Gericht

AUSL EGMR

Entscheidungsdatum

23.07.2013

Geschäftszahl

Bsw42606/05

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch II, Beschwerdesache Izci gg. die Türkei, Urteil vom 23.7.2013, Bsw. 42606/05.

Spruch

Artikel 3,, 11, 46 EMRK - Gewaltanwendung durch Polizei bei Demonstration.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Artikel 3, EMRK in seinem materiellen und prozessrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Verletzung von Artikel 11, EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung von Artikel 14, EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Artikel 41, EMRK: € 20.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. lebt in Istanbul. Am 6.3.2005 nahm sie an einer Demonstration auf dem Beyaz1t-Platz teil, um auf den am 8.3. alljährlich gefeierten Internationalen Frauentag aufmerksam zu machen. Nach der Verlesung einer Presseerklärung löste sich die Versammlung langsam auf. Plötzlich begannen Polizeibeamte auf Demonstranten mit Knüppeln einzuschlagen, wobei sie auch Tränengas gegen sie einsetzten. Das dem EGMR von der Regierung vorgelegte Videomaterial zeigt unter anderem, wie Frauen, die Zuflucht in Büschen oder in Geschäften genommen hatten, von Polizisten herausgezerrt und verprügelt werden. Laut der Bf. sei sie nach Schlägen gegen Kopf, Gesicht und Körper zu Boden gegangen, dies hätte die Polizeibeamten jedoch nicht davon abgehalten, weiter auf sie einzuprügeln und sie mit Flüchen und Beleidigungen zu überschütten. Sie wäre verletzt und halbbewußtlos liegen geblieben und hätte nur mit Unterstützung eines Passanten den Platz verlassen können.

Laut einem von den Strafverfolgungsbehörden in Auftrag gegebenen Expertengutachten hatten die einschreitenden Polizeibeamten den Demonstranten zuvor keine Warnungen zukommen lassen, sich vom Platz zu entfernen, andernfalls sie Gewalt einsetzen würden. Die Demonstranten hätten keine Gegenwehr geleistet und die Polizisten auch nicht attackiert, sondern lediglich versucht, den Platz so schnell wie möglich zu verlassen.

Im Anschluss an den Vorfall wandte sich die Bf. an die Staatsanwaltschaft, die sie an das gerichtsmedizinische Institut zur ärztlichen Abklärung der von ihr geschilderten Verletzungen verwies. Die Untersuchung ergab eine große Zahl von Blutergüssen unterschiedlicher Größe  an Armen und Beinen sowie am Gesäß. Die Bf. wurde für die Dauer von fünf Tagen für arbeitsunfähig erklärt. Sie erstattete daraufhin Strafanzeige gegen die für ihre Misshandlung verantwortlichen Polizeibeamten.

Am 9.12.2005 erhob die Staatsanwaltschaft beim Strafgericht Istanbul Anklage gegen 54 Polizisten wegen Zufügung von Verletzungen in Überschreitung der polizeilichen Befugnisse zur Anwendung von Gewalt. In der Anklageschrift wurde auch die Bf. als Opfer angeführt.

Mit Urteil vom 12.5.2011 sprach das Strafgericht Istanbul 48 Polizeibeamte aus Mangel an Beweisen frei. Die restlichen sechs wurden zu Freiheitsstrafen im Ausmaß von fünf bis 21 Monaten verurteilt. Ungeachtet dessen wurde das Strafverfahren am 8.9.2011 wegen Verjährung eingestellt, so die Informationen der Regierung.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet Verletzungen von Artikel 3, EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung), Artikel 11, EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) und von Artikel 14, EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 3, EMRK

Die Bf. bringt vor, sie sei von den Polizeibeamten verprügelt, mit Tränengas besprüht und beleidigt worden. Derartige Attacken würden in der Türkei toleriert werden und ungeahndet bleiben.

Zur Zulässigkeit

Die Regierung wendet ein, die Bf. habe den innerstaatlichen Instanzenzug nicht ausgeschöpft, da sie den wesentlichen Inhalt der vor dem GH erhobenen Beschwerdepunkte nicht vor den nationalen Gerichten geltend gemacht habe. Zudem wäre das Strafverfahren gegen die Polizeibeamten noch anhängig. Die Bf. habe auch verabsäumt, Entschädigung für die erlittene Ungemach gemäß Artikel 125, der Verfassung zu beantragen.

Die Bf. hat ihre Beschwerdepunkte nicht nur dem Inhalt nach vor die nationalen Gerichte gebracht, sondern sich auch ausdrücklich auf ihre Konventionsrechte berufen. Was den Einwand der Regierung zur Frage der nichtbeantragten Entschädigung anbelangt, hat der GH ähnliche Einwände bereits in früheren Fällen geprüft und sie zurückgewiesen.

Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen und die Beschwerde – die weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist – für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Der GH hat bereits festgehalten, dass Artikel 3, EMRK zwar grundsätzlich nicht die Anwendung von Gewalt zur Erzwingung einer Festnahme verbietet, jedoch darf davon nur Gebrauch gemacht werden, wenn sich diese als unerlässlich erweist, ferner darf sie nicht exzessiv sein. Er vermag daher das Vorbringen der Regierung nicht zu akzeptieren, wonach die von der Polizei angewendete Gewalt gegenüber dem Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verhältnismäßig gewesen sei. Mit Nachdruck ist festzuhalten, dass Artikel 3, EMRK nicht die Vornahme eines Ausgleichs zwischen der physischen Integrität eines Individuums und dem Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gestattet.

Zum Vorbringen der Regierung, die Misshandlung der Bf. habe nicht den erforderlichen Schweregrad erreicht, ist zu sagen, dass der medizinische Untersuchungsbericht dem klar widerspricht. Die Bf. hat somit Verletzungen erlitten, die ernst genug waren, um eine Misshandlung iSv. Artikel 3, EMRK darzustellen. Dazu kommt, dass weder die nationalen Behörden noch die Regierung das Vorbringen der Bf., ihr wären von Polizeibeamten Verletzungen zugefügt worden, bestritten haben. Die gewaltsamen Methoden, auf welche die Polizei im Zuge der strittigen Ereignisse Rückgriff nahm, sind auf Video bestens dokumentiert, sodass von einer verhältnismäßigen Gewaltanwendung keine Rede sein kann. Die Tatsache jedenfalls, dass die Bf. nicht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verhaftet wurde und man auch kein Strafverfahren gegen sie eingeleitet hat, ist ein zusätzlicher Hinweis darauf, dass sie die öffentliche Ruhe und Ordnung bzw. die Polizisten nicht gefährdet hat, sondern dass sie – wie viele andere Demonstranten auch – Objekt willkürlicher Polizeiattacken wurde.

Der GH hat bereits im Fall Ali Günes/TR festgestellt, dass die ungerechtfertigte Verwendung von Tränengas durch Exekutivorgane mit Artikel 3, EMRK unvereinbar ist. Er erinnert daran, dass die Exekutive bei der Ausübung ihrer Pflichten, mag es sich um eine geplante Operation oder um eine spontane Aktion wie die versuchte Festnahme einer als gefährlich eingestuften Person handeln, nicht in einem rechtlichen Vakuum gelassen werden sollte: Es bedarf rechtlicher und administrativer Rahmenbedingungen, die genau definieren, unter welchen eingeschränkten Bedingungen Exekutivorgane (Waffen-)Gewalt im Lichte der in diesem speziellen Bereich entwickelten internationalen Standards anwenden dürfen.

Wie es scheint, war das »Gesetz Nr. 2559 über Pflichten und Befugnisse der Polizei« zum damaligen Zeitpunkt der einzige rechtliche Bezugspunkt zum Gebrauch von Tränengas (ein dessen Gebrauch genau vorschreibender Erlass erging erst Jahre nach den strittigen Ereignissen). Das genannte Gesetz listet Tränengas lediglich als eine von mehreren Waffen auf, die von Polizeibeamten eingesetzt werden können, spezifiziert jedoch nicht, unter welchen Voraussetzungen diese Waffe in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Türkei zur Anwendung kommen darf. Die Regierung selbst hat jedenfalls nicht behauptet, dass zum fraglichen Zeitpunkt klare und adäquate Richtlinien zum Einsatz von Tränengas bestanden und dass die einschreitenden Polizeibeamten im Einklang mit derartigen Richtlinien gehandelt hatten. Der GH erinnert in diesem Zusammenhang an die vom Anti-Folter-Komitee geäußerten Bedenken hinsichtlich der Verwendung von Tränengas und den dazu abgegebenen Empfehlungen. Er hält fest, dass zum relevanten Zeitpunkt der Mangel an klaren, detaillierten und bindenden Instruktionen zum Einsatz von Tränengas großteils zum exzessiven und ungerechtfertigten Gebrauch von Tränengas gegen die Bf. und andere Demonstranten beigetragen hatte.

Der GH ist auch der Meinung, dass die Polizisten es verabsäumten, vor ihrem Versuch, die Menge (welche keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellte und auch keine gewalttätigen Akte setzte) zu zerstreuen, einen gewissen Grad an Toleranz und Zurückhaltung an den Tag zu legen. Es hat vielmehr den Anschein, als ob die hastige Reaktion der Polizei auf die friedliche Versammlung Chaos bewirkte und die darauffolgende unverhältnismäßige Gewaltanwendung seitens der Polizisten letztlich zu den Verletzungen der Bf. führte.

Was die von den türkischen Behörden eingeleitete strafrechtliche Untersuchung angeht, ist darauf hinzuweisen, dass das Verhandlungsgericht es akzeptierte, dass die Polizeibeamten ihre Kennnummern versteckt hatten, um einer Identifikation zu entgehen. Die nationalen Behörden vermieden es nicht nur, auf die Planung und Durchführung der Polizeioperation näher einzugehen, sondern ließen es auch zu, dass die Polizeibeamten indirekt von der Verhüllung ihrer Kennnummern profitieren konnten, weil das Strafverfahren dadurch verlängert und dann wegen Verjährung eingestellt wurde. So wurden unter anderem die Schwierigkeiten für die Opfer, die Polizeibeamten verlässlich zu identifizieren, vom Verhandlungsgericht als ein Faktor genannt, der zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hatte. Diese Mängel führten schlussendlich zu dem Ergebnis, dass auch deren Vorgesetzte nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der zuständige Staatsanwalt im Verlauf des Strafverfahrens den Antrag stellte, die Polizeibeamten mangels Unvermögens der Opfer, sie zu identifizieren, freizusprechen. Er gab jedoch keine Erklärung dahingehend ab, auf welche Weise es diesen möglich gewesen wäre, die Polizisten, welche zudem Gasmasken trugen, zu identifizieren.

Mag das Strafgericht besagten Antrag auch abgewiesen und das Unvermögen der Opfer, die mutmaßlichen, Gewalt gegen sie ausübenden Polizeibeamten identifizieren zu können, berücksichtigt haben, so sprach es doch nur jene sechs schuldig, die von der Kriminalpolizei nach dem Vorfall verhört worden waren und zugegeben hatten, unnotwendige und exzessive Gewalt angewendet zu haben. Die restlichen 48 wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen, ohne dass das Strafgericht dafür zusätzliche Gründe angeführt hätte. Nach Ansicht des GH wirft das Versäumnis, die strafrechtliche Verantwortung der Mehrzahl der bei der Demonstration einschreitenden Polizeibeamten einer Bewertung zuzuführen, ernste Fragen hinsichtlich der Verpflichtung der türkischen Behörden auf, effektive Untersuchungen bei behaupteten Misshandlungsvorfällen durchzuführen.

Der GH hat bereits in einer Reihe von Urteilen gegen die Türkei beobachtet, dass das Versäumnis der Strafverfolgungsbehörden, gegen Polizisten wegen behaupteter Misshandlung von Personen eingeleitete Strafverfahren zügig abzuwickeln, zu einer Einstellung wegen Verjährung führte. Auch für den gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass sich das türkische Strafrechtssystem als viel zu wenig rigoros herausgestellt hat und diesem die abschreckende Wirkung fehlt, um einen effektiven Schutz gegen unrechtmäßige Akte, wie sie von der Bf. hier behauptet werden, zu bieten.

Der GH hebt hervor, dass – für den Fall der Anklageerhebung gegen einen staatlichen Vollzugsbeamten wegen Verbrechen in Verletzung von Artikel 3, EMRK – das anschließende Strafverfahren nicht verjähren darf und Amnestie oder Straferlass nicht zulässig sein sollten. Außerdem ist es von immenser Wichtigkeit, dass wegen Folter oder Misshandlung angeklagte Staatsbeamte während der strafrechtlichen Untersuchung bzw. der Strafverhandlung vom Dienst freigestellt und im Fall eines Schuldspruchs aus dem Dienst entlassen werden. Der GH hat keine Informationen darüber, dass irgendeiner der angeklagten Polizeibeamten während des sechsjährigen Strafverfahrens suspendiert worden wäre.

Mit Rücksicht auf die gegen die Bf. ausgeübte Polizeigewalt und die ernsten Versäumnisse der Gerichte, die wahren Hintergründe für den Vorfall zu ermitteln und nach den Schuldigen zu forschen, nicht zu vergessen das zusätzliche Versäumnis, das Strafverfahren zügig abzuwickeln, ist eine Verletzung von Artikel 3, EMRK sowohl unter seinem materiellen als auch unter seinem prozessualen Gesichtspunkt festzustellen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 11, EMRK

Die Bf. behauptet, aufgrund der polizeilichen Gewaltausübung sei es ihr unmöglich gewesen, ihr Recht auf Versammlungsfreiheit wirksam auszuüben.

Die Beschwerde ist für zulässig zu erklären (einstimmig). Im vorliegenden Fall stellten die Interventionen der Polizeibeamten und die Behandlung, der die Bf. ausgesetzt war, einen Eingriff in Artikel 11, EMRK dar. Dieser hatte seine Rechtsgrundlage im »Gesetz über Versammlungen und Protestmärsche« und war daher gesetzlich vorgesehen iSv. Artikel 11, Absatz 2, EMRK. Der GH sieht auch keinen Anlass, das von der Regierung vorgebrachte legitime Ziel der Verhinderung von Verbrechen bzw. der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung anzuzweifeln.

Was die Frage anbelangt, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, erinnert der GH daran, dass die Bf. – wie viele andere Demonstranten auch – keine gewalttätigen Akte setzte und auch die öffentliche Ordnung nicht gefährdete. Es bestand somit kein Grund zu einer derart harten Intervention.

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Demonstrationen an öffentlichen Orten das gewöhnliche Leben dort durchaus irritieren dürfen. Dazu gehört auch – wie hier – die Störung des Verkehrs an einem öffentlichen Platz. Nehmen nun Demonstranten keinen Rückgriff auf Gewalt, ist es entscheidend, dass die nationalen Behörden einen gewissen Grad an Toleranz gegenüber friedlichen Demonstranten zeigen, andernfalls Artikel 11, EMRK jeglichen Gehalts beraubt würde.

Im vorliegenden Fall war das Einschreiten der Polizisten im Zuge der Demonstration und die gegen die Bf. gebrauchte Gewalt unverhältnismäßig und nicht notwendig zur Erreichung der oben genannten Ziele. Abgesehen davon musste die Brutalität, mit der die Menge zerstreut wurde, unvermeidlich eine abschreckende Wirkung auf den Demonstrationswillen der Bevölkerung haben. Verletzung von Artikel 11, EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 14, EMRK

Die Bf. beklagt sich darüber, dass sie an einer Demonstration teilnehmen habe wollen, die auf die Probleme von Frauen aufmerksam machen wollte. Sie sei jedoch von der Teilnahme gewaltsam ausgeschlossen worden.

Dieser Beschwerdepunkt ist für zulässig zu erklären, jedoch erachtet der GH eine gesonderte Prüfung angesichts der festgestellten Verletzungen von Artikel 3 und Artikel 11, EMRK nicht für notwendig (jeweils einstimmig).

Anwendung von Artikel 46, EMRK

Der GH hat bereits in über 40 Urteilen gegen die Türkei eine Verletzung von Artikel 3, und/oder Artikel 11, EMRK wegen überharter Intervention seitens der Exekutivorgane bei Demonstrationen oder wegen der Einleitung von Strafverfahren gegen die Bf. wegen der Teilnahme an einer solchen festgestellt. Allen Fällen ist das Versäumnis der Behörden gemein, eine gewisse Toleranz gegenüber friedlichen Versammlungen zu zeigen. In manchen Fällen notierte der GH auch einen vorschnellen Gebrauch von physischer Gewalt – einschließlich Tränengas – durch die Einsatzkräfte. In etwa der Hälfte der genannten Urteile beanstandete er die fehlende Durchführung einer effektiven Untersuchung hinsichtlich einer behaupteten Misshandlung im Zuge der Demonstration. Derzeit sind 130 Beschwerden gegen die Türkei wegen Verletzung des Versammlungsrechts bzw. exzessiver Polizeigewalt während Demonstrationen anhängig.

Mit Rücksicht auf die vorgenannten systemischen Probleme hält es der GH für notwendig, dass die belangte Regierung generelle Maßnahmen trifft, um zukünftige ähnliche Verletzungen zu vermeiden. Die türkischen Behörden sollten Maßnahmen ergreifen, um zu gewährleisten, dass die Sicherheitskräfte beim Rückgriff auf Zwangsmittel – wie physische Gewalt oder Tränengas – in Übereinstimmung sowohl mit den Anforderungen der Artikel 3 und 11 EMRK als auch mit den einschlägigen Empfehlungen des Anti-Folter-Komitees handeln. Sorge getragen werden sollte auch dafür, dass die Justizbehörden bei Misshandlungsvorwürfen effektive Untersuchungen gemäß ihren Verpflichtungen unter Artikel 3, EMRK durchführen, was auch die Sicherstellung der strafrechtlichen Verantwortung der leitenden Polizeioffiziere miteinschließt. Von erheblicher Bedeutung werden auch klarere Verhaltensregeln bei der Durchführung des Runderlasses des Innenministers vom 15.2.2008 betreffend den Einsatz von Tränengas sein. Ferner sollte ein Mechanismus in Gang gesetzt werden, der ein angemessenes Training der Sicherheitskräfte und deren Kontrolle und Überwachung während Demonstrationen garantiert. Wichtig ist auch eine effektive ex post-Überprüfung der Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit jeglicher Gewaltanwendung – und zwar insbesondere dann, wenn sie gegenüber Personen erfolgt ist, welche keinen gewaltsamen Widerstand geleistet haben.

Entschädigung nach Artikel 41, EMRK

€ 20.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Ribitsch/A v. 4.12.1995 = NL 1995, 225 = ÖJZ 1996, 148 = EuGRZ 1996, 504

Pekaslan u.a./TR v. 20.3.2012

Ali Günes/TR v. 10.4.2012

Disk und Kesk/TR v. 27.11.2012

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.7.2013, Bsw. 42606/05 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 278) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_4/Izci.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.