Gericht

Verwaltungsgerichtshof

Entscheidungsdatum

24.10.2019

Geschäftszahl

Ro 2017/15/0035

Beachte

Vorabentscheidungsverfahren:

* EU-Register: EU 2019/0005

Vorabentscheidungsverfahren:

C-844/19

* EuGH-Entscheidung:

EuGH 62019CJ0844 B 12.05.2021

* Enderledigung des gegenständlichen Ausgangsverfahrens im fortgesetzten Verfahren:

Ro 2017/15/0035 E 30.06.2021

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn und die Hofrätin Dr. Büsser sowie die Hofräte MMag. Maislinger, Mag. Novak und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Engenhart, 1) in der Revisionssache zu Zahl Ro 2017/15/0035 des A T in R, vertreten durch die Consilia Schwarzach Wirtschaftstreuhand GmbH, Steuerberatungsgesellschaft in 5620 Schwarzach, Höhenweg 4, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes vom 29. Mai 2017, Zl. RV/2100484/2013, betreffend Abweisung eines Antrages auf Zuerkennung von Berufungszinsen, und 2) in der Revisionssache zu Zahl Ro 2018/15/0026 des Finanzamtes Graz-Stadt in 8010 Graz, Conrad von Hötzendorfstraße 14-18, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes vom 7. September 2018, Zl. RV/2100689/2014, betreffend Festsetzung von Zinsen (mitbeteiligte Partei: t GmbH in G, vertreten durch die Schenz & Haider Rechtsanwälte OG in 2340 Mödling, Enzersdorfer Straße 4), denBeschluss gefasst:

Spruch

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Artikel 267, AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.    Ergibt sich aus dem Unionsrecht eine unmittelbar anwendbare Regelung, die einem Steuerpflichtigen, dem das Finanzamt in einer Situation, wie sie in den Ausgangsverfahren vorliegt, nicht rechtzeitig ein Umsatzsteuerguthaben erstattet, einen Anspruch auf Verzugszinsen einräumt, sodass er diesen Anspruch beim Finanzamt bzw. bei den Verwaltungsgerichten geltend machen kann, obwohl das nationale Recht eine solche Zinsenregelung nicht vorsieht?

Für den Fall der Bejahung der 1. Vorlagefrage:

2.    Ist es auch im Falle der durch eine nachträgliche Entgeltminderung nach Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem entstandenen Umsatzsteuerforderung des Steuerpflichtigen zulässig, dass die Verzinsung erst nach Ablauf eines angemessenen Zeitraumes, der dem Finanzamt zur Überprüfung der Richtigkeit des vom Steuerpflichtigen geltend gemachten Anspruches zur Verfügung steht, beginnt?

3.    Hat der Umstand, dass das nationale Recht eines Mitgliedstaates keine Verzinsungsregelung für die verspätete Gutschrift von Umsatzsteuerguthaben enthält, zur Folge, dass von den nationalen Gerichten bei der Bemessung der Zinsen die in Art. 27 Abs. 2 zweiter Unterabsatz der Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige angeordnete Rechtsfolge auch dann zur Anwendung zu bringen ist, wenn die Ausgangsverfahren nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen?

Begründung

1             A. Sachverhalt und bisheriges Verfahren:

2             1. Die Revisionssache Ro 2017/15/0035

3             Der in Österreich ansässige Revisionswerber machte in seiner Umsatzsteuervoranmeldung für August 2007 am 13. September 2007 einen Überschuss an Vorsteuern in Höhe von 60.689,28 € geltend.

4             Das Finanzamt verbuchte diesen Überschuss zunächst nicht am Steuerkonto des Revisionswerbers, sondern führte eine Umsatzsteuerprüfung durch. Es entstand dabei ein Streit über das Ausmaß des Vorsteuerabzugs aus der Errichtung eines Zubaus zum Hotelbetrieb des Revisionswerbers. Deshalb setzte das Finanzamt den Überschuss an Vorsteuern mit Bescheid vom 18. Oktober 2007 um 46.000 € niedriger fest, also in Höhe von 14.689,28 €.

5             Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Berufung.

6             Mit Bescheid des unabhängigen Finanzsenates vom 15. Mai 2013 wurde der Berufung Folge gegeben und die Umsatzsteuer wie vom Revisionswerber begehrt festgesetzt. Der Vorsteuerbetrag wurde dem Revisionswerber am 22. Mai 2013 auf seinem Steuerkonto gutgeschrieben.

7             Mit Eingabe vom 30. Mai 2013 beantragte der Revisionswerber Berufungszinsen gemäß § 205a Bundesabgabenordnung (BAO) für die Abgabengutschrift für den Zeitraum ab 1. Jänner 2012, weil mit 1. Jänner 2012 die Regelung des § 205a BAO in Kraft getreten sei, die in unionsrechtskonformer Interpretation auch einen Anspruch auf Verzugszinsen auf Vorsteuerguthaben begründe.

8             Das Finanzamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom 10. Juni 2013 ab.

9             Mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesfinanzgericht der gegen den Abweisungsbescheid erhobenen Beschwerde keine Folge.

10           Zur Begründung führte das Bundesfinanzgericht im Wesentlichen aus, aus der Bestimmung des § 205a BAO ergebe sich zwar eine Verzinsung, wenn eine vom Steuerpflichtigen an das Finanzamt entrichtete (zunächst strittige) Abgabenschuldigkeit als Folge eines Rechtsmittels herabgesetzt werde, nicht aber für den hier vorliegenden Fall der Zuerkennung einer Abgabengutschrift im Rechtsmittelverfahren.

11           Der Revisionswerber bekämpft die Entscheidung des Bundesfinanzgerichts mit Revision an den Verwaltungsgerichtshof.

12           Der Verwaltungsgerichtshof hat eine mündliche Verhandlung über die Revision abgehalten. Im Rahmen der Verhandlung brachte der Revisionswerber vor, dass ihm das Unionsrecht einen Anspruch auf Verzugszinsen auf das Vorsteuerguthaben einräumt. Die Finanzverwaltung bestritt, dass sich aus dem Unionsrecht ein unmittelbar anwendbarer Anspruch auf Verzugszinsen ergebe. Die bisherige Rechtsprechung des EuGH habe immer Fälle betroffen, in denen bereits die nationale Rechtsordnung ein Verzugszinsenregime kannte.

13           2. Die Revisionssache Ro 2018/15/0026

14           Die mitbeteiligte Partei, eine in Deutschland ansässige Gesellschaft mit beschränkter Haftung, hatte in den Jahren 2003 und 2004 Maschinen in Österreich verkauft und diese Geschäftsfälle in Österreich der Umsatzsteuer unterzogen. Im Jahr 2005 machte sie in der Umsatzsteuervoranmeldung für den Monat Mai 2005 mit der Begründung, dass sich nachträglich eine Minderung des Entgelts (§ 16 UStG 1994) ergeben habe, eine Umsatzsteuergutschrift in Höhe von 367.081,58 € geltend.

15           Die Umsatzsteuergutschrift wurde im Rahmen einer abgabenbehördlichen Prüfung, die im Juli 2006 begann und im Juni 2008 endete, geprüft und während des Prüfungsverfahrens am 10. März 2008 dem Abgabenkonto der mitbeteiligten Partei gutgeschrieben. Im Hinblick auf eine am Abgabenkonto vorher bestandene Schuld von 18.000 € ergab sich daraus ein Guthaben der mitbeteiligten Partei von rund 345.000 €.

16           Bei Ende der Prüfung vertrat das Finanzamt jedoch die Auffassung, dass die Entgeltsberichtigung nicht vorzunehmen sei und die Umsatzsteuerforderung der mitbeteiligten Partei nicht bestehe. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2008 setzte das Finanzamt daher die Umsatzsteuer 2005 mit 2.734,36 € fest, wodurch sich eine Nachforderung in Höhe von 367.081,58 € ergab. Diese Nachforderung wurde von der mitbeteiligten Partei einerseits durch das auf ihrem Abgabenkonto bestehende Guthaben und andererseits durch eine Zahlung an das Finanzamt entrichtet.

17           Einer gegen den Umsatzsteuerbescheid vom 13. Oktober 2008 gerichteten Berufung der mitbeteiligten Partei gab der unabhängige Finanzsenat mit Berufungsentscheidung vom 8. April 2013 Folge. Der Betrag von 367.081,58 € wurde der mitbeteiligten Partei am 10. Mai 2013 gutgeschrieben.

18           Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2013 beantragte die mitbeteiligte Partei, unter Verweis auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (u.a. EuGH 19.7.2012, Littlewoods Retail Ltd, C-591/10), für den Zeitraum Juli 2005 bis Mai 2013 eine Verzinsung des Betrages von 367.081,58 €.

19           Über diesen Antrag entschied das Finanzamt mit Bescheid vom 4. Februar 2014 dahingehend, dass nur für den Zeitraum 1. Jänner 2012 bis 8. April 2013 ein Anspruch auf Zinsen (in Höhe von 10.021,32 €) bestehe. Die mit dem Umsatzsteuerbescheid vom 13. Oktober 2008 festgesetzte Nachforderung in Höhe von 367.081,58 € habe die mitbeteiligte Partei an das Finanzamt entrichtet. Für die während des Streitverfahrens an das Finanzamt entrichtete Abgabe räume § 205a BAO Beschwerdezinsen ein; § 205a BAO sei mit 1. Jänner 2012 in Kraft getreten.

20           Einer gegen den Bescheid vom 4. Februar 2014 gerichteten Beschwerde gab das Bundesfinanzgericht mit Erkenntnis vom 29. Mai 2017 zum Teil Folge, indem es der mitbeteiligten Partei auch für den Zeitraum 2. September 2005 bis 9. März 2008 Verzugszinsen zusprach, wodurch sich die Verzugszinsen auf insgesamt 51.170,02 € erhöhten.

21           Für den Zeitraum vom 2. September 2005 bis 9. März 2008 stützte sich das Bundesfinanzgericht nicht auf § 205a BAO, weil in Bezug auf diesen Zeitraum keine von der mitbeteiligten Partei an das Finanzamt entrichtete Steuer vorlag. Zur Begründung des Anspruches auf Verzugszinsen für diesen Zeitraum stützt sich das Bundesfinanzgericht auf Unionsrecht und zwar insbesondere auf das Urteil des EuGH vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail Ltd, C-591/10. Das Bundesfinanzgericht führt aus, die mitbeteiligte Partei habe über den Betrag von 367.081,58 € vom Tag der Geltendmachung bis zur am 10. März 2008 erfolgten Gutschrift nicht verfügen können. Nach der Rechtsprechung des EuGH stehe ihr für diesen Zeitraum eine Verzinsung zu, wobei der Zinsenlauf mit dem 46. Tag nach Einreichung der Umsatzsteuervoranmeldung und damit am 2. September 2005 beginne (EuGH 12.5.2011, Enel Maritsa Iztok 3, C-107/10, Rn. 61). Dem Anspruch auf Verzinsung stehe auch nicht entgegen, dass die Abgabenbehörde eine Prüfung der Umsatzsteuergutschrift vorgenommen habe.

22           Ab dem 10. März 2008 habe die mitbeteiligte Partei über den Betrag von 367.081,58 € verfügen können. Der Umsatzsteuerjahresbescheid 2005 vom 13. Oktober 2008 ändere daran nichts, weil die mitbeteiligte Partei gegen diesen Bescheid ein Rechtsmittel erhoben habe, sodass auf Antrag die Entrichtung der aus diesem Bescheid resultierenden Nachforderung von 367.081,58 € nach innerstaatlichem Recht (§ 212a BAO) bis zum Ergehen der Rechtsmittelentscheidung ausgesetzt sei und über diesen Geldbetrag verfügt werden könne.

23           Die gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 29. Mai 2017 gerichtete Revision des Finanzamtes wendet sich ausschließlich gegen den Zuspruch von Verzugszinsen für den Zeitraum 2. September 2005 bis 9. März 2008.

24           Der Verwaltungsgerichtshof hat eine mündliche Verhandlung über die Revision abgehalten. Im Rahmen der Verhandlung bestritt die Finanzverwaltung, dass sich aus dem Unionsrecht ein unmittelbar anwendbarer Anspruch auf Verzugszinsen ergebe. Die nationale Rechtsordnung in Österreich enthalte - im Gegensatz zur Rechtsordnung im Ausgangsverfahren des Urteils Littlewoods Retail Ltd, in dem der EuGH Verzugszinsen auf Umsatzsteuerguthaben unionsrechtlich beurteilt habe - keine Anspruchsgrundlage für Verzugszinsen auf die hier in Rede stehenden Steuerguthaben. Aus Art. 27 der Richtlinie 2008/9/EG sei auch abzuleiten, dass es unionsrechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn ein Mitgliedstaat keine Verzinsung für Steuerguthaben kenne.

25           B. Maßgebliche Bestimmungen des nationalen Rechts:

26           Vorweg ist darauf zu verweisen, dass das österreichische Abgabenrecht keine allgemeine Regelung betreffend Verzinsung von Abgabenschulden oder Abgabengutschriften enthält. § 205 BAO sieht (für einen Zeitraum von maximal 48 Monaten ab dem auf das Steuerjahr folgenden Oktober) „Nachforderungszinsen“ (zugunsten des Abgabengläubigers) und „Gutschriftszinsen“ (zugunsten des Steuerpflichtigen), die sich auf Basis der Differenz zwischen den festgesetzten Vorauszahlungen und dem im Jahressteuerbescheid festgesetzten Abgabenbetrag ergeben können, nur im Bereich der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer vor. Für den Fall, dass eine Abgabenvorschreibung zu einer Nachforderung führt und der Steuerpflichtige diese Nachforderung mit Rechtsmittel bekämpft, aber während des Rechtsmittelzeitraums bereits an das Finanzamt entrichtet, und diese Steuernachforderung schließlich durch die Erledigung des Rechtsmittels herabgesetzt wird, normiert § 205a BAO Beschwerdezinsen für den Zeitraum ab Entrichtung bis zur Bekanntgabe der die Abgabe herabsetzenden Rechtsmittelerledigung.

27           Das österreichische Umsatzsteuergesetz sieht in § 21 Abs. 1 UStG 1994 u.a. vor, dass ein im Voranmeldungszeitraum (Kalendermonat) vorangemeldeter Überschuss (an Vorsteuer gegenüber der Umsatzsteuer) - im Allgemeinen - umgehend am Abgabenkonto des Steuerpflichtigen gutzuschreiben ist, wobei die Gutschrift auf den Tag der Einreichung der Voranmeldung, frühestens auf den Tag nach Ablauf des Voranmeldungszeitraums, zurückwirkt und unmittelbar am Abgabenkonto ausgewiesene Steuerschulden tilgt bzw. zur Auszahlung an den Steuerpflichtigen zur Verfügung steht. Eine Verzinsung des durch die Gutschrift allenfalls entstehenden Guthabens am Abgabenkonto ist nicht vorgesehen.

28           Die Bundesabgabenordnung sieht in § 217 Säumniszuschläge für den Fall vor, dass eine Abgabe nicht spätestens am Fälligkeitstag entrichtet wird. Der erste Säumniszuschlag beträgt 2% des nicht zeitgerecht entrichteten Abgabenbetrags, ein zweiter und ein dritter Säumniszuschlag (jeweils in Höhe von 1%) sind nach jeweils weiteren drei Monaten zu entrichten.

29           Betreffend Unternehmer, die nicht im Inland ansässig sind und im Inland auch keine Umsätze erzielen, sieht die - in Umsetzung der Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige ergangene - Verordnung des Bundesministers für Finanzen, BGBl. Nr. 279/1995 (in der Fassung BGBl. II Nr. 158/2014), die Erstattung von Vorsteuern in einem gesonderten Verfahren vor. Für im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässige Unternehmer sieht diese Verordnung in § 3 eine Säumnisabgeltung vor: Erfolgt nach Ablauf von vier Monaten und zehn Werktagen nach Eingang des Erstattungsantrages bei der Abgabenbehörde keine Zahlung des zu erstattenden Betrages durch das Finanzamt, ist zu Gunsten des Steuerpflichtigen eine Säumnisabgeltung in Höhe von 2% für den nicht zeitgerecht erstatteten Abgabenbetrag festzusetzen. Fordert die Abgabenbehörde zusätzliche Informationen an, so besteht der Anspruch auf die Säumnisabgeltung im Falle einer einmaligen Aufforderung frühestens mit Ablauf von zehn Werktagen nach Ablauf einer Frist von sechs Monaten und im Falle einer zweimaligen Aufforderung frühestens mit Ablauf von zehn Werktagen nach Ablauf einer Frist von acht Monaten ab Eingang des Erstattungsantrages. Zweite und dritte Säumnisabgeltungen (in Höhe von jeweils 1% des nicht erstatteten Abgabenbetrages) sind festzusetzen, soweit der Abgabenbetrag nicht spätestens nach jeweils drei weiteren Monaten erstattet wird.

30           C. Erläuterung zu den Vorlagefragen:

31           1. Unmittelbar anwendbarer unionsrechtlicher Anspruch auf Verzugszinsen dem Grunde nach

32           Die zur Zahl Ro 2017/15/0035 anhängige Revision betrifft die verspätete Erstattung eines Vorsteuerüberhanges.

33           Der EuGH hat in den Urteilen vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C-107/10; 24. Oktober 2013, Rafinaria Steaua Romana, C-431/12; 6. Juli 2017, Glencore Agriculture, C-254/16; und 28. Februar 2018, Nidera BV, C-387/16, zu Fällen mit Vorsteuerüberschüssen in Auslegung von Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie entschieden, dass dem Steuerpflichtigen Verzugszinsen zu zahlen sind, wenn ihm ein Mehrwertsteuerüberschuss nicht innerhalb angemessener Frist ausbezahlt wird. Den Ausgangsverfahren der angeführten Urteile des EuGH ist gemeinsam, dass die jeweilige nationale Rechtsordnung eine Regelung enthielt, der zufolge der Staat verpflichtet war, dem Steuerpflichtigen im Falle einer rechtswidrig verspäteten Erstattung von Steuern Verzugszinsen zu zahlen. Im österreichischen nationalen Recht gibt es keine solche Norm. Es gibt keine gesetzlichen Bestimmungen, die dem Steuerpflichtigen für die verspätete Erstattung von Umsatzsteuerforderungen Verzugszinsen einräumen. Die in der Literatur gelegentlich erwähnten Bestimmungen der §§ 205 und 205a BAO sind auf einen solchen Fall nicht anwendbar. Sowohl der Wortlaut dieser Bestimmungen als auch deren Zweck und Systematik schließen eine Anwendung auf verspätet gutgeschriebene Umsatzsteuerforderungen aus (vgl. VwGH 31.3.2017, Ra 2016/13/0034).

34           Vor dem Hintergrund, dass das nationale Recht keinen Anspruch auf Zinsen einräumt, stellt sich daher die Frage, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine unmittelbar anwendbare Regelung enthält, auf welche sich der Steuerpflichtige vor dem Finanzamt und vor den Gerichten berufen kann, um Verzugszinsen wegen der verspäteten Auszahlung von Vorsteuerüberhängen zugesprochen zu erhalten.

35           In diesem Zusammenhang ist auch darauf Bedacht zu nehmen, dass Art. 27 der Richtlinie 2008/9/EG (siehe hiezu unten unter 3.) Regelungen für den Fall enthält, dass das nationale Recht eines Mitgliedstaates eine solche Verzinsung nicht kennt. Art. 27 der Richtlinie 2008/9/EG geht also nicht davon aus, dass dem Steuerpflichtigen unionsrechtlich zwingend ein Anspruch auf Verzugszinsen einzuräumen ist. Würde das Unionsrecht ohnedies bereits einen Verzinsungsanspruch vorsehen, wäre Art. 27 Abs. 2 zweiter Unterabsatz der Richtlinie 2008/9/EG seines Anwendungsbereiches beraubt (vgl. wenn auch zu Art. 26 Abs. 2 dieser Richtlinie EuGH 2.5.2019, Sea Chefs Cruise, C-133/18, Rn. 45).

36           Das zur Zahl Ro 2018/15/0026 anhängige Revisionsverfahren betrifft keinen Vorsteuerüberhang und kann nicht nach Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie beurteilt werden. Bei diesem Verfahren geht es um eine Umsatzsteuerforderung des Steuerpflichtigen gegenüber dem Finanzamt, die sich aus einer nachträglichen Minderung des Entgelts ergeben hat. Nach der in Umsetzung von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergangenen Bestimmung des § 16 Abs. 1 und 3 UStG 1994, hat der Unternehmer, der in der Vergangenheit den Umsatz ausgeführt hat, den dafür geschuldeten Steuerbetrag zu mindern, wenn sich der vereinbarte Kaufpreis nachträglich mindert oder uneinbringlich wird. Gemäß § 16 Abs. 1 UStG 1994 ist die Berichtigung für den Veranlagungszeitraum vorzunehmen, in dem die Änderung des Entgeltes eingetreten ist; im gegenständlichen Fall also in jenem Veranlagungszeitraum, in welchem die Kaufpreisforderung uneinbringlich geworden ist (Mai 2005).

37           Mit der Frage von Verzugszinsen bei Umsatzsteuerforderungen des Unternehmers, die nicht auf einen Vorsteuerüberhang, sondern auf andere Umstände zurückzuführen sind, hat sich der EuGH soweit ersichtlich nur im Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail Ltd, C-591/10, auseinandergesetzt, wobei auch für das Ausgangsverfahren dieses Urteils bedeutsam ist, dass das nationale Recht bereits eine Verzugszinsenregelung für entsprechende Steuergutschriften kannte. Dieses Urteil betrifft eine Umsatzsteuerforderung, die auf in der Vergangenheit fälschlicherweise zu hoch berechnete Gegenleistungen (Kaufpreise für Waren) zurückzuführen war. In diesem Urteil leitet der EuGH den Anspruch auf Verzugszinsen aus seiner Rechtsprechung zur Erstattung von „unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Abgaben“ ab (vgl. Littlewoods Retail Ltd, Rn. 24).

38           Im Revisionsfall Ro 2018/15/0026 stellt sich die Frage, ob eine nachträglich eingetretene Entgeltsminderung, hier in Form einer nachträglich eingetretenen Uneinbringlichkeit von Kaufpreisforderungen, als Fall einer „unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Abgabe“ beurteilt werden kann. Sollte die Rechtsprechung des EuGH zu „unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Abgaben“ auf einen solchen Fall anwendbar sein, stellt sich weiters die Frage, ob sich aus dem Unionsrecht eine unmittelbar anwendbare Regelung ergibt, die einem Steuerpflichtigen, dem das Finanzamt in einer Situation, wie sie im Ausgangsverfahren vorliegt, nicht rechtzeitig ein Umsatzsteuerguthaben gutschreibt, einen Anspruch auf Verzugszinsen einräumt, sodass er, obwohl das nationale Recht keine Verzugszinsen für vergleichbare Steuergutschriften kennt, diesen Anspruch beim Finanzamt bzw. bei den Verwaltungsgerichten geltend machen kann.

39           2. Beginn des Zinsenlaufes

40           Sollte dem Steuerpflichtigen ein unmittelbar anwendbarer unionsrechtlicher Anspruch auf Verzugszinsen bei Verzug des Finanzamtes eingeräumt sein, stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Zinsen zu berechnen sind. In den Urteilen Enel Maritsa Iztok 3, Rafinaria Steaua Romana, Glencore Agriculture und Nidera BV, welche die Verzugszinsen bei verspäteter Gutschrift von Vorsteuerüberhängen und damit die Auslegung von Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie betreffen, hat der EuGH ausgesprochen, dass die Verzinsung erst nach Ablauf eines angemessenen Zeitraumes, der dem Finanzamt zur Prüfung der Richtigkeit des Vorsteueranspruches zur Verfügung steht, beginnt.

41           Zu Verzugszinsen aus Umsatzsteuerforderungen des Steuerpflichtigen, die nicht auf Vorsteuerüberhänge zurückzuführen sind, existiert nur das EuGH-Urteil Littlewoods Retail Ltd. In diesem Urteil finden sich keine Hinweise über den Beginn des Zinsenlaufes. Das Urteil nimmt - wie bereits erwähnt - Bezug auf die EuGH-Rechtsprechung zu den „unter Verstoß gegen Unionsrecht erhobenen Abgaben“, welche - soweit ersichtlich - keine Aussage enthält, dass die Verzinsung erst nach Ablauf eines angemessenen Zeitraumes beginnen sollte. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshof wäre es allerdings sachgerecht, die Aussagen zum Beginn des Zinsenlaufes, die der EuGH zu Vorsteuerüberhängen nach Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie getroffen hat, auch auf Fälle zu übertragen, in denen die Umsatzsteuerforderung des Steuerpflichtigen gegenüber dem Finanzamt nicht auf Vorsteuerüberhänge zurückzuführen ist. Auch in diesen Fällen muss nämlich dem Finanzamt ein angemessener Zeitraum für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der vom Steuerpflichtigen geltend gemachten Forderung zur Verfügung stehen, um den ordnungsgemäßen Vollzug der Mehrwertsteuerrichtlinie sicherstellen zu können.

42           Auch in Bezug auf den Beginn des Zinsenlaufes scheint das Verhältnis zur Richtlinie 2008/9/EG (siehe hiezu unter 3.) noch nicht ausreichend geklärt.

43           3. Verhältnis zur Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008

44           Sollte der EuGH zum Ergebnis kommen, dass sich aus dem Unionsrecht ein unmittelbarer Anspruch auf Verzugszinsen ergibt, wird das vorlegende Gericht ein Regulativ entwickeln müssen, wie dieser Anspruch umzusetzen ist. Dabei kann an verschiedene Rechtsinstitute des nationalen Rechts Anlehnung genommen werden, wobei das Verhältnis zur Richtlinie 2008/9/EG unklar ist.

45           Art. 27 der Richtlinie 2008/9/EG enthält Regelungen für Verzugszinsen im Fall der verspäteten Erstattung von Vorsteuern. Art. 27 Abs. 2 zweiter Unterabsatz regelt dabei: „Falls nach nationalem Recht für Erstattungen an ansässige Personen keine Zinsen zu zahlen sind“, seien sinngemäß die Regelungen anzuwenden, die der Mitgliedstaat für verspätete Mehrwertsteuerzahlungen des Steuerpflichtigen vorsieht.

46           Aus Art. 27 der Richtlinie 2008/9/EG ergibt sich nun, dass der Unionsgesetzgeber von der Möglichkeit ausgeht, dass das nationale Recht des Mitgliedstaates kein Verzinsungsregime enthält. Damit erachtet der Unionsgesetzgeber einen solchen Rechtszustand nicht von vornherein für unionsrechtswidrig, sondern regelt, dass in einer solchen Situation das Säumnisregime des Mitgliedstaates spiegelbildlich anzuwenden sei. Jedenfalls geht der Unionsgesetzgeber davon aus, dass ohne die Regelung des Art. 27 der Richtlinie 2008/9/EG dem im anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen kein Anspruch auf Verzugszinsen zustünde, wenn nicht schon das nationale Recht einen solchen einräumt.

47           Das österreichische nationale Recht enthält keine Verzinsungsregelung für die verspätete Gutschrift von Umsatzsteuerguthaben. Es stellt sich daher die Frage, ob dies zur Folge hat, dass die nationalen Gerichte die in Art. 27 Abs. 2 zweiter Unterabsatz der Richtlinie 2008/9/EG angeordnete Rechtsfolge zur Anwendung bringen sollen, auch wenn die Ausgangsverfahren nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen. Die Anwendung des Art. 27 Abs. 2 zweiter Unterabsatz würde für Österreich bedeuten, dass die Verzinsung pauschal mit einem ersten Säumniszuschlag von 2% sowie einem zweiten und dritten Säumniszuschlag von jeweils 1%, aber keinen zusätzlichen Zinsen zu erfolgen hätte.

48           Die Richtlinie 2008/9/EG enthält in den Art. 19, 21 und 22 auch Zeiträume, die dem Finanzamt zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der geltend gemachten Vorsteuern eingeräumt sind. Nach Art. 27 der Richtlinie beginnt der Verzinsungszeitraum erst nach Ablauf dieser Zeiträume. Für das vorlegende Gericht stellt sich daher die Frage, ob die in dieser Richtlinie vorgesehenen Zeiträume auch auf Fälle wie die Ausgangsverfahren, also auf Fälle, die nicht unmittelbar von der Richtlinie erfasst sind, anzuwenden sind.

49           Insgesamt erscheint die Auslegung des Unionsrechts in Bezug auf die oben angeführten Fragen nicht derart offenkundig zu sein, dass für Zweifel im Sinne der Rechtsprechung CILFIT (EuGH 6. Oktober 1982, 283/81) kein Raum bliebe.

50           Die Fragen werden daher dem EuGH mit dem Ersuchen um Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt.

Wien, am 24. Oktober 2019

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VWGH:2019:RO2017150035.J00