Gericht

Verfassungsgerichtshof

Entscheidungsdatum

06.03.2018

Geschäftszahl

G129/2017

Sammlungsnummer

20241

Leitsatz

Abweisung eines Drittelantrages von Abgeordneten zum Wiener Landtag auf Aufhebung einer Regelung der Bauordnung für Wien betreffend Sonderbestimmungen für vorübergehende Einrichtungen zur Unterbringung einer größeren Anzahl von Personen; Regelung ausreichend determiniert und angesichts des beschränkten Anwendungsbereiches, der zeitlichen Befristung der Sonderbewilligungen und der nach Dauer der Befristung abgestuften Anforderungen sachlich gerechtfertigt

Rechtssatz

Antragsvoraussetzung gemäß Art140 Abs1 Z3 B-VG gegeben; die einschreitenden 34 Abgeordneten verkörpern mehr als ein Drittel der Mitglieder des aus 100 Abgeordneten bestehenden Wiener Landtages.

Abweisung des Antrages auf Aufhebung des §71c Wr BauO 1930 in der Fassung Landesgesetzblatt 21 aus 2016, (im Folgenden: Wr BauO).

Kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot des Art18 B-VG.

Allen im Antrag wegen ihrer vermeintlichen Unbestimmtheit gerügten Wortfolgen ist - unter Heranziehung sämtlicher Interpretationsmethoden - eine hinreichende Determinierung des behördlichen Verhaltens zu entnehmen.

Insoweit §71c Wr BauO auf die Notwendigkeit der vorübergehenden Unterbringung einer größeren Anzahl von Personen "auf Grund völkerrechtlicher, unionsrechtlicher oder Verpflichtungen der Gemeinde bzw. des Landes gegenüber dem Bund" abstellt, handelt es sich nicht um eine formalgesetzliche Delegation, wenn der Wiener Landesgesetzgeber an derartige Verpflichtungen anknüpft. Die angefochtene Bestimmung ist einer Auslegung zugänglich und daher hinreichend bestimmt.

Der Bestimmung des §71c Wr BauO ist auch klar zu entnehmen, welche baurechtlichen Vorschriften die Behörde suspendieren kann - nämlich jene der Wr BauO ("dieses Gesetzes") und der auf Grund der Wr BauO erlassenen Verordnungen - und wie mit den Bauwerken nach Ablauf der Nutzungsdauer zu verfahren ist: Nach Ablauf der auf Grund des §71c Wr BauO befristet erteilten Bewilligungen gelten die allgemeinen baurechtlichen Vorschriften. §71c Wr BauO bietet insofern nur die Grundlage für zeitlich befristete (zT auch fiktive) Sonderbewilligungen.

Kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz.

Die von §71c Wr BauO angeordnete Freistellung von Leistungen, die sonst im Zusammenhang mit der Baubewilligung oder Bauausführung vorgeschrieben sind, ist nicht unsachlich. Es liegt im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, diese nur im Hinblick auf staatlich organisierte Vorhaben vorzusehen.

Die Anordnung des §71c Abs4 Wr BauO, wonach subjektiv-öffentliche Rechte der Nachbarn der Bewilligung nicht entgegenstehen, widerspricht - vor dem Hintergrund des sachlich und zeitlich beschränkten Anwendungsbereiches dieser Bestimmung, der Dringlichkeit der damit geregelten Unterbringungsmaßnahmen und der Anordnung, wonach die Bebaubarkeit von Nachbargrundflächen nicht vermindert werden darf - nicht dem Sachlichkeitsgebot.

Schließlich verstößt auch die von §71c Wr BauO gewährte Möglichkeit, auf die Einhaltung der Bestimmungen dieses Gesetzes und der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen zu verzichten, sofern insbesondere auf die allgemeinen Anforderungen an die mechanische Festigkeit und Standsicherheit, den Brandschutz, die Hygiene und Gesundheit sowie die Nutzungssicherheit Bedacht genommen wird, vor dem Hintergrund des beschränkten Anwendungsbereiches dieser Bestimmung und des vorübergehenden Charakters der darauf gestützten Maßnahmen nicht gegen das Sachlichkeitsgebot. §71c Wr BauO sieht ein "zeitlich abgestuftes System" vor, welches auf den Zeitraum, für den die befristete Baubewilligung erteilt wird, abstellt und abhängig von der Frage, ob die Baubewilligung für maximal fünf oder maximal fünfzehn Jahre erteilt werden soll, verschiedene Genehmigungsvoraussetzungen statuiert.

Kein Verstoß gegen die bundesstaatliche Kompetenzverteilung.

Weder ist erkennbar, dass §71c Wr BauO den Anwendungsbereich des Gesetzes über die bundesverfassungsgesetzlich eingeräumte Generalkompetenz des Landesgesetzgebers gemäß Art15 B-VG hinaus erstreckte, noch schließt das BVG- Unterbringung eine Kompetenz des Landesgesetzgebers zur Regelung von (baurechtlichen) Aspekten der vorübergehenden Unterbringung generell aus.

Soweit auf Grund einer Inanspruchnahme der darin vorgesehenen Ermächtigungen die besonderen Verfahrensregelungen des BVG-Unterbringung zur Anwendung kommen, verbleibt kein Anwendungsbereich für die Vorgaben der Wr BauO im Allgemeinen sowie des §71c Wr BauO im Besonderen.

Kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK.

Ungeachtet der Frage, ob die Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Baubewilligung eine Entscheidung über ein "civil right" iSd Art6 EMRK darstellt, ist nicht alles, was Einfluss auf jemandes Rechtsstellung hat, "seine Sache" iSd Art6 Abs1 EMRK. Aus Art6 Abs1 EMRK allein kann daher eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Einräumung der Parteistellung in einem Verwaltungsverfahren nicht abgeleitet werden.

Die Behörde ist - auch ohne Mitwirkung der Nachbarn - von Amts wegen dazu verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen zu überprüfen.

Zivilrechtliche Ansprüche der Nachbarn gemäß §364 Abs2 ABGB werden durch die Bestimmung des §71c Wr BauO nicht berührt.

Kein Verstoß gegen Art11 Abs2 B-VG.

Art11 Abs2 B-VG bezieht sich - abgesehen vom allgemeinen Verwaltungsstrafrecht - nur auf verfahrensrechtliche Bestimmungen. Da die von §8 AVG verwendeten Begriffe "Rechtsanspruch" und "rechtliches Interesse" erst durch die anzuwendende Verwaltungsvorschrift einen konkreten Inhalt erfahren, der es ermöglicht, das Vorliegen der ParteisteIlung zu beurteilen, kommt eine Abweichung von dieser Vorschrift durch die Regelung subjektiv-öffentlicher Rechte in den Materiengesetzen von Vornherein nicht in Betracht.

Geltendmachung weiterer Grundrechtsverstöße ohne zuordenbare Bedenken.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2018:G129.2017