AUSL EGMR
06.12.2012
Bsw12323/11
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch fünf, Beschwerdesache Michaud gg. Frankreich, Urteil vom 6.12.2012, Bsw. 12323/11.
Artikel 8, EMRK - Verpflichtung von Anwälten, über Verdachtsmomente hinsichtlich Geldwäsche zu berichten.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Artikel 8, EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).
Keine Verletzung von Artikel 8, EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist praktizierender Rechtsanwalt in Paris und Mitglied der französischen Rechtsanwaltskammer.
Beginnend mit 1991 verabschiedete die Europäische Union mehrere Richtlinien zur Bekämpfung der Geldwäsche. Anmerkung, RL 91/308/EWG des Rates vom 10.6.1991 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche vergleiche Artikel 12,, wonach die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie ganz oder teilweise auf Berufe und Unternehmenskategorien ausgedehnt werden, die zwar keine Kredit- und Finanzinstitute im Sinne von Artikel 1 sind, jedoch Tätigkeiten ausüben, die besonders geeignet sind, für Zwecke der Geldwäsche genutzt zu werden); RL 2001/97/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.12.2001 zur Änderung der RL 91/308/EWG; RL 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung.) Sie wurden vom französischen Gesetzgeber im Finanzgesetz (Code monétaire et financier) umgesetzt. Den einschlägigen Regelungen zufolge stehen insbesondere Anwälte unter einer Verpflichtung, im Zusammenhang mit ihren beruflichen Aktivitäten über allfällige Verdachtsmomente betreffend Geldwäsche zu berichten, wenn sie Klienten bei der Vorbereitung bzw. Durchführung von Transaktionen unterstützen oder als Vermögensverwalter agieren. Eine Ausnahme besteht für den Fall, dass die in Frage stehende Tätigkeit im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren steht oder wenn der betreffende Anwalt Rechtsauskünfte erteilt. Über die Angelegenheit ist ein Bericht an den Präsidenten der Rechtsanwaltskammer zu verfassen, der diesen dem »Finanzüberwachungsdienst« (Annm: Cellule de renseignement financier nationale pour traitement du renseignement et action contre les circuits financiers clandestins – Tracfin). Es handelt sich hierbei um eine beim Finanzministerium eingerichtete Überwachungsstelle, welche verdeckte Geldflüsse aufspüren, untersuchen und unterbinden soll.) zu übermitteln hat.
Am 12.7.2007 fasste der Rat der französischen Rechtsanwaltskammer einen offiziellen Beschluss, mit der für Rechtsanwälte genaue Regeln festgelegt wurden, wie sie der obigen Verpflichtung ungeachtet ihres Berufsgeheimnisses und der Vertraulichkeit gegenüber ihren Klienten nachzukommen hätten. Zuwiderhandlungen dagegen würden mit Disziplinarsanktionen geahndet.
In der Folge wandte sich der Bf. mit einem Antrag auf Aufhebung dieses Beschlusses an den Conseil d’Etat, da damit die freie Ausübung des anwaltlichen Berufs in Frage gestellt würde. Zudem räume keine Regelung des nationalen Rechts der französischen Rechtsanwaltskammer eine normative Befugnis bei der Bekämpfung der Geldwäsche ein. Angesichts der Tatsache, dass der Begriff des »Verdachts« nicht näher definiert sei, fehle es der Regelung an Präzision iSv. Artikel 7, EMRK. Mit Rücksicht auf das Urteil des EGMR im Fall André u.a./F greife diese auch unzulässigerweise in das von Artikel 8, EMRK geschützte Berufsgeheimnis bzw. in die Verschwiegenheitspflicht von Anwälten ein. Er stellte den Antrag, die Frage, ob die Verpflichtung, über Verdachtsmomente zu berichten, mit Artikel 6, EU-Vertrag bzw. Artikel 8, EMRK vereinbar sei, dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Der Conseil d’Etat wies die Beschwerde mit Urteil vom 23.7.2010 ab. Zu Artikel 7, EMRK sei zu sagen, dass es dem angefochtenen Beschluss nicht an Präzision mangle, da er sich auf eine Rechtsgrundlage, namentlich Art. L 562-2 Finanzgesetz, stütze. Was Artikel 8, EMRK angehe, stelle die Verpflichtung für Rechtsanwälte, Geldwäsche bei Vorliegen eines Verdachts anzuzeigen, angesichts des Interesses der Öffentlichkeit an deren Bekämpfung keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das anwaltliche Berufsgeheimnis dar, dies auch angesichts der Tatsache, dass davon Informationen ausgenommen seien, die Anwälten in Gerichtsverfahren oder in ihrer Eigenschaft als rechtliche Auskunftsperson zugetragen würden. Angesichts dessen sei es nicht notwendig, beim EuGH einen Antrag auf Vorabentscheidung zu stellen.
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt eine Verletzung von Artikel 8, EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens bzw. der Korrespondenz), weil er aufgrund der Verpflichtung, über Verdachtsmomente betreffend Geldwäsche zu berichten, Personen anzeigen müsse, die anwaltlichen Rat gesucht hätten, was mit dem Vertraulichkeitsprinzip zwischen Anwälten und ihren Klienten und mit dem anwaltlichen Berufsgeheimnis unvereinbar sei.
Zur behaupteten Verletzung von Artikel 8, EMRK
Zur Zulässigkeit der Beschwerde
Die Regierung bringt vor, der Bf. könne sich nicht als »Opfer« ansehen, da die strittige Regelung in seinem Fall noch gar nicht zur Anwendung gekommen sei.
Im vorliegenden Fall war der Bf. tatsächlich nicht Gegenstand einer auf dem Beschluss des Rats der französischen Rechtsanwaltskammer fußenden individuellen Maßnahme. Der genannte Beschluss, der sich auf das Gesetz vom 31.12.1971 über Regelungen und Usancen betreffend den Rechtsanwaltsberuf gründete, hatte jedoch »Gesetzeskraft« und könnte sich direkt auf den Bf. auswirken. Sollte er nämlich allfällige Verdachtsmomente nicht melden, riskiert er die Anwendung von Disziplinarmaßnahmen gegen ihn, was sogar zu seiner Streichung aus der Liste der Rechtsanwälte führen könnte. Der GH erachtet das Vorbringen des Bf. für glaubwürdig, wonach er als Experte für das Finanz- und Geldwesen von der strittigen Verpflichtung mehr als andere Kolleginnen und Kollegen betroffen sei. Der Bf. kann daher für sich Opfereigenschaft beanspruchen.
Die Regierung bringt vor, der Bf. habe die Beschwerde verspätet eingebracht, da er sich bereits nach dem Grundsatzurteil des Conseil d’Etat vom 10.4.2008 Anmerkung, Darin hatte der Conseil d’Etat unter Berufung unter anderem auf das Urteil des EuGH vom 26.6.2007 im von den belgischen Gerichten herangetragenen Vorabentscheidungsersuchen im Fall Ordre des barreaux francophones et germanophone et alia/Conseil des ministres, Rs. C-305/05 (= EuGRZ 2007, 562), die RL 2001/97/EG und das umsetzende Gesetz vom 11.2.2004 mit den Anforderungen des Artikel 6, EMRK für vereinbar erklärt.) an den EGMR hätte wenden können.
Im gegenständlichen Fall wurden die näheren Modalitäten der Verpflichtung zur Berichterstattung beim Verdacht der Geldwäsche vom Rat der französischen Rechtsanwaltskammer in seinem offiziellen Beschluss vom 12.7.2007 festgelegt. Dieser stellte auch die Basis für mögliche Disziplinarsanktionen dar. Indem sich der Bf. mit einem auf Artikel 8, EMRK gestützten Antrag auf Aufhebung dieses Beschlusses an den Conseil d’Etat wandte, versetzte er diesen in die Lage, sich mit dieser Problematik erstmalig umfassend auseinanderzusetzen. Das Urteil des Conseil d’Etat vom 23.7.2010 ist somit als endgültige innerstaatliche Entscheidung anzusehen, ab der die Sechs-Monats-Frist des Artikel 35, Absatz eins, EMRK zu laufen begann. Da die Beschwerde am 19.1.2011 in Straßburg einlangte, wurde sie rechtzeitig eingebracht.
Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
Die Verpflichtung für Rechtsanwälte, eine Behörde (Tracfin) über den Verdacht der Geldwäsche zu informieren, nachdem ihnen entsprechende Informationen von ihren Klienten zugetragen wurden, stellt einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung der Korrespondenz bzw. in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens dar.
War der Eingriff gesetzlich vorgesehen und verfolgte er ein legitimes Ziel?
Die Verpflichtung von Anwälten zur Meldung eines Verdachts bezüglich einer Geldwäsche ist in EU-Richtlinien vorgesehen, die vom französischen Gesetzgeber in das nationale Recht überführt wurden. Die näheren Modalitäten sind in Ausführungsbestimmungen bzw. im offiziellen Beschluss des Rats der französischen Rechtsanwaltskammer vom 12.7.2007 festgelegt.
Der Bf. bestreitet nicht, dass ihm die einschlägigen rechtlichen Bestimmungen zugänglich gewesen wären. Er meint aber, dass es ihnen an Klarheit fehlen würde, da sie den Begriff »Verdacht« nicht näher definieren würden und auch nicht klar sei, auf exakt welche Aktivitäten sich dieser Begriff beziehe.
Der GH kann sich dieser These nicht anschließen. Er erinnert daran, dass sich viele Gesetze unweigerlich mehr oder weniger vager Begriffe bedienen müssen, deren Auslegung der Praxis obliegt. Der Begriff »Verdacht« ist im allgemeinen Sinn zu verstehen und gerade eine derart erfahrene Personengruppe wie Rechtsanwälte vermag umsoweniger vorzugeben, diesen nicht korrekt einschätzen zu können, noch dazu wo das Finanzgesetz gewisse spezifische Hinweise dazu liefert. Ferner können Anwälte bei Zweifeln jederzeit Rat beim Präsidenten der Rechtsanwaltskammer einholen. Was die Art der Aktivitäten betrifft, die von der Verpflichtung zur Meldung eines Verdachts erfasst werden, enthalten die einschlägigen Rechtsbestimmungen vergleiche insbesondere Artikel eins, des obigen Beschlusses) sehr wohl Hinweise. Die fragliche Verpflichtung trifft Anwälte, wenn sie im Rahmen ihrer beruflichen Aktivitäten im Namen und auf Rechnung ihrer Klienten sechs näher genannte Vermögenstransaktionen (Geldüberweisungen, An- und Verkauf von unbeweglichem Vermögen, Eröffnung eines Bankkontos, Verwaltung von Fonds, Abwicklung von Treuhandschaften etc.) durchführen. Eine Ausnahme besteht dann, wenn Anwälte einer Rechtsberatungstätigkeit nachgehen oder wenn sie in Ausübung der zuvor beschriebenen Aktivitäten einen Prozess bestreiten.
Nach Ansicht des GH sind diese Hinweise ausreichend bestimmt. Der Eingriff war somit gesetzlich vorgesehen und verfolgte zudem die legitimen Ziele der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhinderung von Straftaten. Ferner spiegelte die Befolgung der rechtlichen Verpflichtungen nach Gemeinschaftsrecht seitens der Vertragsstaaten ein öffentliches Interesse wider.
Exkurs: Streitet im vorliegenden Fall eine Vermutung für die Gleichwertigkeit des EU-Grundrechtsschutzes?
Die Regierung bringt vor, die Verpflichtung von Rechtsanwälten zur Meldung eines Verdachts in Bezug auf Geldwäsche resultierten aus der Umsetzung von EU-Richtlinien, zu der sich Frankreich im Zuge des Beitritts zur EU verpflichtet habe. In Anlehnung an das Urteil Bosphorus Airways/IRL sei davon auszugehen, dass der französische Staat den Erfordernissen der Konvention Rechnung getragen habe, indem er lediglich aus der Mitgliedschaft zur EU erwachsenden Verpflichtungen nachgekommen sei. Diese räume den Grundrechten gleichwertigen Schutz wie die EMRK ein.
Der GH hat in besagtem Urteil ausgesprochen, dass es mit Ziel und Zweck der Konvention unvereinbar sei, die Vertragsstaaten in jenen Bereichen, in denen sie Teile ihrer Hoheitsgewalt an eine internationale Organisation übertragen haben, gänzlich aus der Verantwortung zu entlassen. Maßnahmen, die in Befolgung internationaler rechtlicher Verpflichtungen gesetzt wurden, seien allerdings solange als gerechtfertigt anzusehen, als die jeweilige Organisation den Grundrechten zumindest gleichwertigen Schutz wie die Konvention gewähre. Im Fall der Bejahung gilt die Vermutung, dass ein Staat den Anforderungen der Konvention entsprochen hat, wenn er bloß seine sich aus der Mitgliedschaft in dieser Organisation ergebenden rechtlichen Verpflichtungen erfüllt hat. Eine solche Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn die Konventionsrechte nach Lage der Umstände offensichtlich unzureichend geschützt wurden. In einem solchen Fall behält die EMRK als Verfassungsinstrument eines europäischen ordre public im Bereich der Menschenrechte gegenüber dem Interesse an einer internationalen Kooperation die Oberhand.
Im Urteil Bosphorus Airways/IRL hat der GH betont, dass der Grundrechtsschutz des Gemeinschaftsrechts als gleichwertig mit dem durch die Konvention gebotenen angesehen werden könne. Der vorliegende Fall unterscheidet sich jedoch von diesem Urteil in einem wesentlichen Punkt, kam doch hier der vom Gemeinschaftsrecht vorgesehene Kontrollmechanismus in Form eines Absprechens über grund- und menschenrechtliche Fragen durch den EuGH nicht zum Tragen: Der Conseil d’Etat hatte sich bekanntlich geweigert, dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob die Verpflichtung von Rechtsanwälten zur Berichterstattung über Verdachtsmomente betreffend Geldwäsche mit Artikel 8, EMRK vereinbar sei oder nicht. Diese Frage war von ihm weder in einem anderen Vorabentscheidungsersuchen noch aus Anlass einer Anrufung durch einen Mitgliedstaat oder ein EU-Organ geprüft worden.
Dazu kommt, dass der EuGH im bereits erwähnten Urteil Ordre des barreaux francophones et germanophone et alia/Conseil des ministres die Zulässigkeit der genannten Verpflichtung lediglich unter den Erfordernissen des Rechts auf ein faires Verfahren iSv. Artikel 6, EMRK geprüft hat. Vom Blickwinkel des Artikel 8, EMRK aus betrachtet ist die Problematik hier eine andere, sind doch im Hinblick auf diese Konventionsbestimmung nicht nur die Rechte des Klienten des betreffenden Rechtsanwalts, sondern auch dessen eigene Rechte betroffen.
Aufgrund der Weigerung des Conseil d’Etat, die strittige Frage dem EuGH vorzulegen, konnte der an und für sich mit der Konvention gleichwertige EU-Schutzmechanismus nicht sein volles Potential entfalten. Angesichts der auf dem Spiel stehenden Interessen nimmt der GH daher von der Vermutung eines gleichwertigen Schutzes Abstand. Dieses Prinzip ist hier nicht anwendbar.
War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?
Während Artikel 8, EMRK die Vertraulichkeit jeglicher Korrespondenz zwischen Individuen garantiert, weist er dem Austausch von Informationen zwischen Rechtsanwälten und ihren Klienten einen verstärkten Schutz zu, was sich mit ihrer grundlegenden Rolle in einer demokratischen Gesellschaft erklären lässt, nämlich der Verteidigung von der Gerichtsbarkeit unterworfenen Personen. Sie können nun aber diese essentielle Aufgabe nicht wahrnehmen, wenn ihnen die Abgabe einer Garantie gegenüber ihren Klienten nicht möglich ist, dass Unterredungen grundsätzlich vertraulich bleiben. Dies ist auch der Grund, warum das Berufsgeheimnis von Anwälten von Artikel 8, EMRK besonders geschützt wird.
Der GH erinnert daran, dass »Notwendigkeit« iSv. Artikel 8, EMRK die Existenz eines dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses voraussetzt. Ferner muss der Eingriff gegenüber dem verfolgten Ziel verhältnismäßig sein. In seinem Urteil vom 23.7.2010 kam der Conseil d’Etat zu dem Schluss, dass die Verpflichtung von Anwälten zur Anzeige eines Verdachts betreffend Geldwäsche angesichts des öffentlichen Interesses bzw. der Existenz von Ausnahmen von dieser Verpflichtung keinen exzessiven Eingriff in das anwaltliche Berufsgeheimnis darstelle. Der GH vermag dem nichts entgegenzusetzen.
Zwar ist letzteres Prinzip – wie bereits angedeutet – von gr0ßer Bedeutung sowohl für den Anwalt und seinen Klienten als auch für eine ordnungsgemäß funktionierende Justizverwaltung. Es ist aber nicht unantastbar, wie der GH bereits festgestellt hat. Im vorliegenden Fall gebietet sich außerdem eine Abwägung zwischen der Bedeutung dieses Prinzips und dem Bedürfnis der EU-Mitgliedstaaten an der Bekämpfung der illegalen Geldwäsche, die dann wiederum der Finanzierung krimineller Aktivitäten insbesondere im Bereich des internationalen Drogenmarkts bzw. Terrorismus dient. Der GH erinnert daran, dass es das gemeinsame Ziel der als Basis für die verpflichtende Verdachtsanzeige fungierenden EU-Richtlinien ist, Aktivitäten vorzubeugen, die sich als ernste Gefahr für die Demokratie erweisen.
Nach Ansicht des GH sind zwei Elemente ausschlaggebend für die Bewertung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs: Erstens müssen Anwälte, wie bereits der Conseil d’Etat hervorgehoben hat, Verdachtsmomente nur in zwei Fällen melden, nämlich wenn sie für ihre Klienten in Finanz- bzw. Eigentumstransaktionen tätig sind oder als Treuhänder agieren, und zweitens, wenn sie diesen bei der Vorbereitung bzw. Durchführung von näher genannten »Geschäften« behilflich sind. Die Verpflichtung zur Anzeige eines Verdachts betrifft also lediglich Aktivitäten, die von der Anwälten anvertrauten Aufgabe als Verteidiger weit entfernt und die vergleichbar mit den Aufgaben von anderen Angehörigen der freien Berufe sind, die ebenfalls einer derartigen Verpflichtung unterliegen. Außerdem sieht Art. L 561-3 Finanzgesetz ausdrücklich vor, dass Rechtsanwälte von dieser Verpflichtung ausgenommen sind, wenn die gegenständliche Tätigkeit im Rahmen der Rechtsberatung erfolgt (vorausgesetzt, es erfolgt dadurch keine Beihilfe zur Geldwäsche) oder wenn sie sich auf ein Gerichtsverfahren bezieht. Die strittige Verpflichtung berührt somit nicht den Wesensgehalt der Aufgabe von Anwälten, ihre Klienten zu verteidigen, zu deren Absicherung – wie bereits erwähnt – das anwaltliche Berufsgeheimnis dient.
Darüber hinaus hat der französische Gesetzgeber einen »Schutzfilter« zur Wahrung des Berufsgeheimnisses eingeführt: Anwälte müssen ihre Verdachtsanzeige nicht direkt der Tracfin übermitteln, sondern können diese an den Präsidenten der französischen Rechtsanwaltskammer beim Conseil d’Etat bzw. beim Cour de cassation oder an den Präsidenten ihrer regionalen Anwaltskammer weiterleiten. Es darf davon ausgegangen werden, dass es in dieser Phase – wenn Informationen einem Experten zugetragen werden, der denselben Standesregeln unterliegt und von seinen Kolleginnen bzw. Kollegen in dieses Amt gewählt wurde – zu keinem Verstoß gegen das Berufsgeheimnis kommt. Der Präsident der jeweiligen Anwaltskammer würde der Tracfin die Verdachtsanzeige außerdem erst dann zukommen lassen, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass den gesetzlichen Vorgaben Rechnung getragen wurde.
Die strittige Verpflichtung zur Berichterstattung beim Verdacht der Geldwäsche stellt somit keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das anwaltliche Berufsgeheimnis dar. Keine Verletzung von Artikel 8, EMRK (einstimmig).
Zu den weiteren gerügten Konventionsverletzungen
Der Bf. beanstandet, dass der Beschluss vom 12.7.2007 die Verpflichtung von Anwälten zur Berichterstattung im Verdachtsfall nicht ausreichend definiere, da dieser nur allgemeine bzw. vage Begriffe wie »Anzeige eines Verdachts« oder Pflicht zur »Wachsamkeit« enthalte. Er erblickt darin eine Missachtung des Prinzips der Rechtssicherheit entgegen Artikel 7, EMRK (nulla poena sine lege).
Diese Bestimmung ist nur auf Strafverfahren im Sinne der Konvention anwendbar, also wenn es zu einer Verurteilung oder zur Verhängung einer Strafe gekommen ist. Auch gesetzt den Fall, der GH würde die für den Fall der Nichtbefolgung des obigen Beschlusses verhängte Disziplinarstrafe als strafrechtliche Sanktion qualifizieren, bleibt festzuhalten, dass der Bf. nicht Gegenstand einer derartigen Prozedur war. Ihm fehlt daher die Opfereigenschaft. Dieser Beschwerdepunkt ist als ratione personae unvereinbar mit der Konvention nach Artikel 35, Absatz 3, Litera a und Absatz 4, EMRK zurückzuweisen (einstimmig).
Unter Berufung auf Artikel 6, EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) bringt der Bf. vor, besagte Verpflichtung sei unvereinbar mit dem Recht von Klienten, sich nicht selbst beschuldigen zu müssen. Sie widerspreche auch der Unschuldsvermutung.
Der Bf. prangert eine Verletzung der Rechte anderer an. Er vermag daher keine Opfereigenschaft iSv. Artikel 34, EMRK geltend zu machen. Dieser Beschwerdepunkt ist als ratione personae unvereinbar mit der Konvention zurückzuweisen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Bosphorus Airways/IRL v. 30.6.2005 (GK) = NL 2005, 172 = EuGRZ 2007, 662
André u.a./F v. 24.7.2008
Grifhorst/F v. 26.2.2009
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 6.12.2012, Bsw. 12323/11 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 396) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/12_6/Michaud.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.