Gericht

OGH

Entscheidungsdatum

08.07.2020

Geschäftszahl

7Ob1/20b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. E* R*, und 2. W* AG *, beide vertreten durch Mag. Bettina Breitmeyer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei A* GmbH, *, vertreten durch Dr. Peter Schmautzer, Rechtsanwalt in Wien, wegen (hinsichtlich der zweitklagenden Partei) 12.943,12 EUR sA, über den Revisionsrekurs der zweitklagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 30. Oktober 2019, GZ 2 R 78/19k-59, womit der Beschluss des Handelsgerichts Wien vom 29. April 2019, GZ 30 Cg 2/19z-37, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

1. Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

2. Die zweitklagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 939,24 EUR (darin enthalten 156,54 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Die Erstklägerin war Teilnehmerin an einer Pauschalreise vom 20. 10. 2015 bis 3. 11. 2015. Am 23. 10. 2015 rutschte die Erstklägerin im Foyer eines Hotels in der Türkei aus und zog sich einen Trümmerbruch des rechten Handgelenks zu. Die Zweitklägerin ist der Reiseversicherer der Erstklägerin. Die Beklagte war die Reiseveranstalterin.

Die Erstklägerin begehrt Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche Schäden aus dem Unfall. Sie stützt sich auf den Verbrauchergerichtsstand gemäß Artikel 17, f EuGVVO.

Die Zweitklägerin begehrt 12.943,12 EUR an Ersatz aus unfallkausalen Zahlungen als Reiseversicherer der Erstklägerin gemäß Paragraph 67, Absatz eins, VersVG. Sie stützt sich auf Artikel 8, Nr 2 EuGVVO 2012 und verweist auf die Entscheidung des EuGH Rs C521/14, SOVAG. Die Sonderregelung des Artikel 65, Nr 1 EuGVVO für Österreich hindere die Zuständigkeit nicht. Da sich die Ansprüche der Erst- und der Zweitklägerin aus demselben Lebenssachverhalt ableiteten, sei das angerufene Gericht auch für die Ansprüche der Zweitklägerin zuständig.

Die Beklagte erhob die Einrede der mangelnden internationalen Zuständigkeit in Bezug auf die Zweitklägerin. Artikel 8, Nr 2 EuGVVO gelange nicht zur Anwendung, weil es sich hier weder um eine Klage auf Gewährleistung noch um eine Interventionsklage handle. Die Erstklägerin genieße als Verbraucherin besonderen Schutz, die Zweitklägerin sei davon nicht erfasst. Artikel 65, Absatz eins, EuGVVO bestimme, dass Artikel 8, Nr 2 EuGVVO in Österreich nicht geltend gemacht werden könne, was im der Entscheidung SOVAG zugrundeliegenden nationalen Recht nicht der Fall gewesen sei.

Das Erstgericht wies die Klage der Zweitklägerin mangels internationaler Zuständigkeit zurück. Eine Zuständigkeitsbegründung nach Artikel 8, Nr 2 EuGVVO sei nach österreichischem Recht nicht möglich.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Zweitklägerin berufe sich (ausschließlich) auf den Gerichtsstand des Artikel 8, Nr 2 EuGVVO. Dieser Wahlgerichtsstand folge einer prozessrechtlichen Figur, die über das Institut der Streitverkündung (Paragraph 21, ZPO) wesentlich hinausgehe und in Österreich unbekannt sei, weshalb die Bestimmung für österreichische Gerichte unanwendbar bleibe. Stattdessen trete gemäß Artikel 65, EuGVVO die Streitverkündung (Paragraph 21, ZPO) an ihre Stelle. Im Hinblick auf den in Erwägungsgrund 21 EuGVVO festgelegten Grundsatz der weitest möglichen Vermeidung von Parallelverfahren sei zur Regelung konnexer Verfahren neben dem Gerichtsstand des Sachzusammenhangs nach Artikel 8, auch Artikel 30, EuGVVO geschaffen worden, der die Aussetzung des späteren Verfahrens vorsehe, aber keinen allgemeinen Gerichtsstand des Sachzusammenhangs begründe. Im Gegensatz zur Rechtslage im Fall SOVAG begründe Artikel 8, Nr 2 EuGVVO wegen Artikel 65, EuGVVO für österreichische Gerichte keinen Gerichtsstand.

Der Revisionsrekurs sei zuzulassen, weil die Rechtsfrage, ob Artikel 8, Nr 2 EuGVVO aufgrund des von Österreich abgegebenen Vorbehalts nicht anwendbar sei, vom Obersten Gerichtshof noch nicht entschieden worden sei.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs der Zweitklägerin, mit dem Antrag, die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts auszusprechen, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig im Sinne der Ausführungen des Rekursgerichts, aber nicht berechtigt.

1. Rechtsgrundlagen:

1.1. Artikel 8, Nr 2 EuGVVO lautet:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates hat, kann auch verklagt werden:

[…]

2. wenn es sich um eine Klage auf Gewährleistung oder um eine Interventionsklage handelt, vor dem Gericht des Hauptprozesses, es sei denn, dass die Klage nur erhoben worden ist, um diese Person dem für sie zuständigen Gericht zu entziehen;

[…]“

1.2. Artikel 65, Absatz eins, EuGVVO lautet:

„Die in Artikel 8 Nummer 2 und Artikel 13 für eine Gewährleistungs- oder Interventionsklage vorgesehene Zuständigkeit kann in den Mitgliedstaaten, die in der von der Kommission nach Artikel 76 Absatz 1 Buchstabe b und Artikel 76 Absatz 2 festgelegten Liste aufgeführt sind, nur geltend gemacht werden, soweit das einzelstaatliche Recht dies zulässt. Eine Person, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedsstaat hat, kann aufgefordert werden, nach den Vorschriften über die Streitverkündung gemäß der genannten Liste einem Verfahren vor einem Gericht dieser Mitgliedstaaten beizutreten.“

Dass Österreich in diese Liste aufgenommen ist, ist zu Recht unstrittig.

2. Die in Artikel 8, Nr 2 EuGVVO geregelte, aus dem romanischen Rechtsbereich stammende – jedoch autonom auszulegende (Stadler in Musielak/Voit, ZPO17 Artikel 8, EuGVVO Rn 6; Kropholler/Hein Europäisches Zivilprozessrecht9 Artikel 6, EuGVVO [aF] Rn 26) – Gewährleistungs- und Interventionsklage begründet einen Gerichtsstand in dem Mitgliedstaat und vor dem Gericht der jeweiligen Hauptklage. Danach kann eine Prozesspartei des Hauptprozesses, die glaubt, für den Fall des ihr ungünstigen Ausgangs der Hauptklage einen Anspruch auf Gewährleistung, Schadloshaltung oder Freistellung gegen einen Dritten zu haben, diesen vor dem Gericht der Hauptklage mitverklagen. Aufgrund dieses Zusammenhangs kann die Klage gegen den Dritten auch dann erhoben werden, wenn das Gericht nach allgemeinen Regeln für Klagen gegen den Dritten nicht zuständig wäre (Thode in Vorwerk/Wolf BeckOK ZPO36 Brüssel IaVO Artikel 8, Rn 31; Kropholler/Hein Europäisches Zivilprozessrecht9 Artikel 6, EuGVVO [aF] Rn 18). Sie kann bei dem Gericht des Hauptprozesses auch dann erhoben werden, wenn die Zuständigkeit für die Durchführung des Hauptprozesses nicht auf dem allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten, sondern auf einem Sondergerichtsstand beruht (Dörner in Saenger, Zivilprozessordnung8 Artikel 8, EuGVVO Rn 8).

3. Der Gerichtsstand steht sowohl dem Kläger als auch dem Beklagten der Hauptklage zu (Thode in Vorwerk/Wolf BeckOK ZPO36 Brüssel IaVO Artikel 8, Rn 3; Dörner in Saenger, Zivilprozessordnung8 Artikel 8, EuGVVO Rn 7). Das Interesse des Garantiebeklagten, möglichst nur an seinem (Wohn)Sitz geklagt zu werden, wird durch das Interesse an der Einheitlichkeit der Entscheidung und durch Erwägungen der Prozessökonomie verdrängt (Leible in Rauscher, EuZPR/EuIPR, Band römisch eins, Artikel 8, Brüssel IaVO Rn 31; Simotta in Fasching/Konecny2 zu Artikel 6, EuGVVO [aF], Rz 39; ebenso Kropholler/Hein Europäisches Zivilprozessrecht9, Artikel 6, EuGVVO [aF] Rn 18).

4. Mit dem Argument der Vermeidung von Parallelverfahren erweiterte der EuGH den Anwendungsbereich der Vorgängerbestimmung Artikel 6, Nr 2 EuGVVO in der Entscheidung C52/14, SOVAG. Er sieht von der Vorschrift auch eine Klage umfasst, mit der ein Dritter dem Hauptprozess gegen den Beklagten hinzutritt. Auch der Dritte kann daher nach dem Zweck der Regelung am Gerichtsstand des Hauptprozesses eine Regressklage gegen eine der Parteien des Hauptprozesses erheben, wenn die Klage mit dem Hauptprozess eng zusammen hängt (Gottwald in MüKo zur ZPO5 Artikel 8, Brüssel IaVO Rn 19 f; Leible in Rauscher, EuZPR/EuIPR römisch eins Artikel 8, Brüssel IaVO Rn 29; Thode in Vorwerk/Wolf BeckOK ZPO36 Artikel 8, Brüssel IaVO Rn 32; Dörner in Saenger, Zivilprozessordnung8 Artikel 8, EuGVVO Rn 7; Stadler in Musielak/Voit, ZPO17 Artikel 8, EuGVVO Rn 6).

5. Der Gerichtsstand nach Artikel 8, Nr 2 EuGVVO kann gemäß Artikel 65, Absatz eins, EuGVVO aber nur geltend gemacht werden, soweit dies das innerstaatliche Recht zulässt. Gewährleistungs- und Interventionsklagen sind dem österreichischen Prozessrecht fremd. Stattdessen gibt es in Österreich (und anderen Ländern) die Streitverkündigung (Simotta in Fasching/Konecny2 Artikel 6, EuGVVO [aF] Rz 41; vergleiche auch Stadler in Musielak/Voit, ZPO17 Artikel 8, EuGVVO Rn 6). Es wurde damit ein Vorbehalt des Inhalts statuiert, dass die Zuständigkeit nach Artikel 8, Nr 2 EuGVVO vor österreichischen (wie vor deutschen [vgl Dörner in Saenger, Zivilprozessordnung8 Artikel 8, EuGVVO Rn 7; Gottwald in MüKo zur ZPO5 Brüssel IaVO Artikel 8, Rn 20; Stadler in Musielak/Voit, ZPO17 Artikel 8, EuGVVO Rn 6] und anderen [vgl Kreuzer/Wagner/Reder in Dauses/Ludwigs, Handbuch des EUWirtschaftsrechts49 Q.II. Rn 206]) Gerichten nicht in Anspruch genommen werden kann (Simotta in Fasching/Konecny2 Artikel 6, EuGVVO [aF] Rz 41; Czernich/Kodek/Mayr Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht, Artikel 8, EuGVVO Rz 24).

6. Soweit sich die Zweitklägerin auf die Vergleichbarkeit des Falles mit jenem der Entscheidung EuGH C-52/14, SOVAG, beruft, negiert sie, dass im dort zugrundeliegenden nationalen Prozessrecht eine Interventionsklage – im Gegensatz zu Österreich – zulässig war. In Österreich steht der Gerichtsstand nach Artikel 8, Nr 2 EuGVVO jedenfalls nicht zur Verfügung, auch wenn mitunter eine entsprechende Klageform auch in Österreich als rechtspolitisch überlegenswert angesehen werden mag vergleiche Wittwer in Mayr, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Rz 3.374 mwN).

7. Dem Revisionrekurs ist daher der Erfolg zu versagen.

8. Die Kostenentscheidung basiert auf Paragraphen 41,, 50 Absatz eins, ZPO. Ein Streitgenossenzuschlag stand im Revisionsrekursverfahren nicht zu.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2020:E128958