OGH
12.09.2023
4Ob68/23p
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei T* GmbH, *, vertreten durch die lawpoint Hütthaler-Brandauer & Akyürek Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei E* GmbH, *, vertreten durch die e/n/w/c Natlacen Walderdorff Cancola Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Unterlassung und Urteilsveröffentlichung (Streitwert im Provisorialverfahren 20.000 EUR), über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 14. März 2023, GZ 4 R 16/23m-57, womit der Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 16. Dezember 2022, GZ 26 Cg 112/21g-43, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass die einstweilige Verfügung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die Klägerin hat ihre Kosten des Sicherungsverfahrens aller drei Instanzen vorläufig, die Beklagte hat ihre diesbezüglichen Kosten endgültig selbst zu tragen.
Begründung:
[1] Die Streitteile stehen auf dem Markt des Vertriebs von Nahrungsergänzungsmitteln mit Spermidin im Wettbewerb.
[2] Die Beklagte bringt das Nahrungsergänzungsmittel „SpermidinE*“ in Verkehr, dessen Spermidingehalt von 5 mg pro Gramm daraus resultiert, dass darin Buchweizenkeimlingsmehl aus getrockneten und gemahlenen Buchweizenkeimlingen enthalten ist, welche in einer mit Spermidin angereicherten Nährlösung zum Keimen gebracht wurden. Weder „SpermidinE*“ noch das darin verarbeitete Buchweizenkeimlingsmehl verfügen über eine Zulassung nach der Verordnung (EU) 2015/2283 (Novel Food VO, NFVO). Das in dem Nahrungsergänzungsmittel der Beklagten verarbeitete Buchweizenkeimlingsmehl mit erhöhtem Spermidingehalt wurde vor dem 15. Mai 1997 in der EU nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet. Der Anteil des Produkts „SpermidinE*“ am Gesamtumsatz der Beklagten liegt bei etwa 15 %. Der mit diesem Produkt von ihr monatlich erzielte Umsatz beträgt rund 50.000 EUR.
[3] Das Erstgericht erließ auf Antrag der Klägerin die einstweilige Verfügung, womit der Beklagten zur Sicherung des klageweise geltend gemachten Unterlassungsanspruchs verboten wurde,
bis zur rechtskräftigen Beendigung dieses Rechtsstreits im geschäftlichen Verkehr Lebensmittel, insbesondere das Nahrungsergänzungsmittel Spermidin-E*, mit Buchweizenkeimlingsmehl aus Buchweizenkeimlingen, die in einer Nährlösung mit Spermidin gekeimt sind, wodurch ein Spermidingehalt von 5 mg pro Gramm Buchweizenkeimlingsmehl und/oder ein ähnlicher, nicht natürlicher Gehalt an Spermidin entsteht, in Verkehr zu bringen, solange dafür keine Zulassung nach der VO (EU) 2283/2015 besteht.
[4] Beim gegenständlichen Produkt der Beklagten handle es sich um ein Lebensmittel, bei dessen Herstellung ein vor dem 15. Mai 1997 in der Union für die Herstellung von Lebensmitteln nicht übliches Verfahren angewandt worden sei, das bedeutende Veränderungen der Zusammensetzung oder Struktur eines Lebensmittels bewirke, die seinen Nährwert, seine Verstoffwechselung bzw seinen Gehalt an unerwünschten Stoffen beeinflussen würden. Es sei daher eine Zulassung nach der NFVO erforderlich. Da eine solche nicht vorliege, sei der auf einen Verstoß gegen Paragraph eins, UWG (Rechtsbruch) gerichtete Unterlassungsanspruch der Klägerin berechtigt. Die Vollstreckbarkeit der einstweiligen Verfügung wurde von einer Sicherheitsleistung in Höhe von 600.000 EUR abhängig gemacht.
[5] Das Rekursgericht wies den Sicherungsantrag ab, bemaß den Wert des Entscheidungsgegenstands mit 30.000 EUR übersteigend und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig. Die Beklagte könne sich vertretbar auf den Ausnahmetatbestand nach Artikel 3, Absatz 2, Litera a, Sub-Litera, i, v, NFVO (Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel) berufen. Die Regelung sei nämlich nicht eindeutig, weil sie nicht klar vorgebe, dass die erforderliche Sicherheit in Ansehung des konkreten Lebensmittels in seiner konkreten Zusammensetzung/Struktur oder mit seinen genauen Inhaltsstoffen, also auch seinem konkreten (oder zumindest ähnlichen) Nährstoffgehalt belegt sein müsse. Vielmehr sei auch eine Auslegung denkbar, dass die Sicherheit der Verwendung in Ansehung des Lebensmittels unabhängig von seinen konkreten Inhaltsstoffen ausreiche. Für eine solche Auslegung spreche auch der zutreffende Hinweis der Beklagten, dass ein unterschiedlicher Nährstoffgehalt in Lebensmitteln wie beispielsweise in Gemüse oder Obst bereits im Zuge des Anbaus der Pflanzen aufgrund unterschiedlicher Bodenbeschaffenheiten oder unterschiedlicher Stoffe zur Düngung entstehen könne und nicht gut einsichtig sei, dass allein dieser Einfluss eine Neuartigkeit des Lebensmittels begründen solle. Überdies finde die Auffassung der Beklagten, dass der Anbau der Pflanzen selbst und damit das Keimen von Pflanzensamen zu Keimlingen, hier der Buchweizenkeime in einer mit Spermidin angereicherten Nährlösung zu Buchweizenkeimlingen, grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich der NFVO falle, eine Stütze in der Begriffsbestimmung von Lebensmitteln in Artikel 2, der Lebensmittelbasis-VO, auf welche die NFVO verweise. Danach gehörten „Pflanzen vor dem Ernten“ nicht zu den Lebensmitteln, sodass vertretbar (mit gutem Grund) davon ausgegangen werden könne, dass die im Rahmen der (landwirtschaftlichen) Primärproduktion aus Pflanzensamen oder -keimen gewonnenen Keimlinge bis zu deren Ernte nicht als Lebensmittel im Sinn der NFVO gelten.
[6] Mit ihrem außerordentlichen – von der Beklagten noch vor Zulassung beantworteten – Revisionsrekurs beantragt die Klägerin die Wiederherstellung der einstweiligen Verfügung des Erstgerichts. Die Beklagte beantragt, den Revisionsrekurs zurückzuweisen bzw ihm nicht Folge zu geben.
[7] Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und berechtigt.
[8] 1.1. Artikel eins, Absatz eins, NFVO regelt das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel in der Union.
[9] 1.2. Nach Artikel eins, Absatz 2, NFVO besteht der Zweck dieser Verordnung darin, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts sicherzustellen und gleichzeitig ein hohes Niveau beim Schutz der menschlichen Gesundheit und der Verbraucherinteressen herbeizuführen.
[10] 1.3. Neuartige Lebensmittel sind nach Artikel 3, Absatz 2, Litera a, NFVO alle Lebensmittel, die vor dem 15. Mai 1997 unabhängig von den Zeitpunkten der Beitritte von Mitgliedstaaten zur Union nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und in mindestens eine der folgenden Kategorien fallen:
[…]
iv) Lebensmittel, die aus Pflanzen oder Pflanzenteilen bestehen oder daraus isoliert oder erzeugt wurden, ausgenommen Fälle, in denen das Lebensmittel eine Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union hat und das Lebensmittel aus einer Pflanze oder einer Sorte derselben Pflanzenart besteht oder daraus isoliert oder erzeugt wurde, die ihrerseits gewonnen wurde mithilfe
- herkömmlicher Vermehrungsverfahren, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union zur Lebensmittelerzeugung eingesetzt wurden, oder
- nicht herkömmlicher Vermehrungsverfahren, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union nicht zur Lebensmittelerzeugung eingesetzt wurden, sofern diese Verfahren nicht bedeutende Veränderungen der Zusammensetzung oder Struktur des Lebensmittels bewirken, die seinen Nährwert, seine Verstoffwechselung oder seinen Gehalt an unerwünschten Stoffen beeinflussen,
[…]
vii) Lebensmittel, bei deren Herstellung ein vor dem 15. Mai 1997 in der Union für die Herstellung von Lebensmitteln nicht übliches Verfahren angewandt worden ist, das bedeutende Veränderungen der Zusammensetzung oder Struktur eines Lebensmittels bewirkt, die seinen Nährwert, seine Verstoffwechselung oder seinen Gehalt an unerwünschten Stoffen beeinflussen,
[…]
[11] 2. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in der Rechtssache C-141/22, ergangen in einem Rechtsstreit der Klägerin gegen ein drittes Unternehmen, das ein Nahrungsergänzungsmittel mit Buchweizenkeimlingsmehl mit einem hohen Spermidingehalt herstellt, folgende Aussprüche getätigt:
Art. 3 Absatz 2, Buchst. a Ziff. iv der Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 1852/2001 der Kommission ist dahin auszulegen, dass
ein Lebensmittel wie Buchweizenkeimlingsmehl mit hohem Spermidingehalt, das in der Europäischen Union vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde, ein „neuartiges Lebensmittel“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, da es erstens aus einer Pflanze gewonnen wird, zweitens nicht ersichtlich ist, dass seine Sicherheit durch Daten über seine Zusammensetzung und durch Erfahrungen mit seiner fortgesetzten Verwendung über mindestens 25 Jahre hinweg als Bestandteil der üblichen Ernährung einer signifikanten Anzahl an Personen in mindestens einem Unionsland belegt worden wäre und es drittens jedenfalls nicht mit Hilfe eines Vermehrungsverfahrens im Sinne dieser Bestimmung gewonnen wird.
[12] Der EuGH führte dazu aus, es sei nicht ersichtlich, dass die Sicherheit des in Rede stehenden Erzeugnisses durch Daten über seine Zusammensetzung und durch Erfahrungen mit seiner fortgesetzten Verwendung über mindestens 25 Jahre hinweg als Bestandteil der üblichen Ernährung einer signifikanten Anzahl an Personen in mindestens einem Unionsland belegt worden wäre, so dass das in Rede stehende Erzeugnis nicht die erste der beiden kumulativen Voraussetzungen erfüllen würde, die gefordert seien, um der Einstufung als neuartiges Lebensmittel nach Artikel 3, Absatz 2, Litera a, Z iv der VO 2015/2283 entgehen zu können (Rn 23). Zur zweiten Voraussetzung für die Ausnahme der Anwendung der NFVO auf das gegenständliche Produkt führte der EuGH aus, dass es sich bei der Verwendung einer wässrigen Spermidinlösung für die Züchtung von Buchweizenkeimlingen nicht um ein Verfahren zur Vermehrung der Pflanze im Sinne der genannten Norm handle, sondern um ein Herstellungsverfahren zur Anreicherung dieser Keimlinge im Hinblick auf einen hohen Spermidingehalt. Auch die zweite (kumulative) Voraussetzung der genannten Ausnahmebestimmung erachtete der EuGH daher als nicht erfüllt (Rn 27).
[13] 3.1. Ein derartiger Sachverhalt liegt auch der hier zu beurteilenden Rechtssache zugrunde: Es ist unstrittig, dass das in dem von der Beklagten vertriebenen Nahrungsergänzungsmittel verarbeitete Buchweizenkeimlingsmehl mit erhöhtem Spermidingehalt vor dem 15. Mai 1997 in der EU nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurde. Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich überdies, dass es sich beim Produkt der Beklagten um ein Lebensmittel handelt, das aus Pflanzen oder Pflanzenteilen besteht oder daraus isoliert oder erzeugt wird.
[14] 3.2. Das von der Beklagten behauptete Vorliegen der Ausnahmebestimmung nach Artikel 3, Absatz 2, Litera a, Sub-Litera, i, v, NFVO, wonach eine sichere Verwendungsgeschichte in der Union von Buchweizenkeimlingsmehl gegeben sei und es auf den Spermidingehalt nicht ankomme, weil sonst jedes Obst oder Gemüse neuartig wäre wegen unterschiedlicher Bodenbeschaffenheiten oder unterschiedlicher Düngung, ist im Lichte der zitierten Entscheidung des EuGH nicht mit gutem Grund zu vertreten, zumal auch hier das Vorliegen der in der genannten Bestimmung normierten Voraussetzungen für eine Ausnahme nicht bescheinigt ist. Schließlich handelt es sich bei der Bodenbeschaffenheit um einen natürlichen Zustand, während es hier um die künstliche Anreicherung der Buchweizenkeimlinge im Hinblick auf einen hohen Spermidingehalt geht vergleiche EuGH C141/22 Rn 27).
[15] 3.3. Dasselbe gilt für die Begründung der Nichtanwendbarkeit der NFVO aufgrund entsprechender Interpretation der Bestimmung des Artikel 3, Absatz 2, Litera a, Sub-Litera, v, i, i, NFVO, weil die Keimung in einer Nährlösung mit „Pflanzen vor dem Ernten“ stattfinde. Auch diese Begründung ist unvertretbar, zumal der Vorgang des Keimens vermittelst einer mit Spermidin angereicherten Nährlösung („Herstellung“) der Lebensmittelproduktion und nicht dem Pflanzenwachstum zuzuzählen ist.
[16] 4.1. Aufgrund der Einschlägigkeit des Artikel 3, Absatz 2, Litera a, Sub-Litera, i, v, NFVO und mangels des Zutreffens der darin genannten Ausnahmetatbestände sowie mangels einer generellen Ausnahme vom Lebensmittelrecht unterfällt das streitgegenständliche Lebensmittel daher der NFVO und ist eine Zulassung nach dieser Norm geboten. Der Vertrieb des Lebensmittels ohne diese Voraussetzung begründet einen Rechtsbruch nach Paragraph eins, UWG. Die Wiederholungsgefahr ergibt sich schon daraus, dass die Beklagte den Standpunkt vertritt, zu der beanstandeten Handlung berechtigt zu sein vergleiche RS0012055 [T5]).
[17] 4.2. Dem Revisionsrekurs der Klägerin ist somit Folge zu geben und die einstweilige Verfügung des Erstgerichts ist wiederherzustellen.
[18] 5. Der Kostenausspruch gründet sich auf Paragraph 393, Absatz eins, EO.
ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00068.23P.0912.000