Gericht

Verwaltungsgerichtshof

Entscheidungsdatum

16.07.2020

Geschäftszahl

Ra 2019/19/0419

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens und die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des M O, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. November 2018, W215 2165695-1/9E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1             Der Revisionswerber, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte am 21. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2             Als Fluchtgrund brachte er in der Erstbefragung am selben Tag vor, in seinem Herkunftsstaat habe es ständig Streit zwischen den Regierungstruppen und Al-Shabaab gegeben. Er sei von den Regierungstruppen beschuldigt worden, zur Al-Shabaab zu gehören, und deshalb in Gefahr gewesen.

3             In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 21. Juli 2017 brachte er vor, die Al-Shabaab habe ihn zwangsrekrutieren wollen. Er habe abgelehnt, weswegen sie ihn mit dem Tod bedroht hätten. Weiters hätten sie ihn beschuldigt, ein Mitglied der Regierungstruppen zu sein. Auf Grund dieser Todesdrohung habe er seinen Heimatort (Jiliib) verlassen. Auf dem Weg nach Mogadischu sei er bei einer Kontrollstelle von Regierungstruppen befragt worden. Als er angegeben habe, aus Jiliib zu kommen, hätten sie ihm vorgeworfen, Mitglied der Al-Shabaab zu sein, und ihn verhaftet. Er sei zwei Wochen in Haft gewesen, bis er von einer Tante freigekauft worden sei. Da er sowohl von der Al-Shabaab als auch von der Regierung bedroht gewesen sei, sei er geflüchtet.

4             Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das - auf Grund einer Säumnisbeschwerde zuständig gewordene - Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Somalia zulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5             Begründend führte das BVwG - soweit hier maßgeblich - aus, das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers entspreche nicht den Tatsachen, weswegen er eine wohlbegründete Furcht vor asylrelevanter Verfolgung nicht glaubhaft machen habe können.

6             Im Unterschied zur Erstbefragung habe der Revisionswerber in der Einvernahme vor dem BFA eine drohende Zwangsrekrutierung und Todesdrohungen durch die Al-Shabaab als „eigentlichen Fluchtgrund“ angegeben, Probleme mit Regierungstruppen seien hingegen erst auf der Flucht vor der Al-Shabaab dazugekommen. Es könne auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, dass eine Person, die aus Furcht vor Verfolgung ihren Herkunftsstaat verlassen habe, gerade in ihrer ersten Befragung auf die konkrete Frage nach ihrer Flucht die Möglichkeit kaum ungenützt lassen werde, die Umstände und Gründe ihrer Flucht in umfassender und in sich schlüssiger Weise darzulegen. Die behaupteten Todesdrohungen durch die Al-Shabaab in Folge einer versuchten Zwangsrekrutierung seien daher nicht glaubwürdig. Da die Probleme mit Al-Shabaab nicht den Tatsachen entsprächen, könnten die behauptete Flucht vor Al-Shabaab nach Mogadischu und die daraus resultierenden Probleme mit Regierungssoldaten ebenfalls nicht den Tatsachen entsprechen, sodass es auch keinen Grund für eine illegale Ausreise gegeben habe. Der Revisionswerber habe auch widersprüchliche Angaben zur Dauer seines Aufenthaltes im Herkunftsstaat nach der behaupteten Anhaltung durch die Regierungssoldaten gemacht. Schließlich sei die Ausreise aus dem Herkunftsstaat problemlos und legal über den internationalen Flughafen erfolgt.

7             Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

8             Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. vor, das BVwG habe gegen näher genannte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Anforderungen an die Beweiswürdigung in Zusammenhang mit der Erstbefragung verstoßen. Kernargument der Beweiswürdigung durch das BVwG sei nämlich, dass das Vorbringen des Revisionswerbers in der Einvernahme vor dem BFA umfangreicher als in der Erstbefragung gewesen sei. Das BVwG habe auch gegen die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht verstoßen, weil es ohne nähere Begründung von einer problemlosen und legalen Ausreise des Revisionswerbers ausgegangen sei, obwohl dieser in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG angegeben habe, schlepperunterstützt unter Verwendung einer falschen Identität ausgereist zu sein.

9             Die Revision ist im Sinne dieses Vorbringens zulässig und auch begründet.

10           Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 dient die Erstbefragung insbesondere der Ermittlung der Identiät und der Reiseroute des Fremden und hat sich - abgesehen von einem (hier nicht vorliegenden) Folgeantrag - nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen. Vor diesem Hintergrund hat der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 bis 0018, ausgesprochen, dass er der - auch im Revisionsfall vom BVwG seiner Beweiswürdigung zu Grunde gelegten - Annahme, ein Asylwerber werde immer alles, was zur Asylgewährung führen könne, bereits bei der Erstbefragung vorbringen, nicht beitreten kann.

11           Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es am Boden des § 19 Abs. 1 AsylG 2005 zwar weder der Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zu späteren Angaben einzubeziehen, es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. etwa VwGH 28.2.2019, Ra 2018/14/0366, mwN).

12           Wie die Revision zutreffend darlegt, stützt das BVwG die Annahme der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens tragend darauf, dass der Revisionswerber sein Vorbringen zur Verfolgung durch die Al-Shabaab nicht schon in der Erstbefragung erwähnt habe. Es lässt dabei aber nicht erkennen, dass die in der zitierten Rechtsprechung aufgezeigten Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung, die sich nach § 19 Abs. 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, in seine Erwägungen eingeflossen sind. So ist das BVwG in seiner Beweiswürdigung auf das Vorbringen des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG, wonach die Erstbefragung sehr kurz gewesen sei und der Polizist gesagt habe, er werde bei der zweiten Einvernahme mehr Zeit haben, um alle Ausreisegründe zu nennen, nicht eingegangen (vgl. zu einem ähnlichen Fall VwGH 29.4.2019, Ra 2018/20/0462).

13           Wenn das BVwG daher in der Folge die behauptete Verhaftung durch Regierungstruppen allein deshalb für unglaubwürdig erachtet, dass schon das Vorbringen zur Verfolgung durch die Al-Shabaab nicht den Tatsachen entspreche, kann auch diese Begründung das Ergebnis der Beweiswürdigung nicht tragen.

14           Schließlich stützt sich das BVwG beweiswürdigend darauf, der Revisionswerber sei problemlos und legal über den internationalen Flughafen in Mogadischu ausgereist. Es hat sich dabei jedoch nicht mit dem Vorbringen des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG auseinandergesetzt, dieser sei mit einem Schlepper unter Verwendung eines falschen Passes ausgereist, und ist insoweit seiner Begründungspflicht nicht nachgekommen. Das Verwaltungsgericht darf sich nämlich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0686, mwN).

15           Es ist nicht ausgeschlossen, dass das BVwG bei Vermeidung dieser Begründungsmängel zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte kommen können, sodass auch die Relevanz der Verfahrensfehler gegeben ist.

16           Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

17           Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 16. Juli 2020

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190419.L00