Gericht

Verfassungsgerichtshof

Entscheidungsdatum

06.12.1990

Geschäftszahl

B783/89

Sammlungsnummer

12566

Leitsatz

Abweisung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens zur einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung; einseitige Anwendung der Vorschriften über die Wiederaufnahme bloß zum Nachteil des Steuerpflichtigen; Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz durch Verletzung von Treu und Glauben; gleichheitswidrige Gesetzesauslegung durch Nichtanerkennung der Änderung der rechtlichen Qualifikation eines steuerlich relevanten Sachverhaltes als Wiederaufnahmegrund

Rechtssatz

Mit dem angefochtenen Bescheid wird der Antrag der beschwerdeführenden Gesellschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens zur einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung für die Jahre 1975 bis 1977 abgewiesen.

Die Behörde hat den Zusammenhang zwischen den Rechnungsjahren 1974 und 1975 bis 1977 ignoriert: Die Rechtsansicht, die die Behörde im Jahr 1976 vertrat, führte für die Mitgesellschafter zu einem steuerlich wirksamen Verlust im Jahr 1974; die den Berufungsbescheid tragende Rechtsansicht führt dazu, daß dieser Verlust im Jahr 1974 verringert wurde. Dadurch, daß die belangte Behörde nunmehr für 1974 eine für die beschwerdeführende Gesellschaft ungünstigere Auffassung vertritt, es aber durch Versagung der Wiederaufnahme unterläßt, daß sich ihre geänderte Auffassung in den Folgejahren (korrespondierend dazu für die beschwerdeführende Gesellschaft entsprechend positiv) auswirkt, hat sie die Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens einseitig, nämlich bloß zum Nachteil des Steuerpflichtigen angewendet vergleiche E v 08.10.90, B181/89).

Im Effekt bewirkt das Vorgehen der belangten Behörde, daß die beschwerdeführende Partei doppelt besteuert wird. Führt aber eine Änderung in der rechtlichen Qualifikation eines steuerlich relevanten Vorgangs zu einem solchen Treu und Glauben verletzenden Ergebnis, so verstößt dies - wie der Verfassungsgerichtshof in einem vergleichbaren Fall in VfSlg. 8725/1980 festgestellt hat - gegen den Gleichheitsgrundsatz vergleiche dazu etwa schon VfSlg. 6258/1970).

Der Behörde ist zuzugestehen, daß die rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts für ein früheres Steuerjahr keine Vorfrage im technischen Sinn darstellt vergleiche die Judikaturhinweise bei Stoll, Handbuch, 1980, 275) und daß nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Änderung der rechtlichen Qualifikation eines Sachverhalts keine neue Tatsache iSd §303 Abs1 litb BAO darstellt vergleiche Stoll, ebenda, 723 f.).

Dennoch ist §303 Abs1 BAO einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich, die das oben geschilderte verfassungswidrige Ergebnis vermeidet:

Das dem Institut der Wiederaufnahme zugrundeliegende und dieses rechtfertigende Ziel ist es, ein insgesamt rechtmäßiges Ergebnis zu erreichen (VfGH E v 05.03.88, B70/87), und unter den Voraussetzungen des §20 BAO dem Prinzip der Rechtsrichtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen (Stoll, aaO 712). Es widerspräche diesen Grundsätzen der Wiederaufnahme und stellte einen unerklärlichen Wertungswiderspruch dar, wollte man annehmen, daß zwar die Tatsache, daß nachträglich über eine Vorfrage von einer anderen (hiefür zuständigen) Behörde anders entschieden wurde, einen Wiederaufnahmsgrund darstellt, nicht aber eine Entscheidung derselben Behörde für einen früheren Steuerzeitraum, die sich in der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts direkt auf einen (einen späteren Steuerzeitraum betreffenden) Bescheid auswirkt.

Die vorliegende Fallkonstellation ist daher gleich zu beurteilen wie das Neuhervorkommen von Tatsachen oder eine von der vorläufigen Beurteilung der Behörde abweichende Entscheidung der zuständigen Behörde über eine Vorfrage. Es hätte daher im vorliegenden Fall eine verfassungskonforme und gleichheitsgemäße Anwendung des §303 Abs1 BAO dazu führen müssen, dem Antrag der Partei auf Wiederaufnahme des Verfahrens stattzugeben.