AUSL EGMR
26.02.2002
Bsw29271/95
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch III, Beschwerdesache Dichand u.a. gegen Österreich, Urteil vom 26.2.2002, Bsw. 29271/95.
Artikel 10, EMRK, Paragraph 1330, ABGB - Kritik an einem Politiker wegen seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und Freiheit der Meinungsäußerung. Verletzung von Artikel 10, EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Artikel 41, EMRK: EUR 7.539,- für materiellen Schaden; EUR 20.704,82 für Kosten und Auslagen; EUR 1.850,- für zusätzliches Interesse (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der ErstBf. ist Chefredakteur und Herausgeber der „Neuen Kronen-Zeitung". Die ZweitBf., eine Kommanditgesellschaft, ist die Medieninhaberin dieser Zeitung. Die DrittBf. ist Komplementär der ZweitBf.
Die Bf. gehören zu einer großen Mediengruppe, die in starkem Wettbewerb mit einer anderen Gruppe steht. Letztere wird von Rechtsanwalt Michael Graff vertreten. Dieser war von 1982 bis 1987 Generalsekretär der ÖVP und von 1983 bis 1995 Abgeordneter zum Nationalrat. Zwischen 1987 und 1995 war er Vorsitzender des Justizausschusses. Von 1989 bis Juli 1995 vertrat er den Konkurrenten der Bf. in einigen Verfahren über unlauteren Wettbewerb gegen Gesellschaften, die zur Mediengruppe der Bf. gehören. Im Juni 1993 schrieb der ErstBf. unter dem Pseudonym „Cato" in der „Neuen-Kronen Zeitung":
"Moral 93
Roland Dumas war, bevor er Frankreichs Außenminister wurde, einer der bekanntesten und erfolgreichsten Rechtsanwälte Europas. Er verwaltete zum Beispiel das gigantische Erbe Picassos, vertrat Kreisky und einen österreichischen Außenminister, als dieser in eine arge Affäre geraten war. Für Dumas war es ganz selbstverständlich, dass er sein Rechtsanwaltsbüro aufgeben musste, als er in die Regierung eintrat. Überall in der Welt wird dies in Demokratien so gehalten. Nur der offenbar mit einer Büffelhaut ausgestattete Rechtsanwalt Dr. Michael Graff denkt nicht daran, sich nach solchen Moralbegriffen zu richten. So kam es, während er im Justizausschuss des Parlaments den Vorsitz hatte, zur Veränderung eines Gesetzes, wodurch der Zeitungsverlag, den Michael Graff rechtsanwaltlich vertritt, große Vorteile hatte. Damit in solchen Fällen nicht ein bestimmter Verdacht entstehen kann, der keineswegs begründet sein muss, gibt es eben die weise Regel der Unvereinbarkeit; ein Anwalt darf nicht an der Entstehung von Gesetzen beteiligt sein, die seinen Mandanten Vorteile bringen. Das dachte man auch in der ÖVP, und man entschloss sich, Michael Graff ins Gewissen zu reden. Vergeblich! Es sagt einiges über den Zustand der ÖVP aus, dass sie sich gegen Michael Graff nicht durchsetzen konnte. Den anderen Parteien kann es nur recht sein, wenn sich in so brutaler Offenheit zeigt, wie ohnmächtig die Volkspartei gegenüber einem Funktionär ist, der seine eigene Moral hat. Sogar in unserem Monopol-Fernsehen durfte er seine anrüchige Haltung vertreten. Michael Graff meinte, es würde nur Angst vor der 'Kronen Zeitung' signalisieren, berufe man ihn im Justizausschuss ab."
Nicht vor der 'Krone' braucht die ÖVP Angst zu haben, sondern vor ihren Wählern, die sich weiter von ihr abwenden werden, wenn sie sich als unfähig erweist, in der eigenen Partei Ordnung zu machen; wie sollte man da das Vertrauen haben, es könne ihr im Staat gelingen ... Cato."
Herr Graff brachte daraufhin beim Handelsgericht Wien eine Klage nach Paragraph 1330, ABGB ein. Er beantragte, dass die Bf. die Behauptung zu unterlassen hätten, wonach er nicht daran denke, sich nach Moralbegriffen zu richten, wie sie in Demokratien auf der ganzen Welt gelten, nämlich eine Rechtsanwaltskanzlei aufzugeben, falls man Mitglied der Regierung wird. Anmerkung, Michael Graff war zu keinem Zeitpunkt Mitglied der Bundesregierung). Des weiteren hätten die Bf. die Behauptung zu unterlassen, Herr Graff sei an der Entstehung von Gesetzen beteiligt, die seine Mandanten bevorzugen würden und dass er seine anrüchige Haltung sogar im Fernsehen vertreten durfte. Am 9.7.1993 erließ das Handelsgericht Wien eine einstweilige Verfügung und am 9.9.1994 schließlich ein Urteil zugunsten des Klägers. Eine Berufung an das OLG Wien wurde am 15.12.1994 abgewiesen. Eine außerordentliche Revision wurde vom OGH am 9.3.1995 zurückgewiesen. Der OGH führte aus, dass solche Vorwürfe jedenfalls (auch) Ehrenbeleidigungen iSd. Paragraph 1330, (1) ABGB seien, verletzten sie doch die Personenwürde von Herrn Graff, indem sie diesen nicht nur in die Nähe eines kriminellen Amtsmissbrauches rücken, sondern ihm auch unterstellten, dass er sich über die weltweit gültigen demokratischen Moralbegriffe durch Weiterführung seines Rechtsanwaltsbüros trotz Übernahme einer staatspolitischen Funktion hinwegsetze. Es komme bei der Beurteilung der Frage, ob „Tatsachen" verbreitet werden, auf den Gesamtzusammenhang und den damit vermittelten Gesamteindruck der beanstandeten Äußerung an. Falls aber die kreditschädigende Tatsachenbehauptung zugleich eine Ehrenbeleidigung sei, dann hätte der betroffene Kläger nur die Tatsachenverbreitung zu beweisen. Der Wahrheitsbeweis sei der Beklagten aber nicht gelungen. Der OGH hat bereits wiederholt ausgesprochen, dass eine Herabsetzung durch unwahre Tatsachenbehauptungen, auch wenn sie im Zuge eines (politischen) Meinungsstreites begangen wird, das Maß einer zulässigen (politischen) Kritik überschreitet und auch im Wege einer umfassenden Interessenabwägung oder mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung nicht gerechtfertig werden kann.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Artikel 10, EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung).
Es ist unbestritten, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und einen legitimen Zweck, nämlich den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer, verfolgte. Zu prüfen bleibt, ob er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
Zur Behauptung, Herr Graff denke nicht daran, sich nach in Demokratien überall auf der Welt herrschenden Moralbegriffen zu richten, wonach jemand aus seiner Rechtsanwaltskanzlei ausscheiden müsse, wenn er Regierungsmitglied wird:
Die Bf. schrieben nicht ausdrücklich, dass Herr Graff Mitglied der Bundesregierung ist. Dies kann auch nicht nachvollziehbar in den Kontext hineingelesen werden. Bereits im unmittelbar folgenden Absatz wird die Funktion von Herrn Graff im ersten Satz ausdrücklich erwähnt. Der erste Absatz illustriert ein allgemeines moralisches Prinzip mit einem konkreten Beispiel, nämlich das des Rechtsanwalts und späteren französischen Ministers Roland Dumas. Im darauffolgenden Satz wird behauptet:
„Überall in der Welt wird dies in Demokratien so gehalten. Nur der offenbar mit einer Büffelhaut ausgestattete Rechtsanwalt Dr. Michael Graff denkt nicht daran, sich nach solchen Moralbegriffen zu richten."
Der nächste Absatz beschreibt im einzelnen und zutreffend mit Bezug zur von Herrn Graff bekleideten öffentlichen Funktion den Hintergrund für die über ihn gemachte Anmerkung im ersten Absatz:
So kam es, während er im Justizausschuss des Parlaments den Vorsitz hatte, zur Veränderung eines Gesetzes, wodurch der Zeitungsverlag, den Michael Graff rechtsanwaltlich vertritt, große Vorteile hatte. Damit in solchen Fällen nicht ein bestimmter Verdacht entstehen kann, der keineswegs begründet sein muss, gibt es eben die weise Regel der Unvereinbarkeit; ein Anwalt darf nicht an der Entstehung von Gesetzen beteiligt sein, die seinen Mandanten Vorteile bringen. Unter diesen Umständen kann sich der GH nicht der Schlussfolgerung der österr. Gerichte anschließen, dass der Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung der Bf. gerechtfertigt sei, da sie eine falsche Tatsachenbehauptung veröffentlicht hätten.
Zur Behauptung, Herr Graff wäre als Vorsitzender des Justizausschusses an der Veränderung eines Gesetzes beteiligt gewesen, wodurch einer seiner Mandanten große Vorteile hatte:
Der GH stellt fest, dass das Handelsgericht Wien von den Bf. den Nachweis verlangte, dass die fragliche Gesetzesänderung ausschließlich den Interessen des von Herrn Graff vertretenen Unternehmens genutzt hätte. Die bekämpften Äußerungen beinhalten nicht, dass die Gesetzesänderung den Interessen von durch Herrn Graff vertretenem Unternehmen ausschließlich nützt, sondern nur, dass es für diesen Mandanten große Vorteile mit sich brachte. Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass es eine ausreichende Tatsachengrundlage für das im Artikel gemachte Werturteil gab. Dieses Werturteil stellt einen fairen Kommentar zu einem Thema von öffentlichem Interesse dar. Dasselbe gilt im übrigen auch für die bekämpfte Äußerung, wonach Herr Graff sogar im Monopol-Fernsehen seine anrüchige Haltung vertreten durfte.
Der GH ist nicht der Ansicht, dass die über die Bf. verhängte Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Herr Graff war ein wichtiger Politiker, und die Tatsache, dass sich ein Politiker in einer Situation befindet, in der sich sein Beruf und seine politischen Aktivitäten überlappen, kann Anlass zu einer öffentlichen Diskussion geben, selbst wenn nach innerstaatlichem Recht kein Unvereinbarkeitsproblem vorliegt.
Es trifft zu, dass die Bf. auf einer schmalen Tatsachengrundlage scharfe Kritik in einer starken, polemischen Sprache veröffentlichten. Es muss daran erinnert werden, dass Artikel 10, EMRK auch Informationen und Ideen schützt, die verletzen, schockieren oder stören. Die österr. Gerichte überschritten diesbezüglich den den Mitgliedstaaten eingeräumten Ermessensspielraum. Der Eingriff war daher unverhältnismäßig zum verfolgten legitimen Ziel. Verletzung von Artikel 10, EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Artikel 41, EMRK:
EUR 7.539,-- für materiellen Schaden, EUR 20.704,82 für Kosten und Auslagen, EUR 1.850,-- für zusätzliches Interesse (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Handyside/GB v. 4.12.1976, A/24 (= EuGRZ 1977, 38).
Lingens/A v. 8.7.1986, A/103 (= EuGRZ 1986, 424).
Bladet Tromso & Stensaas/N v. 20.5.1999 (= NL 1999, 96 = EuGRZ 1999,
453 = ÖJZ 2000, 232).
Wabl/A v. 21.3.2000 (= NL 2000, 57 = ÖJZ 2001, 108).
Jerusalem/A v. 27.2.2001 (= NL 2001, 52 = ÖJZ 2001, 693).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.2.2002, Bsw. 29271/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 26) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/02_1/Dichand.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.