OGH
15.04.1998
7Ob72/98h
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.Huber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen Julien, geboren am 15.Juni 1992, Melanie, geboren am 14. Dezember 1993, und Jerome R*****, geboren am 11.September 1995, infolge Revisionsrekurses des Vaters Armand R*****, vertreten durch Dr.Wilfried Mayer, Rechtsanwalt in Gmunden, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Wels als Rekursgericht vom 10.Dezember 1997, GZ 21 R 478/97m, 21 R 479/97h-50, womit infolge Rekurses der Mutter Petra R*****, vertreten durch Dr.Kurt Dallamaßl, Rechtsanwalt in Gmunden, der Beschluß des Bezirksgerichtes Gmunden vom 8.Oktober 1997, GZ 1 P 198/97d-28, abgeändert wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
Julien, Melanie und Jerome sind die ehelichen Kinder der österreichischen Staatsbürgerin Petra R***** und des französischen Staatsbürgers Armand R*****. Die Kinder besitzen sowohl die französische als auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Sie sind in Frankreich geboren und aufgewachsen. Zuletzt wohnte die Familie gemeinsam in ***** in Frankreich. Seit 13.7.1997 verbrachten die Eltern mit ihren Kindern einen Urlaub in A*****, wo sie im Haus der mütterlichen Großmutter wohnten. Nach einem Streit zwischen den Eltern wurde der Vater am 12.8.1997 wegen des Verdachtes der gefährlichen Drohung verhaftet. Am 14.8.1997 wurde er vom Landesgericht Wels von der gegen ihn erhobenen Anklage, die Mutter am 11.8.1997 mit den Worten: "Wenn ich mich jetzt umbringe, dann nehme ich Dich mit in den Tod" gefährlich bedroht zu haben, gemäß Paragraph 259, Ziffer 3, StPO freigesprochen und sofort enthaftet. Die Mutter erklärte ihm, daß sie sich entschlossen habe, mit den Kindern in Österreich zu bleiben. Dagegen sprach sich der Vater ausdrücklich aus und reiste dann alleine nach Frankreich. Die Mutter hält sich seither nach wie vor mit den Kindern in A***** im Haus der mütterlichen Großmutter auf.
Zwischen den Eltern ist nunmehr vor dem zuständigen Gericht in N***** ein Scheidungsverfahren anhängig. Beide Elternteile beantragten jeweils die Zuteilung der Obsorge für die gemeinsamen Kinder vor dem französischen Gericht.
Der Vater ist selbständig erwerbstätig. Er handelt mit portugiesischen Keramiken. Er kann sich seine Arbeitszeit relativ frei einteilen. Er verdient im Monatsschnitt etwa 5.000 französische Francs netto. Zumindest in den letzten zwei Jahren vor der Trennung der Eheleute bestritt die Mutter den Lebensunterhalt der Familie von der staatlichen Beihilfe in Höhe von insgesamt 5.000 Francs monatlich, wovon sie auch die Miete, die Stromkosten und manchmal die Telefonkosten beglich. Der Vater finanzierte die Ausflüge der Familie, die Autokosten, die Hausreparaturen und die Reisen nach A*****. Er steht bei der Bank F***** auf der "Roten Liste", d.h., daß er keine Schecks ausstellen darf und keinen Überziehungsrahmen am Konto hat. Der Vater beschäftigte sich im Rahmen seiner zeitlichen Möglichkeiten mit seinen Kindern und war um ihr Wohlergehen besorgt. Die Mutter der Kinder war nicht berufstätig.
Die Mutter stellte am 13.8.1997 beim Erstgericht den Antrag, ihr die Obsorge zuzuerkennen und dies auch als vorläufige Maßnahme anzuordnen. Mit Beschluß vom 14.8.1997 teilte das Erstgericht vorläufig die alleinige Obsorge der Mutter zu. Es sei eine Gefährdung des Kindeswohles durch den Vater zu befürchten, weil er gedroht habe, die Kinder nach Frankreich zu bringen und jeglichen Kontakt der Mutter zu ihnen zu unterbinden. Der dagegen vom Vater erhobene Rekurs wurde vom Gericht zweiter Instanz als verspätet zurückgewiesen.
Der Vater stellte den Antrag auf Rückgabe der Kinder nach dem Haager Übereinkommen vom 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, der am 9.9.1997 vom Bundesministerium für Justiz an das Erstgericht weitergeleitet wurde.
Mit Beschluß vom 8.10.1997 entschied das Erstgericht, daß die Mutter die Kinder längstens bis 1.11.1997 an den Wohnsitz des Vaters in Frankreich zurückzuführen habe. Es liege ein Entführungsfall gemäß Artikel 3, des Übereinkommens vor. Die Mutter habe nicht nachweisen können, daß die Rückführung der Kinder mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen und seelischen Schadens verbunden wäre oder daß die Kinder auf andere Weise in eine unzumutbare Lage gebracht würden.
Am 7.10.1997 entschied das Tribunal de Grande Instance N***** über einen Antrag beider Elternteile auf Festlegung des Wohnsitzes jeweils bei ihnen, daß der gewöhnliche Wohnsitz der Kinder bei der Mutter festgelegt werde. Es ermächtigte die Eheleute, einen voneinander getrennten Wohnsitz zu haben, und zwar die Mutter in A***** und der Vater in O*****. Die elterliche Gewalt werde gemeinsam von beiden Elternteilen ausgeübt. Der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder wurde aber bei der Mutter festgesetzt. Dem Vater wurde ein näher geregeltes Besuchsrecht in den Schulferien eingeräumt. Er wurde zu monatlichen Unterhaltsleistungen von 500 Francs pro Kind verurteilt.
Das Gericht zweiter Instanz gab dem gegen den Rückgabebeschluß gerichteten Rekurs der Mutter, der unter anderem auf die Entscheidung des französischen Gerichtes über den Aufenthaltsort der Kinder verwies, Folge und änderte den Beschluß des Erstgerichtes im Sinne einer Abweisung des Antrages des Vaters auf Rückgabe der Kinder ab. Das Zurückbehalten der Kinder in A***** sei widerrechtlich gewesen, weil die Mutter dadurch das vom Vater bis dahin gemeinsam mit ihr auch tatsächlich ausgeübte Sorgerecht verletzt habe. Gemäß Artikel 14, des Übereinkommens sei jedoch die Entscheidung des französischen Gerichtes vom 7.10.1997, daß die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt bei der Mutter in A***** haben sollten, zu berücksichtigen. Dadurch sei das ursprünglich widerrechtliche Zurückbehalten der Kinder nunmehr rechtmäßig. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil ein vergleichbarer Fall vom Obersten Gerichtshof noch nicht entschieden worden sei.
Der Rekurs des Vaters ist zulässig, aber nicht berechtigt.
Die Vorinstanzen sind zutreffend davon ausgegangen, daß das Zurückbehalten der Kinder widerrechtlich im Sinn des Artikel 3, des Übereinkommens war. Das Sorgerecht stand im damaligen Zeitpunkt nach französischem Recht ohne Einschränkung beiden Elternteilen gemeinsam zu und wurde bis dahin auch tatsächlich von diesen gemeinsam ausgeübt vergleiche SZ 63/131). Beide Vorinstanzen sind weiters zutreffend davon ausgegangen, daß die Entscheidung des Erstgerichtes über die vorläufige Zuteilung der Obsorge an die Mutter ungeachtet der Rechtskraft dieser Entscheidung gemäß Artikel 17, des Übereinkommens für sich genommen keinen Grund darstellt, die Rückgabe der Kinder abzulehnen.
Gemäß Artikel 5, des Übereinkommens umfaßt das "Sorgerecht" die Sorge für die Person des Kindes und insbesondere das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Im vorliegenden Fall wurde der entführenden Mutter zeitlich nach der Entführung, aber noch vor der Herausgabeentscheidung im Herkunftsland Frankreich jener Teilbereich des Sorgerechtes alleine zuerkannt, um den es hier geht, nämlich den Aufenthalt der Kinder in A***** wählen zu dürfen. Das Gericht zweiter Instanz hat diese Entscheidung betreffend das Sorgerecht zu Recht berücksichtigt. Die französische Entscheidung ist noch vor dem erstgerichtlichen Beschluß über den Rückgabeantrag des Vaters ergangen, auch wenn sie dem Erstgericht erst nachträglich zur Kenntnis gelangt ist. Die Ergänzung des dem Erstgericht im Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Sachverhaltsbildes durch die Bezugnahme auf diese französische Entscheidung im Rekurs der Mutter war somit gemäß Paragraph 10, AußStrG zulässig und vom Gericht zweiter Instanz zu beachten.
Nach Artikel 3, Litera b, des Übereinkommens kann die Rückgabe des Kindes versagt werden, wenn der entführende Elternteil nachweist, daß die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.
Müßten die Kinder zunächst an den beraubten Elternteil herausgegeben und - wie bereits zum Zeitpunkt der erstgerichtlichen Beschlußfassung feststand - sogleich wieder an den Entführer zurückgegeben werden, würden die Kinder nur als Streitobjekte ohne jede Rücksicht auf ihre Bedürfnisse behandelt werden. Dieses zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgende Hin- und Herreißen der Kinder von einem zum anderen Elternteil wäre für alle Beteiligten und insbesondere für die Kinder ein sinnloser Aufwand, der die Kinder in eine unzumutbare Lage im Sinn des Artikel 3, Litera b, letzter Halbsatz des Übereinkommens versetzen würde (Jorzik, Das neue zivilrechtliche Kindesentführungsrecht, 175 ff). Im vorliegenden Fall bestünde insbesondere im Hinblick auf die bisher aktenkundigen Vorfälle die Gefahr, daß die Kinder nicht nur Zeugen einer massiven Auseinandersetzung der Eltern werden könnten, sondern sich zudem als Anlaß und Gegenstand der elterlichen Kontroversen erleben müßten.
Es kann daher dahingstellt bleiben, ob eine dem Herausgabeantrag stattgebende Entscheidung nicht nur den Verstoß gegen das Sorgerecht, sondern zusätzlich voraussetzt, daß dem beraubten Elternteil das Sorgerecht im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag noch zustehen muß vergleiche zur Problematik dieses Lösungsansatzes ebenfalls Jorzik aaO, 176 f).
Da aus den dargestellten Erwägungen das Vorliegen des Versagungsgrundes nach Artikel 3, Litera b, letzter Halbsatz des Übereinkommens zu bejahen ist, war die das Rückgabebegehren abweisende Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz zu bestätigen.