Gericht

AUSL EGMR

Entscheidungsdatum

10.05.2007

Geschäftszahl

Bsw76680/01

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Skugor gegen Deutschland, Urteil vom 10.5.2007, Bsw. 76680/01.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 8 EMRK - Dauer von Besuchs- und Sorgerechtsverfahren.

Zulässigkeit der Beschwerde, soweit eine Verletzung von Art. 8 EMRK geltend gemacht wird (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde, soweit eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1

EMRK geltend gemacht wird (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Dauer des Verfahrens über die Einräumung eines Besuchsrechts (einstimmig). Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Dauer des Verfahrens über den Antrags auf Entzug des Besuchsrechts der Kindesmutter (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,– für immateriellen Schaden; € 1.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in Berlin. Im März 1994 trennte er sich von seiner Lebensgefährtin und seinen beiden 1990 bzw. 1992 geborenen Kindern.

Zwischen September 1994 und Februar 1998 erfuhr der Bf. insgesamt sieben psychotische Schübe, woraufhin ihm mit gerichtlicher Verfügung untersagt wurde, sich seinen Kindern zu nähern. Am 19.3.1998 beantragte er beim Amtsgericht Berlin-Neukölln die Einräumung eines Besuchsrechts für seine Kinder. In der Verhandlung am 11.11.1998 gab die Kindesmutter bekannt, dass sie mittlerweile nach Freiburg übersiedelt sei, um den Belästigungen der Kinder durch den Bf. zu entgehen.

Am 28.12.1998 gab das Amtsgericht ein Gutachten zur Frage der Einräumung eines Besuchsrechts an den Bf. in Auftrag. In seinem am 21.9.1999 vorgelegten Gutachten kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass Besuche des Kindesvaters mit dem Kindeswohl unter der Voraussetzung vereinbar wären, dass sein psychischer Zustand dies erlaube. Er empfehle dem Bf. die regelmäßige Konsultierung eines Psychiaters und die Vorlage eines psychiatrischen Attests vor jedem Besuch.

In der Folge erklärte der Bf., dass er sich niemals freiwillig in psychiatrische Behandlung begeben werde. Beginnend mit Februar 2000 rügte er wiederholt die Inaktivität der Behörden und die Dauer des Besuchsrechtsverfahrens. Am 8.6.2000 erklärten die Kinder anlässlich ihrer gerichtlichen Befragung, sie hätten nichts gegen Besuche ihres Vaters einzuwenden, sofern seine Krankheit nicht wieder ausbreche. Im August 2000 zog die Kindesmutter wieder mit ihnen zurück nach Berlin. Am 20.10.2000 sprach das Amtsgericht Berlin-Neukölln sein Urteil. Es hielt fest, dass mit Rücksicht auf das Kindeswohl und das Verhalten des Bf. ein Besuchsrecht nur unter der Voraussetzung gewährt werden könne, dass er den Empfehlungen des Experten Folge leiste. Der Bf. erhob dagegen ein Rechtsmittel. Am 18.4.2001 wurde er vom Gericht zweiter Instanz darüber informiert, dass eine Entscheidung wegen der Ersetzung zweier Richter noch ausständig sei. Mit Urteil vom 20.11.2001 wies Letzteres das Rechtsmittel ab und sprach aus, dass das Besuchsverbot angesichts des bei fortschreitendem Alter der Kinder zu erwartenden abnehmenden Risikos einer Traumatisierung bis 30.6.2004 zu befristen sei.

Der Bf. rief daraufhin das BVerfG an, das seine Beschwerde mit Beschluss vom 8.1.2002 nicht zur Entscheidung annahm. Zum selben Ergebnis gelangte es auch hinsichtlich einer Beschwerde des Bf., die dieser gegen die abschlägige Entscheidung des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg über einen am 17.8.1998 eingebrachten Antrag auf Entzug des Sorgerechts der Mutter eingebracht hatte. Seit Herbst 2003 unterhält der Bf. mit Einverständnis seiner Ex-Frau gelegentlichen Besuchskontakt zu seinen Kindern.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. bringt vor, der Entzug seines Besuchsrechts während dreier

Jahre stelle eine Verletzung von Art. 8 EMRK dar.

Da dieser Beschwerdepunkt nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK ist, ist er für zulässig zu erklären (einstimmig).

Die strittigen Maßnahmen stellen einen Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Familienlebens dar, der in § 1684 BGB gesetzlich vorgesehen war und ein legitimes Ziel verfolgte, nämlich den Schutz der Gesundheit und der Moral bzw. der Rechte und Freiheiten der Kinder. Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Vorab ist festzustellen, dass die von den nationalen Instanzen ausgesprochene zeitweilige Aussetzung des Besuchsrechts im Interesse der Kinder und letztlich mit Art. 8 EMRK vereinbar war. Was die notwendige Einbindung des Bf. in den gerichtlichen Entscheidungsprozess anlangt, ist anzumerken, dass dieser von einem psychiatrischen Sachverständigen in Gegenwart seiner Kinder befragt wurde und seinen Standpunkt in den beiden Verhandlungen vor dem Amtsgericht Berlin-Neukölln sowohl mündlich als auch schriftlich vorbringen konnte. Vor dem Gericht zweiter Instanz konnte der Bf. sich schriftlich äußern.

Der Bf. war somit ausreichend in den Entscheidungsprozess eingebunden. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig). Was die Weigerung der Gerichte anlangt, der Ex-Frau des Bf. das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen, ist deren Beurteilung zu folgen, wonach dafür keinerlei Anlass bestanden habe. Dieser Beschwerdepunkt ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Der Bf. rügt, die Dauer der Besuchs- und Sorgerechtsverfahren sei exzessiv gewesen.

1. Zum Einwand der Regierung:

Die Regierung wendet ein, der Bf. habe es verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug auszuschöpfen, da er diesen Beschwerdepunkt nicht vor dem BVerfG gerügt habe.

Der GH hat bereits im Fall Sürmeli/D dargelegt, dass eine Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer an das BVerfG nicht als effektives Rechtsmittel iSv. Art. 13 EMRK betrachtet werden kann. Der Einwand ist daher zurückzuweisen.

Da dieser Beschwerdepunkt nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK ist, ist er für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. Zum Verfahren betreffend die Einräumung eines Besuchsrechts:

Das Verfahren dauerte beinahe drei Jahre und zehn Monate und war nicht sonderlich komplex. Was das Verhalten des Bf. anlangt, ist festzuhalten, dass dieser sich oftmals mit schriftlichen Eingaben an das Amtsgericht Berlin-Neukölln wandte, jedoch waren diese teilweise dem Umstand zuzuschreiben, dass das Verfahren keine Fortschritte machte.

Der GH vermag zwar insgesamt keine größeren Perioden an Inaktivität bei den nationalen Instanzen festzustellen, jedoch verblieb der Bf. fast vier Jahre im Ungewissen, ob er seine Kinder besuchen dürfe oder nicht. Von den Gerichten wurden offenbar keine speziellen Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens gesetzt. Angesichts dessen, was für den Bf. auf dem Spiel stand, wäre ein Absprechen über sein Besuchsrecht dringlich erforderlich gewesen, konnte doch das Verstreichen der Zeit unabsehbare Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen ihm und seinen Kindern haben. Unter diesen Umständen kann die Gesamtdauer des Verfahrens nicht mehr als angemessen betrachtet werden. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

3. Zum Verfahren bezüglich des Antrags auf Entzug des Besuchsrechts der Kindesmutter:

Das Verfahren dauerte drei Jahre und fünf Monate. Der GH merkt an, dass der Zeitraum von mehr als einem Jahr, während dem das Sorgerechtsverfahren vor dem Amtsgericht Berlin-Neukölln anhängig war, ohne dass dieses irgendwelche Verfahrensschritte gesetzt hätte, ernste Fragen nach Art. 6 Abs. 1 EMRK aufwirft. Andererseits durften die Gerichte berechtigterweise den Ausgang des anhängigen Besuchsrechtsverfahrens erwarten.

Aus den Akten geht nirgends hervor, dass das Wohlergehen der Kinder durch das Verhalten der Mutter gefährdet gewesen wäre. Angesichts der Tatsache, dass im parallel laufenden Besuchsrechtsverfahren sämtliche Aspekte der Beziehung der Kinder zu ihrem Vater behandelt wurden und ferner des Umstands, dass der Antrag des Bf. nicht auf den Entzug des Sorgerechts der Mutter zu seinen Gunsten abzielte, wies das gegenständliche Verfahren nicht jenen dringlichen Charakter wie das Besuchsrechtsverfahren auf. Die Verfahrensdauer war daher noch angemessen. Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 1.000,– für immateriellen Schaden; € 1.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Johansen/N v. 7.8.1996, NL 1996, 133; ÖJZ 1997, 75.

Glaser/GB v. 19.9.2000, NL 2000, 180.

Sürmeli/D v. 8.6.2006, NL 2006, 135.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.5.2007, Bsw. 76680/01, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 124) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_3/Skugor.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.