OGH
12.12.2024
2Ob204/24z
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart, Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G*, vertreten durch Mag. Erik Focke, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei G*, vertreten durch Dr. Berthold Garstenauer, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 15.308,39 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 8. Juli 2024, GZ 14 R 32/24i-22, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 28. Oktober 2024, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 2. Februar 2024, GZ 10 Cg 73/23p-16, abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 602,54 EUR (darin enthalten 100,42 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Die Klägerin wurde bei einem Verkehrsunfall im November 2022 in Wien als Mitfahrerin des von ihrem Ehemann gelenkten, bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs schwer verletzt.
[2] Das Ehepaar war mit der Mutter der Klägerin auf dem Weg zum Augenzentrum Simmering. Die Klägerin saß auf der Rückbank hinter dem Beifahrersitz, auf dem sich ihre Mutter befand. Entgegen der ursprünglichen Abmachung kündigte der Ehemann der Klägerin in der Dommesgasse an, sie nicht schon dort aussteigen zu lassen, sondern sie noch ein Stück näher an das Augenzentrum zu bringen. Er bog daraufhin nach links stadteinwärts in die Simmeringer Hauptstraße ein. Der Fahrstreifen weist rechts einen durch Bodenmarkierungen gekennzeichneten Fahrradstreifen auf. Der Ehemann hielt nach seinem Einbiegemanöver eine Fahrlinie ein, mit der er in Richtung des rechten Fahrbahnrandes fuhr. Verkehrsbedingt (rote Ampel, Rückstau) musste er das Fahrzeug anhalten, wobei er sich teilweise auf dem Fahrradstreifen befand. Seine Frau wollte er erst weiter vorne bei Taxistandplätzen aussteigen lassen, die sich vor dem Augenzentrum befanden. Die Klägerin ging aber aufgrund des Zufahrens in Richtung des rechten Fahrbahnrandes und des Anhaltens vor dem Nachbarhaus des Augenzentrums teilweise auf dem Fahrradstreifen davon aus, schon aussteigen zu können. Ohne Rücksprache zu halten, öffnete sie die Tür und machte einen Schritt hinaus. In dem Moment setzte auch ihr Ehemann das Fahrzeug erneut in Bewegung, ohne auf sie zu achten.
[3] Die Klägerin begehrt Schadenersatz und die Feststellung der Haftung der Beklagten. Das Alleinverschulden treffe ihren Ehemann, weil dieser übersehen habe, dass sie schon ausgestiegen sei. Das Anhalten sei für sie das Zeichen zum Aussteigen gewesen.
[4] Die Beklagte wendet das Alleinverschulden der Klägerin ein. Ihr Ehemann habe bloß verkehrsbedingt angehalten. Anzeichen dafür, dass er sie aussteigen lassen habe wollen, hätten nicht vorgelegen. Vielmehr habe die Klägerin das Fahrzeug unangekündigt verlassen.
[5] Das Erstgericht gab der Klage unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin im Ausmaß von einem Viertel teilweise statt.
[6] Das von der Beklagten angerufene Berufungsgericht ging von gleichteiligem Verschulden aus und änderte das Urteil des Erstgerichts entsprechend ab. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass der Ehemann der Klägerin im Hinblick auf die (bloß vage) Abmachung, sie noch ein Stück näher zu bringen, damit rechnen habe müssen, dass sie sein – wenn auch verkehrsbedingtes – Anhalten teilweise auf dem Fahrradstreifen als Zeichen verstehe, ihr schon das Aussteigen zu ermöglichen. Er wäre daher gehalten gewesen, sich zu vergewissern, ob eine gefahrlose Weiterfahrt möglich sei. Eine „besondere Gefahrenquelle“ habe er dadurch aber nicht geschaffen, weil die konkrete Stillstandsposition auf das verkehrsbedingte Anhalten und das unmittelbar vorangegangene (Rechts-)Einbiegemanöver zurückzuführen gewesen sei, bei dem der Fahrradstreifen zwangsläufig überfahren werden müsste. Vielmehr hätte die Klägerin aufgrund ihrer Wahrnehmungen zu den stehenden Fahrzeugen gleichermaßen auch nur mit einem verkehrsbedingten Anhalten ihres Ehemanns rechnen müssen. Für beide habe eine unklare Verkehrssituation bestanden, der sie durch entsprechende Kontaktaufnahme vor der Weiterfahrt bzw dem Aussteigen begegnen hätten müssen. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht über Antrag der Klägerin nachträglich zu, weil seine in der rechtlichen Beurteilung enthaltene tatsächliche Schlussfolgerung, die Anhalteposition sei auf das zwangsläufige Überfahren des Fahrradstreifens beim (Rechts-)Einbiegen zurückzuführen, den Feststellungen des Erstgerichts widerspreche, nach denen der Ehemann der Klägerin nach links in die Simmeringer Hauptstraße eingebogen sei und daher den Fahrradstreifen nicht (zwangsläufig) überfahren habe.
[7] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[8] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
[9] Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (Paragraph 508 a, Absatz eins, ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts mangels Aufzeigens einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Qualität des Paragraph 502, Absatz eins, ZPO nicht zulässig.
[10] 1. Es begründet einen Verfahrensmangel, wenn das Berufungsgericht von den tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichts ohne Wiederholung der Beweisaufnahmen abgeht (RS0043461; RS0043057). Ein dem Berufungsgericht unterlaufener Verfahrensverstoß bildet aber nur dann den Revisionsgrund des Paragraph 503, Ziffer 2, ZPO, wenn er abstrakt geeignet war, eine unrichtige Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz herbeizuführen (RS0043027). Nur wenn die ergänzten Feststellungen einen für die Entscheidung wesentlichen Umstand betreffen, stellt die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes auch eine erhebliche Rechtsfrage iSd Paragraph 502, Absatz eins, ZPO dar (RS0042151 [T5]).
[11] 2. Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor.
[12] 2.1 Die ohne Beweiswiederholung in Widerspruch zu den erstgerichtlichen Feststellungen (Linksabbiegevorgang in die Simmeringer Hauptstraße) stehende Tatsachenannahme des Berufungsgerichts, der Ehemann der Klägerin habe im Zuge seines (gemeint: Rechts)Abbiegemanövers den Fahrradstreifen zwingend überfahren müssen, sodass es zum verkehrsbedingten Anhalten teilweise auf dem Fahrradstreifen gekommen sei, betrifft keinen entscheidungswesentlichen Umstand vergleiche dazu Pkt 4.3).
[13] 2.2 Die Behauptung in der Revision, das Berufungsgericht habe die Feststellung, der Klägerin sei bewusst gewesen, dass sich vor ihrem Fahrzeug weitere Fahrzeuge befanden, sie habe den Verkehr aber nicht weiter beachtet, sondern sich vor dem Öffnen (nur) darauf konzentriert, ob sich von hinten ein Radfahrer näherte, zwar nicht übernommen, sie aber dennoch seiner rechtlichen Beurteilung zu Grunde gelegt, trifft nicht zu. Wie aus der Berufungsentscheidung zweifelsfrei abzuleiten ist, handelt es sich bei den einzig nicht übernommenen Feststellungen um jene im Zusammenhang mit früheren Fahrten und das dabei erfolgte kommunikationslose Aussteigen am vereinbarten Ort. Im Zug der zusammenfassenden, die Behandlung der Beweisrüge abschließenden Ausführungen unterlief dem Berufungsgericht lediglich eine offenkundige, in Widerspruch zum eindeutig erkennbaren Entscheidungswillen stehende und daher unschädliche vergleiche RS0041489) Fehlbezeichnung der nicht übernommenen Feststellung (Verwechslung der bekämpften Feststellungen „F2“ und „F3“).
[14] 3. Dass dem Ehemann der Klägerin als Lenker des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs ein Verschulden zur Last liegt, ist im Revisionsverfahren nicht mehr strittig.
4. Mitverschulden – Paragraph 1304, ABGB
[15] 4.1 Das – im Revisionsverfahren allein strittige – Mitverschulden iSd Paragraph 1304, ABGB setzt kein Verschulden im technischen Sinne voraus. Auch Rechtswidrigkeit des Verhaltens ist nicht erforderlich. Es genügt vielmehr eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern, worunter auch die Gesundheit fällt (RS0022681). Mitverschulden kann auch in vorwerfbarer Untätigkeit liegen (RS0022681 [T3]). Voraussetzung ist, dass dem Geschädigten sein Verhalten, auch entsprechend seinem Wissensstand, subjektiv vorwerfbar (RS0022681 [T8]) und es für die Entwicklung des Schadens kausal ist (RS0022831 [T2, T3]).
[16] 4.2 Das Ausmaß eines (allfälligen) Mitverschuldens des Geschädigten kann – abgesehen von Fällen grober Fehlbeurteilung – wegen seiner Einzelfallbezogenheit nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd Paragraph 502, Absatz eins, ZPO gewertet werden (RS0022681 [T10, T11]).
[17] 4.3 Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin treffe ein Mitverschulden im Ausmaß von 50 % ist unabhängig davon, ob der Fahrradstreifen im Zuge des Abbiegemanövers zwangsläufig überfahren werden musste und die Stillstandsposition – abgesehen von der Verkehrs-
lage – auch darauf zurückzuführen war, nicht korrekturbedürftig. Maßgeblich ist nämlich, dass die Klägerin und ihr Ehemann lediglich vereinbarten, dass er sie „noch ein Stück näher“ bringen werde, ohne aber einen genauen Ausstiegsort festzulegen. Berücksichtigt man vor diesem Hintergrund die der Klägerin bekannte Verkehrslage sowie die nach dem Einbiegevorgang im Zug des Zufahrens in Richtung Fahrbahnrand (erst) erreichte Halteposition des Fahrzeugs teils auf dem Fahrradstreifen und teils auf der Fahrbahn lag sowohl für die Klägerin als auch ihren Ehemann eine gleichermaßen unklare Situation betreffend das weitere Verhalten des jeweils anderen vor, der beide leicht durch wechselseitige Kontaktaufnahme vor der Weiterfahrt bzw vor dem Aussteigen begegnen hätten können.
[18] Soweit die Revision argumentiert, die Klägerin habe keine Wahrnehmungen zu den vorderen Fahrzeugen gehabt, entfernt sie sich ihrerseits von den getroffenen, insoweit vom Berufungsgericht übernommen Feststellungen. Auch der Hinweis darauf, dass die Klägerin bei früheren Fahrten ohne weitere Kontaktaufnahme ausgestiegen sei, ist schon deshalb verfehlt, weil das Berufungsgericht die von der Revision aufgegriffene Feststellung nicht übernommen hat. Weshalb diese entscheidungswesentlich sein soll, sodass deren Fehlen einen sekundären Feststellungsmangel begründen würde (RS0043176), ist nicht ersichtlich, weil sich das kommunikationslose Aussteigen auf Situationen bezog, bei denen – anders als bei der hier zu beurteilenden Fahrt – ein konkreter Ausstiegsort vereinbart war.
[19] Insgesamt wirft die Revision daher keine Rechtsfrage der Qualität des Paragraph 502, Absatz eins, ZPO auf.
[20] 5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf Paragraphen 41,, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen, weshalb ihre Revisionsbeantwortung der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung diente (RS0112296).
ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00204.24Z.1212.000