen, sind von der Meinungsäußerungsfreiheit keinesfalls gedeckt (in diesem Sinn bereits VwGH 28.10.2021, Ra 2019/09/0140).
19 Die in der Zulässigkeitsbegründung weiters aufgeworfenen Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Vorliegen einer Dienstpflichtverletzung nach § 136 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 und zu § 53 Abs. 1 ÄrzteG 1998 vermögen keine Zulässigkeit der Revision zu begründen. Das Verwaltungsgericht begründete den Freispruch nämlich - wie bereits ausgeführt - nicht bloß mit einer fehlenden Tatbestandsmäßigkeit des § 136 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998, sondern stützte sich alternativ auch auf die unverhältnismäßige Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit. Beruht aber ein Erkenntnis auf einer tragfähigen Alternativbegründung und wird im Zusammenhang damit keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufgezeigt, so erweist sich die Revision als unzulässig. Dies gilt selbst dann, wenn davon auszugehen wäre, dass die anderen Begründungsalternativen rechtlich unzutreffend sind (vgl. VwGH 7.5.2020, Ra 2019/10/0122, mwN).
20 Im Übrigen wird mit dem Vorbringen, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob eine öffentliche Äußerung von Ärztinnen und Ärzten zu Gesundheitsthemen im Zusammenhang mit der Ausübung ihres Berufs im Sinn des § 53 Abs. 1 ÄrzteG 1998 steht, keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung dargetan, betrifft dies doch eine Beurteilung, die anhand der konkreten Umstände im Einzelfall zu klären ist (vgl. erneut VwGH 28.10.2021, Ra 2019/09/0140).
21 Soweit in der Zulässigkeitsbegründung auf Äußerungen in dem „offenen Brief an die österreichische Bundesregierung“ abgestellt und in dem Zusammenhang das Vorliegen von falschen Informationen vorgebracht wird, entfernt sich der Revisionswerber vom festgestellten und von ihm nicht bekämpften Sachverhalt. Aus diesem ergibt sich nicht, dass diese Äußerungen vom Mitbeteiligten stammen. Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt hat der Mitbeteiligte auch keine generelle Behauptung aufgestellt, „eine Maskenpflicht zur Eindämmung von Covid-19 schade mehr als sie nütze“. Von der zur Begründung der Zulässigkeit der Revision aufgeworfenen Rechtsfrage hängt eine Entscheidung über die Revision daher nicht ab.
22 Insofern der Revisionswerber, ohne einen Bezug zum konkreten Fall herzustellen, fehlende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage geltend macht, ob ein Verwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung abhalten dürfe, obwohl gemäß § 17 VwGVG iVm § 158 ÄrzteG keine Öffentlichkeit der Verhandlung zulässig sei, ist darauf hinzuweisen, dass die Zulässigkeit der Revision im Zusammenhang mit einem eine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufwerfenden Verfahrensmangel voraussetzt, dass die Revision von der Lösung dieser geltend gemachten Rechtsfrage abhängt. Davon kann bei einem Verfahrensmangel aber nur dann ausgegangen werden, wenn auch die Relevanz des Mangels für den Verfahrensausgang dargetan wird, das heißt, dass im Falle der Durchführung eines mängelfreien Verfahrens abstrakt die Möglichkeit bestehen muss, zu einer anderen - für die revisionswerbende Partei günstigeren - Sachverhaltsgrundlage zu gelangen (vgl. im Zusammenhang mit einer Amtsrevision etwa VwGH 5.1.2021, Ra 2020/10/0028, mwN). Eine diesen Anforderungen entsprechende Relevanzdarlegung lässt die Revision vermissen.
23 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat - zurückzuweisen.
24 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. März 2023
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021090269.L00