Gericht

OGH

Entscheidungsdatum

10.02.1988

Geschäftszahl

9ObA156/87

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Kuderna als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith und Dr. Maier sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Theodor Zeh und Franz Breit als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Josef W***, Vertreter, Wien 21., Weisselgasse 14/1/47, vertreten durch Dr. Peter Gatternig, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Vinzenz S*** Gesellschaft mbH, Transportunternehmen, Wien 9., Liechtensteinstraße 19, vertreten durch Dr. Rudolf Hoppel, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 500.000 sA (Revisionsstreitwert S 450.812 sA), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29.April 1987, GZ 33 Ra 1026/87-58, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeitsgerichtes Wien vom 10.März 1986, GZ 7 Cr 718/81-50, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat seine Revisionskosten selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger war bei der Beklagten vom 18.März 1976 bis 22.Februar 1981 als Kraftfahrer beschäftigt. Auf dieses Arbeitsverhältnis fand der Kollektivvertrag für das Güterbeförderungsgewerbe Anwendung. Als Entgelt war ein kollektivvertraglicher Stundenlohn und ein Kilometergeld von S 0,70 pro Kilometer, ein Grenzgeld von S 100, Be- und Entladegebühren von S 300, ein Tourengeld von S 300 und ein Nachtgeld von S 150 vereinbart.

Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger S 500.000 sA an ausstehendem Entgelt und Nebengebühren. Er habe nach dem Kollektivvertrag und durch verschiedene Nebengebühren, insbesondere an Tourengeld bei Fernfahrten, monatlich netto S 15.000 bis S 20.000 verdient. Seit 1977 seien ihm infolge von Lohnexekutionen nur S 4.000 pro Monat ausgezahlt worden. Es habe sich jedoch herausgestellt, daß die Beklagte an seine Gläubiger nur S 56.847 überwiesen habe; dadurch hätten sich seine Schulden kaum verringert. Die Beklagte habe ihm daher den weder an die Gläubiger abgeführten noch an ihn ausgezahlten Differenzbetrag von rund S 10.000 pro Monat zu ersetzen.

Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Der monatliche Verdienst des Klägers, der nicht nur als Fernfahrer, sondern auch als Hilfsarbeiter verwendet worden sei, habe lediglich S 9.000 bis S 10.000 netto betragen. Die von ihm angegebenen Entgelte seien zum Teil doppelt in Anschlag gebracht worden und seien außerdem überhöht. Davon habe sie infolge der Lohnexekution S 70.616 einbehalten und an die Gläubiger des Klägers abgeführt. Der Kläger habe nichts mehr zu fordern. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses habe sich vielmehr ein Saldo an Verrechnungsgeldern zugunsten der Beklagten ergeben. Im übrigen seien seine Ansprüche nach dem Kollektivvertrag verfallen, da sie nicht binnen 3 Monaten ab Fälligkeit schriftlich geltend gemacht worden seien. Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit S 49.188 sA statt und wies das Mehrbegehren von S 451.812 (richtig S 450.812) sA ab. Es traf im wesentlichen folgende Feststellungen:

Der Kläger erhielt jeweils vor Antritt einer Fernfahrt Vorschüsse auf die Fahrtauslagen, die nach dem Ende der Fahrt abzurechnen waren. Es wurde im Laufe der Zeit jedoch üblich, daß er den nichtverbrauchten Teil der Vorschüsse einbehielt und dieser auf seine Lohnansprüche angerechnet wurde. Dies geschah deshalb, weil gegen den Kläger mehrere Lohnexekutionen über insgesamt S 180.350,80 anhängig waren und die Beklagte den der Pfändung unterworfenen Teil seines Verdienstes einbehielt und an die Gläubiger abführte. Mit dem pfändungsfreien Teil seines Einkommens fand der Kläger nicht das Auslangen.

Der Kläger unternahm insgesamt 165 Auslandsfahrten, wovon nach den Unterlagen der Beklagten nur 155 abgerechnet wurden. Unter Zugrundelegung eines ermittelten Durchschnittswertes von S 2.200 pro Tour ergibt sich ein Gesamtanspruch des Klägers auf Tourengeld in Höhe von S 363.000 netto. Der Grundlohn des Klägers betrug während seiner Beschäftigungszeit bei der Beklagten S 280.086 netto. Dazu kamen noch Sonderzahlungen in Höhe von S 34.626 netto. Der Kläger hatte weiters Anspruch auf Reisediäten von insgesamt S 164.919 netto. Sein Gesamtverdienst betrug demnach S 842.631 netto. Demgegenüber wurden dem Kläger von der Beklagten an Grundlohn S 280.086 netto, an Sonderzahlungen S 34.626 netto, an Tourengeld S 341.000 netto und für Reisediäten S 154.919 verrechnet, wovon infolge der Exekutionen rechnerisch S 87.804 netto einbehalten werden sollten, sodaß dem Kläger tatsächlich S 722.827 netto zukamen. Die Beklagte führte an die betreibenden Gläubiger jedoch nicht wie ausgewiesen S 87.804 netto ab, sondern nur S 70.616 netto. Abzüglich der tatsächlich abgeführten Pfändungsbeträge wäre dem Kläger sohin ein Gesamtentgelt von S 772.015 zugestanden, sodaß sich aus der Gegenüberstellung der Ansprüche und der vorgenommenen Abzüge ein Minderbezug des Klägers von S 49.188 ergibt.

Das Erstgericht vertrat die Rechtsauffassung, daß der Kläger einen Anspruch auf Nachzahlung der festgestellten Entgeltdifferenz habe. Höhere Entgeltansprüche habe der Kläger nicht nachweisen können. Ein Verfall von Ansprüchen nach dem Kollektivvertrag könne nicht angenommen werden, weil von den Parteien der Kollektivvertrag als Beweismittel nicht vorgelegt worden sei.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es hielt die in der Berufung allein erhobene Beweisrüge für nicht gerechtfertigt und übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich. Ergänzend führte es aus, daß auch nach dem Kollektivvertrag die kurze Verfallsfrist von 3 Monaten nicht zur Anwendung komme, da der Kläger sein Klagebegehren auf Irreführung über die Höhe der vorgenommenen Abzüge von seinem Lohn stütze und die Verjährung von Ansprüchen wegen eines unterlaufenen Irrtums gemäß Paragraph 1487, ABGB 3 Jahre betrage. Die Ansprüche des Klägers seien daher nicht ab dem Beschäftigungsbeginn, sondern nur für die letzten 3 Jahre seit der Klageeinbringung zu überprüfen. Dennoch seien einfachheitshalber die Zahlen aus dem gesamten Beschäftigungszeitraum gegenüberzustellen, aus denen sich der vom Erstgericht festgestellte Minderbezug des Klägers ergebe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die aus den Gründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobene Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Wie der Kläger selbst ausführt, sind gemäß Paragraph 101, Absatz 2, ASGG für die Zulässigkeit von Rechtsmitteln und die Gründe, die mit ihnen geltend gemacht werden können, die bis 31.Dezember 1986 hiefür geltenden Vorschriften maßgebend, wenn das Datum der Entscheidung vor dem 1.Jänner 1987 liegt. Daraus folgt, daß es für die Rechtsmittelzulässigkeit und die Anfechtungsgründe auf das Datum der angefochtenen Entscheidung ankommt. Lag das Datum der angefochtenen Entscheidung erster Instanz - so wie im vorliegenden Fall - vor dem 1. Jänner 1987, war es dem Kläger unbenommen, in seiner Berufung neues Vorbringen zu erstatten, da Neuerungen ein Rechtsmittelgrund im weiteren Sinne des Paragraph 101, Absatz 2, ASGG sind vergleiche Kuderna ASGG Paragraph 101, Erl.6). Aus welchem Grund diese Möglichkeit von dem stets anwaltlich vertretenen Kläger nicht wahrgenommen wurde, ist unerheblich. Es trifft daher nicht zu, daß das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien, an das die Akten mit der Berufung des Klägers am 25.November 1986 vorgelegt wurden, es als zuständiges Berufungsgericht "gleichsam wie der Gesetzgeber in der Hand gehabt habe", durch die Nichtanordnung einer Berufungsverhandlung vor dem 1.Jänner 1987 den Kläger von einem Neuvorbringen abzuschneiden. Es ist zwar richtig, daß der die Voraussetzungen des Paragraph 101, Absatz 2, ASGG nicht erfüllende Neuverhandlungsgrundsatz des Paragraph 25, Absatz eins, Ziffer 3, des gemäß Paragraph 99, Ziffer eins, ASGG mit Wirkung vom 1.1.1987 aufgehobenen Arbeitsgerichtsgesetzes nach diesem Zeitpunkt nicht mehr angewendet werden konnte vergleiche Kuderna aaO; Fasching ZPR ErgH Rz 2290), doch blieb es dem Berufungsgericht auch nach der neuen Rechtslage unbenommen, in der mündlichen Berufungsverhandlung ergänzende Beweise aufzunehmen oder eine Beweiswiederholung durchzuführen vergleiche Fasching ZPR Rz 1799 und 1800). Von einer den Kläger "äußerst benachteiligenden Vorgangsweise" kann schon deshalb keine Rede sein, da das Bundesgesetz vom 7.März 1985 über die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit bereits mit BGBl.104/1985 kundgemacht wurde und bis 1.Jänner 1987 (Paragraph 98, ASGG) eine für die Kenntnisnahme hinreichende Legisvakanz hatte.

Dem Einwand des Revisionswerbers, daß durch die Übergangsbestimmungen der Paragraphen 98 und 101 ASGG die Grundsätze des Artikel , MRK in bezug auf ein "fair trial" ebenso wie die Grundsätze der Trennung der Gerichtsbarkeit von der Gesetzgebung verletzt und die Übergangsbestimmungen "überhaupt verfassungswidrig" seien, kommt daher keine Berechtigung zu. Artikel , MRK nimmt auf die Frage der Anfechtbarkeit gerichtlicher Entscheidungen überhaupt nicht Bezug und eröffnet nicht einmal einen Anspruch auf einen mehrinstanzlichen Rechtszug (ÖRZ 1975/76; EvBl 1982/136, 1984/122). Andererseits entspricht es zwangsläufig der Rechtsnatur von Übergangsbestimmungen, an bestimmte Termine anzuknüpfen, so daß darin eine allfällige Verletzung des Sachlichkeitsgebotes, das nur willkürliche, unsachliche Differenzierungen unter den Staatsbürgern auf dem Gebiet der Normsetzung und des Normvollzuges verbietet (VfGHSlg.3.197 ua), nicht erblickt werden kann. Es besteht daher kein Anlaß, der Anregung des Klägers zu folgen und einen Antrag an den Verfassungsgerichtshof zur Überprüfung der genannten Übergangsbestimmungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu stellen. Die gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor. Der Revisionswerber hatte keinen Anspruch darauf, daß das seinerzeit zuständige Berufungsgericht die Berufungsverhandlung noch vor dem 1.Jänner 1987 anordnet. Wie schon dargelegt, hätte der Kläger noch in der Berufung zulässigerweise Beweisanträge stellen können. Durch das nunmehr auch in Arbeitsrechtssachen für das Berufungsverfahren grundsätzlich bestehende Neuerungsverbot (Paragraph 63, ASGG) wurde der Kläger in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt, da der Nichtigkeitsgrund des Paragraph 477, Absatz eins, Ziffer 4, ZPO nur bei einem Ausschluß von der Verhandlung gegeben ist; Beschränkungen im Rechtsmittelverfahren treffen hingegen beide Parteien gleichermaßen (Fasching ZPR Rz 702 ff).

Soweit der Revisionswerber dem Berufungsgericht vorwirft, es hätte übersehen, daß das Erstgericht seine Manuduktionspflicht verletzt habe, ist ihm entgegenzuhalten, daß er in seiner Berufung lediglich eine Beweis- aber keine Mängelrüge erhoben hat. Die Verletzung der materiellen Prozeßleitungspflicht hätte aber als sogenannter Stoffsammlungsmangel geltend gemacht werden müssen (SZ 22/106 ua). Ein derartiger Mangel wurde nicht geltend gemacht. Abgesehen davon haben beide Parteienvertreter unmittelbar vor Schluß der Verhandlung erster Instanz die Erklärung abgegeben, daß sie auf die Durchführung der Parteienvernehmung verzichten, und haben hinsichtlich ihres gesamten Vorbringens auf die Sachverständigengutachten und die vorgelegten Urkunden verwiesen (S 334). Gemäß Paragraph 380, Absatz 3, ZPO kann aber eine Partei gegen ihren Willen nicht zur Aussage verhalten werden. Der Kläger kann sich auch nicht dadurch beschwert erachten, daß der Sachverständige sein Gutachten ergänzte und berichtigte, weil er diese Ergänzung selbst beantragt hat (S 167 und 181).

Mit seinen weiteren Ausführungen, das Berufungsverfahren sei mangelhaft geblieben, weil das Berufungsgericht dem Beklagtenvertreter nicht die zweifache Vorlage des Kollektivvertrages aufgetragen und diesen nicht als Beweismittel "verlesen" habe, verkennt der Revisionswerber die Rechtslage. Kollektivrechtliche Normen haben unmittelbar Rechtsverbindlichkeit innerhalb ihres Geltungsbereiches; sie haben die Wirkung eines Gesetzes im formellen Sinn und sind daher Gesetze im materiellen Sinn (Strasser in Floretta-Strasser Komm. ArbVG Paragraph 11, Erl.1.1 ff; Kuderna ASGG Paragraph 43, Erl.1). Ihr Inhalt ist, wenn sich eine Partei auf sie beruft, von Amts wegen zu ermitteln (Paragraph 43, Absatz 3, ASGG. Zu der damit weitgehend übereinstimmenden Rechtslage vor dem Inkrafttreten des ASGG siehe Kuderna, Die Auslegung kollektivrechtlicher Normen und Dienstordnungen sowie deren Ermittlung im Prozeß, DRdA 1975, 161 ff 173 ff).

Die Fragen, ob die Beweismittel ausreichten, die Feststellungen zu begründen, ob das Berufungsgericht eine Beweisergänzung vorzunehmen gehabt hätte und ob die eingeholten Sachverständigengutachten vollständig sind, gehören in den in dritter Instanz nicht mehr anfechtbaren Bereich der Beweiswürdigung. Grundsätzlich kann eine in der Berufung nicht ausgeführte Rechtsrüge in der Revision nicht mehr nachgetragen werden (JBl 1954, 516; JBl 1959, 458; ÖRZ 1966, 204 ua). Im übrigen geht die Rechtsrüge des Klägers nicht von den Feststellungen aus, wonach sich bei Gegenüberstellung der ihm zugekommenen und der ihm gebührenden Entgelte abzüglich des infolge der Lohnexekutionen einbehaltenen Teils für den gesamten Zeitraum seiner Beschäftigung bei der Beklagten der festgestellte und dem Kläger rechtskräftig zugesprochene Differenzbetrag ergeben hat.

Kollektivvertragsrechtliche Verfalls- oder Verjährungsbestimmungen wurden vom Berufungsgericht zwar erwähnt, aber mangels Relevanz (der Zuspruch blieb unbekämpft) nicht angewendet.

Die Kostenentscheidung ist in den Paragraphen 40 und 50 ZPO begründet.