Gericht

OGH

Entscheidungsdatum

18.03.2016

Geschäftszahl

9ObA24/16v

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Mörk und Peter Schleinbach als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Mag. A***** B*****, gegen die beklagte Partei P***** GmbH, *****, vertreten durch Schmidtmayr Sorgo Wanke Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Kündigungsanfechtung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Dezember 2015, GZ 10 Ra 100/15x-35, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision der beklagten Partei wird gemäß Paragraph 508 a, Absatz 2, ZPO mangels der Voraussetzungen des Paragraph 502, Absatz eins, ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Selbst bei Fehlen einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer konkreten Fallgestaltung liegt dann keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn ein Streitfall trotz neuer Sachverhaltselemente bereits mit Hilfe vorhandener Leitlinien höchstgerichtlicher Rechtsprechung gelöst werden kann (RIS-Justiz RS0042656 [T48]). Dies trifft hier aus den nachstehenden Erwägungen zu:

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass bei der Beurteilung des Anfechtungsgrundes des Paragraph 105, Absatz 3, Ziffer 2, ArbVG auf den Zeitpunkt der durch die angefochtene Kündigung herbeigeführten Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Konkretisierungszeitpunkt) abzustellen ist (RIS-Justiz RS0051772). Ausgehend von diesem Zeitpunkt ist zunächst zu prüfen, ob die Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt. Eine Kündigung kann nur dann erfolgreich wegen Sozialwidrigkeit angefochten werden, wenn sie eine fühlbare, ins Gewicht fallende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Arbeitnehmers zur Folge hat (RIS-Justiz RS0051753; RS0051741). Die soziale Rechtfertigung der Kündigung ist ausschließlich im Wege eines Vergleichs der individuellen Situation des Arbeitnehmers vor und nach der Kündigung zu prüfen (Wolligger in ZellKomm² Paragraph 105, ArbVG Rz 147).

Unter Beachtung dieser Grundsätze haben die Vorinstanzen eine wesentliche Interessenbeeinträchtigung des Klägers durch die Kündigung der Beklagten und in der Folge mangels Vorliegens der Voraussetzung des Paragraph 105, Absatz 3, Ziffer 2, Litera b, ArbVG die Sozialwidrigkeit der Kündigung iSd Paragraph 105, Absatz 3, Ziffer 2, ArbVG bejaht. Eine unvertretbare Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts vermag die Beklagte in ihrer außerordentlichen Revision nicht darzustellen.

Der Kläger war beim beklagten Arbeitskräfteüberlassungsunternehmen ab 20. 4. 2010 beschäftigt und seit Beginn des Arbeitsverhältnisses an (nur) ein Beschäftigerunternehmen überlassen. Die Überlassung endete am 14. 3. 2013. Am 22. 3. 2013 wurde der Kläger von der Beklagten zum 5. 4. 2013 gekündigt. Im Überlassungszeitraum bezog der Kläger auf Grundlage des im Beschäftigerbetrieb geltenden Kollektivvertrags für Arbeiter in der chemischen Industrie einen monatlichen Bruttolohn von rund 2.050 EUR. Eine Prognose der Arbeitsmarktschancen zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten ergibt, dass der Kläger innerhalb von fünf Monaten eine adäquate Vollzeitanstellung als Lagerarbeiter oder Verladearbeiter (mit Staplerschein) mit einem Bruttomonatslohn von 1.600 EUR finden kann.

Dass die Kündigung ausgehend von diesen Prämissen, nämlich insbesondere einem nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erwartenden Einkommensverlust und der sonstigen (nicht strittigen) wirtschaftlichen Verhältnisse und Lebensumstände des Klägers dessen wesentliche Interessen beeinträchtigt, wird von der Revisionswerberin auch nicht in Frage gestellt. Sie steht jedoch auf dem Standpunkt, dass dem vorzunehmenden Einkommensvergleich für die Zeit vor der Kündigung nicht das vom Kläger „zufällig“ im Beschäftigerbetrieb erzielte Entgelt (Paragraph 10, Absatz eins, Satz 3 AÜG) zugrunde zu legen sei, sondern der im Arbeitsvertrag vereinbarte Mindestlohn nach dem auf das Arbeitsverhältnis der Streitteile anwendbaren Kollektivvertrag für das Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung (KVAÜ). Werde dieser monatliche Bruttolohn von 1.708,73 EUR dem möglichen vom Kläger künftig zu erzielenden Einkommen gegenübergestellt, fehle es an der für eine erfolgreiche Kündigungsanfechtung wegen Sozialwidrigkeit wesentliche Interessenbeeinträchtigung des Klägers.

Dieser Beurteilung ist nicht zu folgen. Damit würde von den oben genannten Grundsätzen der Rechtsprechung zur Prüfung der wesentlichen Interessenbeeinträchtigung abgegangen werden. Eine sachliche Rechtfertigung lässt sich dafür aber auch im Bereich der Arbeitskräfteüberlassung nicht finden. Bei dem vom Kläger während der Überlassung bezogenen Lohn handelt es sich nicht um ein „zufällig“ erzieltes, sondern vielmehr um das gesetzlich und kollektivvertraglich dem Kläger in der Zeit der Überlassung tatsächlich zustehende Entgelt. Steht einer überlassenen Arbeitskraft aufgrund des im Beschäftigerbetrieb anwendbaren Kollektivvertrags ein höheres Entgelt zu als bei einem Einsatz in einem anderen Unternehmen, dann ist dieser Arbeitnehmer auch wirtschaftlich stärker von der Kündigung betroffen als ein anderer Leiharbeitnehmer. Das Argument der Revisionswerberin, der Kläger hätte im Zuge der Verleihung an einen neuen Beschäftiger unter Umständen einen niedrigeren Lohn als bisher erhalten, ist rein hypothetisch. Es berücksichtigt nicht die konkrete beim Kläger durch die Kündigung tatsächlich eingetretene finanzielle Schlechterstellung. Vielmehr legt die Beklagte ihrer Beurteilung der wesentlichen Interessenbeeinträchtigung ein fiktives, vom Kläger nicht erzieltes niedrigeres Einkommen zugrunde.

Soweit die Revisionswerberin bei der Beurteilung der Interessenbeeinträchtigung des Klägers auf das Entgelt abstellt, das der Kläger im Falle einer Weiter-
beschäftigung in ihrem Unternehmen erhalten hätte, ist ihr Abschnitt römisch IX Punkt 6 KVAÜ - auf den sie selbst rekurriert - entgegenzuhalten. Danach hat der Kläger in der überlassungsfreien Zeit Anspruch auf Bezahlung von täglich 7,7 Stunden des Durchschnittsentgelts der letzten 13 Wochen. Dieses Entgelt spiegelt aber wiederum das vom Kläger im Zuge seiner Überlassung bezogene Durchschnittsentgelt wieder. Die Regelung des Abschnitts römisch IX Punkt 6 KVAÜ soll nämlich sicherstellen, dass das Einkommensniveau während der Stehzeit gegenüber dem vorangegangenen Einsatz nicht absinkt (Schindler, Arbeitskräfteüberlassungs-KV 2013römisch IX Erl 41; Schörghofer, Grenzfälle der Arbeitskräfteüberlassung [2015] 9).

Aus der ebenfalls die Kündigungsanfechtung einer überlassenen Arbeitskraft betreffenden Entscheidung 8 ObA 46/15z, in der der Oberste Gerichtshof bei schwankendem Einkommen und der Bewertung der zu erwartenden Einkommenseinbußen auf eine Durchschnittsbetrachtung abstellte, ist für den Standpunkt der Revisionswerberin nichts zu gewinnen. Wie bereits ausgeführt, geht es hier nicht um ein schwankendes Einkommen des Klägers, sondern um den untauglichen Versuch der Beklagten, bei der Beurteilung der Sozialwidrigkeit nicht auf das tatsächlich erzielte Entgelt des Klägers, sondern lediglich auf ein hypothetisches Entgelt abzustellen.

Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des Paragraph 502, Absatz eins, ZPO ist die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2016:009OBA00024.16V.0318.000