Gericht

OLG Wien

Entscheidungsdatum

21.01.2016

Geschäftszahl

34R104/15m

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht [...] wegen Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats über den Rekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Patentamts vom 4.5.2015, SZ 26/2013-3, in nicht öffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben; dem Patentamt wird aufgetragen, über den als rechtzeitig anzusehenden Antrag neuerlich zu entscheiden.

Der Revisionsrekurs ist jedenfalls unzulässig.

Text

Begründung

1.1 Der Antragsteller ist Inhaber des europäischen Patents EP 0 758 900 (E 215832) „Botulinumtoxin zur Reduktion von Migräne-Kopfschmerz“, das am 10.4.2002 erteilt wurde (Datum der Anmeldung: 2.5.1995). Die Genehmigungen für Arzneimittel „Botox“, die den Wirkstoff Botulinumtoxin enthalten, wurden zu folgenden Zeitpunkten erteilt: 10.7.2000; 19.11.2009; 3.2.2011.

Diese Genehmigungen betreffen folgende Indikationen: Bleropharospasmus, hemifazialer Spasmus und koexistierende fokale Dystonien, zervikale Dystonie (Torticollis spasmoticus), fokale Spastizität, Hyperhydrosis axillaris.

1.2 Der Antragsteller beantragte am 12.6.2013 (einlangend) ein ergänzendes Schutzzertifikat (ESZ) und brachte zur Rechtzeitigkeit des Antrags vor, die ursprünglichen Genehmigungen schlössen chronische Migräne nicht ein. Die darauf bezogene Genehmigung stamme vom 20.12.2012; diese Genehmigung sei eine „erste Genehmigung“ im Sinne des Artikel 3, Litera d, der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 vom 6.5.2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel („VO 469/2009“; CELEX 32009R0469).

2. Das Patentamt wies den Antrag mit der Begründung ab, er sei verspätet, weil die 6-Monats-Frist des Artikel 7, Absatz eins, VO 469/2009 nicht eingehalten worden sei. Die Änderung einer Zulassung löse keine gesonderte Anmeldefrist aus.

3. Dagegen richtet sich der Rekurs des Antragstellers, der unrichtige rechtliche Beurteilung geltend macht und beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das ESZ zu erteilen; in eventu wird die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt sowie angeregt, dem EuGH die folgende Fragen vorzulegen:

„Ist die Änderung vom Typ römisch II einer bestehenden Genehmigung unter Hinzufügung einer neuen Indikation als gültige Genehmigung nach Artikel 3, Litera b und Litera d, der VO 469/2009 anzusehen und kann dementsprechend ein ESZ auf der Grundlage einer solchen Genehmigungsänderung erteilt werden?“

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist berechtigt.

4. Für jedes in einem Mitgliedstaat patentierte Erzeugnis, das vor seinem Inverkehrbringen Gegenstand eines Genehmigungsverfahrens ist, kann nach Artikel 2, VO 469/2009 ein ESZ erteilt werden. Nach Artikel 3, VO 469/2009 wird das ESZ erteilt, wenn (a) das Erzeugnis zum Zeitpunkt der Anmeldung durch ein Grundpatent geschützt ist, wenn (b) die Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde, wenn (c) für das Erzeugnis nicht bereits ein ESZ erteilt wurde und wenn (d) die Genehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses als Arzneimittel ist.

Grundsätzlicher Zweck eines ESZ ist es, dem Patentinhaber einen Ausgleich für die „verlorene“ Zeit zu gewähren, die zwischen der Patentierung und der Genehmigung verstrichen ist. Das ESZ verlängert den Patentschutz um die um fünf Jahre verkürzte Zeitspanne zwischen der Anmeldung des Patents und der ersten Genehmigung (Artikel 13, VO 469/2009).

Artikel 7, VO 469/2009 setzt eine Frist zur Antragstellung von 6 Monaten; sie beginnt mit der Genehmigung des Inverkehrbringens.

5.1 Das Patentamt bezog sich auf drei Medikamente, die in Österreich am 10.7.2000, am 19.11.2009 und am 3.2.2011 erstmals zugelassen worden seien; im EWR seien die Medikamente am 21.9.2007, am 17.5.1994 und am 30.3.2009 zugelassen worden. Die Anmeldung des ESZ am 12.6.2013 sei daher verspätet. Die Änderung der Zulassung vom 20.12.2012 (von der das Patentamt ausging und die auch mit der Aktenlage übereinstimmt) setze keine neue Frist in Gang.

5.2 Dabei hat das Patentamt allerdings einen Umstand außer Acht gelassen: Das Grundpatent EP 0 758 900 B1 (AT E 215 832 T1) schützt «die Verwendung eines Botulinumtoxins zur Herstellung eines Medikaments zur Reduktion von Schmerzen, die mit einem Migränekopfschmerz verbunden sind, [...] durch Verabreichung [...] in [...] Muskeln [...], im Gesicht, am Schädel oder Hals [...]» (Anspruch 1). Die weiteren Ansprüche 2 bis 13 sind davon abgeleitet und beziehen sich stets auch auf die Reduktion von Schmerzen, die mit einem Migränekopfschmerz verbunden sind.

Die Genehmigungen, auf die sich das Patentamt bezieht, betreffen diese Verwendung (Migränekopfschmerz) nicht. Erstmals durch die Änderung der Zulassung vom 20.12.2012 wurde die Therapierung des Migränekopfschmerzes in den genehmigten Bereich einbezogen.

Das Rekursgericht erachtet dabei die Entscheidung des EuGH C-130/11, Neurim, für den vorliegenden Fall als verwertbar. Im dort zu beurteilenden Sachverhalt war ein Wirkstoff zur Behandlung von Schlaflosigkeit (von Menschen) patentiert worden; nach der Genehmigung beantragte der Patentinhaber ein ESZ. Das IPO (Intellectual Property Office, UK) wies den Antrag ab, weil für den Wirkstoff schon eine frühere Genehmigung vorlag, und zwar für die Regulierung der Fortpflanzungszeit von Schafen; die nun erteilte Genehmigung sei nicht „die erste“.

Die entsprechende (erste) Vorlagefrage, die die Behörde zweiter Instanz an den EuGH gerichtet hatte, lautete im Wesentlichen: «Steht in Fällen, in denen eine Genehmigung für das Inverkehrbringen (A) eines Arzneimittels mit einem bestimmten Wirkstoff erteilt wurde, Artikel 3, Litera d, VO 469/2009 der Erteilung eines ESZ auf der Grundlage einer jüngeren Genehmigung für das Inverkehrbringen (B) eines anderen Arzneimittels mit demselben Wirkstoff entgegen, wenn sich der durch das Grundpatent gewährte Schutz im Sinne von Artikel 4, nicht auf das Inverkehrbringen des von der älteren Genehmigung erfassten Erzeugnisses erstreckt?»

Der EuGH entschied dazu (auf das Wesentliche gekürzt:) «Die Erteilung eines ESZ für eine bestimmte Verwendung eines Erzeugnisses, für die eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde, scheidet nicht bereits deshalb aus, weil für eine andere Verwendung dieses Erzeugnisses schon eine Genehmigung für das Inverkehrbringen als Tierarzneimittel erteilt worden war, sofern diese*) Verwendung in den Schutzbereich des Grundpatents fällt, auf das sich die Anmeldung des ESZ bezieht.»

Das mit *) gekennzeichnete „diese“ bezieht sich nach der Logik des Satzes auf die Verwendung laut der jüngeren Genehmigung, auf die der Antrag auf Erteilung des ESZ nun gestützt wurde, im Neurim-Fall somit auf die humanmedizinische Behandlung von Schlaflosigkeit.

5.3 Der EuGH hat somit in dieser Entscheidung klargestellt, dass der Patentschutz und die Genehmigung inhaltlich harmonieren müssen und dass frühere Genehmigungen der späteren Genehmigung einer patentgeschützten Verwendung nicht die Eigenschaft „erste Genehmigung“ nach Artikel 3, Litera d, VO 469/2009 nehmen, wenn sich die frühere Genehmigung auf Bereiche bezieht, die das Grundpatent nicht schützt.

Der Umstand, dass im Neurim-Fall die Grenze zwischen der human- und der tiermedizinischen Verwendung lag, fällt dabei rechtlich nicht ins Gewicht; die Wesentlichkeit der inhaltlichen Kongruenz zwischen dem Grundpatent und der Genehmigung ist durch die Neurim-Entscheidung ausreichend und in einer auf den vorliegenden Fall umlegbaren Weise klargestellt.

5.4 Genauso deutlich spricht die zweite Fragebeantwortung des EuGH in der Neurim-Entscheidung für dieses Ergebnis. Darin hat der EuGH klargestellt, dass es auf die Genehmigung (für das Inverkehrbringen) jenes Erzeugnisses ankommt, das in den Schutzbereich des Grundpatents fällt. Im Gegenzug schadet eine frühere Genehmigung für einen außerhalb des Schutzbereichs des Patents liegenden Zweck insofern nicht, als dass damit die 6-Monats-Frist nicht in Gang gesetzt wird.

6. Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben und dem Patentamt aufzutragen, über den rechtzeitigen Antrag meritorisch zu entscheiden. Da das Patentamt eine Formalentscheidung getroffen hatte (Zurückweisung wegen Verspätung), konnte das Rekursgericht nicht meritorisch über den Antrag entscheiden.

Zur neuerlichen Befassung des EuGH im Sinne des Eventualantrags des Antragstellers besteht kein Anlass.

7. Grundsätzlich können Rekursentscheidungen im Verfahren außer Streitsachen nach Maßgabe des Paragraph 62, AußStrG mit Revisionsrekurs angefochten werden. Dessen ungeachtet wäre ein Rechtsmittel des allein hiezu legitimierten Antragstellers zurückzuweisen, weil sein Rekurs vollständig erfolgreich war und er durch die Entscheidung des Rekursgerichts nicht beschwert ist (RIS-Justiz RS0006880 uva). Der Revisionsrekurs ist daher jedenfalls unzulässig; ein Ausspruch über den Wert des Entscheidungsgegenstands entfällt.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OLG0009:2016:03400R00104.15M.0121.000