Bundesministerium für Justiz
2021-0.538.674
30.08.2021
01.10.2021
Richtlinien zur Strafverfolgung bei Delikten im sozialen Nahraum, 3. Auflage
Österreich hat das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt („Istanbul-Konvention“) ratifiziert Bundesgesetzblatt Teil 3, Nr. 164 aus 2014,). Kapitel römisch VI. dieses Übereinkommens (Artikel 49 bis 58) betrifft „Ermittlungen, Strafverfolgung, Verfahrensrecht und Schutzmaßnahmen“. Die laut Kapitel römisch IX des Übereinkommens vorgesehene Überwachung der Einhaltung der Umsetzungsmaßnahmen wurde u.a. GREVIO übertragen 1), wobei Österreich als einer der ersten Mitgliedstaaten von GREVIO evaluiert wurde.
Der vorliegende GREVIO-Evaluierungsbericht 2) enthält umfangreiche Ausführungen zum Thema „VI. Ermittlungen, Strafverfolgung, Verfahrensrecht und Schutzmaßnahmen”. Auch das Vertragsstaatenkomitee hat Empfehlungen an Österreich abgegeben 3), die zum Teil die Thematik der gegenständlichen Richtlinien betreffen (Pkt. 10 und 11).
Die häufig ungenutzte Möglichkeit der Staatsanwaltschaften, die Exekutive in Fällen von häuslicher Gewalt oder Stalking mit ergänzenden Ermittlungen zu beauftragen, wird dabei ebenso kritisch hervorgehoben, wie eine – ausgehend von der dadurch bedingt häufig nur begrenzten Anzahl verfügbarer Beweismittel – besorgniserregende Tendenz der relativ strengen Beurteilung der Verurteilungswahrscheinlichkeit in Fällen von Gewalt gegen Frauen und eine daraus resultierende Verminderung der Anzahl an eröffneten Gerichtsverfahren vergleiche GREVIO-Bericht Pkt. 160). Die Anzahl der angezeigten Fälle von Gewalt gegen Frauen und die Anzahl der ausgesprochenen Verurteilungen werfe Fragen bezüglich der Rolle der Staatsanwaltschaften hinsichtlich der Erfüllung ihrer Sorgfaltspflicht nach Artikel 5, Absatz 2, der Istanbul-Konvention auf. GREVIO empfahl der österreichischen Regierung daher dringend, sicherzustellen, dass die Staatsanwaltschaften alle verfügbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Strafverfolgung aller in der Istanbul-Konvention definierten Formen von Gewalt zu gewährleisten (Pkt. 161).
Aufgrund der erheblichen Praxisrelevanz und aus Anlass mehrerer tragischer Vorfälle in den vergangenen Jahren in diesem Deliktsbereich erachtet es das Bundesministerium für Justiz für geboten, die folgenden, für die Strafverfolgung von Delikten im sozialen Nahraum wesentlichen Gesichtspunkte in Erinnerung zu rufen und Vorschläge für eine praktikable Bewältigung der speziellen Schwierigkeiten in diesem Bereich anzubieten, wobei auch die Empfehlungen von GREVIO und des Vertragsstaatenkomitees implementiert werden sollen.
Die umfassende Abklärung des zu beurteilenden Sachverhalts durch Erhebung sämtlicher relevanter bzw. naheliegender Beweismittel gerade auch im Journaldienst, die Verbesserung der diesbezüglichen Kommunikation zwischen Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft sowie deren Dokumentation zur leichteren Nachvollziehbarkeit sind ein prioritäres Ziel des gegenständlichen Erlasses. Die staatsanwaltschaftlichen Verfügungen, insb. auch zur Haftfrage, sollen auf einem sicheren und im Nachhinein objektivierbaren Fundament stehen. Zu diesem Zweck ist dem Erlass eine „Checkliste Delikte im sozialen Nahraum – Journalbefassung“ angeschlossen. Diese soll ohne Anspruch auf Vollständigkeit die denkbaren und notwendigen Eckpunkte staatsanwaltschaftlicher Journaltätigkeiten übersichtlich darstellen und Eingang in den Ermittlungsakt finden. Sie kann auch als Arbeitsgrundlage für die Erstellung eigener und an die konkreten Bedürfnisse der einzelnen Staatsanwaltschaften angepasster Journal-Amtsvermerke dienen.
I. Allgemeines
Als Gewalt im sozialen Nahraum bzw. Strafsachen im Familienkreis (FAM-Delikte, vergleiche auch Paragraph 4, Absatz 3 a, DV-StAG) gelten nach der hiermit festgelegten Definition Vorsatzdelikte gegen Leib und Leben, Delikte gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung sowie Delinquenz wegen Paragraphen 99,, 105f, 106a, 107, 107a, 107b, 107c, 109 StGB zum Nachteil eines/r Lebensgefährten/in, eines/r Ehegatten/in oder eines/r eingetragenen Partners/in des/der Beschuldigten und zwar auch nach Beendigung der Beziehung. Bei widersprechenden Angaben der Beteiligten ist im Zweifel eine Lebensgemeinschaft anzunehmen. Weiters umfasst ist diesbezügliche Delinquenz gegen minderjährige (Wahl-/Pflege-)Kinder der beschuldigten Person bzw. ihres/ihrer Ehegatten/in, eingetragenen Partners/in oder Lebensgefährten/in, gegen Angehörige in gerader Linie sowie gegen Bruder oder Schwester des/der Beschuldigten. Andere Angehörige vergleiche Paragraph 72, StGB) des/der Beschuldigten sind nur erfasst, wenn diese laut kriminalpolizeilicher Berichterstattung im gleichen Haushalt leben. Als sozialer Nahraum gelten die beschriebenen Fälle unabhängig von der bezirks- oder landesgerichtlichen Zuständigkeit, daher sind auch BAZ-Fälle umfasst. Das Erfordernis der Setzung der VJ-Kennung „FAM“ in diesen Fällen der Gewalt im sozialen Nahraum wird in Erinnerung gerufen.
Für Fälle von Gewalt im sozialen Nahraum stehen sicherheitspolizeiliche, exekutions-, straf(prozess)- und zivilrechtliche Regelungen zur Verfügung. Neben den strafrechtlichen Bestimmungen sind die einstweiligen Verfügungen zum Schutz vor Gewalt und der Privatsphäre (Paragraphen 382 b,, 382c und 382d EO), die sicherheitspolizeiliche Wegweisung sowie das Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt (Paragraph 38 a, SPG) und das subsidiäre Antragsrecht der Kinder- und Jugendhilfeträger als Vertreter von Minderjährigen für einstweilige Verfügungen nach den Paragraphen 382 b,, 382c und 382d EO (Paragraph 211, Absatz 2, ABGB) hervorzuheben.
Bei Strafverfahren im Zusammenhang mit Gewalt im sozialen Nahraum stehen erfahrungsgemäß meist die folgenden Delikte im Zentrum der Ermittlungen:
Paragraphen 83 f, f, StGB
Paragraph 99, StGB
Paragraphen 105, – 107c StGB
Paragraph 109, StGB
Paragraphen 201, ff StGB.
Abgesehen von den strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung handelt es sich bei der Erstbeurteilung oft um Delikte mit relativ geringer Strafdrohung. Allerdings bergen die bei Auseinandersetzungen und Gewalt im sozialen Nahraum häufig emotional besonders aufgeheizte Situation und die räumliche Nähe der Beschuldigten zu den Opfern die Gefahr der Eskalation von zunächst vergleichsweise wenig gravierenden Vorwürfen bis zu Gewalt- und Tötungshandlungen.
Die dadurch bedingten Besonderheiten betreffen zunächst die Schwierigkeiten bei der vollständigen Ermittlung des Sachverhalts. Es fehlen häufig objektive Beweismittel (insbesondere beim Vorwurf länger zurückliegender Übergriffe) und die ohnehin schon schwierige Beweisführung wird durch die Möglichkeit der mit dem Täter verwandten Opfer, im Verfahren die Aussagebefreiung gem. Paragraph 156, Absatz eins, Ziffer eins, StPO in Anspruch zu nehmen, oft zusätzlich erschwert.
Außerdem wird bei Auseinandersetzungen im sozialen Nahraum häufig über die Androhung von strafbaren Handlungen mit massivsten Folgen berichtet (insbesondere Morddrohungen), sodass der Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten und der Ernsthaftigkeit derartiger Drohungen und damit der Frage nach dem Vorliegen des Festnahme- und Haftgrundes der Tatbegehungs- und Tatausführungsgefahr (Paragraph 170, Absatz eins, Ziffer 4 und Paragraph 173, Absatz eins und 2 Ziffer 3, StPO) besondere Bedeutung zukommt. Diese Prognose ist außerordentlich schwierig, spielt doch in keiner anderen Fallgruppe die Emotionalität der Beteiligten eine ähnlich große Rolle. Deren Einschätzung wird durch die oftmals vorkommende Beteiligung von Personengruppen mit unterschiedlichen Umgangs- und Ausdrucksformen (häufig auch mit Migrationshintergrund) noch zusätzlich erschwert, weil der Staatsanwalt 4) hier mit den unterschiedlichsten Werte-, Denk- und Verhaltensmustern konfrontiert ist. Auch im Journaldienst ist auf diese Besonderheiten speziell Bedacht zu nehmen.
Ferner ist zu beachten, dass Opfer von Delikten im sozialen Nahraum meist Opfer iSd Paragraph 65, Ziffer eins, Litera a, StPO (allenfalls nach Litera b, leg. cit.) sind und ihnen psychosoziale und juristische Prozessbegleitung unter den Voraussetzungen des Paragraph 66 b, Absatz eins, StPO zu gewähren ist.
Opfer, die in ihrer sexuellen Integrität und Selbstbestimmung verletzt worden sein könnten, zu deren Schutz ein Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt nach Paragraph 38 a, Absatz eins, SPG erteilt werden könnte oder die minderjährig (Paragraph 74, Absatz eins, Ziffer 3, StGB) sind, gelten darüber hinaus jedenfalls als besonders schutzbedürftige Opfer iSd Paragraph 66 a, Absatz eins, StPO. Solchen Opfern stehen die in Paragraph 66 a, Absatz 2, StPO aufgezählten Rechte zu, wobei das Recht einer Vernehmung eine Person ihres Vertrauens beizuziehen (Paragraph 66 a, Absatz 2, Ziffer 6, StPO) hervorzuheben ist.
Opfer iSd Paragraph 65, Ziffer eins, Litera a, oder b StPO sind spätestens vor ihrer ersten Vernehmung über die Voraussetzungen der Prozessbegleitung und besonders schutzbedürftige Opfer über ihre Rechte nach Paragraph 66 a, StPO zu informieren vergleiche Paragraph 70, Absatz eins und 2 StPO).
Oft findet die Erstvernehmung des Opfers in einer Ausnahmesituation statt, etwa unmittelbar nach einem tätlichen Angriff durch den Beschuldigten samt Polizeieinsatz, in den Nachtstunden, im Beisein von Kleinkindern, etc. In solchen Fällen ist durch die Staatsanwaltschaft sicherzustellen, dass das Opfer bei Bedarf zu einem geeigneten späteren Zeitpunkt nochmals Zugang zu den notwendigen, zunächst mitunter nicht als wichtig eingeschätzten Informationen zur Prozessbegleitung erhält.
II. Ermittlung des vollständigen Sachverhalts
Eine besondere Schwierigkeit bei Delikten im sozialen Nahraum ist der – gerade im Zusammenhang mit Paragraph 107 b, StGB regelmäßig zu beobachtende – Umstand, dass die vorgeworfenen Straftaten teilweise oder zur Gänze längere Zeit zurückliegen bzw. während längerer Zeiträume fortgesetzt wurden, ohne dass die Opfer bis zu einem eskalierenden Anlassfall – im Rahmen dessen die Vorwürfe in der Opfervernehmung geschildert werden – Anzeigen erstattet haben bzw. ärztliche Behandlungen oder sonstige objektivierende Sicherungen von Verletzungsfolgen vorgenommen worden sind. Im Ergebnis stehen einander daher vorerst zumeist die belastende Aussage des Opfers und die leugnende Verantwortung des Beschuldigten gegenüber.
Zur Schaffung eines persönlichen, die Würdigung erleichternden Eindrucks ist – soweit ressourcenmäßig eine solche Möglichkeit besteht – eine unmittelbare Vernehmung des Beschuldigten durch den zuständigen Staatsanwalt zweckmäßig.
Von vordringlicher Bedeutung ist es, zur Verbreiterung der Beweisgrundlage – insbesondere auch wegen einer möglicherweise späteren Inanspruchnahme des Rechts nach Paragraph 156, Absatz eins, Ziffer eins, StPO durch das Opfer – eine Vernehmung möglichst aller zur Verfügung stehenden Zeugen vorzunehmen. Neben unmittelbaren (aktuellen) Tatzeugen gilt das auch für Zeugen, die laut Opfer- oder sonstigen Zeugenangaben bereits früher Wahrnehmungen zu oder Kenntnisse über die Vorfälle erlangt haben (z.B. Nachbarn, Freunde, Bekannte, Verwandte, Kindergartenpersonal, Lehrer*innen, Arbeitskolleg*innen). Aufgrund der zumeist hohen Emotionalität der Betroffenen sind gerade die Angaben unbeteiligter Zeugen und Umfelderhebungen in der Regel von hohem Beweiswert.
Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen vergleiche Paragraphen 56,, 66 Absatz 3, StPO) hat eine Hinzuziehung notwendiger Dolmetscher durch die Kriminalpolizei zu erfolgen. Die Beiziehung nahestehender Personen (des Beschuldigten oder des Opfers) zu Übersetzungszwecken hat jedenfalls zu unterbleiben. Drohungen die nicht in deutscher Sprache ausgesprochen werden sind zudem im kulturellen Kontext zu interpretieren, wobei dieser erforderlichenfalls im Rahmen der Einvernahme zu klären ist. Mit jeder zeugenschaftlich vernommenen Person ist ein gesondertes Protokoll aufzunehmen.
Vor allem der Sicherung objektiver Beweismittel (Dokumentation der Verletzungen und Gewaltanwendungen, Sicherung sonstiger Spuren und Tatortarbeit, Sicherung bezughabender elektronischer Kommunikation, etc.) kommt erhebliche Relevanz zu. Das gilt insbesondere auch für die von den Verfahrensbeteiligten (Beschuldigte, Opfer, etc.) zur Verfügung gestellten Dokumente und Unterlagen (bspw. in Form von Ausdrucken oder Fotos, gesicherter elektronischer Kommunikation, etc.); soweit diese in nicht deutscher Sprache abgefasst sind, ist eine Übersetzung zu veranlassen.
Zur Erlangung einer vollständigen Sachverhaltsgrundlage ist sicherzustellen, dass das Opfer (auch von der Kriminalpolizei) dahingehend informiert wird, dass allfällige zusätzliche Beweisunterlagen immer sofort, d.h. im Ermittlungsverfahren, vorzulegen sind. Der Vorbehalt der Vorlage für die Hauptverhandlung ist gänzlich unzweckmäßig. Ein dahingehender Vermerk in der kriminalpolizeilichen Berichterstattung sollte immer zu einem ergänzenden Ermittlungsauftrag führen.
Die im sozialen Nahraum häufig (mit-)angezeigte Sexualdelinquenz erfordert – soweit die Anzeige zeitnah erfolgt – die rasche Durchführung jener Ermittlungsschritte, die in Sexualstrafsachen allgemein geboten sind. Neben der Sicherstellung von Kleidungsstücken zur Auswertung von DNA-Spuren, ist regelmäßig auch die Beischaffung von bereits vorliegenden Verletzungsanzeigen und die Bestellung eines/einer gynäkologischen Sachverständigen zur Untersuchung des Opfers zweckmäßig, weiters allenfalls die körperliche Untersuchung des Beschuldigten einschließlich der Bestellung eines/einer (gerichts-)medizinischen Sachverständigen zur Feststellung von Abwehrverletzungen (siehe im Einzelnen auch die angeschlossene Checkliste).
Zur Erhebung des Sachverhalts gehört auch die Beleuchtung der Hintergrundaspekte des vorliegenden Tatgeschehens. Dabei ist zu beachten, dass (auch aus VJ-Abfragen ersichtliche) Obsorge- und Kontaktrechtsstreitigkeiten bzw. Scheidungs- oder Aufteilungsverfahren ein wesentliches Tatmotiv sein können. Andererseits ist im Zusammenhang mit derartigen Verfahren manchmal auch eine unrichtige Belastung des Beschuldigten nicht völlig auszuschließen.
Als Möglichkeit für eine umfassende Aufklärung des Sachverhalts samt Verwertbarkeit der Aussagen bietet sich – gerade wenn die Verbreiterung der Beweisgrundlage ergibt, dass das Opfer in früheren Verfahren gegen denselben Beschuldigten vom Aussagebefreiungsrecht gem. Paragraph 156, Absatz eins, Ziffer eins, StPO Gebrauch gemacht hat – auch die Vernehmung des Opfers sowie weiterer Familienmitglieder im Rahmen einer kurzfristig zu beantragenden und durchzuführenden kontradiktorischen Vernehmung der Zeugen gem. Paragraph 165, Absatz 2 und 3 StPO an 5).
Jedenfalls ist zu erheben, ob und wann der Beschuldigte bereits früher mit Vorfällen familiärer Gewalt im Zusammenhang stand bzw. ob gegen diesen bereits ältere Anzeigen vorliegen. Dabei ist auch zu klären, wer jeweils als Anzeiger bzw. Opfer aufschien. Selbstverständlich sind auch allfällige Informationen von Opferschutzeinrichtungen heranzuziehen und insbesondere zu erheben, ob es schon im Vorfeld Wegweisungen oder einstweilige Verfügungen gegeben hat und ob bzw. wie diese befolgt worden sind.
Auf Polizeiebene besteht in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der österreichweiten Abfrage in der Gewaltschutzdatei (gem. Paragraph 58 c, SPG), in der Betretungs- und Annäherungsverbote verarbeitet werden. Die Datei ermöglicht Namensabfragen nach Gefährder und sieht eine dreijährige Speicherdauer nach der letzten Eintragung vor. Auf diese Weise können rasch frühere Befassungen mit einem Beschuldigten im sozialen Nahraum und damit Muster erkannt werden.
Wesentlich ist auch eine Abfrage des VJ-Registers, um allenfalls mehrere anhängige Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten gemäß Paragraph 26, StPO zusammenzuführen (St und BAZ) und auch, um allfälliges tatbestandliches Handeln nach Paragraph 107 b, StGB zu erkennen.
In der Praxis kommt es häufig vor, dass sich aus Vernehmungen des Opfers wegen einzelner Vorfälle Anhaltspunkte in Richtung Paragraph 107 b, StGB ergeben (z.B. Opfer gibt an, schon jahrelang, regelmäßig, immer wieder misshandelt und geschlagen zu werden, etc.), ohne dass von der erhebenden Polizeidienststelle von sich aus bereits umfangreiche Ermittlungen geführt und ausreichend konkrete Fragen hiezu gestellt wurden. Diesfalls sind ergänzende Ermittlungsanordnungen erforderlich, um die konkrete Art, den Beginn, die Dauer, die Intensität und die Regelmäßigkeit der körperlichen Übergriffe oder Misshandlungen zu erheben und wenn möglich durch Kontrollbeweise (bspw. Vernehmung von Zeugen früherer bzw. regelmäßiger Übergriffe oder Verletzungen, Beischaffung von Krankengeschichten bzw. Lichtbildern von Verletzungen, etc.) zu objektivieren. Die Prüfung von Sachverhalten iR Paragraph 107 b, StGB ist auch wegen der sich daraus ergebenden – verglichen mit den Grundanzeigen – häufig erheblich höheren Strafdrohung vergleiche Paragraph 107 b, Absatz 3 und 4 StGB) jedenfalls geboten. Auch die aus VJ-Abfragen z.T. ersichtlichen einstweiligen Verfügungen enthalten mitunter über die Opfervernehmung bzw. die nunmehr im Strafverfahren erhobenen Verdachtsmomente hinausgehende Vorwürfe. Das mag daran liegen, dass das Opfer in der Stresssituation der polizeilichen Vernehmung einzelne Vorfälle vergisst bzw. steht bei der Erstvernehmung meist auch aus zeitlichen und organisatorischen Gründen der aktuelle Vorfall im Vordergrund. Im Zuge von Journalbefassungen empfiehlt es sich daher, die Kriminalpolizei zu instruieren, einen Hinweis, wonach Tathandlungen aus der Vergangenheit Gegenstand einer weiteren ausführlicheren Vernehmung sein werden, in das Protokoll oder zumindest in den Bericht an die Staatsanwaltschaft aufzunehmen. Für die Zwecke des Strafverfahrens sind diese ergänzenden Vernehmungen unerlässlich.
Eine Teilnahme der Staatsanwaltschaften bei sicherheitspolizeilichen Fallkonferenzen (Paragraph 22, Absatz 2, SPG) kann zur zeitnahen Vernetzung aktueller Ermittlungsergebnisse sowie weiterer Ermittlungsansätze zweckmäßig sein, weshalb diese bei ressourcenmäßiger Möglichkeit befürwortet wird. Um Verletzungen des Objektivitätsgebots bzw. den Anschein der Befangenheit zu vermeiden, ist in diesem Rahmen von Angaben, die rechtsberatenden Charakter haben oder als parteilich gewertet werden können, strikt Abstand zu nehmen.
Auf die – allenfalls auch in Form ergänzend anzuordnender Ermittlungen vorzunehmende – Ergreifung sämtlicher zweckmäßiger Ermittlungsmaßnahmen, um die Beweiserhebung u.a. in Fällen häuslicher Gewalt zu verbessern, sodass die Abhängigkeit des Verfahrensausganges von der (allenfalls wegen Paragraph 156, StPO in weiterer Folge nicht mehr verwertbaren) Aussage des Opfers geringer wird, zielt auch eine vordringliche GREVIO-Empfehlung ab vergleiche dort Pkt. 155.a. und 161).
III. Haftfrage
Von besonderer Bedeutung ist die Beurteilung der Haftfrage. Die emotional aufgeheizte Situation der Beteiligten begründet die Gefahr, eine ernst zu nehmende Drohung zu Unrecht zu bagatellisieren oder auf eine situationsbedingte Unmutsäußerung (Drohungen denen die notwendige Ernstlichkeit fehlt; vergleiche Jerabek;Reindl-Krauskopf;Ropper;Schroll in Höpfel/Ratz, WK2 StGB Paragraph 74, Rz 34) mit unverhältnismäßiger Haft zu reagieren.
Die schlimmste denkbare Fallgestaltung ist zweifellos die Umsetzung einer Todesdrohung durch einen Beschuldigten nach dessen Anzeige auf freiem Fuß. Die umsichtige Beurteilung der konkreten Sachlage und die Dokumentation dieser Entscheidung können aber helfen, dieses Risiko zu minimieren und die Entscheidung zumindest nachvollziehbar zu machen.
Schon für die Beurteilung der Haftfrage bedarf es daher regelmäßig einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage, um sich einen möglichst vollständigen Überblick über die Gesamtsituation zu verschaffen vergleiche Pkt. römisch II.). Kurzfristig anzuordnende Ermittlungen durch die Kriminalpolizei sind hierfür ebenso zweckmäßig wie die – über die Ermittlung des aktuellen Fallgeschehens hinausgehende – Feststellung der Vorgeschichte sowie objektiver Grundlagen, die eine möglichst verlässliche Einschätzung der zukünftigen Situation, insbesondere mit Blick auf die Gefährlichkeit des Beschuldigten, gewährleisten; zu denken wäre hier u.a. auch an die Heranziehung standardisierter Gefährdungseinschätzungen, soweit solche zur Verfügung stehen.
Häufig greift die Polizei auf den sogenannten kriminalpolizeilichen Aktenindex zurück und zitiert daraus im polizeilichen Bericht die schon aktenkundigen Vorfälle. Dabei ist zu beachten, dass dieser Index keinen ausreichenden Überblick darüber bietet, ob und wie diese Vorfälle bereits in staatsanwaltschaftlichen oder gerichtlichen Verfahren erledigt wurden. Der standardmäßig zu erfragende Stand des Strafregisters bietet zwar wertvolle Hinweise zum Vorleben des Beschuldigten, kann aber ebenfalls kein vollständiges Bild wiedergeben, zumal erst kurz zurückliegende Verurteilungen oft noch gar nicht dokumentiert sind und Rückschlüsse auf anhängige oder eingestellte Verfahren bzw. auf Freisprüche daraus nicht möglich sind. Hiezu ist eine Abfrage des VJ-Registers durchzuführen. Diese ermöglicht anders als die eingeschränkte polizeiliche PAD-Abfrage ein bundesweites Bild früherer und anhängiger Verfahren. Eine solche Abfrage ist auch deshalb notwendig, weil Festnahmeanordnungen bzw. die Verhängung der Untersuchungshaft selbstverständlich nicht mit Vorfällen begründet werden können, hinsichtlich derer bereits Einstellungen oder gar Freisprüche erfolgten, und andererseits die Delinquenz während eines anhängigen Verfahrens ein Argument für die Untermauerung des Haftgrundes der Tatbegehungs- und Tatausführungsgefahr bieten kann.
Die inhaltliche Erhebung des Sachverhalts früherer Vorfälle lässt häufig Rückschlüsse auf die Gewaltbereitschaft des Beschuldigten bzw. seine Tendenz beim Einsatz von Gewalt (etwa eine Intensivierung) zu und ist damit für den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr von Bedeutung. Mitunter erschließen sich aus der Hintergrundgeschichte auch entscheidende „Wendepunkte“ für die Haftfrage wie bspw. kurz vor dem Anlassfall erfolgte Zustellungen etwa einer Scheidungsklage, einer Ladung oder gerichtlicher Entscheidungen. Da die Kriminalpolizei regelmäßig nicht über diese Informationen verfügt, sind sie zur Herstellung eines Informationsgleichstandes an die Polizei weiterzugeben.
Zur Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten sind neben seinem Vorleben auch allfällige Waffenverbote und seine persönliche Situation zu beachten. So ist eine – selbstverständlich vorurteilsfreie - Beurteilung der Persönlichkeit oft unumgänglich, weil bestimmte Umstände – wie Traumatisierungen, religiös-fanatische Hintergründe, im sozialen Umfeld des Beschuldigten gesellschaftlich akzeptierte bzw. sogar geforderte Gewalt, ein patriarchalisches Rollenbildverständnis, psychische bzw. psychiatrische Belastungen etc. – gegebenenfalls weitere Tathandlungen befürchten lassen können. Auch können aus akuten privaten Umständen wie z.B. Verlust des Arbeitsplatzes, Alkoholismus, Suchtmittelproblematik, Spielsucht oder der Gefahr einer Abschiebung bzw. des Verlustes des Aufenthaltsrechtes bei einer Scheidung vom Tatopfer Rückschlüsse auf die Gefährlichkeit des Beschuldigten gezogen werden.
Ferner bieten die Wahrnehmungen der amtshandelnden Polizisten Anhaltspunkte zur Persönlichkeit des Täters. Sein Verhalten im Rahmen der Amtshandlung oder seine Reaktion auf ein Betretungs- bzw. Annäherungsverbot (bspw. Aggression, Uneinsichtigkeit, Weinerlichkeit, Äußerung allfälliger Drohungen gegen das Opfer auch in Anwesenheit der Polizeibeamten, andererseits aber auch auffällig kooperatives, ruhiges oder teilnahmsloses Verhalten, etc.) können ebenfalls Argumentations- und Entscheidungshilfen bei der Beurteilung der Tatbegehungs- bzw. Tatausführungsgefahr sein.
Auch aus der Art der Begehung – sowohl der Anlasstat(en) als auch der früheren Vorfälle – lassen sich wertvolle Hinweise auf die künftige Gewaltbereitschaft des Beschuldigten ableiten. Es ist daher wichtig, Umstände wie die Verwendung von Waffen, Gewalt gegen Kinder, gegen Schwangere oder schwächere Personen sowie gegen Tiere, eine Tatbegehung aus nichtigem Anlass, wiederholte Tatbegehungen im alkoholisierten Zustand oder eine besonders gezielte, planmäßige (bspw. die von Opfern häufig berichtete gezielte Schlagausführung gegen Körperregionen, die regelmäßig durch Kleidung bedeckt werden), brutale oder erniedrigende Vorgehensweise, etc. herauszuarbeiten.
Soweit eine sicherheitspolizeiliche Dokumentation gem. Paragraph 38 a, Absatz 6, SPG vorliegt bzw. dem Polizeibericht angeschlossen ist, gewährleistet diese ein objektives Bild der Lage, das der sta. Einschätzung zugrunde gelegt werden kann (siehe Anhang). Ein weiteres Hilfsmittel zur Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten und damit der Tatbegehungsgefahr bieten die von Opferschutzeinrichtungen (z.B. Gewaltschutzzentren, Interventionsstellen) z.T. mit den Opfern vorbereiteten und den Strafverfolgungsbehörden übermittelten sog. Gefährdungsanalysen o.ä. Diese sind im Wege der Kriminalpolizei für die Zwecke des Strafverfahrens zu überprüfen und zu objektivieren 6), z.B. durch ergänzende Vernehmung des Opfers zu allfälligen sich aus den Inhalten der Analyse ergebenden weiteren Vorwürfen, zwischenzeitigen neuerlichen Übergriffen, etc.
Aktuell wird von den österreichischen Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen verbreitet das Gefährdungseinschätzungstool nach Campbell sowie DyRiAS (Dynamische Risiko Analyse Systeme) verwendet. Die diesbezüglichen Grundlagen bzw. Fragelisten sind dem Erlass ebenso informativ angeschlossen wie der aktuelle Fragenkatalog der Wiener Interventionsstelle (Danger Assessment Tool; „Checkliste: Gefährlichkeitseinschätzung“). Auf die darin angeführten Risikofaktoren wird ausdrücklich hingewiesen.
Zur Beschleunigung der Sammlung der Entscheidungsgrundlagen für die Haftfrage bietet es sich als zweckmäßige und mit den jeweils beteiligten Landespolizeidirektionen und Opferschutzeinrichtungen zu vereinbarende Vorgehensweise auch an, dass
1. die schriftlichen Ausfertigungen der Verhängung eines Betretungs- und Annäherungsverbots samt diesbezüglicher Dokumentation und auch die Dokumentationen über allfällige Übertretungen durch den Beschuldigten von der Polizei an die Staatsanwaltschaften berichtet bzw. dem polizeilichen (Abschluss-)Bericht angeschlossen werden;
2. hinsichtlich der von Opferschutzeinrichtungen vorbereiteten Gefährdungsanalysen nach deren Einlangen bei der Polizei eine polizeiliche Rücksprache mit der jeweiligen Opferschutzeinrichtung erfolgt, um einen allfälligen weiteren Ermittlungsbedarf und die weitere Vorgehensweise abzuklären.
Die genaue und strenge Prüfung der Haftfrage (insb. der Tatbegehungsgefahr) – unabhängig von der Wirkung einstweiliger Verfügungen oder zivilgerichtlicher Gewaltschutz-EV – stellt auch eine GREVIO-Empfehlung dar vergleiche GREVIO-Bericht Pkt. 154 f, 181 – in weiterer Folge auch bezogen auf Weisungen gemäß Paragraph 173, Absatz 5, StPO).
IV. Staatsanwaltschaftliche Erledigung
Erst bei Vorliegen des vollständig ermittelten Sachverhalts unter Einbeziehung sämtlicher naheliegender schuld- und subsumtionsrelevanter Beweismittel kann eine Enderledigung erfolgen7).
In Fällen der Verfahrenseinstellung nach Paragraph 190, Ziffer 2, StPO ist darauf zu achten, dass die Gründe für die Einstellung in den Einstellungsverständigungen an das Opfer und in allfälligen Einstellungsbegründungen gem. Paragraph 194, Absatz 2, StPO möglichst sensibel formuliert werden. Wendungen wie „Aussage gegen Aussage“ sind zu hinterfragen und zu vermeiden, um den Eindruck einer gleichsam automatischen Verfahrenseinstellung bereits bei widerstreitenden Aussagen des Opfers und des Beschuldigten hintanzuhalten. Stattdessen sind Formulierungen zu wählen, die erkennen lassen, dass der Tatnachweis trotz Ausschöpfung sämtlicher Beweismittel nicht mit der im Strafrecht erforderlichen Sicherheit zu führen ist. Der Hinweis auf „milieubedingte Unmutsäußerungen“ im Rahmen von Einstellungsverständigungen wegen Paragraph 107, Absatz eins und 2 StGB hat im Hinblick auf mögliche und verständliche Irritationen bei Opfern und Beschuldigten zu unterbleiben.
Eine vorläufige oder endgültige Verfahrenseinstellung nach Paragraph 192, Absatz eins, StPO birgt bei Delikten im sozialen Nahraum die Gefahr, dass die von Tätern aber auch Opfern darin subjektiv zu erkennen vermeinte geringe Gewichtung der konkret inkriminierten Übergriffe durch die Strafverfolgungsbehörden künftigen Eskalationen Vorschub leisten kann. Um derartige kontraproduktive Wirkungen hintanzuhalten, sollte von einem Vorgehen nach Paragraph 192, StPO nur restriktiv Gebrauch gemacht werden.
Diversionelles Vorgehen nach Paragraphen 198, ff StPO sollte bei Delikten im sozialen Nahraum genauestens abgewogen werden.
Der nach Angaben der Opferschutzeinrichtungen für Opfer am wenigsten invasive vorläufige Rücktritt von der Verfolgung der Straftat unter Bestimmung einer Probezeit gem. Paragraph 203, Absatz eins, StPO berücksichtigt die spezial- und generalpräventiven Erfordernisse aus Sicht des Bundesministeriums für Justiz regelmäßig nur im Zusammenhang mit Schadensgutmachung, zweckdienlichen Weisungen (insb. Anti-Gewalttraining, Alkoholentwöhnungstherapie samt Überprüfungen, Weisungen zum Schutz der Opfer, etc.) und ggf. der Anordnung der Betreuung durch einen Bewährungshelfer. Die von Paragraph 203, Absatz 2, StPO angeführten besonderen Gründe, aus denen darauf verzichtet werden könnte, werden in den bezughabenden Fällen kaum jemals vorliegen.
Die Durchführung eines Tatausgleichs nach Paragraph 204, StPO kann sich etwa in Fällen familiärer Gewalt, in denen die Fortsetzung der häuslichen Gemeinschaft außer Frage steht, im Einzelfall bewähren. Bei Vorwürfen in Richtung Paragraph 107 a, StGB hingegen ist die Zweckmäßigkeit und Form der Durchführung eines Tatausgleichs genauestens zu prüfen.
Auf die Verständigungspflichten gegenüber dem Opfer nach Paragraph 206, Absatz 2, StPO wird ausdrücklich hingewiesen.
Die im GREVIO-Bericht vergleiche Pkt. 163; 166ff) und in den Empfehlungen des Vertragsstaatenkomitees (Pkt. 11) anklingende grundsätzliche Skepsis gegen die Anwendung diversioneller Maßnahmen in Fällen von Gewalt im sozialen Nahraum und bei Stalking kann aus Sicht des Bundesministeriums für Justiz nicht generell geteilt werden; es sind jeweils Einzelfallbeurteilungen vorzunehmen.
V. Besonderheiten im Journaldienst und in der Rufbereitschaft
Die Tätigkeit im Journaldienst und in der Rufbereitschaft zählt mit Sicherheit zu den sensibelsten Bereichen der staatsanwaltschaftlichen Arbeit. Im Zuge dieser oft mehrere Tage hindurch rund um die Uhr bestehenden Rufbereitschaft ist der Staatsanwalt zumeist ohne Vorbereitungsmöglichkeit mit dringenden Fällen konfrontiert, die sofortige Maßnahmen bzw. Entscheidungen erfordern. Getroffen werden diese in vielen Fällen an Orten, die den üblichen Arbeitsbedingungen nicht entsprechen, wo also bestimmte technische Hilfsmittel, wie Fax und PC, oder juristische Nachschlagewerke nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Diese Drucksituation wird noch dadurch verstärkt, dass die vorliegende Informationsgrundlage regelmäßig noch sehr dürftig ist. Da es sich meist um ganz „frische“ Fälle handelt, stehen die Erhebungen erst am Beginn, sodass deren Ergebnisse für einen vollständigen Überblick über die Situation häufig nicht ausreichen. Dazu kommt, dass die Informationsübermittlung zunächst telefonisch erfolgt und deshalb für Missverständnisse höchst anfällig ist. Manchmal findet der telefonische Kontakt zudem nicht unmittelbar mit den einschreitenden Beamten (sondern mit Kollegen oder Vorgesetzten) statt oder die Polizei ruft direkt vom von Lärm und Hektik geprägten Tatort an.
Die Darstellung der Problemstellungen des staatsanwaltschaftlichen Journaldienstes in der Rufbereitschaft im Allgemeinen und bei Fällen von Gewalt im sozialen Nahraum im Besonderen soll eine Sensibilisierung erreichen und ein kompaktes Hilfsmittel für die Bearbeitung dieser Fälle darstellen.
1. Entscheidungsgrundlage verbreitern
Bereits im Journaldienst ist es von vordringlicher Bedeutung, sich zur Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage einen weitgehend vollständigen Überblick über die Gesamtsituation zu verschaffen, sodass eine möglichst verlässliche Einschätzung der Gefährlichkeit des Beschuldigten und der anstehenden Haftfrage - mithin der Tatbegehungsgefahr und Tatausführungsgefahr - möglich ist. Hiezu sind alle zur Verfügung stehenden Beweismittel auszuschöpfen, die Vorgeschichte und das strafrechtliche Vorleben, die Hintergrundaspekte und die persönliche Situation des Beschuldigten zu erheben (auch unter Einsichtnahmen in die VJ; siehe bereits Pkt. römisch II. und römisch III.).
Zur Vermeidung von Missverständnissen empfiehlt es sich, die bereits vorhandenen bzw. für die Beurteilung der Haftfrage (dringender Tatverdacht; Haftgründe) unerlässlichen Beweismittel von der Polizei in Schriftform anzufordern (z.B. Vernehmungen; Unterlagen über das Vorleben des Beschuldigten; Betretungs- und Annäherungsverbote und deren Dokumentation gem. Paragraph 38 a, Absatz 6, SPG; etc.). Aufgrund der regelmäßigen Dringlichkeit muss dies freilich noch nicht in Form eines förmlichen polizeilichen Anlassberichtes erfolgen, sondern es bietet sich eine Übermittlung der einzelnen Unterlagen per E-Mail an. Um auch hinreichenden Zugang zu den notwendigen technischen Hilfsmitteln und Applikationen wie VJ, Intranet und RIS zu haben, hat der Journalstaatsanwalt den zur Verfügung gestellten Journaldienstlaptop nach Möglichkeit (gerade auch während der Nachtstunden und zu Hause) zur kurzfristigen Verwendung verfügbar zu halten.
2. Veranlassung weiterer Erhebungen und mehrmaliger Kontakt mit der Polizei
In vielen Fällen kann mit einem einmaligen Kontakt mit der zuständigen Polizeidienststelle nicht das Auslangen gefunden werden. Sind im Sinne der oben dargestellten Erwägungen weitere Ermittlungen notwendig und können diese in einem zeitlich vertretbaren Rahmen durchgeführt werden, so sind der erhebenden Polizeidienststelle die erforderlichen Ermittlungen und ein sodann durchzuführender neuerlicher Anruf im Journal oder in der Rufbereitschaft sowie ein ergänzender schriftlicher Nachtragsbericht aufzutragen. Auch in Zweifelsfällen ist nach Möglichkeit Rücksprache mit den unmittelbar einschreitenden Beamten über deren persönliche Wahrnehmungen zum Beschuldigten zu halten.
Auf diese Weise kann aufgrund der breiteren Sachverhaltskenntnis sodann eine der Sachlage entsprechende Verfügung getroffen werden bzw. können allenfalls schon zuvor getroffene Verfügungen überdacht und gegebenenfalls geändert werden.
3. Dokumentation
Ebenso wichtig wie die ausführliche Erhebung des Sachverhaltes und der Vorgeschichte des Beschuldigten ist die genaue Dokumentation der für die Entscheidung maßgeblichen Beurteilungsgrundlage in einem Amtsvermerk, der im Anschluss an das Telefonat vom Journalstaatsanwalt aufzunehmen ist und insbesondere die nicht schriftlich übermittelten Informationen zu enthalten hat. Eine lückenlose Darstellung des Wissensstandes des Journalstaatsanwaltes zum Zeitpunkt seiner Entscheidung ist (auch zu dessen eigener Absicherung) vor allem bei der Verfügung einer Anzeige auf freiem Fuß unumgänglich (siehe oben).
Diese Dokumentation muss – zusammen mit den allenfalls von der Polizei bereits übermittelten Unterlagen – die Überprüfung der Vertretbarkeit der Entscheidung des Journalstaatsanwaltes ermöglichen, die ja nur im Sinne einer ex-ante-Betrachtung anhand seines im Amtsvermerk festgehaltenen Wissensstandes zum Zeitpunkt seiner Entscheidung erfolgen kann. Die Dokumentation hat dafür den Informationsstand des entscheidenden Staatsanwaltes zum Zeitpunkt der Entscheidung darzustellen. Hiedurch kann bei allfälliger Kritik an der staatsanwaltschaftlichen Verfügung diese sofort anhand der vorliegenden Dokumentation geprüft werden, ohne auf die bloße Erinnerung des Entscheidungsorgans oder die von der Kriminalpolizei verfassten und übermittelten Berichte und Amtsvermerke angewiesen zu sein.
Auch für den in weiterer Folge mit diesem Fall betrauten Staatsanwalt ist der Amtsvermerk von erheblicher Bedeutung, weil aus diesem ersichtlich ist, ob sich der Kenntnisstand seit der Entscheidung des Journalstaatsanwalts inzwischen so wesentlich verändert hat, dass die bisher getroffenen Maßnahmen anzupassen sind.
In diesem Zusammenhang wird der zur alten Rechtslage ergangene, aber inhaltlich in den Grundsätzen noch maßgebliche Erlass des BMJ vom 18. Juli 2005 über die Aufnahme eines Amtsvermerks über Erklärungen und Anordnungen im Zusammenhang mit Grundrechtseingriffen (Haft, Hausdurchsuchung, Überwachung einer Telekommunikation) im Journal- und Rufbereitschaftsdienst der Staatsanwaltschaften (BMJ-L385.003/0001-II 3/2005) ebenso in Erinnerung gerufen wie die sich aus Paragraph 8, Absatz eins, DV-StAG ergebende Verpflichtung zur Anlegung eines Tagebuches samt Ermittlungsakt.
In diesem Erlass werden die Staatsanwaltschaften ersucht, im Rufbereitschafts- oder Journaldienst generell in Fällen von Gewalt im Familienkreis (Deliktskennung „FAM“), also auch wenn kein Haftbefehl beantragt [nunmehr: kein Antrag auf Bewilligung einer Festnahmeanordnung gestellt] oder kein Antrag auf Verhängung der Untersuchungshaft in Aussicht gestellt wird (Paragraph 177, Absatz 2, letzter Satz StPO [nunmehr Paragraph 172, Absatz 3, letzter Satz StPO]), einen Amtsvermerk aufzunehmen, in dem die maßgebenden Erwägungen für das Unterbleiben einer Antragstellung bei Gericht gerafft darzustellen wären.
Die Unterlassung der sofortigen Anlegung von Tagebuch und Ermittlungsakt (bspw. im Falle einer Anzeige auf freiem Fuß) führt auch dazu, dass das Register und im Falle späterer weiterer Journalbefassungen auch die Entscheidungsgrundlage der Staatsanwaltschaft unvollständig sind. Gerade in Fällen von Gewalt im sozialen Nahraum kommt es häufig vor, dass an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen Journalbefassungen erfolgen, bevor noch Polizeiberichte zu früheren Vorfällen eingegangen sind. Auch ist denkbar, dass spätere polizeiliche Anlass- oder Abschlussberichterstattungen zum Journalfall konnex sind und dort einzubeziehen wären. Diesfalls kann die Unterlassung der Eintragung von Journalfällen drastische Folgen nach sich ziehen, weil sie – wenn auch die telefonische Berichterstattung der Polizei unvollständig ist (bspw. wegen unterschiedlicher befasster Dienststellen oder Beamten) – verhindert, dass eine allfällige Eskalationsspirale erkannt werden kann.
Zur Vereinfachung der Dokumentation und um zu vermeiden, dass wesentliche Punkte bei der Kommunikation mit der Kriminalpolizei unberücksichtigt bleiben, empfiehlt das Bundesministerium für Justiz, dem Journaldienst eine vorgefertigte stichwort- und checklistenartige Darstellung der berücksichtigungswürdigen Umstände zur Verfügung zu stellen. Diese soll es dem einzelnen Journalstaatsanwalt ermöglichen, die Journalentscheidungen auf tragfähige Sachverhalte zu gründen, die in weiterer Folge auch klar nachvollziehbar und überprüfbar sind. Die ausgefüllte Checkliste ist daher als Journalamtsvermerk zum Ermittlungsakt zu nehmen (siehe im Anhang: Checkliste Delikte im sozialen Nahraum - Journalbefassung).
4. Entscheidung
Bei seiner Entscheidung stehen dem Journalstaatsanwalt bekanntermaßen folgende Möglichkeiten zur Verfügung:
Liegen keine hinreichenden Gründe für eine Haft vor, ist die Anzeige des Beschuldigten auf freiem Fuß bzw. bei bereits polizeilich erfolgter Festnahme die Enthaftung anzuordnen.
Ist der Beschuldigte flüchtig oder wurde er von der Polizei noch nicht festgenommen, kann sich bei Vorliegen der Haftgründe die Notwendigkeit einer Festnahmeanordnung ergeben.
Wurde der Beschuldigte gem. Paragraph 171, Absatz 2, StPO festgenommen, so besteht gem. Paragraph 172, Absatz 2, StPO die Verpflichtung, von einer Einlieferung in die Justizanstalt abzusehen, wenn der Zweck der Anhaltung durch gelindere Mittel nach Paragraph 173, Absatz 5, Ziffer eins bis 7 StPO erreicht werden kann. In solchen Fällen hat die Kriminalpolizei dem Beschuldigten auf Anordnung der Staatsanwaltschaft unverzüglich die Weisungen zu erteilen, die Gelöbnisse von diesem entgegenzunehmen, ihm die in Paragraph 173, Absatz 5, Ziffer 3 und 6 StPO erwähnten Schlüssel oder Dokumente abzunehmen oder die Sicherheitsleistung einzuheben und den Beschuldigten dann freizulassen. Über die Aufrechterhaltung der gelinderen Mittel entscheidet das Gericht.
Als gelinderes Mittel kommt in den Fällen des Paragraph 38 a, Absatz eins, SPG das Gelöbnis, jeden Kontakt mit dem Opfer zu unterlassen, und die Weisung, eine bestimmte Wohnung sowie bestimmte sonstige Örtlichkeiten (z.B. institutionelle Schul‐ und Betreuungseinrichtungen oder den Arbeitsplatz des Opfers) nicht zu betreten und sich dem Opfer nicht anzunähern oder ein bereits erteiltes Betretungs- und Annäherungsverbot zum Schutz vor Gewalt nach Paragraph 38 a, Absatz eins, SPG oder eine einstweilige Verfügung nach Paragraph 382 b, EO nicht zu übertreten, samt Abnahme aller Schlüssel zur Wohnung (Paragraph 173, Absatz 5, Ziffer 3, StPO), in Betracht.
Paragraph 173, Absatz 5, Ziffer 3, StPO bezieht sich seit dem Gewaltschutzgesetz 2019 dabei nicht mehr nur auf Gewalt in Wohnungen, sondern ausdrücklich auf Fälle möglicher bzw. erteilter Betretungs- und Annäherungsverbote nach Paragraph 38 a, Absatz eins, SPG. Dadurch erweitert sich der Opferkreis neben den vor dem Gewaltschutzgesetz 2019 von Paragraph 38 a, SPG adressierten Opfern von Gewalt im engsten familiären Umfeld auf Opfer, denen Gewalt in ihrem unmittelbaren sozialen Nahebereich widerfahren ist (z.B. Opfer von Paragraph 107 a, StGB oder Opfer der Eskalation nachbarschaftlicher Konfliktsituationen). Weiters ist der Tatort nicht mehr auf Wohnungen beschränkt.
Liegen (nicht substituierbare) Haftgründe vor, so ist der Beschuldigte ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber binnen 48 Stunden in die Justizanstalt des zuständigen Gerichtes einzuliefern (Paragraph 172, Absatz 3, StPO). Voreilige Entscheidungen auf Enthaftung eines Beschuldigten wegen noch nicht hinreichend ermittelten Sachverhalts sind mit Blick auf die Möglichkeit weiterer Ermittlungen unter Ausnutzung der 48-Stunden-Frist zu vermeiden. Bei Tatbegehungs- und Tatausführungsgefahr hat die Ausnutzung dieser Frist für weitere Ermittlungen außerdem den Effekt, für die Opfer einen akut geschützten Zeitraum darzustellen. Eine Entscheidung über die Haftfrage und über die Einlieferung in die Justizanstalt kann jedenfalls erst bei Vorliegen sämtlicher notwendiger Ermittlungsergebnisse innerhalb der angeführten Frist erfolgen.
Wurde der Beschuldigte nicht angetroffen (und daher nicht festgenommen), scheidet die Möglichkeit der gelinderen Mittel (Paragraph 172, Absatz 2, StPO) naturgemäß aus. Auch ein Betretungs- und Annäherungsverbot gemäß Paragraph 38 a, Absatz eins, SPG kann dann nicht ausgesprochen werden. In diesen Fällen verbleibt somit nur die Wahlmöglichkeit zwischen der Anordnung der Festnahme mit gerichtlicher Bewilligung (Paragraph 171, Absatz eins, StPO) unter Einsatz der Personenfahndung (Paragraphen 167, Ziffer eins,, 168 Absatz 2,, 169 Absatz eins, StPO) und einer Anzeige auf freiem Fuß, allenfalls unter Anordnung der Vorführung zur sofortigen Vernehmung (Paragraph 153, Absatz 3, StPO).
Vor allem in Zweifelsfällen, bei denen der Journalstaatsanwalt schließlich eine Festnahmeanordnung getroffen hat, empfiehlt es sich, den Fall mit dieser Anordnung alleine noch nicht als abgeschlossen zu betrachten. In diesem Zusammenhang hat sich regelmäßig der Auftrag an die Polizei bewährt, vor Einlieferung des Beschuldigten in die Justizanstalt erneut mit dem Journalstaatsanwalt Rücksprache zu halten, weil sich nach der Festnahme und Vernehmung möglicherweise ein zu der Ausgangssituation gänzlich unterschiedliches Bild ergeben kann, das eine andere Beurteilung der Sachlage notwendig macht.
***
Mit diesem Erlass, der am 1. Oktober 2021 in Kraft tritt, wird der Erlass vom 17. Dezember 2020 betreffend Richtlinien zur Strafverfolgung bei Delikten im sozialen Nahraum (BMJ-2020-0.804.897) aufgehoben.
30. August 2021
Für die Bundesministerin:
MMag Barbara Göth-Flemmich
Beilagen
Elektronisch gefertigt
Anhang:
- BMJ-Checkliste: Delikte im sozialen Nahraum - Journalbefassung
- Danger Assessment Skala von J.C. Campbell (Gefährdungseinschätzungstool)
- Auszug aus der computerunterstützt durchgeführten Hochrisikoeinschätzung DyRiAS
- Checkliste: Gefährlichkeitseinschätzung der Wiener Interventionsstelle
- Dokumentation gemäß § 38a SPG
1) Im Einzelnen wurde die Überwachung der Umsetzungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten auf GREVIO (die Expertengruppe des Europarats für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), das Vertragsstaatenkomitee (eine auch politische Instanz, die auf Basis der GREVIO-Berichte Empfehlungen ausspricht), die parlamentarische Versammlung des Europarats sowie die nationalen Parlamente übertragen.
2) Siehe http://www.coordination-vaw.gv.at/wp-content/uploads/2018/06/GREVIO_Basis-Evaluierungsbericht_Österreichde.pdf
3) Siehe http://www.coordination-vaw.gv.at/wp-content/uploads/2018/06/Empfehlungen_Vertragsstaatenkomitee_an_Österreich_Istanbul-Konventionde.pdf
4) Die Bezeichnung Staatsanwalt wird im vorliegenden Erlass geschlechtsneutral verwendet und bezeichnet auch Staatsanwältinnen. Im Übrigen beziehen sich alle personen- und funktionsbezogenen Begriffe in diesem Erlass auf alle Geschlechter gleichermaßen.
5) Zu beachten ist hierbei, dass besonders schutzbedürftigen Opfern iSd § 66a Abs. 1 StPO das Recht zusteht, zu verlangen, im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung auf schonende Weise vernommen zu werden (§§ 165, 250 Abs. 3 StPO), und zwar einem minderjährigen Opfer, das durch die dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftat in seiner Geschlechtssphäre verletzt worden sein könnte, jedenfalls auf die in § 165 Abs. 3 StPO beschriebene Art und Weise, gegebenenfalls durch einen Sachverständigen (§ 66a Abs. 2 Z 3 StPO).“
6) Die Gefährdungseinschätzungen der Interventionsstellen und Gewaltschutzzentren beruhen dzt. weitestgehend auf den Opferangaben und können daher keine objektiven Ergebnisse gewährleisten.
7) Im Falle einer Verurteilung des Beschuldigten können bei der Straffrage ggf. die besonderen Erschwerungsgründe gemäß § 33 Abs. 2 StGB von Bedeutung sein.