Gericht

Verfassungsgerichtshof

Entscheidungsdatum

24.11.2015

Geschäftszahl

E1363/2015; E1457/2015; E1589/2015

Sammlungsnummer

20021

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Feststellung der Zuständigkeit Ungarns sowie Anordnung der Außerlandesbringung mangels Heranziehung und Würdigung aktuellen Berichtsmaterials hinsichtlich der neu entstandenen Situation für Asylwerber in Ungarn

Rechtssatz

Das Bundesverwaltungsgericht geht anhand der getroffenen Feststellungen davon aus, dass eine "flächendeckende" Inhaftierungspraxis in Ungarn nicht ersichtlich sei, und beruft sich auf Länderberichte, die mit Mitte Juli 2014 oder einem davor gelegenen Zeitpunkt datiert sind. Zwar sind diese Berichte um Auskünfte des Verbindungsbeamten in Ungarn des Bundesministeriums für Inneres mit Stand März 2015 ergänzt, jedoch finden sich diese weder in den Verwaltungs- und Gerichtsakten noch in der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (zum Erfordernis der Nachvollziehbarkeit verwendeter Quellen vergleiche VfGH 22.11.2013, U2612/2012 mwH).

Auch unterlässt das Bundesverwaltungsgericht die Berücksichtigung ihm gegenüber erwähnter Einschätzungen, insbesondere des UNHCR, dessen Wertungen im Kontext der Prüfung des Art3 Abs2 zweiter und dritter Satz Dublin III-VO maßgebliches Gewicht beizumessen ist (EuGH 30.05.2013, Rs C-528/11, Halaf, Rz 44). Mit Auskunft vom 30.09.2014 teilte UNHCR etwa dem Verwaltungsgericht Düsseldorf mit, dass - ausgenommen Familien und vulnerable Personen - praktisch alle Dublin-Rückkehrer in Haft genommen würden. Eine regelmäßige Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern bescheinigte auch die Nichtregierungsorganisation Pro Asyl in Kooperation mit dem Hungarian Helsinki Committee (Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31.10.2014).

Dass die Entwicklung der Flüchtlingsströme nach Europa zu einer Überlastung auch des ungarischen Asylsystems führen und dies auf Grund einer zunehmend ablehnenden Haltung des ungarischen Staates gegenüber Asylwerbern letztlich in einer systematischen Verletzung der Menschenrechte münden könnte vergleiche EuGH 21.12.2011, Rs C-411/10, N S sowie die danach ergangene vorläufige Maßnahme EGMR 09.09.2015, Fall Al Balkhi, Appl 44181/15), war bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes in Betracht zu ziehen vergleiche auch den Bericht des Hungarian Helsinki Committee "Hungarian Government reveals plans to breach EU asylum law and to subject asylum-seekers to massive detention and immediate deportation" vom 04.03.2015).

In Zusammenschau der beschriebenen Entwicklungen geht der VfGH von einer bereits zum Entscheidungszeitpunkt (Mai 2015) deutlich veränderten Sachlage im ungarischen Asylsystem aus, der zufolge das Bundesverwaltungsgericht Berichtsmaterial heranziehen und würdigen hätte müssen, das die für Asylwerber in Ungarn neu entstandene Situation berücksichtigt hätte vergleiche VfSlg 19878/2014). Da die tatsächlich einbezogenen Berichte diesen Anforderungen nicht gerecht werden, hat das Bundesverwaltungsgericht das Erkenntnis mit Willkür belastet.

(Ebenso unter Hinweis auf die vorliegende Entscheidung E1457/2015, E1589/2015, uva, alle E v 10.12.2015).

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2015:E1363.2015