Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

22.10.2024

Geschäftszahl

W124 2277228-1

Spruch


W124 2277228-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Felseisen als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , römisch 40 geb., StA. Somalia, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom römisch 40 , Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am römisch 40 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt römisch II. des bekämpften Bescheides zu lauten hat:

"Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG wird ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Somalia abgewiesen."

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am römisch 40 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Am römisch 40 erfolgte seine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Rahmen welcher er angab, er sei somalischer Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Boon zugehörig und bekenne sich zum sunnitischen Islam. Seine Muttersprache sei Somalisch, welche er in Wort und Schrift beherrsche. Er sei in römisch 40 , Somalia, geboren und habe dort seine Wohnsitzadresse gehabt, keine Schule besucht oder eine Berufsausbildung erhalten. Sein Vater sei bereits verstorben, seine Mutter, vier Schwestern und zwei Brüder würden in Somalia oder einem Drittstaat leben. Den Entschluss zur Ausreise aus dem Herkunftsstaat habe er im Jahr römisch 40 gefasst. Seinen Wohnort habe er im Jänner römisch 40 mit dem Flugzeug verlassen. Er sei über die Türkei, Griechenland, Albanien, Kosovo und Serbien und Ungarn nach Österreich eingereist vergleiche AS 5ff).

Zu seinen Fluchtgründen gab er an, er habe Somalia aus Angst vor der Terrorgruppe Al Shabaab verlassen. Sie hätten bei ihnen die Macht und würden die ganze Gegend kontrollieren. Sie hätten auch den BF aufgefordert ihnen beizutreten. Er habe das nicht gewollt, weshalb ihm der Tod drohe. Im Falle einer Rückkehr fürchte er, dass Al Shabaab ihn finde und töten würde vergleiche AS 10).

2. Am römisch 40 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) statt. Eingangs bejahte der BF körperlich und geistig in der Lage zu sein, Angaben zu seinem Asylverfahren machen zu können, und gab an, den anwesenden Dolmetscher gut zu verstehen. Die weitere Befragung nahm folgenden Verlauf vergleiche AS 25ff):


„(…)

A: Somalisch

F: Welche Sprachen können Sie lesen und schreiben?

A: Somalisch und Deutsch

F: Der Dolmetsch ist für die Sprache Somali bestellt und beeidet worden. Sind Sie dieser Sprache mächtig und einverstanden, in der Sprache Somali einvernommen zu werden?

A: Ja

F: Verstehen Sie den Dolmetsch einwandfrei?

A: Ja

Sie werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Sie im Fall von Verständigungsschwierigkeiten jederzeit rückfragen können. Ihnen wird weiters zur Kenntnis gebracht, dass die nachträgliche Behauptung von Verständigungsschwierigkeiten der freien Beweiswürdigung unterliegt.

F: Sind Sie in diesem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl anwaltlich vertreten?

A: Nein

F: Sind Sie körperlich und geistig in der Lage die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten?

A: Ja

Anmerkung: Der Asylwerber wird gebeten, das Handy auszuschalten und auf den Tisch zu legen.

A.: Wenn Sie während der Befragung etwas trinken möchten, es steht frisches Wasser neben Ihnen, dürfen Sie sich jederzeit etwas einschenken.

F: Haben Sie im Verfahren bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht, wurden Ihnen diese jeweils rückübersetzt und korrekt protokolliert? Wollen Sie etwas richtigstellen?

A: Es war alles korrekt und es wurde rückübersetzt.

F: Können Sie Identitätsdokumente vorlegen?

A: Nein

F.: Welche Dokumente befinden sich noch in Ihrem Herkunftsstaat (Geburtsurkunde, Personalausweis)?

A.: Nein

F.: Können Sie diese Dokumente im Original oder Kopie besorgen?

A.: Nein

F: Haben Sie Beweismittel, die sie heute noch vorlegen möchten?

A: Ich lege heute 3 Deutschbestätigungen, 1 Bestätigung römisch 40 vor.

Anmerkung: Dokumente werden kopiert und dem Akt beigelegt.

F: Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

A: Ich bin gesund

F: Nehmen Sie Medikamente, sind Sie in ärztlicher Behandlung oder Therapie?

A: Ich nehme keine Medikamente und befinde mich nicht in ärztlicher Behandlung oder Therapie.

F: Bitte nennen Sie Ihren korrekten Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihre Staatsbürgerschaft oder Staatsbürgerschaften, Ihre Volks-/Clangruppen, Ihre Religionszugehörigkeit und Ihren Familienstand.

A: römisch 40 , geboren römisch 40 , StA: Somalia, Religion: Moslem/Sunnit, Familienstand: ledig, Clan: Boon, Herkunfstort: römisch 40

F: Welche Staatsbürgerschaft haben Ihre Eltern?

A: Somalia

F: Sind Sie verheiratet? Falls ja, traditionell und/oder standesamtlich? Haben Sie Kinder? Falls ja, wer ist der andere Elternteil?

A: Nein, ich habe keine Kinder.

F: Schildern Sie bitte chronologisch Ihren Lebenslauf.

A: Geboren in Somalia, römisch 40 aufgewachsen. Dort lebte ich mit meiner Mutter und den Geschwistern. Mein Vater ist gestorben. Ich besuchte nur 2 Jahre die Koranschule. Ich habe nicht gearbeitet. Ich habe meiner Mutter beim Kiosk im Dorf. Sie hat Ware aus römisch 40 geholt und bei uns verkauft.

Anmerkung: Die Angaben über die Familienangehörigen im Herkunftsland oder einem anderen Drittstaat der Erstbefragung werden abgefragt und mit Erstbefragung verglichen.

Anmerkung: die angegebenen Daten stimmen mit der Erstbefragung überein. Änderungen/Zusatz: Keine

F: Haben Sie in einem anderen Land, außer Österreich, um Asyl angesucht? Wurden Sie in einem anderen Land registriert? Hatten Sie Kontakt zu Behörden oder der Polizei?

A: Nein

F.: Welchem Clan gehören Sie an?

A.: Boon, nachgefragt: Hauptclan: Boon, er ist der Gabooye untergeordnet. Im Süden wird unser Clan Boon genannt und nicht Gabooye. Subclan: römisch 40

F.: Ist Ihr Clan in der Heimat weit verbreitet?

A.: Es gab nur ein paar einzelne Familien in unserem Dorf.

F.: Man sagt jedem Clan in Ihrer Heimat gewisse Eigenschaften und Fähigkeiten nach (Handwerker, Viehzüchter, Landwirte usw.). Was zeichnet Ihren Clan in der Heimat aus?

A.: Handwerker

F.: Wie heißt der Clan Älteste Ihres Clans in der Heimat?

A.: Ich weiß es nicht.

F.: In welchen Gebieten ist Ihr Clan verbreitet?

A.: Ich war nie außerhalb, wo ich geboren bin. Ich kann nichts dazu sagen.

F.: Gibt es in Ihrem Clan auch bekannte Persönlichkeiten?

A.: Nein, ich kenne niemanden

F.: Haben Sie Kontakt zu Ihrem Clan in der Heimat?

A.: Nein

F: Welche Angehörigen der Kernfamilie (Eltern, Geschwister) leben noch in Ihrer Heimat? Geben Sie Provinz, Distrikt, Stadt oder Dorf an.

A: Meine Eltern und Geschwister leben in römisch 40 gelebt.

F.: Haben Sie noch weitere Verwandte in der Heimat?

A.: Ich habe 1 Onkel ms in der Heimat. Er lebt in römisch 40 . Er arbeitet als Lehrer. Ich weiß nichtwelches Fach.

F.: Wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu Ihren Angehörigen?

A.: Vor 1,5 Jahren

F.: Wie gestaltet sich der Kontakt zu Ihrer Familie? Kommunizieren Sie auch über soziale Netzwerke und neue Medien?

A.: Ich habe jetzt keinen Kontakt zu meinen Eltern. Mit meinem Onkel hatte ich zuletzt in Griechenland Kontakt. Das war römisch 40 . Nachgefragt: Er erzählte, dass nachdem ich das Land verlassen habe, meine Familie das Dorf verlassen musste und jetzt in römisch 40 leben. Dass 2 meiner Schwester Zwangsverheiratet wurden.

F: Gibt es eine Telefonnummer, unter der Ihre Familie erreichbar ist?

A: Der Schlepper hat mir die Nummer vom Onkel gegeben. Über das Telefon vom Schlepper habe ich mit meinem Onkel gesprochen, ich habe keine Nummer erhalten.

F.: Hat Ihre Familie irgendwelche Besitztümer in Ihrem Heimatland, z.B. Häuser, Grund?

A.: Nein

F: Wovon bestreiten Ihre Angehörigen den Lebensunterhalt?

A: Meine Mutter arbeitet in einem eigenen Kiosk. Ich weiß nicht, wie sie jetzt lebt. Meine Brüder arbeiten nicht.

F.: Haben Ihre Verwandten auch Probleme in der Heimat?

A.: Weiß ich nicht.

F.: Schildern Sie die Lebensumstände Ihrer Verwandten. (Arm, Mittelstand, Reich)

A.: Meine Familie ist arm. Manchmal hatten wir etwas, manchmal hatten wir nichts.

Nachgefragt: Ich weiß nicht was mein Onkel ms besitzt, ich war nur 15 Tage in römisch 40

F: Haben Sie Verwandte in Europa?

A: Nein

F.: Haben Sie bis zu Ihrer Ausreise gearbeitet? A.: Nein, als ich das Problem bekam, konnte ich meiner Mutter nicht mehr helfen. Ich

musste fliehen.

H.: Haben Sie in Ihrem Heimatort am sozialen Leben teilgenommen, sind Sie Essen gegangen, haben Sie sich mit Freunden getroffen?

A.: Ja, bis ich das Problem bekam.

F.: Auch bis zu Ihrer Ausreise?

A.: Nein.

F.: Wann haben Sie zum ersten Mal daran gedacht, dass Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen?

A.: römisch 40

F.: Wann haben Sie den Ausreiseentschluss gefasst?

A.: römisch 40

F.: Wann haben Sie ihren Heimatort bzw. Heimatland tatsächlich verlassen?

A.: römisch 40

F.: Wieso haben Sie nicht in einem der Länder, durch welche Sie gereist sind, einen Asylantrag gestellt?

A.: Ich war 1 Monat im Griechenland beim Schlepper. Ich wusste nicht mehr.

F.: Wo waren Sie die letzte Nacht vor ihrer Ausreise aus dem Heimatort aufhältig?

A.: Ich war in römisch 40 bei Freunden aus römisch 40 ihren Familien.

F.: Reisten Sie schlepperunterstützt nach Österreich ein?

A.: Ja.

F.: Wie hoch war Ihr Monatseinkommen?

A.: Ich habe nichts verdient, ich habe nur meiner Mutter geholfen.

F.: Wie viel kostete die Schleppung insgesamt?

A.: Ich weiß es nicht, mein Onkel hat es mit dem Schlepper ausgemacht.

F.: Woher haben Sie das Geld?

A.: Mein Onkel hat die Reise finanziert.

F.: Warum war Österreich das Ziel Ihrer Reise? A.: Als ich hier kam wurde ich von der Polizei angehalten. Mehr wusste ich damals nicht.

F.: Geben Sie chronologisch und lückenlos die Aufenthaltsorte der letzten drei Jahre in Ihrer Heimat an.

A.: römisch 40 (5 Tage) – römisch 40 (2 Monate und 10 Tage)

F.: Haben Sie den von ihnen angegebenen Familiennamen in ihrem Herkunftsstaat auch schon geführt?

A.: Ja

F: Verfügen Sie über ein Aufenthaltsrecht in einem anderen EU-Land oder in einem anderen Land als Somalia?

A: Nein

F.: Sind Sie ein religiöser Mensch?

A.: Ja

F.: Wann war Ihr letzter Moschee Besuch?

A.: Letzten Freitag, in römisch 40

F.: Wie geht es Ihnen mit der Vielfalt in Österreich?

A.: Ich bin froh, dass ich hier bin und ich bin zufrieden.

F: Beantworten Sie die nachstehenden Fragen mit „Ja“ oder „Nein“. Sie haben später noch die Gelegenheit, sich ausführlich zu diesen Fragen zu äußern:

F: Sind Sie in Ihrem Heimatland oder in einem anderen Land vorbestraft, waren Sie in Ihrem Heimatland inhaftiert oder hatten Sie Probleme mit den Behörden in der Heimat?

A: Nein, aber ich war einmal bei Al Shabaab (AS) im Gefängnis.

F: Bestehen gegen Sie aktuelle staatliche Fahndungsmaßnahmen wie Haftbefehl, Strafanzeige, Steckbrief, etc.?

A: Nein

F: Sind oder waren Sie politisch tätig?

A: Nein

F: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei?

A: Nein

F: Hatten Sie in ihrem Herkunftsstaat aufgrund Ihres Religionsbekenntnisses bzw. Ihrer Volksgruppen- bzw. Clanzugehörigkeit irgendwelche Probleme?

A: Nein.

F: Hatten Sie gröbere Probleme mit Privatpersonen (Blutfehden, Racheakte etc.)?

A: Nein, nur AS.

F: Nahmen Sie in Ihrem Heimatland an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teil?

A: Nein

F: Hatten Sie Kontakt zu Islamisten oder anderen extremistischen Gruppierungen?

A: Nein

F: Schildern Sie die Gründe, warum Sie Ihr Heimatland verlassen und einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, von sich aus vollständig, detailliert und wahrheitsgemäß. Sie werden darauf hingewiesen, dass falsche Angaben die Glaubwürdigkeit Ihres Vorbringens beeinträchtigen können. Soweit Sie auf Ereignisse Bezug nehmen, werden Sie auch aufgefordert, den Ort und die Zeit zu nennen, wann diese stattfanden und die Personen, die daran beteiligt waren. Sie haben jetzt auch Gelegenheit, sich zu den Fragen, die von ihnen mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet wurden, zu äußern.

A: Ich war jemand, der mit seiner Familie lebt. Ich habe in römisch 40 gelebt. AS hat diese Gegend kontrolliert. Sie sagten mir, ich soll für sie arbeiten und ein Teil von ihnen werden. Ich habe das abgelehnt. Tage später haben sie mich zuhause attackiert und haben mich geschlagen und mit Zwang mitgenommen. Sie brachten mich zu ihrem Revier. Ich war dort 6 Tage gefangen. Während der 6 Tage kam jeden Tag ein Mann mit Bart und sagte, dass sie mir jedes Geld geben würden, was ich brauche. Er spricht nicht nur mit mir allein, sondern es waren auch andere Jugendliche aus dem Dorf dabei. Wir lehnten das ab und danach wurden wir geschlagen und mit Wasser begossen. Nach den 6 Tagen sagte der Mann, dass wir jetzt 3 Tage hätten zum Überlegen, ansonsten würden wir umgebracht werden. Während dieser Tage sind wir ausgebrochen, wir sind über die Wand geklettert. So sind wir ausgebrochen und nach römisch 40 gegangen. Wir waren 2 Tage unterwegs dorthin zu Fuß. Die anderen Jugendlichen hatten Verwandte dort und von dort aus kontaktierte ich meine Mutter und teilte mit, dass ich von der AS fliehen konnte. Meine Mutter kam zu mir nach römisch 40 und hatte Geld für mich besorgt. Ich bin mit einem Flieger von dort nach römisch 40 geflogen, da es am Landweg nicht möglich war. Ich kam nach römisch 40 zum Onkel ms. Ich war beim Onkel. Eine Woche später wurde ich in römisch 40 nochmals attackiert. Dann meinte der Onkel, dass ich nicht weiter hierbleiben konnte und war dann beim Schlepper in römisch 40 . Dort war ich, bis ich die Unterlagen für die Ausreise hatte. So kam ich am römisch 40 in die Türkei.

F: Gibt es noch weitere Gründe, weshalb Sie Somalia verlassen haben?

A: Nein

F: Was konkret würde passieren, wenn Sie nach Somalia zurückkehren?

A: Das Problem ist nach wie vor da. Ich habe Angst, ich kann nicht zurückgehen.

Nachgefragt: Ich habe von AS Angst.

F.: Haben Sie Verwandte in Österreich?

A.: Nein

F.: Besuchen Sie in Österreich Kurse, eine Schule oder die Universität?

A.: JA ich besuche Deutschkurse.

F: Wie sind Ihre Deutschkenntnisse? Haben Sie Prüfungen abgelegt?

A: Eine Prüfung war negativ. Ich kann etwas nachfragen, es geht.

Anmerkung: AW verfasst einfache Sätze, der Ausbildung entsprechend römisch 40

F.: Wie finanzieren Sie sich den Aufenthalt in Österreich?

A.: Ich lebe von der Grundversorgung

F.: Sind Sie derzeit berufstätig?

A.: Ich arbeite nicht.

F.: Haben Sie sich beim AMS um eine Arbeitsbewilligung bemüht?

A.: Nein, ich möchte zuerst die Sprache lernen.

F.: Wie sieht Ihr Alltag in Österreich aus?

A.: Ich besuche den Kurs, drei Tage, mache Hausaufgaben zuhause und spiele Fußball mit Leuten aus der Unterkunft.

F.: Haben Sie in Österreich Freunde bzw. Bekannte (Name, Staatszugehörigkeit)?

A.: Ja, Freunde vom Fußballspielen.

F: Haben Sie in Österreich eine Beziehung?

A: Nein

F.: Sind Sie in irgendwelchen Vereinen oder ehrenamtlich tätig?

A.: Nein

F.: Welche Integrationsschritte haben Sie seit Ihrer Einreise nach Österreich gesetzt?

A.: Ich besuche Deutschkurse und römisch 40 Sprachcafe und spiele Fußball.

F.: Verfügen Sie über Vermögen oder sonstige Werte?

A.: Nein

F: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht verurteilt bzw. kamen Sie mit dem Gesetz in Konflikt?

A: Nein

F: Haben Sie den Dolmetscher während der gesamten Einvernahme einwandfrei verstanden?

A: Ja

Dem AW wird mitgeteilt, dass den Behörden die Lage in Somalia bekannt ist. Der AW kann das Länderinformationsblatt auf seinen Wunsch hin ausgehändigt bekommen und innerhalb von 2 Wochen Stellung darüber beziehen. AW verzichtet auf die Ausfolgung und die Stellungnahme.

F: Es wird Ihnen nunmehr die Niederschrift rückübersetzt und Sie haben danach die Möglichkeit noch etwas richtig zu stellen oder hinzuzufügen.

Anmerkung: Die Niederschrift wird wortwörtlich rückübersetzt.

F: Wurde Ihre Einvernahme richtig und vollständig protokolliert? Falls nein, welche Einwände haben Sie?

A: Ja, aber ich war die 15 Tage in römisch 40 bei meinem Onkel ms.

F: Möchten Sie eine Pause machen?

A: Nein

F.: Haben Sie die Übergriffe auf Sie und Ihre Familie bei den Behörden (Polizei) in Ihrer Heimat angezeigt?

A.: Nein, unsere Region wird von diesen Männern kontrolliert.

F.: Wieso nicht in römisch 40 ?

A.: In römisch 40 war ich bei meinem Onkel, über anzeigen wusste ich nicht Bescheid.

F: Weswegen haben Sie nichts von der Entführung der AS bei der Erstbefragung angegeben?

A: Mir wurde gesagt, dass ich es bei der nächsten Befragung mehr ausführen kann.

F.: Haben Sie sonst eine etwaige Hilfe in Ihrer Heimat in Anspruch genommen?

A.: Nein

F.: Wieso wurden gerade Sie von der Al-Shabaab bedroht und angegriffen?

A.: Ich weiß es nicht. Wir waren Jugendliche, sie brauchen keinen Grund und sie nehmen jeden den sie brauchen.

F.: Wie wurden Sie bedroht?

A.: Wenn ich ihren Befehlen nicht folge, würden sie mich umbringen.

F.: Wurden Sie auch persönlich bedroht?

A.: Ja, nachgefragt: in römisch 40 zuhause.

F.: Wie oft kam es zu diesen Angriffen auf Ihre Person?

A.: Es gibt Bedrohungen von früher, aber das letzte Mal haben sie mich dann mitgenommen.

F.: Wann wurden Sie von der Al-Shabaab entführt?

A.: römisch 40 , nachgefragt: ich vergesse es nicht, da mir an dem Tag viel angetan wurde.

F.: Beschreiben Sie mir den genauen Ablauf Ihrer Entführung.

A.: Sie haben uns in der Nacht attackiert. Die Tür wurde aufgebrochen. Sie kamen ins Zimmer und haben mich mit einer Taschenlampe angeleuchtet. Ich habe geschrien, meine Mutter ist auch aufgestanden. Meine Mutter hielt sich an mir fest. Sie haben meine Mutter von mir getrennt, sie haben mich geschlagen und mich mitgenommen. So haben sie mich mitgenommen und zu ihrem Revier gebracht.

F.: Wo wurden Sie gefangen gehalten?

A.: Das war außerhalb römisch 40 , außerhalb unseres Dorfes. Nachgefragt: Ich kenne die Gegend, ich bin dort aufgewachsen. Ich kannte es vorher nicht, aber als ich von dort ausgebrochen bin, weiß ich es jetzt.

F.: Gab es Mitgefangene?

A.: Ja, andere Jugendliche aus unserem Dorf. Nachgefragt: Nein das ist alles. Wir waren über 10 Jugendliche. Ein Teil konnte weglaufen und der andere Teil ist zurückgeblieben.

F.: Beschreiben Sie den Alltag während Ihrer Gefangenschaft.

A.: Wir wurden geschlagen, wir hatten nicht genügend zu essen. Es war sehr schwierig.

F: Schildern Sie Details zur Gefangenschaft!

A: Ich war insgesamt 6 Tage dort. Sie haben uns alle geschlagen, je älter man ist, desto mehr wurde geschlagen. Ich wurde mit dem hinteren Teil des Gewehrs geschlagen, sie trampelten auf mich. Wir waren sehr schwach. Wenn man nicht mehr reagierte, wurden wir mit Wasser begossen. Wir bekamen zu wenig zu essen. Wir waren über 10 Jugendliche. Das war alles.

F.: Beschreiben Sie den Raum, in dem Sie gefangen gehalten wurden.

A.: Der Raum war dunkel. Wenn sie hineinkommen, hatten sie immer eine

Taschenlampe. Sie nahmen einen nach dem anderen. Man wurde nach draußen gebracht und wenn man zurückkommt, war jeder verletzt.

Anmerkungen: AW erzählt total emotionslos.

F: Wie viele Jugendliche waren in Ihrer Zelle?

A: Wir waren über 10, ich kann es nicht genau sagen.

F: Wer war alles inhaftiert, kannten sie jemanden?

A: Ein paar Jugendliche aus meinem Dorf kannte ich. Nachgefragt: Die Jugendlichen aus meinem Dorf meine Freunde.

F: Wie heißen die Jugendlichen, mit welchen sie in Haft waren?

A: AW denkt nach … römisch 40 . Nachgefragt: Ich weiß nicht aus welchem Clan sie sind.

F: Das sind doch Ihre Freunde?

A: Wir haben uns nicht über den Clan unterhalten.

F.: Beschreiben Sie, was Sie für die Al-Shabaab tun hätten sollen.

A.: Dass ich für sie arbeite als Soldat für AS.

F.: Warum wollte die Al-Shabaab genau Sie?

A.: Sie haben nicht nur mich ausgesucht und auch viele andere Jugendliche aus der Region auch.

F: Weshalb ist die AS in der Nacht gekommen?

A: Ich weiß es nicht. Sie kommen in der Nacht und nehmen zwangsweise jemanden mit. Nachts gibt es weniger Widerstand, obwohl sie die Region kontrollieren.

F.: Beschreiben Sie genau Ihre Flucht aus dem Gefängnis, wann war diese?

A.: Nach 6 Tagen haben wir 3 Tage Bedenkzeit bekommen. Während der Zeit bin aufgebrochen, indem ich über die Wand kletterte. Und wir sind weggelaufen.

F: Schildern Sie Details zu Ihrer Flucht aus dem Gefängnis der AS!

A: Ich habe andere ältere Jugendliche gesehen, welche auf die Wand klettern und so fliehen und so habe ich es auch getan.

F: Wann haben diese älteren Jugendliche gesehen?

A: Wir waren gemeinsam dort eingesperrt.

F: Wer waren diese älteren Jugendliche?

A: Das waren auch Jugendliche aus der Gegend, welche auch von der AS gefangen gehalten wurden.

F: Wann konnten Sie fliehen?

A: Ich bin am römisch 40 mitgenommen worden. Sechs Tage war ich da und das muss dann am römisch 40 gewesen sein. Nachgefragt: Die Uhrzeit weiß ich nicht genau.

F: Wann konnten Sie fliehen?

A: Das war in der Früh, kurz vor Sonnenaufgang. Wir waren ca. eine Stunde unterwegs und dann ist es hell geworden.

F: Wie sollte das funktionieren, wenn das Morgengebet um diese Zeit beginnt?

A: Sie sind zum Gebet gegangen, wir nicht.

F: Wurden Sie von der AS aufgefordert zu beten?

A: Nein, weil sie glaubten, dass wir fliehen konnten.

F: Wie hoch war die Mauer?

A: Ich kann es nicht einschätzen, die Mauer war relativ hoch. Nachgefragt: Ich weiß nur, dass ich darüber gesprungen bin, ich mehr weiß ich dazu nicht.

Anmerkung: AW werden Vergleichshöhen gezeigt: Raumhöhe des Einvernahmeraumes (3,20m), Höhe eines Bildes (2m), Tischhöhe (80 cm). AW will hierzu keine Angaben machen,

F.: Sollen Ihre Brüder, ebenfalls für die Al-Shabaab arbeiten?

A.: Nein, nur ich bin gesucht. Nachgefragt: Meine Brüder sind 8 und 12 Jahre alt.

F.: Wie geht es jetzt Ihrer Familie in der Heimat? Ist sie von Sanktionen durch die al-Shabaab wegen Ihrer Flucht betroffen?

A.: Als ich in Griechenland war, erfuhr ich, dass 2 Schwestern zwangsverheiratet wurden. Dass die restliche Familie in römisch 40 ist. Das habe ich von meinem Onkel erfahren. Nachgefragt: Ich habe auf social media gesehen, dass es ein Hochwasser in römisch 40 gibt.

F: Schildern Sie Details zu der Attacke in römisch 40 ?

A: Als ich in römisch 40 ankam, sagte mein Onkel, dass diese Männer mich weitersuchen werden und keine Frieden geben werden. Ich war vor der Haustür meines Onkels, zwei Männer mit TukTuk sind zu mir gekommen. Sie wollten mich mitnehmen und ich habe laut geschrien. Es wurden viele Menschen aufmerksam und die Männer sind mit ihrem TukTuk weggefahren. Danach brachte mich mein Onkel zum Schlepper.

F.: Somalia ist ein großes Land. Es ist ca. 7,5Mal so groß wie Österreich. Haben Sie nie darüber nachgedacht, in einem anderen Teil Ihrer Heimat, zum Beispiel Puntland, neu anzufangen?

A.: Nein, nur in römisch 40 hatte ich meinen Onkel, sonst kenne ich niemanden.

F: Weshalb können Sie nicht bei Ihrem Onkel ms in römisch 40 leben?

A: als ich 15 Tage dort war, wurde ich attackiert. Nachgefragt: Es ist gefährlich, ich habe Angst. Mein Onkel organisierte einen Schlepper, damit ich fliehen kann.

F: Ich beende jetzt die Befragung. Hatten Sie Gelegenheit alles vorzubringen, was Ihnen wichtig erscheint?

A: Ja.

F: Haben Sie den Dolmetscher während der gesamten Einvernahme einwandfrei verstanden?

A: Ja

F: Es wird Ihnen nunmehr die Niederschrift rückübersetzt und Sie haben danach dieMöglichkeit noch etwas richtig zu stellen oder hinzuzufügen. Anmerkung: Die Niederschrift wird wortwörtlich rückübersetzt.

F: Wurde Ihre Einvernahme richtig und vollständig protokolliert? Falls nein, welche Einwände haben Sie?

A: Ja

(…)“

3. Mit Bescheid des Bundesamtes vom römisch 40 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch eins.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wurde dem BF gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.) und gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.). Die Abschiebung nach Somalia wurde gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG für zulässig erklärt (Spruchpunkt römisch fünf.) und gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt römisch VI.).

Begründend wurde betreffend die Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates des BF im Wesentlichen ausgeführt, dass er eine Verfolgung durch Al Shabaab nicht glaubhaft und in sich schlüssig dazulegen vermochte. Da Al Shabaab die Heimatregion des BF kontrolliere sei es unplausibel, dass sie den BF nachts geholt hätten und nicht untertags. Dies entspreche auch nicht den Länderinformationen. Zudem sei der BF einerseits mit Zwang festgenommen worden, andererseits wären drei Jugendliche aus dem Dorf des BF in Gewahrsame gewesen. Es sei nicht davon auszugehen, dass der BF mit diesen in Gefangenschaft gewesen sei. Außerdem habe der BF keine Details zu seiner Gefangenschaft geschildert. Es entspreche auch nicht den Länderinformationen, dass die Jugendlichen mit gewaltsamen Drohungen und nicht durch Überzeugungsarbeit zur Radikalisierung bewegt werden sollten. Auch eine Flucht habe der BF nicht glaubhaft dargelegt, zumal es ebenso an Details fehle und diese aber auch nicht nachvollziehbar sei. Auch der Entführungsversuch in römisch 40 mit einem Tuktuk sei nicht glaubhaft. Es sei der Eindruck entstanden, dass sich der BF eines auf die Erlangung von Asyl ausgerichteten Konstruktes bediene. Weiters würde aufgrund seiner Clanzugehörigkeit auf die Länderinformationen verwiesen, nach welchen sich die Situation gebessert habe. Auch aus seinen übrigen Ausführungen seien keine etwaigen Verfolgungsszenarien erkennbar gewesen. Begründend wurde betreffend die Feststellungen zur Situation im Fall seiner Rückkehr angeführt, dass angesichts seines unglaubhaften Vorbringens keine Gefährdung ersichtlich sei. Zudem hätten sich im Ermittlungsverfahren auch keine Hinweise darauf ergeben, dass er im Falle seiner Rückkehr in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht sei. Er könne sich in seiner Heimat niederlassen, wo sich auch seine Kernfamilie aufhalte und somit finanzieller und sozialer Rückhalt gegeben sei. Außerdem besitze sein Onkel ein Haus in römisch 40 . Ferner sei der BF jung, gesund und arbeitsfähig und weise Schulbildung sowie Arbeitserfahrung vor. Er könne auch auf die Unterstützung durch seine Familie und seinen Clan zählen. Es sei daher nicht davon auszugehen, dass er in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würde. Auch wenn die allgemeine Sicherheitssituation in Somalia wegen Al Shabaab bedrohlich sei, so könne er sich in der relativ sicheren Gegend von römisch 40 zurückkehren. Die Stadt sei auch über einen internationalen Flughafen sicher zu erreichen. Er könne auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen vergleiche AS 57ff).

5. Mit fristgerechter Beschwerde vom römisch 40 wurde dieser Bescheid in vollem Umfang vom BF im Wege seiner nunmehrigen Rechtsvertretung angefochten. Nach einer Kurzdarstellung des Sachverhaltes und Verfahrensganges verwies der Beschwerdeführer darauf, dass Verfahrensvorschriften durch ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren und mangelhafte Länderfeststellungen verletzt worden seien. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und würden sich kaum mit dem Fluchtvorbringen des BF befassen, weshalb sie auch zur Begründung der Abweisung des Antrages unzureichend seien. Die Boon würden in den Länderberichten nicht einmal vorkommen, wobei auch zu den Gabooye, zu welchen die Boon gehören würden nur wenige allgemeine Aussagen enthalten wären. Mit Verweis auf diverse Berichte hätte das Bundesamt zu dem Ergebnis kommen müssen, dass den Gabooye Verfolgung bis hin zu Verfolgung drohe. Betreffend die Versorgungslage werde auf die im angefochtenen Bescheid enthaltenen Berichte verwiesen. Auch die Feststellungen seien mangelhaft, da der Subclan nicht wie im Bescheid angegeben römisch 40 , sondern römisch 40 sei. Hierbei müsse es sich um ein Missverständnis bei der Übersetzung gehandelt haben.

Dass der BF über Arbeitserfahrung verfüge sei aktenwidrig, da aus der Einvernahme klar hervorgehe, dass er nie gearbeitet habe. Außerdem sei auch die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides mangelhaft. Denn der BF habe sein Vorbringen sehr detailliert und lebensnah gestaltet und über die drohende Verfolgung frei gesprochen. Mangels Abgleichs mit den einschlägigen Länderberichten könnten keine Aussagen zur Plausibilität des Fluchtvorbringens getroffen werden. Al Shabaab würde sich zudem untertags als Friedensbringer darstellen, nachts dann aber Gewalt ausüben. Die Jugendlichen wären in Gefangenschaft nicht zum Beten gezwungen worden, da Al Shabaab befürchtet habe, dass dies zur Flucht genutzt werde. Zum Entführungsversuch in römisch 40 brachte der BF vor, dass Al Shabaab dort aggressiver agieren würde. Er habe auch die Umstände der Gefangenschaft ausreichend detailliert geschildert, wie er in der Beschwerde näher ausführte, aufgrund der traumatisierenden Gefangenschaft habe er aber viel vergessen und verdrängt. Die Widersprüche der Behörde würden konstruiert und willkürlich erscheinen vergleiche AS 137ff).

6. Am römisch 40 langte die Beschwerdevorlage beim Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) ein vergleiche OZ 1).

7. Am römisch 40 fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt. Diese erfolgte unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Somalisch sowie in Anwesenheit der Vertretung des BF. Das Bundesamt ist entschuldigt nicht erschienen.

Die Verhandlung nahm im Wesentlichen folgenden Verlauf vergleiche OZ 7):
„(…)

R: Was ist Ihre Muttersprache?

BF: Meine Muttersprache ist Somalisch.

R an den Dolmetscher: In welcher Sprache übersetzen Sie für den Beschwerdeführer?

D: Somalisch.

R befragt den Beschwerdeführer, ob er den Dolmetscher gut verstehe, dies wird bejaht.

R befragt den Beschwerdeführer, ob dieser geistig und körperlich in der Lage ist der heutigen Verhandlung zu folgen bzw. ob irgendwelche Hindernisgründe vorliegen. Nun wird der Beschwerdeführer befragt, ob er gesund ist oder ob bei ihm (Krankheiten) und /oder Leiden vorliegen. Diese Fragen werden vom Beschwerdeführer dahingehend beantwortet, dass keine Hindernisgründe oder chronische Krankheiten und Leiden vorliegen. Der Beschwerdeführer ist in der Lage der Verhandlung in vollem Umfang zu folgen.

BF gibt an, dass er gesund ist und keine Medikamente nimmt.

Dem Beschwerdeführer wird dargelegt, dass er am Verfahren entsprechend mitzuwirken hat bzw. auf die Fragen wahrheitsgemäß zu antworten hat. Andernfalls dies sich entsprechend im Erkenntnis im Bundesverwaltungsgerichtes auswirken würde.

R: Haben Sie noch neue Beweismittel, die Sie beim BFA oder bzw. bei der Polizei noch nicht vorgelegt haben?

BF: Ich habe noch Bestätigungen vom Deutschkurs. Nachgefragt: Ja, ich habe eine Prüfung gemacht, aber nicht bestanden.

BF legt vor:

●             Teilnahmebestätigung vom römisch 40 , welche als Beilage ./A in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Teilnahmebestätigung vom römisch 40 , welche als Beilage ./B in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Teilnahmebestätigung vom römisch 40 , welche als Beilage./ C in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Ergebnismitteilung zur Prüfung römisch 40 , Zertifikat römisch 40 vom römisch 40 , welche als Beilage./ D in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Teilnahmebestätigung am Kurs römisch 40 , welche als Beilage ./E in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Ein Referentschreiben vom römisch 40 , welche als Beilage ./F in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Besuchsbestätigung Deutsch römisch 40 vom römisch 40 , welche als Beilage ./G in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Besuchsbestätigung Deutsch römisch 40 vom römisch 40 , welche als Beilage ./H in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Besuchsbestätigung römisch 40 vom römisch 40 , welche als Beilage ./I in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Besuchsbestätigung römisch 40 vom römisch 40 , welche als Beilage ./J in Kopie zum Akt genommen wird.

●             Besuchsbestätigung der Teilnahme in römisch 40 , welche als Beilage ./K in Kopie zum Akt genommen wird.

Eröffnung des Beweisverfahrens

Zum bisherigen Verfahren:

Die Partei verzichtet ausdrücklich auf die Verlesung des Akteninhaltes (vorgelegter Verwaltungsakt des BFA und Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes), dieser wird jedoch vom R der Reihe nach erläutert und zur Akteneinsicht angeboten.

Die Partei verzichtet auf eine Akteneinsicht.

R erklärt diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift.

R weist Beschwerdeführer auf die Bedeutung dieser Verhandlung hin. Der Beschwerdeführer wird aufgefordert nur wahrheitsgemäße Angaben zu machen und belehrt, dass unrichtige Angaben bei der Entscheidungsfindung im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen sind. Ebenso wird auf die Verpflichtung zur Mitwirkung einer Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes hingewiesen und dass auch mangelnde Mitwirkung bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen ist.

Beginn der Befragung:

R: Wie ist Ihr Name, wann und wo sind Sie geboren?

BF: Ich heiße römisch 40 , bin am römisch 40 in der Provinz römisch 40 , im Dorf römisch 40 geboren.

R: Bleiben Sie bei den Angaben, die Sie bei der Polizei am römisch 40 , bzw. beim BFA am römisch 40 gemacht haben und halten Sie diese Angaben weiterhin aufrecht bzw. sind diese richtig?

BF: Ja.

R: Wo haben Sie sich von Ihrer Geburt an, bis zu Ihrer Ausreise aus Somalia, aufgehalten? Bitte geben Sie chronologisch an, in welchen Zeiträumen Sie sich in welchen Dörfern, Orten und Städten aufgehalten haben.

BF: Von meiner Geburt bis am römisch 40 , war ich in meinem Heimatdorf. Dann bin ich nach römisch 40 gegangen. Dann bin ich von dort nach römisch 40 gegangen. In römisch 40 war ich nur ein paar Tage, dann bin ich weiter nach römisch 40 . Nachgefragt: In römisch 40 habe ich mich 2 Monate lang aufgehalten.

R: Bei wem haben Sie sich 2 Monate in römisch 40 aufgehalten?

BF: Bei meinem Onkel ms. Teilweise war ich bei meinem Onkel und teilweise beim Schlepper.

R: Was heißt das konkret?

BF: Eine Woche war ich bei meinem Onkel ms. Dort hatte ich ein Problem, weil wir uns dort nicht sicher gefühlt haben. Mein Onkel hat mich zu diesem Schlepperhaus gebracht. Nachgefragt: Im Schlepperhaus habe ich mich 1,5 Monate lang aufgehalten.

R: Wie weit ist der Schlepper von Ihrem Onkel entfernt?

BF: Die lagen beide in zwei verschiedenen Bezirken.

R: Wie bestreitet Ihr Onkel seinen Lebensunterhalt?

BF: Er war Lehrer an einer Schule. Nachgefragt: Ich weiß nicht, an welcher Schule er unterrichtet hat.

R: Welche Fächer hat er unterrichtet?

BF: Das weiß ich auch nicht.

R: Welches Verhältnis haben Sie zu dem Onkel, der in römisch 40 lebt?

BF: Ich habe ihn erst in römisch 40 gesehen.

R wiederholt die Frage.

BF: Es war sehr gut.

R: Wurden Sie von Ihrem Onkel gut versorgt?

BF: Ja.

R: Wie viele Geschwister hat Ihre Mutter?

BF: Meine Mutter hat nur einen Bruder. Er war der Einzige.

R: Wie viele Geschwister hat Ihr Vater?

BF: Er ist Einzelkind.

R: Welchen Clan gehört Ihr Onkel ms an?

BF: Boon.

R: Ihre Mutter?

BF: Sie gehört auch dem gleichen Stamm an.

R: Welchem Stamm gehören Sie an?

BF: Auch Boon.

R: Mit wem haben Sie an der von Ihnen zuerst genannten Heimatadresse gelebt?

BF: Mit meinen Geschwistern und meiner Mutter. Ich habe 4 Schwestern und 2 Brüder.

R: Wie heißen Ihre beiden Brüder?

BF: römisch 40 und römisch 40 . Nachgefragt: Ich weiß nicht, wie alt die beiden sind.

R: Sind die älter oder jünger als Sie?

BF: Jünger. Nachgefragt: römisch 40 ist der Jüngste. Ich bin der Älteste. römisch 40 ist in der Mitte. Zwischen mir und römisch 40 sind noch 2 Schwestern.

R: Um wie viele Jahre ist römisch 40 jünger als Sie?

BF: Er ist 11 Jahre jünger als ich. Wie viele Jahre römisch 40 jünger als ich ist, weiß ich nicht.

R: Wie geht es Ihren Familienangehörigen?

BF: Ich weiß nicht, wie es ihnen geht. Seit 2 Jahren habe ich keinen Kontakt zu ihnen.

R: Wann hatten Sie den letzten Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?

BF: Ich hatte keinen direkten Kontakt zu meiner Familie, sondern zu meinem Onkel ms. Ich war damals in Griechenland.

R: Wann hatten Sie den letzten Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?

BF: Letzter Kontakt war, als ich römisch 40 verlassen habe.

R: Haben Sie in der Zwischenzeit versucht, mit Ihren Familienangehörigen Kontakt aufzunehmen?

BF: Nein.

R: Warum nicht?

BF: Ich wusste nicht, wie ich diese kontaktieren kann.

R: Wie lange sind Sie schon in Ö?

BF: 2 Jahre und 1 Monat.

R: Haben Sie in dieser Zeit versucht über den römisch 40 oder das römisch 40 Kontakt zu Ihren Familienangehörigen herzustellen?

BF: Nein.

R: Leben in Ö Clanangehörige von Ihnen?

BF: Das weiß ich nicht. Ich habe bis jetzt niemanden gesehen.

R: Haben Sie versucht mit solchen Personen in Ö Kontakt aufzunehmen?

BF: Nein.

R: Welche Schul- und Berufsausbildung haben Sie?

BF: Ich habe eine Koranschule besucht. Nachgefragt: 2 Jahre.

R: In welchem Zeitraum?

BF: Ich war ein kleines Kind.

R: Wie alt waren Sie da?

BF: Mit 8 Jahren habe ich angefangen die Schule zu besuchen.

R: Wie haben Sie Ihren Lebensunterhalt bestritten?

BF: Meine Mutter hat uns versorgt. Sie hat Lebensmittel, Gemüse, verkauft.

R: Hat Ihre Mutter Gemüse angebaut?

BF: Nein, sie fuhr nach römisch 40 , hat dort dann die Ware gekauft und dort wieder weiterverkauft.

R: Haben Sie zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen?

BF: Nein.

R: Was haben Sie den ganzen Tag gemacht, wenn Sie nicht in die Schule gegangen sind?

BF: Ich habe meiner Mutter bei der Arbeit geholfen. Manchmal ging ich für sie etwas einkaufen oder ich habe etwas für unser Haus bei Bedarf gekauft.

R: Wo sind Sie da einkaufen gegangen?

BF: Ich ging ab und zu auch zu einem Wasserbrunnen und holte dort Wasser für meine Geschwister ab.

R: Von wem wurde das Gebiet, in dem Sie gelebt haben, beherrscht?

BF: Al Shabaab.

R: Sind Sie mit Hilfe eines Schleppers aus Somalia ausgereist?

BF: Ja.

R: Haben Sie dem Schlepper für die Ausreise aus Somalia Geld zahlen müssen?

BF: Ja, mein Onkel hat das Geld bezahlt.

R: Warum hat Ihr Onkel das Geld für Sie gezahlt?

BF: Meine Mutter hatte kein Geld, deswegen hat mein Onkel das für mich bezahlt.

R: Wie hoch war der Betrag, den Ihr Onkel an die Schlepper bezahlen musste?

BF: Das weiß ich nicht. Mein Onkel hatte direkten Kontakt zu diesem Schlepper.

R: Woher hatte Ihr Onkel das Geld für den Schlepper?

BF: Er hat als Lehrer an einer Schule gearbeitet und wahrscheinlich hatte er das Geld von seinem Einkommen gezahlt.

R: Wie lange übt Ihr Onkel diese Tätigkeit als Lehrer in römisch 40 aus?

BF: Das weiß ich nicht.

R: Seit wann lebt Ihr Onkel dort?

BF: Schon längere Zeit, aber ich weiß nicht wie lange.

R: Hat Ihr Onkel zuvor auch in römisch 40 gelebt?

BF: Ja, früher hat er dort gelebt.

R: Wo bzw. bei wem haben Sie sich in römisch 40 aufgehalten?

BF: Als ich dieses Problem hatte, bin ich mit ein paar Jugendlichen aus meinem Dorf nach römisch 40 geflüchtet. Bei deren Familie habe ich gelebt. Nachgefragt: Ich weiß nicht bei wem ich genau gelebt habe. Aber ich weiß, dass es Verwandte von einem meiner Freunde waren.

R: Hatten Sie in Somalia einen großen Freundeskreis?

BF: Ja, in unserem Heimatdorf hatte ich viele Freunde.

R: Wie hat der Freund geheißen, bei dessen Verwandten Sie in römisch 40 gelebt haben?

BF: römisch 40 . Nachgefragt: Seinen Nachnamen weiß ich nicht.

R: Welchen Clan hat römisch 40 angehört?

BF: Dem gleichen Stamm.

R: Wo ist römisch 40 verblieben?

BF: Ich weiß es nicht.

R: Ist er mit Ihnen nach römisch 40 ?

BF: Nein.

R: Ist er in römisch 40 verblieben?

BF: Ja, er war noch dort, als ich römisch 40 verlassen habe.

R: Wie lange haben Sie sich in römisch 40 aufgehalten?

BF: Ein paar Tage. Nachgefragt: Weniger als eine Woche.

R: Ist es in römisch 40 Ihnen gegenüber zu irgendwelchen Vorfällen gekommen?

BF: Nein, ich war in einem Haus.

R: Sind Sie in diesem Haus aufgesucht worden?

BF: Nein.

R: Waren Sie gemeinsam mit Ihrem Freund römisch 40 in diesem Haus?

BF: Ja.

R: Warum sind Sie nicht mit Ihrem Freund in römisch 40 verblieben?

BF: Als wir ein paar Tage dort aufhältig waren, hörten wir, dass man uns sucht. Dann bin ich nach römisch 40 geflogen.

R: Warum ist Ihr Freund römisch 40 in römisch 40 verblieben, wenn Sie gehört haben, dass nach Ihnen gesucht wird?

BF: Seine Familie hatte wahrscheinlich etwas mit ihm vor.

R: Haben Sie mit römisch 40 bzw. seiner Familie gesprochen, was sie tun können, nachdem sie erfahren haben, dass nach Ihnen gesucht werden würde?

BF: Nein.

R: Von wem haben Sie erfahren, dass nach Ihnen und römisch 40 gesucht werden würde?

BF: Das habe ich im Familienkreis, wo wir gewohnt haben, gehört.

R: Am wievielten Tag Ihres Aufenthaltes in römisch 40 haben Sie davon erfahren?

BF: Ca. 1 Woche.

R: Wer hat nach Ihnen und römisch 40 gesucht?

BF: Al Shabaab.

R: Wie weit ist römisch 40 von Ihrem Heimatdorf entfernt?

BF: Ca. 40 km.

R: Haben Sie bzw. mit römisch 40 Vorkehrungen getroffen, für den Fall, dass Sie in römisch 40 von Al Shabaab Männern aufgesucht werden würden?

BF: Bevor das passierte, hat meine Mutter mich nach römisch 40 geschickt.

R wiederholt die Frage.

BF: Nein. Nachgefragt: Ich wollte nicht mit Al Shabaab zusammenarbeiten. Ich hatte Angst vor ihnen.

R: Wenn Sie Angst vor Al Shabaab gehabt haben, warum haben Sie keine Vorkehrungen getroffen, für den Fall, dass Sie von den Männern der Al Shabaab in römisch 40 aufgesucht werden würden?

BF: Ich habe nur beschlossen, dass ich von römisch 40 nach römisch 40 gehen werde.

R: Wann haben Sie diesen Entschluss gefasst?

BF: Das hat meine Mutter entschieden. Sie hat mich dann dort hingeschickt.

R: Wären Sie nach römisch 40 auch gegangen, wenn Ihre Mutter das nicht entschieden hätte?

BF: Ja.

R: Warum haben Sie dann auf den Entschluss Ihrer Mutter gewartet?

BF: Ich habe auf sie warten müssen, weil ich kein Geld hatte. Sie hat das Geld von römisch 40 nach römisch 40 gezahlt.

R: Am wievielten Tag Ihres Aufenthaltes in römisch 40 war das?

BF: Ich war ca. eine Woche dort.

R: Von wem wird das Gebiet in römisch 40 beherrscht?

BF: Von der Regierung.

R: Warum sind Sie dann nicht länger in römisch 40 verblieben?

BF: Ich kenne mich in römisch 40 nicht gut aus. Ich war nur ein paar Mal für einige Tage zuvor in römisch 40 . Ich weiß nicht, wo die Regierung ist und was die Regierung dort macht

R: Haben Sie sich in römisch 40 sicher gefühlt?

BF: Ich war nie draußen. Meistens war ich in einem Zimmer.

R wiederholt die Frage.

BF: Nein, ich hatte immer Angst um mein Leben.

R: Von Beginn an?

BF: Während ich dort war. Ja, von Beginn an, bis ich das Land verlasse habe.

R: Warum sind Sie dann nicht gleich nach römisch 40 geflüchtet?

BF: Ich wusste nicht, wie man nach römisch 40 kommt.

R: Wie sind Sie dann nach römisch 40 gekommen?

BF: Mit einem Flugzeug.

R: Von welchem Flughafen sind Sie da weggeflogen?

BF: Von römisch 40 Flughafen.

R: Wie sind Sie von der Unterkunft der Verwandten Ihres Freundes, in römisch 40 zum Flughafen gelangt?

BF: Mit einem Auto. Nachgefragt: Ich war ca. 30 Minuten mit dem Auto unterwegs.

R: Ist es während dieser Fahrt, Ihnen gegenüber, zu irgendwelchen Vorfällen gekommen?

BF: Nein.

R: Haben Sie Vorkehrungen getroffen, für den Fall, dass Sie auf dem Weg von den Verwandten Ihres Freundes zum Flughafen römisch 40 , von Mitgliedern der Al Shabaab angetroffen werden würden?

BF: Ich würde von denen weglaufen, falls uns etwas auf dem Weg zugestoßen wäre.

R: Haben Sie aber diesbezüglich konkrete Vorkehrungen getroffen?

BF: Ich hatte nur Angst gehabt.

R: Wann sind Sie von römisch 40 nach römisch 40 gereist?

BF: Am römisch 40 bin ich in römisch 40 angekommen.

R: Welcher Wochentag war das?

BF: Ich erinnere mich nicht mehr daran.

R: War das am Anfang, Ende oder Mitte der Woche?

BF: Das weiß ich auch nicht.

R: Warum können Sie sich an das genaue Datum erinnern, aber an den Wochentag überhaupt nicht?

BF: Meine Mutter sagte mir dieses Datum auf dem Weg zum Flughafen nach römisch 40 .

R: Sind Sie mit Ihrer Mutter von Ihrem Heimatort nach römisch 40 gereist?

BF: Ich bin alleine nach römisch 40 geflüchtet.

R: Wie ist Ihre Mutter dann nach römisch 40 gekommen?

BF: Mit einem Auto von unserem Dorf ist sie nach römisch 40 gekommen.

R: Warum ist Ihre Mutter nach römisch 40 gekommen?

BF: Sie wollte, dass man mich von römisch 40 nach römisch 40 bringt.

R: Wieso hat es dazu Ihre Mutter bedurft?

BF: Sie hat das Geld gehabt und für die Bezahlung musste sie nach römisch 40 kommen.

R: Wem hat Ihre Mutter Geld bezahlt?

BF: Das Geld hat man für den Kauf der Flugtickets benötigt.

R: Wie viel hat Ihre Mutter dafür bezahlt?

BF: Ich weiß es nicht.

R: Woher hatte Ihre Mutter das Geld für die Flugtickets?

BF: Sie hat das Geld, was sie für die Waren bekommen hat, verwendet.

R: Von was hat Ihre Mutter dann gelebt?

BF: Das weiß ich nicht, wie sie danach gelebt hat.

R: Sie haben gesagt, Sie werden von der Al Shabaab gesucht. Was würde passieren, wenn Sie nach Somalia zurückkehren müssten?

BF: Meine Ausreisegründe bestehen nach wie vor in Somalia. Ich habe Angst vor der Al Shabaab.

R: Warum können Sie nicht nach Somalia zurückkehren?

BF: Da ich mich ihrer Aufforderung geweigert habe, habe ich Angst um mein Leben.

R: Welcher Aufforderung haben Sie sich geweigert?

BF: Die wollten, dass ich für sie arbeite, dass ich für sie als Soldat kämpfe.

R: Wann sind Sie mit der Al Shabaab in Berührung gekommen?

BF: Im Jahr römisch 40 , da war ich in unserem Heimatdorf. Nachgefragt: Genaueres Datum kann ich Ihnen nicht nennen.

Die VH wird von 09:47 Uhr bis 10:03 Uhr unterbrochen.

R: Was ist im Jahr römisch 40 dann konkret passiert, als Sie das erste Mal mit der Al Shabaab in Berührung gekommen sind?

BF: In meinem Heimatdorf ist Al Shabaab an der Macht. Die sind zu uns gekommen, damit meine ich die Jugendlichen, die dort leben. Sie sind zu uns gekommen und wollten, dass wir mit denen als Soldaten zusammenarbeiten. Das wollte ich aber nicht. Ich habe mich mehrmals geweigert mit ihnen zusammenzuarbeiten. Dann kamen sie zu uns nachhause und haben mit meiner Mutter darüber gesprochen. Meine Mutter wollte das auch nicht. Eines Abends haben sie unser Haus gestürmt und haben mich mitgenommen. Sie brachten mich in ein Lager. Dort waren auch ein paar Jugendliche, die uns festgehalten haben. 6 Tage lang war ich dort. Jeden Abend und jeden Tag wurden wir misshandelt, indem sie uns kaltes Wasser über den Körper geschüttet haben. Dann haben sie uns auch geschlagen. Wir haben eine einzige Mahlzeit am Tag gehabt. Jeden Tag ist ein älterer Mann, welcher maskiert war und einen längeren Bart getragen hat, zu uns gekommen. Er sagte uns, dass sie wollen, dass wir mit ihnen zusammenarbeiten und dass sie uns auch dafür bezahlen würden. Danach haben sie uns auch gedroht. Sie haben uns mehrmals mit dem Gewehrkolben geschlagen. Die Verletzung an meiner Schulter ist immer noch sichtbar. Am 6. Tag sagte er uns, dass er uns 3 Tage Bedenkzeit geben würde und wir uns entscheiden müssten, ob wir mit denen arbeiten wollen oder nicht. Das Zimmer, wo wir eingesperrt waren, bestand aus Blech. Bevor die Bedenkzeit zu Ende war, haben wir eines Abends versucht von dort zu entkommen. Wir haben dieses Blech aufgebrochen, insgesamt waren wir 4 Personen (Ich, römisch 40 und noch 2 andere), daran beteiligt. Nach dem Aufbruch sind wir von dort geflüchtet. Dann sind wir durch den Wald gelaufen und dann kamen wir in römisch 40 an. Bis dahin haben wir 2 Tage gebraucht. Ich war kurze Zeit in römisch 40 , dann bin ich von dort aus nach römisch 40 .

R: Ist es in der Vergangenheit schon zu ähnlichen Vorfällen in diesem Gebiet genommen?

BF: Ja, mehrmals in der Vergangenheit ist es zu solchen Vorfällen gekommen.

R: Haben Sie aufgrund dessen Vorkehrungen getroffen, für den Fall, dass es Sie einmal treffen könnte?

BF: Ja, ich habe auch darüber nachgedacht. Die Al Shabaab wartet aber, bis das Kind ca. 16 Jahre alt wird.

R: Wie alt waren Sie zu diesem Zeitpunkt, als Sie von den Al Shabaab mitgenommen worden sind?

BF: 19.

R: Haben Sie im Hinblick Ihres Alters Überlegungen getroffen, für den Fall, dass sowas Ihnen passieren könnte, wie es anderen Jugendlichen in Ihrem Dorf schon passiert ist?

BF: Ja, ich habe darüber nachgedacht, dass es mir passieren könnte.

R: Ist es außer bei der Überlegung, dabei verblieben?

BF: Ich wollte nicht mit denen zusammenarbeiten.

R: Können Sie sich erinnern, wann die Al Shabaab zu Ihnen gekommen ist, als sie das Haus gestürmt haben?

BF: Das war am Abend, am römisch 40 .

R: Was war das für ein Wochentag?

BF: Ich erinnere mich nicht. Dieses Datum hat mir meine Mutter gesagt. Nachgefragt: Sie sagte mir das, als sie zu mir nach römisch 40 gekommen ist.

R: Warum hat Ihre Mutter Ihnen das Datum in römisch 40 gesagt?

BF: Weil sie sich an dieses Datum erinnern konnte, es war für sie ein historisches Datum.

R: War das Ereignis Anfang, Mitte oder Ende der Woche?

BF: Mitte der Woche. Nachgefragt: An den Wochentag kann ich mich nicht erinnern.

R: Was ist an diesem Tag genau passiert?

BF: Es war in der Nacht, als die Männer zu uns nachhause gekommen sind. Bevor sie ins Haus gekommen sind, haben sie ein paar Schüsse in die Luft geschossen. Wir sind alle aufgestanden und dann kamen die Männer ins Haus herein. Die kamen zu mir und sie haben mich aus meinem Zimmer nach draußen gebracht. Als meine Mutter das sah, versuchte sie es zu verhindern, dass sie mich mitnehmen. Sie haben angefangen mich und meine Mutter zu schlagen. Die anderen Kinder haben alle geweint. Dann haben sie mich mitgenommen. Dort waren viele Männer.

R: Wer hat sich zum Zeitpunkt dieses Überfalls in Ihrem Elternhaus befunden?

BF: Ich, meine Mutter und meine Geschwister waren zuhause.

R: Hat die Al Shabaab Interesse auch an Ihren beiden Brüder gehabt?

BF: Nein, sie waren noch zu jung. Deswegen hatten sie kein Interesse an den beiden. Nachgefragt: Ich weiß nicht mehr genau, wie alt die beiden Brüder zu diesem Zeitpunkt waren.

R: Können Sie das ungefähre Alter von den beiden Brüdern nennen? Sie sagen ja, sie seien noch zu jung gewesen.

BF: römisch 40 war zu diesem Zeitpunkt ca. 10 Jahre alt und römisch 40 war noch jünger, er war noch sehr klein.

R: Wie sind Sie dann von Ihrem Elternhaus zu den Al Shabaab gebracht worden?

BF: Mit einem Auto brachten sie mich dorthin.

R: Haben Sie sich orientieren können, durch welche Gegend oder Dörfer Sie da gefahren sind?

BF: Nein. Nachgefragt: Es war dunkel, außerdem saß ich in der Mitte und die Männer saßen in einem Kreis um mich herum. Ich konnte nicht nach draußen sehen.

R: Was heißt es, dass die Männer in einem Kries um Sie herumsaßen, wenn sie in einem Auto gefahren sind?

BF: In Somalia ist dieses Auto als „Abdi Bile“ bekannt. Es handelt sich um einen Geländewagen, welcher hinten eine Ladefläche hat.

R: Wie viele Personen sind in diesem Auto auf dem Weg zu den Al Shabaab mit Ihnen mitgefahren?

BF: Mindestens 4 Al Shabaab Männer, an genaueres erinnere ich mich nicht mehr.

R: Wie viele Personen sind insgesamt in diesem Fahrzeug gewesen?

BF: Ich weiß es nicht, ich kann mich nicht erinnern Es waren aber viele Männer.

R: Was heiß viele Männer?

BF: Damit meine ich mehr als 5.

R: Was heißt mehr als 5?

BF: Ich habe nicht gezählt, wie viele Männer anwesend waren. In dem Auto wo ich war, habe ich mehr als 5 Männer gesehen.

R: Waren außer Ihnen noch andere Leute, die die Al Shabaab festgenommen hat, anwesend?

BF: In diesem Auto war ich alleine.

R: Wie lange waren Sie mit dem Auto unterwegs?

BF: Weiß ich nicht.

R: War das Auto mit einer hohen Geschwindigkeit unterwegs?

BF: Ja, es war schnell.

R: Konnten Sie sich orientieren?

BF: Nein.

R: Konnten Sie sich orientierten, als sie mit dem Auto am Ziel angelangt sind?

BF: Nein.

R: War Ihnen die Gegend bei der Ankunft bekannt?

BF: Nein, bei der Ankunft haben sie mich in ein dunkles Zimmer eingesperrt.

R: Wie spät war es, als Sie dort angekommen sind?

BF: Es war dunkel, aber ich erinnere mich nicht mehr genau wie viel Uhr es war.

R: Haben Sie sich während Ihres 6-tägigen Aufenthaltes immer in diesem dunklen Zimmer aufgehalten?

BF: Ja.

R: Haben Sie erkennen können, wie groß das Gelände, auf dem Sie sich aufgehalten haben, war?

BF: Das Zimmer, wo sie mich eingesperrt haben, war die Hälfte dieses Saales.

R wiederholt die Frage.

BF: Das weiß ich nicht, ich habe nicht gesehen, wie groß das Gelände war.

R: Haben Sie bemerkt, ob das Gelände abgegrenzt war?

BF: Nein.

R: Wurde das Gelände bewacht?

BF: Vor unserem Zimmer waren immer ein paar Männer, die sich miteinander unterhalten haben. Ich glaube, dass sie die Wächter waren.

R: Wurde das Zimmer, in dem Sie sich aufgehalten haben, bewacht?

BF: Ja. Nachgefragt: Genau weiß ich nicht von wie vielen Personen, aber draußen waren immer ein paar Leute. Ich habe deren Stimmen immer gehört.

R: War das Gelände, auf dem sich das Zimmer befunden hat, auch bewacht?

BF: Ja.

R: Wie haben Sie das festgestellt?

BF: Weil sie dort gelebt haben und es sollte normalerweise bewacht sein.

R: Haben Sie das gewusst, oder haben Sie das angenommen?

BF: Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass es bewacht war.

R: Wie sind Sie zu dieser Vermutung gekommen?

BF: In diesem Zimmer, wo wir eingesperrt waren, waren auch noch ein paar Jugendliche und diese glaubten auch alle, dass es bewacht wird.

R: Waren die Wächter Ihres Zimmers bewaffnet?

BF: Das weiß ich nicht, die standen immer vor unserer Tür. Ich habe immer die Stimmen von denen gehört.

R: Wie viele Personen haben sich in Ihrem Zimmer befunden?

BF: Ca. 20 Personen.

R: Haben Sie aus diesem Zimmer ins Freie sehen können?

BF: Nein.

R: Wie hat sich der Tagesablauf in den 6 Tagen Ihres dortigen Aufenthaltes gestaltet?

BF: Wir waren alle in diesem Zimmer drinnen. Wir haben nichts gemacht. Die kamen zu uns, haben uns bedroht und immer wieder geschlagen.

R: Was wollten die Männer von Ihnen?

BF: Sie wollten, dass wir mit ihnen zusammenarbeiten.

R: Wie oft hat man Sie in diesen 6 Tagen aufgefordert, mit denen zusammenzuarbeiten?

BF: 2 Mal am Tag. In der Früh und am Abend.

R: Wie haben Sie auf die entsprechenden Aufforderungen reagiert?

BF: Keiner hat was dazu gesagt, jeder hat Angst gehabt. Danach haben sie angefangen uns zu schlagen.

R: Sind Sie der Aufforderung der Männer nachgekommen, als Sie Angst gehabt haben?

BF: Nein, wir konnten gar nichts machen, weil wir in ihren Händen waren.

R: Wie haben Sie auf die Aufforderung, sich ihnen anzuschließen, reagiert?

BF: Jeder hat Angst gehabt und nichts dazu gesagt. Sie haben angefangen uns zu schlagen. Dann gingen sie weg.

R: Wie können Sie sich das erklären, dass Sie einerseits Angst hatten, aber andererseits auf die Aufforderung der Al Shabaab sich ihnen anzuschließen, keine Antwort gegeben haben?

BF: Es war mir lieber zu sterben, als mit denen zusammenzuarbeiten. Ich bin das älteste Kind der Familie und habe für die Familie gearbeitet. Nachgefragt: Ich habe meiner Familie geholfen, dass meine ich damit. Also wenn meine Mutter Hilfe gebraucht hat, oder die Familie Wasser benötigt hat.

R: Wieso sind Sie dann nach den 6 Tagen des dortigen Aufenthaltes freigelassen worden?

BF: Die haben mich nicht freigelassen, ich bin von dort entkommen.

R: Sind alle 20 Personen, aus diesem Zimmer, entkommen?

BF: Nein, ich und noch 3.

R: Was ist mit den anderen Personen passiert?

BF: Das weiß ich nicht.

R: Wie ist es Ihnen gelungen aus diesem Zimmer, welches von den Wächtern beaufsichtigt wurde, zu entkommen?

BF: Das Zimmer, wo sie uns eingesperrt haben, bestand aus Blech. römisch 40 war älter als ich und die haben das Blech durchschnitten. Ich weiß nicht mit welchem Gegenstand sie geschnitten haben.

R: Woher hatten sie das Werkzeug, um das Blech zu durchschneiden?

BF: Das weiß ich nicht.

R: Wer hat jetzt das Blech durchschnitten?

BF: Das weiß ich nicht. Ich habe nur gesehen, als diese Männer durch das durchgeschnittene Blech nach draußen gelaufen sind. Ich bin ihnen dann nachgelaufen.

R: Haben Sie gesehen, wer das Blech durchschnitten hat?

BF: Nein.

R: Haben Sie sich dann, als Sie draußen gewesen sind, orientieren können?

BF: Nein, es war dunkel.

R: Wie haben die Wächter, die das Zimmer beaufsichtigt haben, reagiert?

BF: Keiner hat uns gesehen.

R: Was haben Sie dann gemacht, als Sie aus dem Zimmer draußen waren?

BF: Wir sind dann durch den Wald gelaufen.

R: Ist bei der Flucht auf Sie geschossen worden?

BF: Wir haben nicht nachgeschaut, nachdem wir das Zimmer verlassen haben. Wir sind immer nur nach vorne gelaufen.

R: Wie ist es Ihnen gelungen, das Gelände der Al Shabaab zu verlassen?

BF: Nachdem wir das Zimmer verlassen haben, war das Lager mit einem Holzzaun umrandet. Über diesen Zaun sind wir dann gesprungen.

R: Wie hoch war dieser Holzzaun?

BF: Bis zu der Höhe meines Kopfes, wie ich jetzt sitze.

R: Wie ist es Ihnen gelungen, über diese Höhe zu springen?

BF: Es ging damals um mein Leben, wir hatten alle Angst. Ich bin dann einfach über diesen Zaun gesprungen.

R wiederholt die Frage.

BF: Wir sind geklettert.

R: Sind Sie jetzt geklettert oder gesprungen?

BF: Zuerst geklettert und dann gesprungen.

R: Sie haben zuerst gesagt, Sie sind gesprungen und nicht geklettert.

BF: Man kann nicht zuerst springen, man muss klettern und dann springen.

R: Haben Sie sich orientieren können, als Sie dann gelaufen sind?

BF: Nein, da war Wald.

R: Haben Sie Vorkehrungen getroffen, im Falle, dass Sie wieder auf die Al Shabaab stoßen würden?

BF: Wir können nichts dagegen machen, wenn sie uns wieder erwischt hätte.

R wiederholt die Frage.

BF: Nein. Wir wollten nicht zu ihnen zurückkehren.

R: Wie sind Sie dann nach römisch 40 gelangt, wenn Sie sich nicht orientieren konnten?

BF: römisch 40 und die anderen 2 kannten den Weg. Ich bin nur mit denen gegangen.

R: Wie haben sich die anderen in einem dunklen Wald orientieren können?

BF: Die waren älter als ich und sie wussten, in welche Richtung wir gehen.

R: Wie können sie sich ohne Hilfsmittel in einem dunklen Wald orientieren?

BF: Die Männer waren älter als ich und kannten die Umgebung.

R: Wie alt war römisch 40 ?

BF: Er war älter als ich, aber ich weiß nicht wie viel älter. Nachgefragt: Die anderen beiden Männer waren so gleich alt wie römisch 40 .

R: Sie sagten heute, dass Sie bei Ihrer Flucht einen Zaun überwunden hätten, indem Sie geklettert bzw. gesprungen sind. Beim BFA sagten Sie, dass Sie über eine Wand geklettert wären. Was sagen Sie zu diesem Widerspruch?

BF: Ich meinte, dass das eine Holzwand war. Unter einem Zaun verstehe ich das gleiche wie eine Wand, es ist für mich beides gleich.

R: Zu der Höhe des Hindernisses, welches Sie überwunden haben, konnten Sie beim BFA trotz dort genannter Vergleichshöhe keine Angaben machen. Heute haben Sie dazu konkrete Angaben machen können? Was sagen Sie zu diesem Widerspruch?

BF: Beim BFA hat man mich nicht gefragt, wie hoch diese Mauer war. Aber man hat mich gefragt, wie hoch das Zimmer war, in dem ich eingesperrt war.

R: Wie spät war es, als Sie die Flucht von dort ergriffen haben?

BF: Das war nach Mitternacht, nach ca. 2 Stunden ist die Sonne aufgegangen.

R wiederholt die Frage.

BF: Das weiß ich nicht mehr wie spät es war, es war dunkel.

R: Sie haben heute gesagt, es war später noch dunkel, als Sie sich im Wald befunden haben. Wann haben Sie jetzt die Flucht ergriffen?

BF: Das weiß ich nicht mehr wie spät es war, es war dunkel. Es war dunkel, als ich die Flucht ergriffen habe.

R: Wie lange waren Sie dann auf der Flucht, bis Sie römisch 40 erreicht haben?

BF: 2 Tage.

R: Wie lange waren Sie unterwegs, als es dann hell geworden ist?

BF: Ca. 2 Stunden danach ist die Sonne aufgegangen.

R: Ist es auf dem Weg von der Unterkunft, in der man Sie untergebracht hat, auf dem Weg nach römisch 40 zu irgendwelchen Vorfällen gekommen?

BF: Nein.

R: Wann haben Sie das Lager der Al Shabaab verlassen? Wann war das genau.

BF: Ich weiß nicht wann das war. Nachgefragt: Ich weiß nicht, welcher Wochentag das war.

R (Frage auf Deutsch): Was machen Sie in Ihrer Freizeit?

BF (Antwort auf Deutsch) Noch bitte.

R wiederholt die Frage.

BF (Antwort auf Deutsch) Ich spiele Fußball spielen. Ich spiele Fußball Spiele, meine Kollegen und lese Deutsch.

R (Frage auf Deutsch): Was lesen Sie auf Deutsch?

BF (Antwort auf Deutsch) Nochmal bitte.

R wiederholt die Frage.

BF (Antwort auf Deutsch): Ich lese meine Deutsch lernen.

R (Frage auf Deutsch): Wie heißt das Buch oder die Zeitschrift, die Sie lesen?

BF (Antwort auf Deutsch) Ich lese Buch.

R wiederholt die Frage.

BF (Antwort auf Deutsch): Ein Schulbuch. römisch 40 Buch.

R wiederholt die Frage.

BF (Antwort auf Deutsch): Nur Schreiben Buch römisch 40 .

R (Frage auf Deutsch): Haben Sie Freunde in Ö?

BF (Antwort auf Deutsch): Ja.

R (Frage auf Deutsch): Wie heißen Ihre beiden besten ö. Freunde?

BF (Antwort auf Deutsch): Wie heißt ihr?

R wiederholt die Frage.

BF: Sie kommen andere Land. Österreich, Türkei, Bosnien.

R: Wie heißen Ihre beiden besten ö. Freunde?

BF: römisch 40 aus Bosnien. römisch 40 aus Ö.

R: Ist das ein Spitzname oder sein echter Name?

BF: Ich glaube, dass es sein Spitzname ist, wie spielen gemeinsam Fußball.

R (Frage auf Deutsch): Haben Sie Ihre beiden ö. Freunde schon zuhause besucht?

BF (Antwort auf Deutsch): Ja.

R (Frage auf Deutsch): Wo wohnen Ihre beiden besten Freunde?

BF (Antwort auf Deutsch): In römisch 40 .

R (Frage auf Deutsch): Wie kommen Sie von Ihrer Unterkunft zu Ihren Freunden?

BF (Antwort auf Deutsch): Mein Kollege kommt in mein Haus.

R wiederholt die Frage auf Somali.

BF: Mit dem Fahrrad.

R (Frage auf Deutsch): Wie lange brauchen Sie mit dem Fahrrad zu Ihren Freunden, wenn Sie von Ihrer Unterkunft wegfahren?

BF (Antwort auf Deutsch): Wie lange?

R wiederholt die Frage.

BF (Antwort auf Deutsch): 15 min.

R (Frage auf Deutsch): Haben Sie für die Zukunft einen bestimmten Wunsch?

BF (Antwort auf Deutsch): BF schweigt.

R (Frage auf Deutsch): Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?

BF (Antwort auf Deutsch): Bitte nochmal Frage.

R wiederholt die Frage.

BF (Antwort auf Deutsch): Ich verstehe nicht.

R setzt in Somali fort.

R: Haben Sie eine Freundin oder Lebensgefährtin in Ö?

BF: Nein.

R: Haben Sie Kinder?

BF: Nein.

R: Sind Sie verheiratet?

BF: Nein.

R: Haben Sie Verwandte in Ö?

BF: Nein.

R: Haben Sie Verwandte in anderen Europäischen Ländern?

BF: Nein.

R: Gehen Sie arbeiten?

BF: Nein.

R: Verrichten Sie caritative Tätigkeiten?

BF: Nein, ich will zuerst die Sprache lernen.

R: Sind Sie Mitglied, Verein, Club oder Organisation?

BF: Nein.

R: Sind Sie gerichtlich vorbestraft?

BF: Nein.

R: Sind Sie in ärztlicher Behandlung?

BF: Nein, ich habe manchmal Migräne und nehme Tabletten gegen Kopfschmerzen.

R an Regierungsvorlage, Haben Sie Fragen an den BF?

Regierungsvorlage, Wie beschafft man sich in Ihrem Heimatort Wasser?

BF: Der Brunnen ist ca. 1 km von unserem Haus entfernt. Dort gehe ich zu Fuß hin.

Regierungsvorlage, Wie sah diesbezüglich die Versorgungslage aus, als Sie Ihr Heimatdorf verlassen haben?

BF: Es war sehr sehr schlecht. Damals hat die Dürre das Gebiet getroffen. Wir hatten auch nicht genug zu Essen.

Regierungsvorlage, Muss man für das Wasser bei diesem Brunnen zahlen?

BF: Ja. Nachgefragt: 10.000 Somalische Schilling.

R: Wer hat das bezahlt?

BF: Meine Mutter.

Regierungsvorlage, Wissen Sie, wie hoch das Einkommen Ihrer Mutter war?

BF: Nein.

Regierungsvorlage, Wie war die Wasserversorgung in Ihrem Haushalt, als Sie noch in Somalia waren?

BF: Das war nicht ausreichend Wasser zuhause.

Regierungsvorlage, War die Versorgung mit Lebensmittel für Sie ausreichend?

BF: Nein, manchmal haben wir nur 2 Mahlzeiten am Tag gehabt. In der Früh und am Abend.

R: Woher hatte Ihre Mutter dann das Gemüse/Obst gekauft, welches sie dann weiterverkauft hat?

BF: Die Ware hat sie ausgeliehen und dann verkauft. Den Gewinn hat sie sich behalten und den Rest hat sie zurückgezahlt.

Regierungsvorlage, War die Familie von Überschwemmungen, als Sie sich in Ihrem Heimgebiet noch aufgehalten haben, betroffen?

BF: Als ich vor 2 Jahren meinen Onkel ms kontaktiert habe, war meine Familie in römisch 40 . Der Grund, warum sie das Heimatdorf verlassen haben, war die Angst vor den Al Shabaab und vor den Überschwemmungen.

Regierungsvorlage, Keine weiteren Fragen.

R: Wollen Sie eine Stellungnahme abgeben?

Regierungsvorlage legt eine Stellungnahme vor, welche als Beilage römisch eins zum Akt genommen wird.

(…)“

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF

Der BF ist somalischer Staatsangehöriger, bekennt sich zur Glaubensrichtung des sunnitischen Islam und ist dem Clan der Clan Gabooye, Sub Clan Boon, zugehörig. Seine Muttersprache ist Somalisch. Er ist im Dorf römisch 40 , Region römisch 40 , geboren und aufgewachsen. Die zwei Monate vor seine Ausreise lebte er in römisch 40 . Er hat in Somalia zwei Jahre die Koranschule besucht.

Der Vater des BF ist bereits verstorben, dessen Mutter, vier Schwestern, zwei Brüder und viele Freunde leben in Somalia im Herkunftsort des BF, dessen Onkel mütterlicherseits, welcher auch die Ausreise des BF aus Somalia finanziert hat, lebt in römisch 40 .

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Das Vorliegen einer maßgeblichen gesundheitlichen Beeinträchtigung kann nicht festgestellt werden.

1.2. Zum Verfahrensgang

Am römisch 40 stellte der BF einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom römisch 40 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch eins.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wurde dem BF gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.) und gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.). Die Abschiebung nach Somalia wurde gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG für zulässig erklärt (Spruchpunkt römisch fünf.) und gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt römisch VI.).

1.3. Zum Privatleben des BF in Österreich

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Es halten sich keine Familienangehörige oder Verwandte des BF im Bundesgebiet oder anderen Europäischen Ländern auf. Der BF hat sich einen Freundeskreis im Bundesgebiet aufgebaut, eine besondere Nahebeziehung zu diesen konnte jedoch nicht festgestellt werden. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF hat im Bundesgebiet grundlegendste Deutschkenntnisse erworben an diversen Kursen der römisch 40 ( römisch 40 und römisch 40 ) teilgenommen sowie auch Deutschintegrationskurse des römisch 40 ( römisch 40 und römisch 40 ) besucht. Es konnte nicht festgestellt werden, dass er auch ein Deutschzertifikat erworben hat. Er geht im Bundesgebiet keiner rechtmäßigen Arbeit nach und ist kein Mitglied in einem Verein, Club oder einer Organisation. Er betätigt sich auch nicht ehrenamtlich. Der BF bezieht derzeit Leistungen aus der Grundversorgung.

1.4. Zum Fluchtvorbringen des BF

Das Vorbringen des BF, wonach Al Shabaab den BF entführt und mit Folter zur Mitarbeit bei Al Shabaab hätte bewegen wollen, sowie dessen Flucht und der Angriff auf ihn in römisch 40 , sowie, dass ihm im Fall der Rückkehr nach römisch 40 eine Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab droht, ist nicht glaubhaft.

Es kann insgesamt nicht festgestellt werden, dass der BF im Herkunftsstaat aus politischen Gründen, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität oder wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe von staatlicher Seite oder von privaten Dritten verfolgt wird.

1.5. Zur Rückkehrmöglichkeit nach Somalia

Ferner steht nicht fest, dass dem BF im Fall einer Rückkehr nach römisch 40 ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde oder er Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, nicht befriedigen zu können.

1.7. Feststellungen zur allgemeinen Situation in Somalia

COVID-19

Letzte Änderung 2023-03-14 06:52

Mit Stand 1.1.2023 waren in Somalia insgesamt 27.300 Infektionen registriert worden. Zu diesem Zeitpunkt waren 12.757 aktive Fälle gemeldet (ACDC 1.1.2023). Bis 9.1.2023 sind im Land offiziellen Angaben zufolge 1.361 Menschen an COVID-19 verstorben (WHO 9.1.2023).

Mit Stand 22.12.2022 waren insgesamt 8.520.930 Impfungen verabreicht worden, 6.324.409 Menschen waren voll immunisiert (WHO 9.1.2023). Allerdings zögern viele Menschen, sich impfen zu lassen (AI 18.8.2021, Sitzung 18; vergleiche WB 6.2021, Sitzung 20). U. a. lässt das durch fehlende öffentliche Informationen befeuerte, mangelnde Bewusstsein der Öffentlichkeit hinsichtlich COVID-19 viele Menschen zögern, sich impfen zu lassen; dies gilt sogar für medizinisches Personal (AI 29.3.2022). Andere Gründe für die geringe Durchimpfung sind: eine niedrige Zahl an Neuinfektionen; die nicht vorhersagbare Verfügbarkeit von Impfstoffen; die geringe Haltbarkeit der Impfstoffe; und der mangelnde Zugang zu Impfzentren aufgrund von Unsicherheit oder geografischer Entfernung (UNOCHA 12.4.2022). Im August 2022 hat Somalia rund 1,6 Millionen Dosen an Impfstoff von Schweden und Tschechien erhalten (FTL 31.8.2022). Die USA haben Somalia im Mai (USEMB 25.5.2022) und im Juli 2022 mehrere Hunderttausend Dosen COVID-19-Impfstoff gespendet (Sonna 28.7.2022).

Der Umgang der somalischen Regierung mit der COVID-19-Pandemie war und ist völlig inadäquat. Die tatsächliche Zahl an COVID-19-Fällen und -Toten ist vermutlich höher als die offiziellen Zahlen darstellen (AI 18.8.2021, Sitzung 5; vergleiche AI 29.3.2022). So liegt die Zahl an COVID-19-Toten im Zeitraum März bis September 2020 gemäß einer Studie mindestens 32-mal höher als offiziell angegeben. Während die von der Regierung angegebene Zahl bei 99 liegt, schätzen Experten die Zahl an Toten auf 3.200-11.800. Die Regierung zählt üblicherweise nur jene Toten, die an COVID-19 in medizinischen Einrichtungen verstorben sind. Außerhalb davon gab und gibt es in Somalia kein System für eine Registrierung von Todesfällen (VOA 19.10.2021). Auch insgesamt sind bei den Infektionen nur jene Fälle registriert worden, wo es Erkrankte überhaupt bis zu einer Gesundheitseinrichtung geschafft haben und dort dann auch tatsächlich getestet wurden. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs – viele mehr sind zu Hause gestorben (AI 18.8.2021, Sitzung 14).

Problematisch sind die - auch weiterhin - extrem geringen Testkapazitäten (UNFPA 5.2022), das mit COVID-19 verbundene Stigma, das geringe Vertrauen in Gesundheitseinrichtungen sowie teils auch die Leugnung von COVID-19 (UC 13.6.2021, Sitzung 9). COVID-19 wurde (und wird) von Falschinformationen und einem Stigma begleitet. So wurden z. B. Menschen, die Maske tragen, als infiziert oder sogar als gottlos erachtet, Abstandsregeln als kulturell inakzeptabel und unhöflich empfunden. Es wurde versucht, diesen Stigmata mit Aufklärungsarbeit entgegenzuwirken (BBC 2.2022).

Testungen sind v. a. auf Städte beschränkt (UC 13.6.2021, Sitzung 2). Viele Infektionen werden wegen der geringen Testkapazitäten nicht erkannt (UNFPA 5.2022).

Humanitäre Partner hatten schon im April 2020 für einen Plan zur Eindämmung von COVID-19 insgesamt 256 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt (UNSC 13.11.2020, Absatz 51,). Anfangs gab es nur ein speziell für COVID-19-Patienten zugewiesenes Hospital, das Martino Hospital in Mogadischu. Dieses ist allerdings unterbesetzt und schlecht ausgerüstet; von 150 Betten verfügten im Feber 2021 nur 11 über ein Beatmungsgerät und Sauerstoffversorgung (Sahan 25.2.2021c). Viele COVID-19-Patienten sind in Spitälern aus Mangel an Sauerstoffversorgung oder wegen eines Stromausfalls gestorben (AI 18.8.2021, Sitzung 13f). Es gibt so gut wie keine präventiven Maßnahmen und Einrichtungen. Menschen, die an COVID-19 erkranken, bleibt der Ausweg in ein Privathospital – wenn sie sich das leisten können (Sahan 25.2.2021c). Die Situation war derart ernst, dass sich Akteure aus dem privaten Sektor engagiert und zusätzliche COVID-19-Kapazitäten geschaffen haben (AI 18.8.2021, Sitzung 14). Ab August 2021 gab es in Mogadischu schon drei Krankenhäuser, wo COVID-19-Patienten versorgt werden konnten (AI 29.3.2022). Der türkische Rote Halbmond hat Somalia im Feber 2021 weitere zehn Beatmungsgeräte zukommen lassen (AAG 26.2.2021). Im März 2021 spendete die Dahabshil Group dem Staat Sauerstoffverdichter, mit denen insgesamt 250 Patienten versorgt werden können. Die Firma übernimmt auch die technische Instandhaltung (Sahan 11.3.2021). Ende September 2021 wurde in Mogadischu die erste öffentliche Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff eröffnet. Diese wurde von der Hormuud Salaam Stiftung angekauft und gespendet. Der Sauerstoff wird an öffentlichen Spitälern in Mogadischu kostenlos zur Verfügung gestellt (Reuters 30.9.2021). Außerdem hat die EU gemeinsam mit der WHO dem Martino Hospital in Mogadischu eine eigene Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff geschenkt. Die Anlage wurde im März 2022 übergeben. Der Sauerstoff wird zur Behandlung von COVID-19 aber auch für andere Patienten verwendet. Zwei weitere solche Anlagen werden in Garoowe und Hargeysa installiert (EC/WHO 20.3.2022). Taiwan unterstützt Somaliland bei Testungen, Masken, Sauerstoffanlagen sowie mit Impfstoff (TRO 4.4.2022).

Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Die Mehrheit der Empfänger berichtete von Rückgängen von über 10 % (IPC 3.2021, Sitzung 2). Nach anderen Angaben erwies sich der Remissenfluss als resilient. Demnach haben sich die Überweisungen von 2,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 auf 2,8 Milliarden im Jahr 2020 erhöht. Die Überweisungen an Privathaushalte erhöhten sich von 1,3 auf 1,6 Milliarden (WB 6.2021, Sitzung 11f). In Somaliland sind die Remissen im Jahr 2020 jedenfalls gegenüber jenen im Jahr 2019 gestiegen (ISIR 1.3.2022).

Der Export von Vieh – der wichtigste Wirtschaftszweig – ist wegen der Pandemie zurückgegangen (ISIR 1.3.2022). 45 % der Kleinstunternehmen mussten schließen (UNSC 10.8.2021, Absatz 17,). Die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - haben sich verstärkt. Schätzungen zufolge mussten beim Ausbruch von COVID-19 21 % der Somali ihre Arbeit niederlegen; und das, obwohl nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnimmt. 78 % der Haushalte berichteten über einen Rückgang des Einkommens (WB 6.2021, Sitzung 23). Familien - und hier v. a. von Frauen geführte - spüren auch im Jahr 2022 die Auswirkungen der Pandemie - sei es durch Jobverlust oder den Verlust von Kaufkraft. Manche Unternehmen müssen Mitarbeiter entlassen, um die Folgen der Pandemie zu bewältigen; andere haben mit einem Minimum an Personal wieder den Betrieb aufgenommen (UNFPA 14.4.2022).

Geimpfte Reisende nach Süd-/Zentralsomalia und Somaliland müssen einen Impfnachweis mit sich führen und brauchen keinen Test vorzuweisen. Reisende mit COVID-19-Symptomen müssen sich in Mogadischu u.U. einem Antigen-Schnelltest unterziehen und müssen im Falle eines positiven Tests auf eigene Kosten in einem Hotel in Quarantäne. Nicht oder nicht vollständig geimpfte Reisende müssen ein negatives PCR-Testergebnis mitführen, das nicht mehr als 72 (Mogadischu) bzw. 96 (Hargeysa) Stunden alt ist. Ungeimpfte, die ohne negatives COVID-19-Testergebnis ankommen, müssen sich in Hargeysa für 14 Tage in Selbstquarantäne begeben. Auch in Mogadischu müssen im Falle eines positiven Antigentests auf eigene Kosten in Quarantäne (UKGOV 23.11.2022; vergleiche USEMB 11.10.2022). Nach neueren Angaben brauchen Ein- und Ausreisende in Somaliland ab Jänner 2023 keinen PCR-Test mehr vorzuweisen (RD 19.12.2022).

Die Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 wurden weitgehend gelockert bzw. aufgehoben (GW 19.4.2022).

Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst - und in noch geringeren Teilen vom Islamischen Staat in Somalia - während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 1.12.2023).

Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind Hargeysa, Berbera, Burco, Garoowe und – in gewissem Maße – Dhusamareb sichere Städte. Alle anderen Städte variieren demnach von einem Grad zum anderen. Auch Kismayo selbst ist sicher, aber hin und wieder gibt es Anschläge. Bossaso ist im Allgemeinen sicher, es kommt dort aber zu gezielten Attentaten. Dies gilt auch für Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle sind Baidoa, Jowhar und Belet Weyne diesbezüglich innerhalb des Stadtgebietes wie Kismayo zu bewerten (BMLV 1.12.2023). Laut einer anderen Quelle sind alle Hauptstädte der Bundesstaaten relativ sicher (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).

Eine Quelle gibt die Lage mit Stand 23.1.2023 folgendermaßen wieder:

Eine andere Quelle vermittelt ein ähnliches Bild und verortet auch "violent events linked to al Shabaab" für das Jahr 2022:

1.           Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Die Sicherheitslage bleibt volatil (BS 2022a), mit durchschnittlich 234 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat (Zeitraum Feber-Juni 2023). Insgesamt gab es im Zeitraum 8.2.-7.6.2023 935 Vorfälle, davon 355 mit terroristischem Hintergrund. Al Shabaab führt immer wieder komplexe Angriffe durch, so etwa am 19. und 22.4. in Bud Bud und Masagway (Galgaduud) und am 26.5. in Buulo Mareer (Lower Shabelle). U.a. bei Sprengstoffanschlägen kommen Menschen ums Leben oder werden verletzt (UNSC 15.6.2023). Weiterhin führt der Konflikt zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (ÖBN 11.2022). Im o.g. Zeitraum waren 11 % der davon Betroffenen Zivilisten. Die Zahl an terroristischen Vorfällen war im ersten Quartal 2023 überdurchschnittlich. Am meisten von Sprengsätzen betroffen waren in diesem Zeitraum Mogadischu/Benadir, Lower Shabelle, Hiiraan und Lower Juba. Mogadischu wird immer wieder auch von indirektem Feuer der al Shabaab getroffen (UNSC 15.6.2023). Im Zusammenhang mit der laufenden Offensive am meisten betroffen sind Middle Shabelle, Mudug, Galgaduud und Hiiraan (ACAPS 17.8.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023). Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt (ÖBN 11.2022), während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet (AA 15.5.2023).

In den vergangenen Jahren wurden Offensiven gegen al Shabaab durchgeführt, die sich zunächst aus militärischer Sicht als erfolgreich erwiesen haben. Anfängliche territoriale Erfolge bringen aber oft eine weitaus schwierigere Herausforderung mit sich: die Stabilisierung eroberter Gebiete. Das Versäumnis, befreite Gebiete wirksam zu stabilisieren, hat wiederholt zum Rückzug von Regierungskräften geführt. Und das Versäumnis, gespaltene Gemeinschaften zu versöhnen, hat dazu geführt, dass auch in Absenz von al Shabaab neue Konflikte entstehen konnten. So wurde al Shabaab etwa im Rahmen der Operation Badbaado in Lower Shabelle in den Jahren 2019–2020 aus mehreren Städten vertrieben. Drei Jahre danach kämpft die Bundesregierung aber immer noch darum, die befreiten Gebiete zu stabilisieren. Hilfsleistungen und staatliche Dienstleistungen bleiben unzureichend und oberflächlich (Sahan/SWT 4.8.2023). Generell hat es die Bundesregierung nach wie vor nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten (BMLV 1.12.2023). Ein Experte merkt allerdings an, dass sich sowohl die Verwaltung der Bundesregierung als auch die Bundesarmee verbessert haben, und dadurch bei der Bevölkerung der Widerstandswille gegen al Shabaab gewachsen ist (AQ21 11.2023).

ATMIS hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete (BS 2022a). Die somalische Regierung und ATMIS können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren (AA 20.10.2023).

Generell ist die Regierung nicht in der Lage für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS, aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen (BMLV 9.2.2023; vergleiche BS 2022a). Dabei wurde ATMIS im Juni 2023 um 2.000 Mann reduziert, die nächste Truppenreduktion um 3.000 Mann steht mit Ende Dezember 2023 an. Die Ausbildung neuer Soldaten für die Bundesarmee machte 2023 gute Fortschritte, es mussten aber auch hohe Verluste hingenommen werden. Das größte Problem derzeit ist neben der Truppenstärke die fehlende Ausrüstung (schwere Waffen, Luftkomponente, etc.) (BMLV 1.12.2023). Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist das Szenario, wonach al Shabaab bei einem Abzug von ATMIS das Land übernimmt, nicht mehr plausibel (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine weitere Quelle gibt an, dass die Bundeskräfte nach einem Abzug von ATMIS nicht kollabieren werden, und al Shabaab nicht nach Mogadischu zurückkehren wird (Think/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle erklärt, dass es für al Shabaab nun sehr schwer geworden ist, die Bundesregierung zu überrennen (AQ21 11.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass nur bei völligem Wegfall jeglicher externen Unterstützung der Fall eintreten könnte, dass die Bundesregierung zusammenbricht (BMLV 1.12.2023).

Macawiisley-Offensive: Gegen Ende der Amtsperiode von Ex-Präsident Farmaajo war al Shabaab stärker denn je (Bryden/TEL 8.11.2021). Insgesamt konnte die Gruppe unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS sogar Geländegewinne erzielen (HIPS 8.2.2022). Die Situation war lange Zeit statisch (THLSC 20.3.2023). Doch seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten im Mai 2022 und dem Beschluss der USA, wieder Truppen in Somalia zu stationieren, haben die militärischen Operationen gegen al Shabaab zugenommen (UNSC 10.10.2022). Die im August 2022 begonnene neue Offensive baut auf die gestiegene Unzufriedenheit bzw. Entfremdung der Lokalbevölkerung in einigen Gebieten Zentralsomalias mit al Shabaab. Die Gruppe hat lokale Clans genötigt, Buben zu übergeben, hat trotz der anhaltenden Dürre weiterhin Steuern eingetrieben, hat zu gewaltsamen Maßnahmen und Kollektivstrafen gegriffen (ICG 21.3.2023) und lokale Clans gezwungen, der Gruppe Frauen und Mädchen zuzuführen. Letztendlich hat sich al Shabaab im Zuge der Dürre als wenig hilfreich erwiesen (Sahan/SWT 23.9.2022).

Mehrere Subclans Zentralsomalias haben al Shabaab schon zuvor Widerstand geleistet (ICG 21.3.2023) - laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 bereits ab 2018 (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Manche Clans haben später aber Abkommen mit al Shabaab geschlossen, was zu einer Form der Koexistenz geführt hat. So wurde al Shabaab etwa bei den Hawiye / Habr Gedir / Saleban, die in Galmudug leben, toleriert. Aufgrund der politischen Streitigkeiten in Mogadischu konnte al Shabaab in Zentralsomalia expandieren. 2019 forderte die Gruppe junge männliche Rekruten. Dies war für die streng im Sufismus verankerten Saleban zuviel. Die Verweigerung der Rekrutierungen stieß eine Konfliktspirale an (ICG 21.3.2023), lokale (Clan-)Milizen, die Macawiisley, begannen eine Revolte gegen al Shabaab (Sahan/SWT 23.9.2022). Als Letztere den Hauptort der Saleban, Baxdo, im Juni 2022 angriff, töteten Saleban-Milizen schätzungsweise 70 Kämpfer der al Shabaab. Ein anderes Beispiel sind die Hawiye / Hawadle in Hiiraan, die nie gute Beziehungen zu al Shabaab hatten. Als Letztere 2021 die Straße von Belet Weyne nach Galmudug unterbrach, und Belet Weyne damit von mehreren Seiten abgeschnitten war, wuchs der Zorn der Lokalbevölkerung (ICG 21.3.2023). Die Unterdrückung der Hawadle und anderer Clans durch al Shabaab bildete also das Rückgrat der erfolgreichen Offensive (Sahan/SWT 13.9.2023).

Während vorherige Offensiven immer von ATMIS bzw. AMISOM geführt worden waren, handelte es sich dieses Mal um eine somalische Offensive. An der Spitze des Kampfes standen die Macawiisley. Sie kennen das Terrain und die Bevölkerung und sind motiviert für ihr eigenes Gebiet zu kämpfen (Economist 3.11.2022; vergleiche Sahan/SWT 4.8.2023, ICG 21.3.2023). Diese lokalen Milizen, die von den UN "community defence forces" genannt werden (UNSC 15.6.2023) und die sich v.a. aus Hawiye zusammensetzen, haben in ihrem Kampf gegen al Shabaab die Bundesregierung um Hilfe gerufen (Detsch/FP 23.8.2023). Nach anderen Angaben wurde die erfolgreiche Offensive der Clans von der Bundesregierung mehr oder weniger "gekapert" (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Die Bundesarmee bot und bietet den Macawiisley Aufklärung, Informationen und Versorgung, ATMIS und die USA sowie türkische Drohnen geben Luftunterstützung (Economist 3.11.2022; vergleiche ICG 21.3.2023, Researcher/STDOK/SEM 4.2023, IO-D/STDOK/SEM 4.2023); u.a. kamen auch die Spezialeinheiten Danaab und Gorgor zum Einsatz (IO-D/STDOK/SEM 4.2023).

Jedenfalls befand sich al Shabaab in der Defensive. Koordinierte Bundes- und regionale Kräfte eroberten zusammen mit den Macawiisley rasch Teile des von al Shabaab kontrollierten Territoriums, darunter mehrere Städte und wichtige Routen (Sahan/SWT 7.6.2023). Es konnten die größten territorialen Gewinne seit Mitte der 2010er-Jahre erzielt werden. Bundesarmee und lokale Milizen haben al Shabaab aus signifikanten Teilen Zentralsomalias vertrieben (ICG 21.3.2023; vergleiche Economist 3.11.2022, Sahan/SWT 13.9.2023). Die Offensive wird als größter Erfolg seit der vollständigen Einnahme von Mogadischu im Jahr 2011 erachtet (Detsch/FP 23.8.2023). Die Gebietsgewinne wurden in der ersten Phase der Offensive - bis etwa Jänner 2023 - erzielt. Al Shabaab wurde aus mehreren Gebieten in den Regionen Middle Shabelle, Hiiraan, Galgaduud und Mudug vertrieben und verlor die Kontrolle über mehrere strategische Städte wie die Hafenstadt Xaradheere (Mudug), Ceel Dheere, Adan Yabaal (BBC 15.6.2023; vergleiche ICG 21.3.2023), Galcad und Runirgod (Galgaduud und Middle Shabelle). Diese Städte wurden fast 15 Jahre lang von al Shabaab kontrolliert und leisteten einen erheblichen Beitrag zu ihren Finanzen (BBC 15.6.2023). Zudem verlor die Gruppe die Kontrolle über Orte wie Tedan, Rage Ceele, Gulane, Darusalaam und Mabah (Sahan/SWT 15.9.2023). Insgesamt hat die Bundesregierung mehr als 100 Orte einnehmen können (ACLED 15.9.2023) - insgesamt ein Drittel des Gebietes der Gruppe (VOA/Maruf 28.3.2023). Während früher vorwiegend Städte erobert wurden, hat man diesmal außerdem versucht, al Shabaab auch aus dem Zwischengelände zu vertreiben (BBC 15.6.2023). Die Möglichkeit dazu war durch die Teilnahme von Clanmilizen und Ältesten gegeben (Sahan/SWT 4.8.2023).

Die Gruppierung der al Shabaab in Galmudug und Hiiraan wurde von jener im Süden getrennt (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Zudem hält al Shabaab derzeit keine Räume oder Orte mehr an der Küste in Galmudug oder HirShabelle, allerdings wird diese auch nicht lückenlos von der Regierung kontrolliert (BMLV 1.12.2023). Trotzdem ist dies hinsichtlich von Waffenlieferungen aus dem Jemen und dem Iran von Bedeutung (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Durch die Gebietsgewinne seitens der Regierung wurde al Shabaab von lukrativen Handelsrouten abgedrängt (Economist 3.11.2022). Die Gruppe kann nun teilweise nicht mehr einfach aus dem ländlichen Raum heraus zu Hauptrouten vordringen und diese blockieren oder Konvois angreifen. Insgesamt wurde die Zahl an Angriffen reduziert: Al Shabaab selbst hat angegeben, im Zeitraum Oktober 2022 bis Jänner 2023 monatlich durchschnittlich 153 Anschläge und Angriffe durchgeführt zu haben; im Zeitraum Feber bis April 2023 waren es demnach hingegen durchschnittlich nur 104 (BBC 15.6.2023). Für den Zeitraum Juli-Oktober 2023 werden folgende Zahlen für Süd-/Zentralsomalia angegeben: 150 Gefechte und 60 Vorfälle mit Sprengstoff monatlich. Im November gab es aufgrund der Regenfälle einen merklichen Rückgang von 50 % (BMLV 1.12.2023).

Eine Darstellung der Offensive mit Stand 9.4.2023:

Operation Black Lion (OBL): Die sogenannte Frontline States Task Force ist eine regionale Initiative von Nachbarstaaten Somalias. Diese ist mit ATMIS übereingekommen, die Zusammenarbeit im Kampf gegen al Shabaab zu verstärken (ATMIS 6.8.2023; vergleiche GO 9.8.2023). Am 1.2.2023 verkündeten der somalische Präsident und die sogenannten "Frontstaaten" (Kenia, Äthiopien, Dschibuti) eine Einigung zur Entsendung zusätzlicher Truppen dieser Länder. Damit hätte die von der Regierung geplante OBL unterstützt werden sollen (Sahan/SWT 3.7.2023; vergleiche UNSC 15.6.2023). Diese sollte sich auf Jubaland und insbesondere auf Middle Juba konzentrieren. In der Vergangenheit ging es maßgeblich um die Eindämmung von al Shabaab; im Raumen von OBL steht deren Vernichtung im Vordergrund (GO 9.8.2023; vergleiche Detsch/FP 23.8.2023). Al Shabaab soll so weit dezimiert bzw. ihr die relevanten finanziellen Pfründe ausgetrocknet werden, dass die Gruppe für Somalia und die Nachbarstaaten keine Gefahr mehr darstellt. Damit soll gleichzeitig der Abzug von ATMIS ermöglicht werden (ATMIS 6.8.2023; vergleiche IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Die Regierung versucht, für OBL ein gemeinsames Kommando von Bund und Bundesstaaten einzurichten (GN 28.8.2023).

Tatsächlich waren bis Anfang Juli 2023 hinsichtlich einer neuen Offensive kaum Fortschritte zu beobachten (Sahan/SWT 3.7.2023), die Frontlinie verblieb für Monate statisch (Sahan/STDOK/SEM 4.2023), "they took a break" (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Der tatsächliche Zeithorizont für künftige Offensiven ist ungewiss (BMLV 14.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 1.9.2023). Somalia hat sich diesbezüglich von den Nachbarstaaten abhängig gemacht (AQ21 11.2023). Es bleibt unklar, ob Kenia, Äthiopien und Dschibuti – wie im Jänner 2023 vereinbart – tatsächlich zusätzliche Truppen für eine nächste Phase der Offensive entsenden werden (GN 28.8.2023; vergleiche IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Dschibuti hat bereits erklärt, nur mit Material und Gerät unterstützen zu wollen. Kenia wird Truppen keinesfalls östlich des Juba einsetzen und nur mitmachen, wenn Äthiopien dies auch tut; Äthiopien wiederum kann aufgrund der internen Probleme u.U. gar keine Truppen freimachen (BMLV 14.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 1.9.2023). Zudem sind die Clans am Juba in Südsomalia weniger organisiert, schlechter bewaffnet und auch in geringerem Maße bereit, den Kampf gegen al Shabaab aufzunehmen (Detsch/FP 23.8.2023; vergleiche ICG 21.3.2023, Economist 3.11.2022). Viele dieser Clans befinden sich tendenziell auf der Seite von al Shabaab - wenn auch teils durch Nötigung (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). In diesem Sinne ist die Regionalregierung auch weitaus weniger bereit, die Clans im selben Maß zu bewaffnen, wie dies in HirShabelle oder Galmudug der Fall war (BMLV 1.12.2023). Die Kräfte im SWS sind zu schwach, um eine Offensive führen zu können. Ein Experte erklärt, dass eine neue Offensive bei gleichzeitigem Auffüllen von durch ATMIS geräumten Stützpunkten auf keinen Fall möglich sein wird. Neu aufgestellte Brigaden der Bundesarmee sind qualitativ nicht in der Lage, sich gegen al Shabaab zu verteidigen. Folglich kann OBL in Südsomalia erst stattfinden, wenn die Offensive in Zentralsomalia beendet und al Shabaab dort besiegt ist (BMLV 14.9.2023).

Trend: Nach den Erfolgen der Macawiisley-Offensive hat man es wieder nicht geschafft, erobertes Gebiet ausreichend abzusichern. Dort wo die Bundesarmee in Richtung neuer Ziele abgerückt ist, konnte al Shabaab teils schnell wieder an Einfluss gewinnen (Sahan 22.3.2023). Ein Grund dafür ist das Fehlen von Darawish-Kräften, die mit lokalen Gegebenheiten und der Lokalbevölkerung vertraut sind (Sahan 22.3.2023; vergleiche Sahan/SWT 9.8.2023, INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Generell stehen keine bzw. zu wenige leistungsfähige und verlässliche Truppen zur Verfügung, um diese Orte zu halten, wenn die Angriffstruppen weiterziehen (BMLV 1.12.2023). Die Macawiisley erfüllen eine wichtige Hilfsfunktion, man kann sich jedoch nicht darauf verlassen, dass sie als wirksame Haltetruppe in neu eroberten Gebieten dienen (Sahan/SWT 9.8.2023). Zudem könnten sie sich selbst zum Problem entwickeln: Sie sind schwer zu kontrollieren (IO-D/STDOK/SEM 4.2023) und können jahrelang schwelende Clankonflikte befeuern (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).

Gleichzeitig ist es kontraproduktiv, al Shabaab nur mit militärischer Gewalt zu bekämpfen, weil die Gruppe in vielen Bereichen als Pseudostaat agiert. Da al Shabaab nämlich Güter und Dienste zur Verfügung stellt, besteht nach Angriffen auf die Gruppe die Gefahr, dass lebenswichtige Hilfe und öffentliche Dienste gestört und dadurch vulnerable Gemeinschaften im Stich gelassen werden (Rollins/HIR 27.3.2023). Zudem kennen viele Menschen dort kein anderes System, als jenes von al Shabaab. Viele erachteten die Gruppe als Befreier. Sie haben so lange unter al Shabaab gelebt, dass es großer Anstrengungen bedarf, um die Gehirnwäsche rückgängig zu machen und eine Akzeptanz der neuen Verhältnisse zu erlangen. Doch das geschieht nicht automatisch, es braucht dafür die Zurverfügungstellung gewisser Dienste (DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Tatsächlich gibt es keine Kapazitäten, um die befreiten Gebiete zu administrieren (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023, Sahan/STDOK/SEM 4.2023), und man hat es versäumt, eine adäquate Verwaltung für neu eingenommene Gebiete vorzubereiten (AQ21 11.2023). Vor Ort gibt es entweder überhaupt keine Verwaltungsstrukturen mehr oder aber eine rudimentäre Verwaltung über die Clans (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Vielen Gemeinden, die "befreit" worden sind, werden keine sinnvollen grundlegenden Dienstleistungen zur Verfügung gestellt. Die Bundesarmee hat zwar eine Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln aufgebaut – dies aber zusätzlich zu ihrer bereits bestehenden Doppelfunktion, nämlich Gebiete zu räumen und zu halten (Sahan/SWT 9.8.2023). So geben mehrere Quellen der FFM Somalia 2023 an, dass das Hauptproblem der Offensive die Nachhaltigkeit ist (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Researcher/STDOK/SEM 4.2023, UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023, DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Die neu befreiten Gebiete brauchen Stabilität (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die Menschen dort brauchen Rechtsstaatlichkeit, Wasser, Infrastruktur, medizinische Versorgung, Lehrer - zumindest all das, was zuvor von al Shabaab geboten worden ist (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Bei einem Vakuum und ohne funktionierende Verwaltung (Sahan/STDOK/SEM 4.2023) sowie einer Überdehnung der Regierungskräfte kann al Shabaab bald wieder Raum gewinnen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Doch auch bis etwas aufgebaut werden kann, müssen die Gebiete gehalten werden (DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023).

Nach anderen Angaben tut die Regierung ihr bestes, um die Bevölkerung zumindest in einigen Gebieten mit Medikamenten und Nahrungsmittelhilfe zu versorgen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle hat die Regierung verstanden, dass sie nicht alleine mit militärischen Mitteln gewinnen kann (GO 25.8.2023). Sie stützt sich bei ihrer Offensive daher wesentlich auf Clans, um die Unterstützung lokaler Gemeinden zu mobilisieren (GO 25.8.2023; vergleiche ACAPS 17.8.2023). Zudem werden Gemeinden und Älteste eingebunden, und es wird versucht, grundlegende Dienste zur Verfügung zu stellen (GO 25.8.2023). So wurde etwa in Galmudug ein Programm zur Rehabilitierung von Schulen in neu eroberten Gebieten eingerichtet, die Städte Ceel Dheere, Galcad und Xaradheere stehen dabei im Fokus (Halqabsi 27.8.2023). In wichtigen Orten, wie Adan Yabaal (Middle Shabelle) und Maxaas (Hiiraan) gibt es Stabilisierungsmaßnahmen (z.B. Installation von Solarleuchten, Bau von Verwaltungsgebäuden), in anderen neu eingenommenen Gebieten, darunter Xaradheere und Ceel Dheere (Galgaduud), Verteilung von Hilfsgütern und Wassertransporte (UNSC 15.6.2023).

Die Beziehungen der Bundesregierung zu manchen im Kampf gegen al Shabaab erfolgreichen Clans (v.a. die Hawadle) haben sich aufgrund politischer Verwerfungen abgekühlt. Al Shabaab konnte daraus Vorteile ziehen und hat mit einigen Clanmilizen in HirShabelle und Galmudug Abkommen ausgehandelt. Während al Shabaab nun versucht, den einen Teil der Hawiye gegen die Bundesregierung zu mobilisieren (v.a. Habr Gedir Mohamud Hirab, Murusade und Abgal Wacaysle), versucht die Bundesregierung, den anderen Teil (z.B. Habr Gedir) gegen al Shabaab in Stellung zu bringen (ACLED 15.9.2023). Al Shabaab hat versucht sich anzupassen – etwa im Umgang mit der Lokalbevölkerung. Die Gruppe setzt nun mehr auf Anreize als auf Zwang und Erpressung. Bereits Ende Dezember 2022 wurde mit Teilen der Saleban ein neues Abkommen geschlossen (ICG 21.3.2023). Gleichzeitig schürt al Shabaab unter den Clans Angst, dass fremde Clanmilizen über sie herzufallen drohen. Diese Propaganda dient auch als Rekrutierungsmittel, z.B. bei den Murusade in Zentralsomalia (BMLV 14.9.2023). Spannungen in neu eroberten Gebieten haben teils zu Kampfhandlungen zwischen Clans geführt (AQ21 11.2023).

Dahingegen konnte auch der Präsident neue Clankräfte mobilisieren. Zudem haben sich mehrere Brigaden der Bundesarmee neu organisiert. Insgesamt steht eine äußerst komplexe Säuberungsoffensive in Zentralsomalia bevor, die durch die Gebietsverluste Ende August noch komplizierter geworden ist (Sahan/SWT 13.9.2023). Denn die Front der Offensive im südlichen Galmudug ist Ende August 2023 zusammengebrochen (Sahan/SWT 1.9.2023). Schon seit Anfang 2023 (Ende der ersten Phase der Offensive) mussten die Regierungstruppen erhebliche Rückschläge hinnehmen, dadurch wurde die zweite Phase der Offensive verzögert (Sahan/SWT 7.6.2023). Ein verheerender Angriff der al Shabaab auf Kräfte der Bundesarmee im Dorf Osweyne hat einen kaskadenartigen Rückzug der Armee aus mehreren strategisch relevanten Städten ausgelöst – darunter Bud Bud, Galcad und Wabxo. Auch aus Ceel Buur hat sich die Armee zurückgezogen, al Shabaab ist dort wieder eingezogen (Sahan/SWT 1.9.2023; vergleiche ACLED 15.9.2023) und hat die Kontrolle über Teile der verlorenen Gebiete wiedererlangt. Teils haben sich Sicherheitskräfte und Clanmilizen aus Angst vor Angriffen der al Shabaab zurückgezogen (ACLED 15.9.2023). Anderswo haben sich Clanmilizen aufgrund politischer Querelen zurückgezogen, etwa aus einigen Orten in Hiiraan (ACAPS 17.8.2023). Der Konkurrenzkampf zwischen den Clans um die Kontrolle über befreite Gebiete in Teilen von HirShabelle löste etwa wochenlange angespannte Auseinandersetzungen und in einigen Fällen tödliche Zusammenstöße aus. Viele befreite Gebiete sind mittlerweile wieder in einen Zustand der Halbanarchie zurückgekehrt, ohne dass eine klare Autorität erkennbar wäre. Dies hat die Armee überdehnt, und sie hat dadurch auch die Kontrolle über mehrere FOBs verloren (Sahan/SWT 9.8.2023).

Auch die FOBs von ATMIS haben bisher entscheidend zum Halten und zur Sicherung einiger von al Shabaab befreiter Gebiete beigetragen (Sahan/SWT 23.6.2023; vergleiche ACAPS 17.8.2023). ATMIS ist maßgeblich an der Kontrolle des Territoriums beteiligt. Zudem bietet die Mission Munition sowie medizinische und logistische Unterstützung. römisch fünf.a. in städtischen Gebieten fungiert ATMIS als Haltetruppe und ist für die Sicherheit der somalischen Führung und der Wirtschaftsquellen des Landes, einschließlich Häfen und Flughäfen, maßgeblich verantwortlich. Dahingegen konzentrieren sich die somalischen Sicherheitskräfte auf das Vordringen in weniger besiedelte Gebiete. ATMIS wird aber Stück für Stück reduziert. Ein fortgesetzter Abzug der Mission verringert die Fähigkeit der somalischen Kräfte, zurückeroberte Gebiete zu halten und zu kontrollieren. Bei einer Ausweitung der Offensive verringert sich diese Fähigkeit noch weiter, weil die Zahl der zu sichernden Standorte zunimmt. Daher ist mit einer Intensivierung der Angriffe durch al Shabaab zu rechnen (ACAPS 17.8.2023). Die Bundesarmee ist zunehmend überdehnt (Sahan/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Mit Ende September wäre ATMIS planmäßig um 3.000 Mann auf 14.626 reduziert worden (ATMIS 27.8.2023), sechs Stützpunkte wären davon betroffen gewesen (BMLV 1.12.2023). Am 19.9.2023 hat Somalia bei den UN allerdings eine 90-tägige vorübergehende "technische Pause" beim Abzug von ATMIS erbeten, damit Mogadischu sich von den jüngsten Rückschlägen auf dem Schlachtfeld erholen und sich neu organisieren kann (Sahan/SWT 25.9.2023). Dieser Aufschub ist gewährt worden. Demnach muss ATMIS bis Ende des Jahres 2023 3.000 Mann abziehen (BMLV 1.12.2023). Die entsprechende Finanzierung ist allerdings unklar (AQ21 11.2023).

Dementsprechend ist die Hoffnung, dass bald ein größerer Vorstoß in den Süden Somalias möglich sein würde, ist dadurch geschwunden (Sahan/SWT 1.9.2023). Es wird geschätzt, dass die Regierung in den letzten Monaten über 3.000 Soldaten verloren hat (Sahan/SWT 25.9.2023). Jedenfalls hat ein Mangel an Kräften der Regierung dazu geführt, dass sich al Shabaab in einigen der befreiten Gebiete wieder einrichtet, was wiederum Versuche, eine Zivilverwaltung und grundlegende Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, erschwert (Sahan/SWT 22.5.2023). Zudem hat al Shabaab auf die Offensive mit Terror reagiert. Alleine im Jänner 2023 detonierte die Gruppe in Städten Zentralsomalias zwölf in Fahrzeugen verbaute Sprengsätze (ICG 21.3.2023). Insgesamt ist die Offensive dort am erfolgreichsten, wo der Widerstand der Lokalbevölkerung gegen al Shabaab am größten ist. Dort wo der lokale Widerstand geringer ist, tun sich die Regierungskräfte in der Offensive ungleich schwerer. In diesem Sinne kann die gesamte Offensive als eine Serie von Kriegen zwischen einzelnen Clans und al Shabaab charakterisiert werden, wobei die Regierungskräfte die Clans unterstützen (ICG 21.3.2023).

Insgesamt ist also die Offensive seit Anfang 2023 zum Stillstand gekommen (Sahan/SWT 4.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 23.6.2023). Al Shabaab hat diese Pause genutzt, um sich zu konsolidieren (Weiss/LWJ 6.10.2023), um Rekrutierung und Ausbildung zu intensivieren, Erpressungsaktivitäten auszuweiten und Angriffe auf hochwertige Ziele zu verstärken (Sahan/SWT 3.7.2023; vergleiche ACLED 30.6.2023). Die Gruppe hat flexibel auf die Offensive reagiert: Kämpfer und Waffen wurden aus bedrohten Gebieten abgezogen und dort gesammelt, wo lokale Gemeinden der Gruppe positiv gegenüberstehen (BBC 15.6.2023). Die übliche Ramadan-Offensive wurde 2023 nicht durchgeführt, um Kräfte für die anstehenden Kämpfe aufzusparen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Laut zweier Quellen ist al Shabaab nun stärker als zuvor (BMLV 1.12.2023; vergleiche Sahan/SWT 3.7.2023). Die letzten Monate waren geprägt von zusätzlichen Rekrutierungen, wobei al Shabaab gleichzeitig größere Verluste vermeiden konnte – anders als die Bundesarmee. Selbst während der intensiven Phase der Gefechte erlitt die Gruppe geringere Verluste als ihr Gegner (BMLV 1.12.2023). Im September 2023 hat al Shabaab so viele Selbstmordattentate versucht und ausgeführt wie in keinem Monat zuvor: 14, drei davon wurden vereitelt. Die Hälfte der Attentate ereignete sich in Zentralsomalia (Weiss/LWJ 6.10.2023).

Al Shabaab überrannte einen Stützpunkt von Danaab in Galcad (Galmudug) und einen Stützpunkt der Bundesarmee in Janay Abdale in der Nähe von Kismayo (Sahan/SWT 3.7.2023). Zudem griff die Gruppe im Mai 2023 den ugandischen ATMIS-Stützpunkt in Buulo Mareer an, Dutzende Soldaten wurden getötet (BBC 15.6.2023; vergleiche Soufan 3.7.2023). Am 7.6.2023 führte al Shabaab einen (weniger erfolgreichen) Angriff gegen äthiopische Truppen in Doolow. Am 9.6.2023 stürmten Kämpfer das Pearl Beach Hotel in Mogadischu, der erste größere Angriff dort innerhalb von drei Monaten. Mindestens 15 Menschen kamen dabei ums Leben (BBC 15.6.2023). Alles deutet darauf hin, dass es al Shabaab in den letzten Monaten gelungen ist, mehr Waffen und Munition zu erbeuten als in den vier Jahren zuvor (Sahan/SWT 3.7.2023). Gleichzeitig haben politische Streitigkeiten eine weitere Offensive der Bundesregierung verzögert (ACLED 15.9.2023; vergleiche ACAPS 17.8.2023). Am 13.7.2023 hat al Shabaab die Kontrolle über den Stützpunkt der Bundesarmee und jubaländischer Darawish in Geriley (Gedo) übernommen. Dieser Stützpunkt, der nur 12 km von der kenianischen Grenze entfernt liegt, war nur zwei Wochen vorher von ATMIS (Kenia) geräumt und an die Bundesarmee übergeben worden. Der Stützpunkt war von den Kenianern fast ein Jahrzehnt lang besetzt worden (Sahan/SWT 21.7.2023). Bemannt werden übergebene FOBs von in Uganda, Eritrea oder Ägypten schlecht ausgebildeten neuen Brigaden, die nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen. Von den bisher übergebenen FOBs wurden Stand Mitte September bereits sechs von al Shabaab vernichtet. Dieses Vorgehen hat System, denn solche Stützpunkte wieder aufzubauen und aufzufüllen – mit Männern, Ausrüstung und Material – ist für die Bundesarmee mit sehr großem Aufwand verbunden (BMLV 14.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 25.9.2023). Al Shabaab hat also im August 2023 eine eigene Offensive begonnen, um die Gewinne der Bundesarmee wieder aufzulösen. Dazu hat die Gruppe auch einen Brückenkopf am Ostufer des Shabelle eingerichtet (Rafal R./X 9.4.2023).

Zentralsomalia aus Sicht des ISW vom 4.10.2023:

Durch Konflikte Vertriebene: Mitte November wurde angegeben, dass 2023 über 1,5 Millionen Menschen zu Vertriebenen im Land geworden sind, 473.000 davon aufgrund von Dürre und 419.000 aufgrund von Überschwemmungen. Ca. 600.000 wurden durch Konflikte vertrieben. Die meisten neuen IDPs aufgrund von Konflikten gab es - abseits von Somaliland - 2023 bis Mitte November in den Regionen Galgaduud (101.000), Mudug (82.000), Lower Shabelle (53.000) und Middle Shabelle (48.000). Dahingegen wurden in Benadir/Mogadischu (800), Bari (1.000) und Hiiraan (2.000) deutlich weniger Menschen neu vertrieben (UNHCR 2023).

Al Shabaab [siehe auch Al Shabaab] stand gemäß Aussagen des Experten Rashid Abdi vom November 2022 mit dem Rücken zur Wand. Die Gruppe hatte viele Gebiete verloren und stand gleichzeitig einer Revolte mehrere Clans gegenüber. Damit befand sich auch das Wirtschaftsimperium al Shabaab unter Druck (GN 5.11.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Die Gruppe hatte in den ersten Monaten der Offensive zig Millionen US-Dollar und laut einer Quelle 1.200 (Gorfayn 27.3.2023), laut somalischen Regierungsangaben vom Juni 2023 sogar 3.000 getötete und 3.700 verletzte Kämpfer zu verkraften. Laufende Erfolge von al Shabaab lassen hinsichtlich dieser Zahlen allerdings Skepsis aufkommen (BBC 15.6.2023). Trotz der nominell hohen Verluste, die al Shabaab durch Luftangriffe und Gefechte zugefügt worden sind, hat die Gruppe jedenfalls keinen Mangel an Kämpfern. Zumindest ist es nicht gelungen, Angriffe von al Shabaab auf Militärstützpunkte einzudämmen. Sie ist auch immer noch in der Lage, Angriffe in Mogadischu, gegen Stützpunkte der ATMIS und über die Grenzen der ATMIS-Mitgliedsstaaten Äthiopien und Kenia hinweg zu verüben (Soufan 3.7.2023). Al Shabaab greift weiterhin regierungsnahe Kräfte und Ziele sowie Zivilisten im ganzen Land an. Die Gruppe übt Druck auf Zivilisten aus, ihre extremistische Ideologie zu unterstützen (USDOS 15.5.2023). Angegriffen werden Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, aber auch Hotels, Märkte und andere öffentliche Einrichtungen (AA 20.10.2023). In Zentralsomalia hält sich al Shabaab weiterhin im freien Gelände zwischen den Ortschaften auf und greift bei jeder Gelegenheit die Orte selbst bzw. die Bewegungen zwischen den Ortschaften an. Insgesamt haben die militärischen Kräfte der al Shabaab in Zentralsomalia zwar hohe Verluste hinnehmen müssen, sind aber bei Weitem nicht geschlagen (BMLV 1.12.2023).

Al Shabaab verwendet gewalttätige, extremistische Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Sie ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Die Gruppe bedient sich neben politischen und kriminellen Mitteln (wie Einschüchterung, Erpressung, etc.) zur Kontrolle der Bevölkerung im militärischen Bereich zur Erreichung der Ziele der gesamten Bandbreite der asymmetrischen Kriegsführung. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte Hit-and-Run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z.B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen. Al Shabaab verfolgt eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus (BMLV 1.12.2023).

Als al Shabaab an den Fronten an Boden verloren hat, steigerte die Gruppe ihre terroristischen Aktivitäten. Dadurch soll suggeriert werden, dass die Gruppe jederzeit an jedem Ort zuschlagen kann (Sahan/SWT 14.12.2022). Beim Einsatz von improvisierten Sprengsätzen ist hinsichtlich der Anzahl in den letzten Jahren keine Veränderung eingetreten. Allerdings sind die Opferzahlen seit 2020 stetig nach oben gegangen. Im Jahr 2020 wurden 501 Menschen durch improvisierte Sprengsätze getötet; 2021 waren es 669; und in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 gab es mindestens 855 Opfer (UNSC 10.10.2022). Auch die Zahl an terroristischen Vorfällen im ersten Quartal 2023 war überdurchschnittlich. Es wurden 61 Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen gezählt (höchste Zahl seit 2017), bei denen 291 Menschen ums Leben gekommen sind. Als Reaktion auf die anhaltende Offensive werden häufig Regierungs- und lokale Clanmilizen ins Visier genommen. Am meisten davon Sprengsätzen betroffen waren Mogadischu/Benadir, Lower Shabelle, Hiiraan und Lower Juba. Mogadischu ist immer wieder auch von indirektem Feuer der al Shabaab betroffen (UNSC 15.6.2023).

Während eines Großteils der Trump-Jahre konnten Kämpfer der al Shabaab aufgrund der Intensität der Luftangriffe nicht in Konvois reisen (Sahan/SWT 2.8.2023). Heute ist besorgniserregend, wie leicht sich die Gruppe in weiten Teilen Somalias bewegen kann, z.B. als sie Anfang Juli 2023 den Stützpunkt der Bundesarmee in Geriley (Gedo) angegriffen hat (Sahan/SWT 2.8.2023; vergleiche BMLV 14.9.2023). Al Shabaab ist nun wieder in der Lage, Hunderte Kräfte zu konzentrieren, um Stützpunkte der Bundesarmee oder ihrer Verbündeten zu vernichten (BMLV 14.9.2023).

Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab (AA 15.5.2023; vergleiche AA 20.10.2023, ÖBN 11.2022). Die aktuelle Offensive konzentriert sich im Wesentlichen auf die Regionen Galgaduud, Hiiraan, Middle Shabelle und Mudug. Sie soll zu einem späteren Zeitpunkt auf den SWS und Jubaland ausgeweitet werden (ACAPS 17.8.2023; vergleiche AA 15.5.2023). Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (USDOS 20.3.2023). Die Schwerpunkte sicherheitsrelevanter Vorfälle verlagern sich aber mitunter. So gibt ACLED für den Zeitraum 27.5.-23.6.2023 Lower Shabelle als Schwerpunkt an (ACLED 30.6.2023). Für Juli-September 2023 wird der Schwerpunkt der Kampfhandlungen mit Galgaduud und Middle Shabelle angegeben. Insgesamt verzeichnet ACLED im Zeitraum 22.7. bis 8.9.2023 375 sicherheitsrelevante Vorfälle. Davon war die überwiegende Mehrheit direkte Kampfhandlungen (230) und Explosionen (100) (ACLED 15.9.2023).

Gebietskontrolle: Innerhalb der letzten zehn Jahre ist es der Regierung und den Truppen von AMISOM/ATMIS gelungen, die Kontrolle über viele Teile des Landes zurückzuerlangen (THLSC 20.3.2023). Al Shabaab wurde erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖBN 11.2022). Während ATMIS und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen (USDOS 15.5.2023; vergleiche BBC 15.6.2023). Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen (USDOS 15.5.2023). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 15.5.2023). In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin. Viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. Gebessert hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle, wo auch Bewegungen zwischen den Orten möglich sind (BMLV 1.12.2023). In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen (UNSC 6.10.2021; vergleiche BMLV 1.12.2023, AQ21 11.2023). Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (HRW 12.1.2023). Als "Inseln" zu bezeichnen sind etwa Xudur, Waajid, Diinsoor, Wanla Weyne und Baraawe (BMLV 1.12.2023). In den zuletzt von der Regierung eroberten Gebieten findet sich die Bundesarmee v.a. in kritischen Teilen - etwa entlang der Hauptversorgungsrouten (Sahan/STDOK/SEM 4.2023).

Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind:

1.           das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;

2.           Jamaame und Badhaade in Lower Juba;

3.           größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;

4.           Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;

5.           der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor;

6.           Gebiete rechts und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

7.           die südliche Hälfte von Galgaduud mit der Stadt Ceel Buur (PGN 23.1.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023); nach neueren Angaben reicht das Gebiet dort nur ein Stück nach Galgaduud hinein (IO-D/STDOK/SEM 4.2023);

8.           sowie die Region Bakool abzüglich eines Streifens entlang der äthiopischen Grenze und der Städte Xudur und Waajid (BMLV 1.12.2023).

In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden. – Insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch ATMIS und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden. Immer wieder gelingt es al Shabaab, kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (BMLV 1.12.2023). Al Shabaab hat sich – in begrenztem Ausmaß – fähig gezeigt, Territorien, die bereits durch die Bundesarmee und ATMIS befreit wurden, wieder zurückzuerobern. In der Vergangenheit war das Scheitern, eroberte Territorien erfolgreich zu halten, mit dem Mangel an Polizeipräsenz in den eroberten Gebieten und der allgemein schlechten Moral in der Bundesarmee verbunden, die auf sehr geringe und oftmals verzögerte Besoldung zurückzuführen war (ÖBN 11.2022).

Andere Akteure: Kämpfe zwischen Clans und Subclans, insbesondere um Wasser- und Landressourcen sind weit verbreitet, insbesondere in den Regionen Hiiraan, Galmudug, Lower und Middle Shabelle bzw. in Regionen, in denen die Regierung oder staatliche Behörden schwach oder nicht vorhanden sind (ÖBN 11.2022). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 20.10.2023) sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen (AA 15.5.2023). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten (USDOS 20.3.2023). Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer - generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter - Gewalt verbunden sein (BMLV 1.12.2023).

Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 15.5.2023). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub („Carjacking“), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (AA 20.10.2023).

Im Zeitraum August 2022 bis Juni 2023 erwähnen die Berichter der UN nur einen Angriff des sogenannten Islamischen Staats in Somalia (ISIS), namentlich die Ermordung eines hochrangigen Beamten in Mogadischu mit einem improvisierten Sprengsatz (UNSC 16.2.2023; vergleiche UNSC 15.6.2023). ISIS ist in Puntland weiterhin präsent, verfügt jedoch nicht über die Fähigkeit, große Gebiete zu kontrollieren oder bedeutende Operationen durchzuführen (UNSC 31.7.2023).

Zivile Opfer: Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich [siehe Tabelle weiter unten]. Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an (C4/Jamal 15.6.2022; FDD/Roggio 11.10.2023). Laut einer Quelle trifft es zwar zu, dass al Shabaab bei Sprengstoffanschlägen meist nicht mutwillig Zivilisten angreift und diese Taktik im Vergleich zu anderen Gruppen gezielter anwendet; dennoch wählt sie in regelmäßigen Abständen Ziele aus, bei denen die Gruppe weiß, dass viele Zivilisten Kollateralschäden erleiden werden - etwa bei Angriffen auf Hotels, Kaffee- oder Teehäuser, Restaurants oder belebte Straßenkreuzungen (FDD/Roggio 11.10.2023). Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu den somalischen Sicherheitskräften und vermehrt auch Führungspersonen aus Clans, die sich dem Kampf gegen al Shabaab verpflichtet haben (AA 15.5.2023). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (BMLV 9.2.2023).

Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von ATMIS bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28 % der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es 20 % (Sahan/Bryden 6.4.2021).

Von der UN werden die Zahlen ziviler Opfer (Tote und Verletzte) wie folgt angegeben:

(UNSC 15.6.2023; UNSC 16.2.2023; UNSC 1.9.2022b; UNSC 13.5.2022; UNSC 8.2.2022; UNSC 11.11.2021; UNSC 10.8.2021; UNSC 19.5.2021; UNSC 17.2.2021; UNSC 13.11.2020; UNSC 13.8.2020; UNSC 13.5.2020; UNSC 13.2.2020)

Die letzte halbwegs glaubwürdige Volkszählung wurde im Jahr 1975 durchgeführt - auch diese mit signifikanten Einschränkungen (Sahan/SWT 10.5.2023). Neueste Schätzungen gehen von rund 17 Millionen Einwohnern aus (IPC 13.12.2022). In diesem Zusammenhang lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:10.235 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen].

Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v.a. durch die USA. Unter der Trump-Regierung wurden innerhalb von vier Jahren fast 220 Luftangriffe durchgeführt (Sahan/SWT 2.8.2023). Dahingegen waren es 2021 nur elf (HRW 13.1.2022) und 2022 15 (BMLV 9.2.2023). Im Zeitraum Jänner-August 2023 waren es 13 (Sahan/SWT 2.8.2023). Bei Luftangriffen auf al Shabaab und den ISIS sind zwischen 2017 und 2021 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden (HIPS 2021). Auch Kenia führt nach wie vor Luftschläge in Somalia durch, z.B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (GN 22.6.2022); und es kommt auch zu äthiopischen Luftangriffen (VOA 8.8.2022), z.B. am 30.7.2022 in der Region Bakool (SG 31.7.2022). Nach Angaben somalischer Armeevertreter sind auch türkische Drohnen bei Operationen gegen al Shabaab aktiv (VOA/Maruf 30.11.2022). Generell hat die Zahl an Luftangriffen aber erheblich abgenommen, die durchgeführten konzentrieren sich auf höherrangige Angehörige der al Shabaab (BMLV 1.12.2023).

1.           Banadir Regional Administration (BRA; Mogadischu)

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Die Sicherheitslage in Mogadischu ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass al Shabaab Angriffe auf Behörden und ihre Unterstützer verübt. Zugleich stecken hinter der Gewalt in der Stadt neben al Shabaab auch Regierungskräfte, der sogenannte Islamische Staat in Somalia (ISIS) und Unbekannte (Landinfo 8.9.2022). In der Stadt befinden sich die Polizei, die Präsidentengarde, die Bundesarmee, die National Intelligence and Security Agency (NISA), private Sicherheitskräfte und Clanmilizen in unterschiedlichem Umfang im Einsatz (Sahan/SWT 6.9.2023). Nichtstaatliche Sicherheitskräfte, darunter Clan-Milizen, üben trotz wiederholter Versuche, sie auf Linie zu bringen, erheblichen Einfluss in der Stadt aus. Die Teile dieser Patchwork-Sicherheitsarchitektur konkurrieren regelmäßig um Checkpoints und den Zugang zu Ressourcen (Sahan/SWT 6.9.2023).

Noch vor zehn Jahren kontrollierte al Shabaab die Hälfte der Stadt, die gleichzeitig Schauplatz heftiger Kämpfe war (BBC 18.1.2021; vergleiche Sahan/SWT 18.1.2022). 2011 war Mogadischu eine halb entleerte Ruinenstadt, Einschusslöcher, zerstörte Häuser und Milizen in Kampfwagen prägten das Bild. Es gab keinerlei staatliche Dienste (Sahan/SWT 18.1.2022). Seit 2014 ist das Leben nach Mogadischu zurückgekehrt (SRF 27.12.2021) und die Stadt befindet sich unter Kontrolle von Regierung und ATMIS (PGN 23.1.2023). Die Sicherheitslage hat sich in den vergangenen zehn Jahren im Allgemeinen verbessert (Sahan/SWT 6.9.2023). Immer neue Teile von Mogadischu werden wieder aufgebaut. Er herrscht große Aktivität, viel Geld wird investiert (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Nun ist Mogadischu eine pulsierende Stadt mit hohen Apartmentblocks und Einkaufszentren. Der berühmte Lido-Strand ist am Wochenende voll mit Familien. Historische Gebäude und Monumente wurden renoviert und sind der Öffentlichkeit zugänglich. Unzählige Kaffeehäuser sind aus dem Boden geschossen. Der private und der öffentliche Sektor sind aufgrund der relativen Stabilität der Stadt stark gewachsen. Sechs Banken und Dutzende internationaler Firmen haben in Mogadischu eine Niederlassung eröffnet. Es gibt Investitionsmöglichkeiten, und es sind neue Arbeitsplätze entstanden (Sahan/SWT 18.1.2022). Die Stimmung der Menschen in der Stadt ist laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 relativ positiv. Dies hat mit den Bemühungen der Regierung im Kampf gegen al Shabaab zu tun (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Nach der Wahl von Hassan Sheikh Mohamed hat sich die Atmosphäre in Mogadischu dramatisch verändert, die Stadt ist ruhiger geworden (Sahan/SWT 8.6.2022).

Generell haben sich seit 2014 die Lage für die Zivilbevölkerung sowie die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden verbessert (BMLV 9.2.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 hat sich die Sicherheitslage in der Stadt seit 2017 weiter verbessert (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer anderen Quelle der FFM ist die Lage heute ähnlich wie 2017, jedenfalls aber besser als etwa 2012-2014 (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Ein andere Quelle erklärt, dass sich die Sicherheitslage in Mogadischu im Jahr 2023 gegenüber 2022 verbessert hat und auch besser ist als 2016 oder 2017 (BMLV 14.9.2023). Mehrere lokale Quellen der norwegischen COI-Einheit beschrieben im Mai 2022 die Sicherheitsentwicklungen in der Stadt als positiv. Jedenfalls ist die Zahl an Vorfällen und Todesopfern in den vergangenen Jahren relativ stabil geblieben. Diesbezüglich muss zudem berücksichtigt werden, dass gleichzeitig die Zahl an Einwohnern deutlich gestiegen ist (Landinfo 8.9.2022). So hat UNFPA die Einwohnerzahl im Jahr 2014 mit 1,65 Millionen angegeben (UNFPA 10.2014), während die Zahl im Jahr 2022 auf fast 2,9 Millionen geschätzt wird (IPC 13.12.2022). Laut UN leben in Mogadischu nun mehr als 900.000 IDPs (Sahan/SWT 6.9.2023).

Die Stadt hat 17 Bezirke und mehrere sogenannte "residential areas", die noch nicht zu Bezirken gemacht worden sind. In jedem Bezirk gibt es eine Polizeistation, in der ganzen Stadt mit ca. 18.000 Mann ausreichend Sicherheitskräfte (Sahan/SWT 7.11.2022), davon 5.000-6.000 Polizisten. In jedem Bezirk gibt es eine Polizeistation (Sahan/SWT 6.9.2023). Seit April 2022 wird eine neue paramilitärische Einheit in Mogadischu eingesetzt (RD 10.4.2023). Dabei handelt es sich um in Uganda ausgebildete Kräfte (JOWH 10.4.2023). Diese Militärpolizei - eine Einheit der Bundesarmee - wurde mit der Stabilisierung Mogadischus beauftragt (FTL 14.4.2023; vergleiche JOWH 10.4.2023). Es kommt nun auch in Außenbezirken zu Razzien, etwa am 24.8.2023 in Heliwaa, Yaqshiid und Warta Nabadda. Dabei arbeitet die Polizei mitunter mit der Militärpolizei zusammen (Halqabsi 24.8.2023). Mit der Operation "Ciiltire" soll die Sicherheitslage in Mogadischu weiter verbessert werden. In diesem Rahmen soll auch das neue Waffengesetz (Capital Arms Control Act), das den illegalen Waffenverkauf und -Besitz in der Hauptstadt reduzieren soll, durchgesetzt werden. Involviert sind die Polizei und die Militärpolizei sowie Sicherheitskräfte der Region Benadir (Halqabsi 18.4.2023). Der Einsatz der 2.000 Mann der Militärpolizei ist ein massiver Beitrag für die Sicherheitslage in der Stadt. Die Einheit kümmert sich u.a. um die militärische Sicherung von Mogadischu (BMLV 14.9.2023). Allerdings reicht die gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte weiterhin nicht aus, um Aktivitäten der al Shabaab gänzlich zu unterbinden (BMLV 1.12.2023). Auch eine weitere Quelle vertritt die Ansicht, dass die somalischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage sind, der von al Shabaab ausgehenden Bedrohung für die gesamte Region Benadir entgegenzutreten (UNSC 10.10.2022). Unter den Sicherheitskräften herrscht mangelnde Koordination und Kommunikation, dafür aber Korruption. Und gleichzeitig erschweren fehlende Personalausweise und Register (etwa für Fahrzeuge) und Adressen die Sicherheitskontrolle (Sahan/SWT 7.11.2022). Zudem ist die Polizei nicht unbedingt effizient und diszipliniert (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023) und zudem überfordert. Sie musste in den vergangenen Jahren mit einem wachsenden Drogenmilieu und Bandenwesen sowie mit al Shabaab und einer zunehmenden Politisierung der Sicherheitskräfte unter dem Ex-Präsident Farmaajo kämpfen. Seit der Stationierung der o.g. von Uganda ausgebildeten Kräfte gibt es aber zunehmend Versuche, z.B. illegale Checkpoints zu räumen (Sahan/SWT 6.9.2023). Die Sicherheitskräfte können zudem nun großteils jene Gebiete kontrollieren, in welchen al Shabaab zuvor ungehindert agieren konnte. Zuvor verfügte die Bundesregierung nicht flächendeckend über ausreichend staatliche Institutionen hinsichtlich der Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums. Die diesbezügliche Lage hat sich gebessert (BMLV 1.12.2023).

Gleichzeitig bietet die Stadt für al Shabaab alleine aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele. Innerhalb der Stadt hat sich die Sicherheit zwar verbessert, al Shabaab kann aber nach wie vor Anschläge durchführen. Andererseits gilt es als höchst unwahrscheinlich, dass al Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. In Mogadischu besteht kein Risiko, von al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)Rekrutierung zu entziehen (BMLV 1.12.2023).

Noch im Jahr 2022 sind Quellen davon ausgegangen, dass Mogadischu im Falle eines Abzugs von ATMIS die Rückkehr von al Shabaab drohte (Robinson/TGO 27.1.2022; vergleiche Meservey/RCW 22.11.2021). Nun aber haben zwei Quellen der FFM Somalia 2023 angegeben, dass sie diese Gefahr nicht (mehr) sehen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Think/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine weitere Quelle geht nicht davon aus. Demnach ist nunmehr ein rascher Zusammenbruch des Staates nur noch dann zu erwarten, wenn jegliche externe Unterstützung eingestellt wird (BMLV 1.12.2023).

Al Shabaab kontrolliert in Mogadischu keine Gebiete (AQ21 11.2023), ist aber im gesamten Stadtgebiet präsent, das Ausmaß ist aber sehr unterschiedlich (BMLV 9.2.2023). Dabei handelt es sich um eine verdeckte Präsenz und nicht um eine offen militärische (BMLV 1.12.2023; vergleiche INGO-F/STDOK/SEM 4.2023, Landinfo 8.9.2022). In den Außenbezirken hat al Shabaab größeren Einfluss, auch die Unterstützung durch die Bevölkerung ist dort größer (BMLV 1.12.2023). Die Gruppe verfügt in Mogadischu über keine nennenswerte institutionelle Präsenz. Trotzdem erhebt die Gruppe den Zakat (islamische Steuer) von Unternehmen in der Stadt. Zudem macht al Shabaab ihre Präsenz insofern bemerkbar, dass sie ihre Form der "Moral" umsetzt. So tötete die Gruppe beispielsweise Anfang März 2023 zehn Personen, denen der Verkauf von Drogen in den Stadtbezirken Yaqshiid und Dayniile vorgeworfen worden war (Sahan/SWT 6.9.2023).

Bei allen Möglichkeiten, über welche al Shabaab verfügt, so hat die Gruppe in Mogadischu kein freies Spiel. Regierungskräfte sind in allen Bezirken der Stadt präsent – etwa mit Checkpoints; und es werden Razzien durchgeführt. Die Anzahl an Mitgliedern, Unterstützern und Ressourcen in Mogadischu sind begrenzt, und daher muss al Shabaab diesbezügliche Prioritäten setzen (Landinfo 8.9.2022). Quellen der FFM Somalia 2023 erklären: Al Shabaab ist weiter abgedrängt worden und daher kommen komplexe Angriffe seltener vor. Ein Stadtviertel nach dem anderen wurde gesichert, Häuserblock für Häuserblock durchsucht (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). An den Kontrollpunkten an Straßen wird ein großer Aufwand bei Durchsuchungen betrieben (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). In Dayniile sind keine Flaggen der al Shabaab mehr zu sehen. Die Polizei ist nun in der ganzen Stadt vertreten – auch an der Peripherie (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Die Arbeit der Regierung ist laut einer Quelle beeindruckend. Demnach antworten Menschen in der Stadt teilweise nicht mehr auf Anrufe durch al Shabaab (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Üblicherweise galt, dass al Shabaab jede Person töten konnte, die sie töten wollte. Nunmehr gilt dies laut einer Quelle nicht mehr uneingeschränkt (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine andere Quelle erklärt, dass die Fähigkeiten von al Shabaab, sich in der Stadt zu bewegen und Menschen gezielt zu töten, durch Sicherheitsmaßnahmen eingeschränkt worden sind (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Der Austausch des Personals an den Checkpoints der Regierung hat zur Einschränkung der Fähigkeiten von al Shabaab erheblich beigetragen. Zuvor bestochene und/oder infiltrierte Checkpoints wurden so für die Gruppe wertlos. Laut Expertenmeinung herrscht ein Krieg um Mogadischu, der nicht unbedingt mit Kugeln geführt wird. Die Bundesregierung versucht al Shabaab mit Maßnahmen - Checkpoints, Einschränkung der Finanzoperationen, Bekämpfung der Justiz von al Shabaab - von ihren "steuerlichen" Pfründen in der Stadt zu entkoppeln. Al Shabaab wiederum setzt sich dagegen zur Wehr. Dieser Kampf ist noch nicht entschieden (AQ21 11.2023).

Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Gruppe in Mogadischu aktiv Deserteure sucht und liquidiert (Landinfo 8.9.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Laut einer Quelle rekrutiert al Shabaab in der Stadt auch keine neuen Mitglieder (Landinfo 8.9.2022). Nach Angaben einer anderen Quelle ist aufgrund des massiven Bevölkerungsanstiegs und der zahlreichen Jugendlichen ohne Auskommen für al Shabaab ohnehin ein großes Rekrutierungspotenzial gegeben, das auch genutzt wird (BMLV 9.2.2023).

Die Zahl an Angriffen der al Shabaab ist Anfang des Jahres 2023 gefallen, Mogadischu hat eine relative ruhige Periode durchlebt. Die Stationierung neuer Sicherheitskräfte an Checkpoints am Stadtrand hat zur Abschreckung von al Shabaab beigetragen. Die Gruppe analysiert ihre neue Situation und reorganisiert sich. Die niedrige Zahl an Gewaltvorfällen in den Monaten März-Mai 2023 darf aber nicht zur Annahme verleiten, dass die Kapazitäten von al Shabaab signifikant geschädigt worden wären (AQ20 5.2023). Die relative Flaute bei Angriffen der al Shabaab in Mogadischu im ersten Halbjahr 2023 endete mit der Wiederaufnahme der Regierungsoffensive in Zentralsomalia. Die Gruppe hat ihre gezielten Angriffe auf staatsnahe Personen und Sicherheitskräfte wieder aufgenommen (Sahan/SWT 6.9.2023). Seit Mitte des Jahres 2023 kommt es wieder vermehrt zu Hit-and-Run-Angriffen auf Checkpoints der Sicherheitskräfte, v.a. aus Dayniile heraus. Damit möchte al Shabaab Präsenz zeigen. Die Gruppe ist nicht aus der Stadt verschwunden. Aber es gibt weniger Anschläge, al Shabaab spürt den Druck in Zentralsomalia (BMLV 14.9.2023). Trotzdem verbreitet die Gruppe auch weiterhin Angst (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Mogadischu ist eine Großstadt und steht zur Infiltrierung offen. Es ist schwer auszumachen, wer zu al Shabaab gehört und wer nicht (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Die Gruppe ist in der Lage, jede Person in Mogadischu ausfindig zu machen. Demnach herrscht bei den Bürgern die Angst, dass jederzeit etwas passieren könnte (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Ein Mitarbeiter einer internationalen NGO gibt an, dass er und Kollegen Drohanrufe bekommen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Die Gruppe kann immer noch den Sitz des Präsidenten mit Mörsern beschießen. Und es gibt auch weiterhin gezielte Attentate (IO-D/STDOK/SEM 4.2023) und Anschläge auf Regierungstruppen und ATMIS (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab ist also auch weiterhin in der Stadt aktiv. Die Gruppe hat zahlreiche Informanten innerhalb der Sicherheitskräfte (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023), auch relevante Verwaltungsstrukturen gelten als unterwandert (Landinfo 8.9.2022; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab verlangt von Geschäftsleuten in der Stadt die Zahlung von "Steuern" (Mohamed/VOA 9.11.2022; vergleiche Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Zwischen Mai und Juli 2022 erhielten zahlreiche Besitzer von gemauerten oder mehrstöckigen Häusern eine Zahlungsaufforderung von al Shabaab. Dabei liegt die jährliche Abgabe zwischen 100 und 300 US-Dollar. Zudem wird die Errichtung von Häusern besteuert. Für Zahlungsverzögerungen drohen Strafzahlungen (Mohamed/VOA 9.11.2022). Al Shabaab war zumindest 2022 in der Lage, nahezu im gesamten Stadtgebiet verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben und die Bevölkerung einzuschüchtern (Sahan/SWT 7.11.2022).

Zivilisten: Im Zeitraum Jänner 2020 bis November 2022 gab es mehr als 166 Vorfälle, wo Sprengsätze innerhalb der Stadt detoniert sind oder aber gefunden und entschärft werden konnten (Sahan/SWT 7.11.2022). Die Gruppe ist zudem weiterhin in der Lage, in Mogadischu auch größere Sprengstoffanschläge durchzuführen (BMLV 1.12.2023). Üblicherweise zielt al Shabaab mit Angriffen auf Sicherheitskräfte und Vertreter des Staates ["officials"] (UNSC 6.10.2021). Zivilisten stellen im Allgemeinen kein Ziel von Angriffen der al Shabaab dar (Landinfo 8.9.2022). Sie leiden auf zwei Arten an der Gewalt durch al Shabaab: Jene, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von al Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt (BMLV 9.2.2023). Und natürlich besteht für Zivilisten das Risiko, bei Anschlägen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und damit zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (BMLV 1.12.2023; vergleiche Landinfo 8.9.2022). Denn al Shabaab greift auch jene Örtlichkeiten an, die von Regierungsvertretern und Wirtschaftstreibenden sowie Sicherheitskräften frequentiert werden, z.B. Restaurants, Hotels oder Einkaufszentren (BS 2022a; vergleiche Landinfo 8.9.2022). Ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierter Ort ist kein Ziel der al Shabaab. Die Hauptziele von al Shabaab befinden sich in den inneren Bezirken: militärische Ziele, Regierungseinrichtungen und das Flughafenareal. Die Außenbezirke hingegen werden von manchen als die sichersten Teile der Stadt erachtet, da es dort so gut wie nie zu größeren Anschlägen kommt. Allerdings kommt es dort öfter zu gezielten Tötungen (BMLV 1.12.2023). 70 % der von ACLED aufgezeichneten gewalttätigen Zwischenfälle in Mogadischu im Zeitraum Jänner 2021 bis Juni 2022 richteten sich gegen militärische Ziele. Viele dieser Angriffe ereigneten sich in den Außenbezirken der Stadt. Letztendlich widmet die Gruppe Zufallsopfern aber wenig Aufmerksamkeit. Sie erachtet bei Angriffen getötete Zivilisten als Märtyrer (Landinfo 8.9.2022).

Generell unterstützt die Zivilbevölkerung von Mogadischu nicht die Ideologie von al Shabaab. Am Stadtrand ist die Unterstützung größer, die meisten Bewohner haben al Shabaab gegenüber aber eine negative Einstellung. Sie befolgen die Anweisungen der Gruppe nur deshalb, weil sie Repressalien fürchten. Al Shabaab agiert wie eine Mafia: Sie droht jenen mit ernsten Konsequenzen, welche sich Wünschen der Gruppe entgegensetzen (BMLV 1.12.2023; vergleiche FIS 7.8.2020).

Auf die Frage nach den größten Gefahren im täglichen Leben in Mogadischu erklärt eine Quelle der FFM Somalia 2023: Erstens Erpressung durch al Shabaab; die Gruppe versucht immer, an Geld zu kommen. Daher besteht immer das Risiko, von ihr einen Drohanruf oder eine bedrohliche Textnachricht zu erhalten. Zweitens besteht für einen Durchschnittsbürger zwar kein Risiko, gezielt angegriffen zu werden; aber natürlich besteht immer das Risiko, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine andere Quelle nennt dieses Risiko („wrong place, wrong time“). Demnach werden Normalbürger nicht angegriffen. Es muss immer ein bestimmtes Interesse an einer Person herrschen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Eine Quelle gibt zu bedenken, dass man sich in Mogadischu nicht so leicht verstecken, nicht einfach isolieren kann. Man besucht die Familie, geht auf den Markt oder ins Spital etc. Personen sind demnach einfach aufzuspüren (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Zum Ziel werden jene, die für die Regierung arbeiten. Diese Personen brauchen geeigneten Schutz. Auch Journalisten tragen ein höheres Risiko, insbesondere jene, die sich kritisch zu al Shabaab geäußert haben. Üblicherweise wird gezielt eine Person angegriffen, nicht aber deren Familienmitglieder (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Bewegungsfreiheit: Die Menschen wissen um die Gefahr bestimmter Örtlichkeiten und versuchen daher, diese zu meiden. Sie bewegen sich in der Stadt, vermeiden aber unnötige Wege. Für viele Bewohner der Stadt ist die Instabilität Teil ihres Lebens geworden. Sie versuchen, Gefahren auszuweichen, indem sie Nachrichten mitverfolgen und sich gegenseitig warnen (FIS 7.8.2020). An neuralgischen Punkten der Stadt befinden sich Checkpoints, allerdings weniger als früher. An den Einfahrtsstraßen wird jedes Fahrzeug kontrolliert. Insgesamt wird an diesen Straßensperren professioneller vorgegangen als noch vor einigen Jahren. Präsident Hassan Sheikh Mohamud hat die Auflösung der meisten innerstädtischen Checkpoints angeordnet. Größere Einschränkungen gibt es aktuell nur mehr bei besonderen Anlässen - dies wird mittlerweile aber im Vorfeld angekündigt (BMLV 9.2.2023). Immer wieder kommt es zu Angriffen von Regierungskräften auf Fahrer und Passagiere von Tuk-Tuks und anderen Fahrzeugen. Oft ereignen sich derartige Vorfälle an Checkpoints. Die Zugehörigkeit zu einem starken Clan oder Verbindungen zu mächtigen Personen in der Stadt können an Checkpoints oder beim Zusammentreffen mit Regierungskräften von Vorteil sein. Als starke Clans erachtet werden in Mogadischu v.a. die Hawiye / Abgaal und die Hawiye / Habr Gedir (Landinfo 8.9.2022). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass Mogadischu hinsichtlich der Clanzugehörigkeit generell als kosmopolitisch erachtet werden kann. Eine Rolle spielt der Clan allerdings bei sozialen Angelegenheiten, bei Eheschließungen, beim Ringen um Macht, in der Politik (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).

Quellen der FFM Somalia 2023 berichten: Einige Checkpoints werden von NISA kontrolliert (z.B. am Flughafen); innerhalb der Stadt aber meist von der Polizei. Die neu eingesetzte Militärpolizei unterhält Kontrollpunkte in den Vororten und Ausfallstraßen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Für normale Bürger gibt es hinsichtlich der Bewegungsfreiheit allgemein keine Probleme in Mogadischu (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Clan oder Geschlecht spielen hier keine Rolle (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-F/STDOK/SEM 4.2023, UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Frauen können sich auch problemlos alleine bewegen, nur spät in der Nacht könnte es hier zu Sicherheitsproblemen kommen. Insgesamt haben alle Menschen die gleichen Probleme: Die Freiheit wird manchmal durch Straßensperren massiv eingeschränkt – etwa an Feiertagen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023) oder wenn wichtige Delegationen in der Stadt sind. Wenn gerade kein besonderer Anlass gegeben ist, gibt es für beide Geschlechter und alle Clans Bewegungsfreiheit (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle fragen Polizisten an Checkpoints häufig um ein Trinkgeld, um die Bezahlung ihres Essens, um Zigaretten. Tatsächlich werden aber nur Autos – und hier meist die Fahrer – kontrolliert, Fußgänger und Tuk-Tuks können passieren (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Gewaltkriminalität: Es gibt Bandenwesen und Straßenkriminalität. Teile von Karaan, Heliwaa und Yaqshiid bzw. alle Ränder der Stadt sind hoher Kriminalität ausgesetzt (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Für Zivilisten besteht nach wie vor die Sorge vor Raubüberfällen und Gewalt, insbesondere nachts. Dabei ist die Ermordung von Raubopfern keine Seltenheit. Dies steht insbesondere im Zusammenhang mit dem Aufstieg von Jugendbanden (bekannt als "ciyaal weero" oder "aggressive Kinder") seit 2021 (Sahan/SWT 6.9.2023; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Diese Gangs haben ursprünglich Passagiere von Tuk-Tuks (Bajaj) tyrannisiert. Sie haben geraubt, was die Menschen gerade bei sich hatten (Sahan/SWT 27.7.2022). Viele Gang-Mitglieder nehmen auch Drogen oder trinken Alkohol (Sahan/SWT 27.7.2022; vgl.Sahan/SWT 29.8.2022). Die gestiegene Zahl an Delikten wie Diebstahl und Raub ist teilweise der Beschaffungskriminalität zuzurechnen (Sahan/SWT 29.8.2022). Diesen Gangs werden mittlerweile aber auch andere Verbrechen vorgeworfen, darunter sexuelle Übergriffe (Sahan/SWT 6.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 27.7.2022), Raubüberfälle und Morde (Sahan/SWT 27.7.2022). Gleichzeitig sind Jugendgangs nach Gebieten organisiert und reklamieren verschiedene Teile der Stadt für sich (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Sahan/SWT 29.8.2022), was zu weiterer Gewalt führt (Sahan/SWT 29.8.2022). Denn mit zunehmender Ausbreitung haben sie begonnen, sich gegenseitig zu bekämpfen. Zwar hat die Polizei bei Razzien immer wieder Gang-Mitglieder festgenommen, diese kamen aber - vermutlich durch Bestechung - immer frei, bevor ihnen der Prozess gemacht worden ist (Sahan/SWT 27.7.2022). Manche Sicherheitskräfte beteiligen sich an den Gangs, manche sind in den Drogenhandel involviert (Sahan/SWT 29.8.2022).

In Mogadischu kommt es mitunter auch zu Landkonflikten, z.B. im August 2023 in Xamar Weyne. Dort wurden in Folge von Gewalt auch mehrere Menschen vertrieben (Sahan/Gedo 7.8.2023).

Bei manchen Vorfällen ist unklar, von wem oder welcher Gruppe die Gewalt ausgegangen ist; Täter und Motiv bleiben unbekannt. Es kommt zu Rachemorden zwischen Clans, zu Gewalt aufgrund wirtschaftlicher Interessen oder aus politischer Motivation. Lokale Wirtschaftstreibende haben in der Vergangenheit auch schon al Shabaab engagiert, um Auftragsmorde durchzuführen. Mit Stand 2020 berichtet die finnische COI-Einheit: Die Bewohner haben eine hohe Hemmschwelle, um sich an die Polizei zu wenden. Das Vertrauen ist gering. Die Fähigkeit der Behörden, bei kleineren Delikten wie etwa Diebstahl zu intervenieren, ist derart gering, dass Menschen keinen Nutzen darin sehen, Anzeige zu erstatten. Hat eine Person Angst vor al Shabaab, dann kann ein Hilfesuchen bei der Polizei - aufgrund der Unterwanderung selbiger - die Gefahr noch verstärken. Die Polizei ist auch nicht in der Lage, Menschen bei gegebenen Schutzgeldforderungen seitens al Shabaab zu unterstützen (FIS 7.8.2020). Nach neueren Angaben ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei aufgrund der neu eingesetzten Kräfte gestiegen. Auch wenn diese streng genommen der Bundesarmee angehören, heben sie das Ansehen der Sicherheitskräfte. Sowohl Polizei als auch Bundesarmee bleiben aber weiterhin von al Shabaab unterwandert (BMLV 1.12.2023).

Der sogenannte Islamische Staat in Somalia (ISIS) verfügt in Mogadischu nur über sehr begrenzten Einfluss. Die Gruppe versucht u.a. auf dem Bakara-Markt Steuern einzutreiben (Landinfo 8.9.2022). Im Jänner 2022 haben Geschäftsleute auf dem Markt aus Protest dagegen für einige Tage ihre Geschäfte geschlossen (Landinfo 8.9.2022; vergleiche Sahan/SWT 17.8.2022). Die Gruppe hatte zuvor jeden Händler, der kein Schutzgeld abführt, mit dem Tod bedroht (Sahan/SWT 17.8.2022).

Vorfälle: In Benadir/Mogadischu leben nach Angaben einer Quelle 2,874.431 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2021 insgesamt 85 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei 79 dieser 85 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2022 waren es 105 derartige Vorfälle (davon 94 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und violence against civilians ergeben sich für 2022 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): 3,7.

2022 waren besonders die Bezirke Dayniile (74 Vorfälle), Hodan (39), Dharkenley (36), Yaqshiid (35), Wadajir/Medina (33) und Karaan (30), in geringerem Ausmaß die Bezirke und Hawl Wadaag (18), Heliwaa (14), Wardhiigleey (11) und Xamar Jabjab (10) von tödlicher Gewalt betroffen. Zivilisten waren 2022 v.a. in den Bezirken Dayniile (16 Vorfälle) und in geringerem Ausmaß in Dharkenley (12), Wadajir/Medina (12), Hodan (10) und Karaan (10) von gegen sie gerichteter, tödlicher Gewalt betroffen (ACLED 2023).

In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2022 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie "violence against civilians", in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt:

2.           HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle)

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Die Macht der Regierung von HirShabelle reicht in alle Gebiete östlich des Shabelle und jedenfalls die Regionalhauptstädte Jowhar und Belet Weyne. Die Macawiisley haben beeindruckende Erfolge gegen al Shabaab erzielt und die Gruppe weitgehend aus den östlichen Teilen von Hiiraan und Middle Shabelle verdrängt (BMLV 1.12.2023). Quellen der FFM Somalia 2023 geben an, dass Busse zwischen Mogadischu und Belet Weyne und weiter nach Dhusamareb und Galkacyo verkehren. Es gibt nur wenige Checkpoints, an den Eingängen der Städte wird kontrolliert (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023); die Straße ist offen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle gibt an, dass die Route immer noch gefährlich ist und Menschen mit dem Flugzeug reisen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Eine aktuellere Quelle erklärt, dass sich die Lage entlang der Verbindung von Jowhar nach Belet Weyne nach Rückschlägen der Regierungstruppen im September 2023 wieder verschlechtert hat, diese ist aber nicht mit der schlechten Lage vor der Offensive 2022 vergleichbar. Generell hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle verbessert. Hier sind in weiten Gebieten auch Bewegungen zwischen den Orten möglich (BMLV 1.12.2023).

Zur laufenden Offensive in Zentralsomalia siehe Süd-/Zentralsomalia, Puntland .

Hiiraan: Belet Weyne, Buulo Barde und Jalalaqsi befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS (PGN 23.1.2023). Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Im Nordwesten Hiiraans ist al Shabaab nur in geringer Stärke präsent. Vor allem der Bereich entlang der somalisch-äthiopischen Grenze ist aktuell als sicher anzusehen (BMLV 1.12.2023). Gemäß Regierungsangaben haben die Hawadle in Hiiraan alle Teile ihres Clangebiets von al Shabaab zurückerobert (Economist 3.11.2022). Nur noch das südwestliche Hiiraan befindet sich unter Kontrolle von al Shabaab (PGN 23.1.2023). Die Verbindung von Jowhar nach Belet Weyne ist grundsätzlich offen. Zwischen Buulo Barde und Belet Weyne ist es in den letzten Monaten aber wiederholt zu Zusammenstößen gekommen, die mit den Versuchen von al Shabaab, Truppen über den Shabelle nach Osten zu verlegen, zusammenhängen. Die Ortschaften entlang der Straße befinden sich jedenfalls nicht unter Kontrolle von al Shabaab (BMLV 1.12.2023).

Auch eine Quelle der FFM Somalia 2023 gibt an, dass sich die Erreichbarkeit von Hiiraan nach der Offensive verbessert hat. Tatsächlich verfügt die Regierung aber nicht über ausreichend Ressourcen, um jedes Dorf abzusichern. Trotzdem sich die Situation entlang der Hauptroute also verbessert hat, gibt es nach wie vor sogenannte Hit-and-Run-Angriffe und Hinterhalte. Aus Sicherheitsgründen bevorzugen manche Menschen weiterhin den Luftweg. Normalbürger können aber auch den Landweg nutzen und tun dies auch (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle berichtete allerdings schon im September 2022, dass die Verbindung von Belet Weyne nach Buulo Barde sicher ist (FTL 27.9.2022); eine weitere Quelle gibt im Juni 2023 an, dass Bürger zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt ohne Angst vor al Shabaab auf dieser Straße reisen können (Sahan/SWT 7.6.2023). Die meisten der wichtigen Verbindungsstraßen befinden sich unter Kontrolle der Regierung (Economist 3.11.2022).

In Belet Weyne ist die Sicherheitslage unverändert vergleichsweise stabil, es kommt nur sporadisch zu Gewalt oder Attacken der al Shabaab. In der Stadt befinden sich das Regionalkommando der Bundesarmee sowie Stützpunkte dschibutischer ATMIS-Truppen und der äthiopischen Armee. Zusätzlich gibt es einzelne Polizisten und Teile einer Formed Police Unit von ATMIS. Zudem gibt es eine relativ starke Bezirksverwaltung und lokal rekrutierte Polizeikräfte. Clankonflikte werden nicht in der Stadt, sondern mehrheitlich außerhalb ausgetragen. Die in Belet Weyne vorhandene Präsenz der al Shabaab scheint kaum relevant (BMLV 1.12.2023). Anfang Oktober 2022 führte al Shabaab in Belet Weyne einen dreifachen Sprengstoffanschlag gegen einen Militärstützpunkt und das Hauptquartier der Lokalregierung durch. Dabei wurden mehr als 20 Personen getötet, darunter der Vizegouverneur von Hiiraan und der Gesundheitsminister der Region (VOA 3.10.2022).

Middle Shabelle: Jowhar, Balcad, Adan Yabaal und Cadale befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS (PGN 23.1.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023). Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (BMLV 1.12.2023). Auch in Adan Yabaal gibt es eine Garnison der Bundesarmee. Ansonsten findet sich die Armee nur in kritischen Gebieten - also entlang der Hauptversorgungsrouten (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab wurde im Dezember 2022 au der Bezirkshauptstadt Adan Yabaal vertrieben. Die Stadt war seit 2016 eine wichtige Bastion der Gruppe (VOA 6.12.2022). In Middle Shabelle befindet sich lediglich noch ein schmaler Streifen im Nordwesten, westliche des Shabelle an der Grenze zu Hiiraan, unter Kontrolle von al Shabaab (PGN 23.1.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023).

Jowhar gilt als relativ ruhig. Dort befinden sich das Brigadekommando der burundischen ATMIS-Kräfte und ein Bataillon dieser Truppen (BMLV 1.12.2023). Am 17.7.2022 verübte al Shabaab einen schweren Anschlag auf ein Hotel, unter den Toten fanden sich zwei hohe Staatsvertreter (UNSC 1.9.2022b).

Im Bezirk Cadale waren im November 2022 Clanauseinandersetzungen ausgebrochen, nachdem sich al Shabaab aus dem Gebiet zurückgezogen hatte. Auslöser war ein Landkonflikt, es gab Dutzende Tote (HO 29.11.2022; vergleiche FTL 18.11.2022). Die somalische Regierung hat Sicherheitskräfte entsandt (RD 1.12.2022), Friedensverhandlungen wurden in Gang gesetzt (FTL 18.11.2022). In den nachfolgenden Monaten ist die Lage im Bezirk ruhig verblieben (BMLV 1.12.2023).

Vorfälle: In den beiden Regionen Hiiraan (420.060) und Middle Shabelle (961.554) leben nach Angaben einer Quelle 1,381.614 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2021 insgesamt 32 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei 24 dieser 32 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2022 waren es 36 derartige Vorfälle (davon 28 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und violence against civilians ergeben sich für 2022 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): Middle Shabelle 1,04; Hiiraan 6,12;

In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2022 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie "violence against civilians", in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt:

Al Shabaab

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Zur Offensive in Zentralsomalia siehe Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Al Shabaab ist mit al-Qaida affiliiert (THLSC 20.3.2023) und wird häufig und korrekterweise als die größte zu al-Qaida zugehörige Gruppe bezeichnet (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023). Die Gruppe weist eine stärkere innere Kohärenz auf als die Bundesregierung und einige der Bundesstaaten. Al Shabaab nutzt erfolgreich lokale Missstände, um taktische Allianzen zu schmieden und Kämpfer zu rekrutieren (Sahan/SWT 27.3.2023). Die Gruppe erkennt die Bundesregierung nicht als legitime Regierung Somalias an (UNSC 10.10.2022) und lehnt die gesamte politische Ordnung Somalias, die sie als unislamisch bezeichnet, ab (Sahan/SWT 9.6.2023). Al Shabaab wendet eine Strategie des asymmetrischen Guerillakriegs an, die bisher sehr schwer zu bekämpfen war. Zudem bietet die Gruppe in den Gebieten unter ihrer Kontrolle Sicherheit und eine grundlegende Regierungsführung (Sahan/SWT 27.3.2023).

Al Shabaab ist eine mafiöse Organisation, die Schutzgelder im Austausch für Sicherheits-, Sozial- und Finanzdienstleistungen verlangt. Ihre konsequente Botschaft ist, dass die Alternative - die Bundesregierung - eigennützig und unzuverlässig ist (Sahan/SWT 25.8.2023). Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias (BMLV 9.2.2023) bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen extremen Interpretation des Islams und der Scharia in "Großsomalia" (USDOS 15.5.2023) und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia (CFR 6.12.2022). Al Shabaab ist eine tief verwurzelte, mafiöse Organisation, die in fast allen Facetten der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik integriert ist (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Die Gruppe ist vermutlich die reichste Rebellenbewegung in Afrika (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 finanziert al Shabaab die al-Qaida - und nicht anders herum (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Ausländische Kämpfer haben nur noch einen begrenzten Einfluss in der Gruppe; und die Beziehungen zur al-Qaida haben sich nachhaltig geändert (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah (BBC 15.6.2023). Al I'ttisam gilt als ideologischer Bruder von al Shabaab (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023).

Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin den größeren Teil Süd-/Zentralsomalias (BMLV 9.2.2023; vergleiche Rollins/HIR 27.3.2023) und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (BMLV 9.2.2023). Gleichzeitig ist die Zahl der unter direkter Kontrolle von al Shabaab lebenden Menschen laut einer (anonymen) Quelle drastisch zurückgegangen. Früher lebten noch rund eine Million Menschen in deren Gebieten, heute sind es - v.a. aufgrund von Abwanderungen und Flucht im Rahmen der Dürre - noch etwa 500.000 (AQ21 11.2023).

Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit (ACCORD 31.5.2021; vergleiche FP 22.9.2021). römisch fünf.a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben (FP 22.9.2021). Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (BS 2022a). [Zur Gerichtsbarkeit der al Shabaab siehe auch Süd-/Zentralsomalia, Puntland]

Im eigenen Gebiet hat die Gruppe umfassende Verwaltungsstrukturen geschaffen (AQ21 11.2023; vergleiche BS 2022a). Dort übt al Shabaab alle Grundfunktionen einer normalen Regierung aus: Sie hebt Steuern ein, bietet Sicherheit und sorgt mitunter für Sozialhilfe für bedürftige Bevölkerungsgruppen (Rollins/HIR 27.3.2023). Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten (Schwartz/HO 12.9.2021). Die Gruppe investiert daher in lokale Regierungssysteme. Al Shabaab setzt Zwang und Überredung ein, um die Treue zum Clan zu erzwingen. Im Gegenzug bietet die Gruppe ihre eigene Art von "Recht und Ordnung" sowie bescheidene Grunddienstleistungen (Sahan/SWT 30.6.2023). Durch das Anbieten öffentlicher Dienste - v.a. hinsichtlich Sicherheit und Justiz - genießt al Shabaab in einigen Gebieten ein gewisses Maß an Legitimität. Mit der Hisba verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Offensichtlich führt al Shabaab auch eine Art Volkszählung durch. Auf den diesbezüglich bekannten Formularen müssen u.a. Clan und Subclan, Zahl an Kindern in und außerhalb Somalias, Quelle des Haushaltseinkommens und der Empfang von Remissen angegeben werden (UNSC 10.10.2022). Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (AA 15.5.2023).

Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität (BMLV 9.2.2023; vergleiche JF 18.6.2021). Die Unterdrückung von Clankonflikten ist ein Bereich, in welchem die Gruppe Erfolge erzielen konnte. Z.B. wurde ein Waffenstillstand zwischen Clans in den Distrikten Adan Yabaal und Moqokori, HirShabelle, durchgesetzt; und in Galmudug hat al Shabaab Älteste bestraft, deren Clanmitglieder sich an Clankriegen beteiligt haben (SW 3.2023). Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BMLV 9.2.2023). Hinsichtlich Korruption ist die Gruppe sehr aufmerksam (AQ21 11.2023).

Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung (Bryden/TEL 8.11.2021). Al Shabaab hat etwa als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie Gesundheitszentren eingerichtet und führt sogar Schulen und Programme, um Mitglieder zur Ausbildung an Universitäten im Ausland zu schicken (Rollins/HIR 27.3.2023). Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (C4/Jamal 15.6.2022). Gemäß anderer Angaben schränkt al Shabaab die Freiheiten von Frauen und Mädchen allgemein stark ein, bietet aber in einigen Fällen eine anders nicht vorhandene Form des Schutzes vor sexueller Gewalt und Entführung (SW 3.2023).

Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiter bestehen (USDOS 20.3.2023). Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen (AQ21 11.2023; vergleiche SPC 9.2.2022). Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen (SPC 9.2.2022). Gemäß den Angaben einer Quelle der FFM 2023 hat sich al Shabaab etwa gezielt an Minderheiten gewendet, die nicht von der Regierung repräsentiert werden. Die Gruppe hat sich so im Süden die Loyalität jeder einzelnen Minderheit erkauft (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Generell steht bei Entscheidungen immer die Sicherheit des eigenen Clans als höchstes Ziel im Vordergrund. Manche Clans schließen sich freiwillig al Shabaab an; mit anderen Clans hat al Shabaab Abkommen geschlossen (AQ21 11.2023). Und wieder andere Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Suldaan, Ugaas, Wabar) und stattet Letztere mit z.B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (UNSC 6.10.2021). Dazu erklärt eine Quelle der FFM Somalia 2023, dass al Shabaab in den meisten Teilen Süd-/Zentralsomalias über 'eigene' Älteste verfügt. Es werden parallele Clanführungsstrukturen unterhalten - und zwar in allen Gebieten, in denen al Shabaab aktiv ist. Manchmal sind dann die eigentlichen Ältesten zur Flucht gezwungen. Die von al Shabaab eingesetzten Ältesten dienen der Konfliktlösung und polizeilicher Arbeit sowie dem Standeswesen (Eheschließungen, Scheidungen). Sie können vor den Gerichten der al Shabaab auch eigene Clanmitglieder vertreten. Und wenn ein Clanmitglied ein Problem mit al Shabaab hat, dann wendet es sich an den entsprechenden Ältesten, der sich wiederum an al Shabaab wendet (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft (Sahan/SWT 30.6.2022). Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel (ACCORD 31.5.2021). Die Präsenz von al Shabaab bietet besorgten Gemeinden eine Form der Schirmherrschaft und des Schutzes, welche die somalische Regierung nur sporadisch gewähren kann. Die Gruppe verspricht Vorteile und faire Behandlung für diejenigen, die ihren Geboten folgen. Allen anderen droht sie mit Vergeltung (Sahan/SWT 25.8.2023).

Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und ATMIS bzw. AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk (Maruf/Westminster 14.11.2018). Der Gouverneur von Bakool gibt im März 2023 an, dass seiner Einschätzung nach al Shabaab über mindestens 20.000 Kämpfer verfügt. Der nationale Sicherheitsberater des Präsidenten gibt die Zahl hingegen mit 10.000 von einst 14.000, die es noch vor einigen Jahren gewesen sind (VOA/Maruf 14.3.2023). Auch eine andere Quelle berichtet von 14.000 - "doppelt so viele wie noch vor drei Jahren". Allerdings finden sich demnach darunter viele zwangsrekrutierte Kinder (Detsch/FP 23.8.2023). Das US-Afrikakommando berichtet von 10.000 Kämpfern (Sahan/SWT 8.9.2023). Eine andere Quelle berichtet im von einer Stärke von 7.000-12.000 Mann (JF 31.3.2023); eine weitere Quelle bestätigt diese Zahl (BMLV 9.2.2023). Schließlich nennt eine Quelle eine Zahl von 5.000-10.000 gut bewaffneten Kämpfern (Williams/ACSS 17.4.2023) und eine letzte 7.000 "Vollzeitkämpfer" (AQ21 11.2023). Die Kämpfe der letzten Monate haben bei al Shabaab erhebliche Spuren hinterlassen. Die Angaben der Bundesregierung von angeblich 3.500 getöteten Kämpfern von al Shabaab seit Juni 2022 müssen allerdings angezweifelt werden. Zur Kompensation rekrutiert die Gruppe jedenfalls neue Kräfte (BMLV 1.12.2023). Insgesamt sind die Zahlen also sehr unterschiedlich. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass al Shabaab über zahlreiche "Teilzeitkräfte" und "Freiberufler" verfügt, die nur bei Bedarf zum Einsatz kommen. Ein Experte schätzt die Gesamtzahl allen verfügbaren Personals auf 25.000-30.000 (AQ21 11.2023).

Generell hat al Shabaab die somalische Gesellschaft dermaßen tief infiltriert, dass es schwierig oder sogar unmöglich ist, zu erkennen, wer Mitglied der Gruppe ist. Hinzugezählt werden die Kämpfer der Armee (jabahat), die Agenten des Amniyat und die Polizisten (Hisba); alle Schätzungen zur Größe von al Shabaab scheinen sich auf dieses Personal zu konzentrieren. Doch die Gruppe verfügt auch über einen beträchtlichen Kader, der nicht direkt an der Gewalt beteiligt ist, aber für die Reichweite der Organisation in Somalia gleichermaßen wichtig ist. Es handelt sich um eine komplexe Organisation, die eine Mischung aus Terroristengruppe, Rebellenorganisation, Mafia und Schattenregierung ist. Und es gibt Personal für all diese Funktionen. Al Shabaab beschäftigt u.a. Verwaltungsbeamte, Richter und Steuereintreiber. Der Amniyat verfügt neben Agenten über Doppelagenten, Quellen und Informanten, die in die Institutionen, die Wirtschaft und die ganze Gesellschaft Somalias eingedrungen sind. Einige arbeiten heimlich, in Teilzeit oder auf Ad-hoc-Basis mit der Gruppe zusammen. Sie bewegen Nachschub, überbringen Nachrichten und berichten über alles - von der Zusammenarbeit mit der Regierung bis hin zur Wirtschaftstätigkeit. Es ist unmöglich, sie zu zählen (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023).

Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen ATMIS manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyat über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BMLV 1.12.2023). Der Amniyat ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Er ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig (JF 18.6.2021). Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen (UNSC 6.10.2021; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (Maruf/Westminster 14.11.2018).

Gebiete: Al Shabaab verfügt weiterhin über ein starkes Hinterland (AQ21 11.2023). Die Gruppe wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat sie dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen (BMLV 1.12.2023). Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und - in sehr geringem Maße - Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und - in sehr geringem Maße - Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (PGN 23.1.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023).

Gemeinschaften, die unter der Kontrolle von al Shabaab stehen, werden häufig vom Rest Somalias und von der internationalen Unterstützung abgekoppelt. Die Kontrollpunkte und Blockaden der militanten Gruppe schränken den Personen- und Warenverkehr ein (Sahan/SWT 15.9.2023). In Gebieten, die an von der Regierung kontrollierte und von al Shabaab unter Blockade gestellte Städte grenzen, hat die Gruppe strenge Regeln hinsichtlich ökonomischer und beruflicher Tätigkeiten eingeführt. Al Shabaab setzt diese mit Drohungen und Gewalt durch und bestraft jene, die diese Regeln brechen (UNSC 10.10.2022).

Kapazitäten: Prinzipiell hat al Shabaab wiederholt gezeigt, dass sie gegenüber Druck anpassungsfähig und in der Lage ist, sich zurückzuziehen und neu zu formieren, bevor sie zurückschlägt (Sahan/SWT 4.8.2023). Al Shabaab ist weiterhin in der Lage, komplexe Angriffe z.B. in und um Mogadischu durchzuführen. Die Fähigkeit der Gruppe, Waffen zu beschaffen und Kämpfer neu zu verteilen, bleibt weitgehend intakt (Sahan/SWT 22.5.2023). Dabei geht die Einflusssphäre der Gruppe über jene Gebiete, die sie tatsächlich unter Kontrolle hat, hinaus (UNSC 10.10.2022). Der Amniyat hat die Politik, lokale Behörden, Betriebe und Gemeinschaften unterwandert. Dies gilt auch für die NISA (Geheimdienst) und die Polizei. Bis zu 30 % der Polizisten in Mogadischu sind demnach kompromittiert (Williams/ACSS 17.4.2023).

Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Das Einsatzgebiet von der Gruppe ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern (ACCORD 31.5.2021). Gemäß einer Quelle verfügt al Shabaab bei Clans über Verbindungsleute (Kilmurry/RUSI 1.4.2022); laut einer anderen Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus (Landinfo 21.5.2019). Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen (BMLV 1.12.2023). Al Shabaab funktioniert in nahezu ganz Südsomalia als Schattenregierung bzw. -Verwaltung (GITOC/Bahadur 8.12.2022). "Kontrolliert" wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch "exemplarische Gewalt", etwa bei Körperstrafen; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung. All das erfolgt aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (ACCORD 31.5.2021). Dort wo al Shabaab nicht in der Lage ist, ein angemessenes Maß an Gewaltandrohung glaubhaft darstellen zu können, sind die Erpressungsversuche auch weniger erfolgreich. So lehnen etwa Wirtschaftstreibende, die ausschließlich in Baidoa und Kismayo agieren, Zahlungsforderungen mitunter ab (Williams/ACSS 17.4.2023). Zudem hat die Gruppe aus vergangenen Fehlern gelernt und so die Kontrolle über einige Gebiete zurückerlangt, die sie 2022 verloren hat. Einige Übereinkommen mit Clans in Zentralsomalia wurden wieder aufgenommen. Al Shabaab hebt weiter illegale Steuern ein, ohne dabei so weit zu gehen, lokale Clans zu gewalttätigem Widerstand zu provozieren. Die Gruppe ist nun darauf bedacht, die Gemeinschaften, von denen sie abhängig ist, nicht zu sehr auszubeuten (Sahan/SWT 12.6.2023).

Al Shabaab gilt als "wohlhabend", verfügt über einen finanziellen Polster und damit auch über einen Hebel hinsichtlich Neurekrutierungen (AQ21 11.2023).

Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen ("Steuern")]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem. Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022a). Al Shabaab führt ein Register über den Besitz "ihrer" Bürger, um darauf jährlich 2,5 % Zakat zu beanspruchen (Williams/ACSS 17.4.2023). Das Steuersystem der Gruppe hat sich immer mehr entwickelt – bis hin zu Eigentumssteuern (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Schätzungen von Experten zufolge nimmt al Shabaab alleine an Checkpoints pro Jahr mehr als 100 Millionen US-Dollar ein (GITOC/Bahadur 8.12.2022; vergleiche Williams/ACSS 17.4.2023). Laut einer anderen Schätzung kann al Shabaab jährlich bis zu 120 Millionen US-Dollar generieren (VOA 17.5.2022). Nach anderen Angaben geht die US-amerikanische Regierung davon aus, dass al Shabaab alleine in Mogadischu bis zu 100 Millionen US-Dollar im Jahr einbringt (Detsch/FP 23.8.2023). Gemäß Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 lukriert die Gruppe sogar rund 180 Millionen US-Dollar pro Jahr - bei Ausgaben von nur etwa 100 Millionen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle bestätigt diese Angaben (Rollins/HIR 27.3.2023). Al Shabaab investiert einen Teil ihres Budgets in Immobilien und Klein- und Mittelbetriebe (Williams/ACSS 17.4.2023).

Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen (UNSC 6.10.2021). Die Gruppe hebt in 10 von 18 somalischen Regionen Steuern ein (Williams/ACSS 17.4.2023). Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh (BS 2022a; vergleiche UNSC 6.10.2021); sowie auf manche Dienstleistungen (HIPS 2020). Al Shabaab erhebt Steuern auf Importe (Williams/ACSS 17.4.2023). Für jeden Container, der in Mogadischu anlandet, müssen Abgaben an al Shabaab entrichtet werden. Die Gruppe erpresst Schutzgeld auf alles, was 'segelt, rollt oder sich bewegt' (Detsch/FP 23.8.2023) sowie vom Bauwesen bzw. von Baufirmen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023) und am Immobiliensektor generell (Williams/ACSS 17.4.2023). Auch Beamte und kleine Unternehmen müssen Geld abführen (Detsch/FP 23.8.2023). Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (HI 1.10.2020).

Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (WP 31.8.2019). Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen (Bryden/TEL 8.11.2021). Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat (Weiss/FDD 11.8.2021). Die Gruppe baut auf ihre Reputation der Omnipräsenz und Einschüchterung - typisch für eine mafiöse Organisation. Der Zakat wird vom Amniyat durchgesetzt – und zwar durch Einschüchterung und Gewalt. Bei Zahlungsverweigerung droht die Ermordung (Williams/ACSS 17.4.2023). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass es al Shabaab in der Vergangenheit diesbezüglich zu weit getrieben hat. In manchen Landesteilen war die Gruppe zu gierig und brachte die Bevölkerung gegen sich auf. Al Shabaab schreckt nicht davor zurück, Menschen durch Gewalt gefügig zu machen. Menschen werden entführt, Vieh weggenommen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Teilweise flieht die Bevölkerung vor der Besteuerung (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Eine Quelle gibt an, dass al Shabaab in Folge des Aufstands der Macawiisley nun einen weniger autoritären Umgang mit den Clans pflegt und sich die Gruppe demnach den Umständen angepasst hat (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Wirtschaftsmacht al Shabaab - Quellen der FFM Somalia 2023 erklären: Mit einer neuen Gesetzgebung hat die Regierung Zahlungen an al Shabaab verboten; zudem gibt es entsprechende Kampagnen gegen Zahlungen an die Gruppe (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Zusätzlich droht die Regierung den Wirtschaftstreibenden, und einige von ihnen haben in Mogadischu aufgehört, Geld an al Shabaab abführen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Die Bundesregierung bekämpft die Gruppe also auf finanzieller Ebene. Auch einige Konten von al Shabaab wurden eingefroren (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Nun versucht die Gruppe, in den Gebieten unter ihrer Kontrolle so viel wie möglich von der Bevölkerung zu erpressen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Tatsächlich gibt es bei der finanziellen Bekämpfung von al Shabaab allerdings erhebliche Schwierigkeiten (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die ganze Wirtschaft ist von al Shabaab abhängig, wenn es z.B. um den Warentransport geht (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Zudem sind die tief wurzelnden Strukturen der Gruppe im Wirtschaftsbereich Mogadischus nur schwer zu beseitigen (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die ganze Wirtschaft in der Hauptstadt zahlt Steuern an al Shabaab (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Und auch viele Menschen führen weiterhin 'Steuern' an die Gruppe ab, weil sie nicht davon ausgehen, dass die Regierung in der Lage ist, sie vor al Shabaab zu schützen. Denn bis zuletzt galt: Bei Nichtzahlung drohen Konsequenzen, z.B. die Zerstörung von Eigentum oder Betriebsmitteln. Oder aber al Shabaab sorgt dafür, dass Unternehmen keine Aufträge mehr erhalten. Wirtschaftstreibende verschweigen es üblicherweise, wenn sie Geld an al Shabaab abführen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Die Rebellion von al Shabaab hat mit 20 Jahren die durchschnittliche Lebensdauer von Rebellionen überstiegen. Möglicherweise sucht die Gruppe neue Orientierung. Al Shabaab ist kaum mehr in der Lage, die ideologische Karte zu spielen bzw. die Idee der Schaffung eines islamischen Staates zu propagieren. Sie schafft sich also ein Wirtschaftsimperium, denn al Shabaab verfügt über entsprechende Kompetenzen. Morde gegen Bezahlung scheinen für al Shabaab zum Geschäftsmodell zu werden. Zudem hat die Gruppe in vielen Sparten investiert, Reichtümer angehäuft (Sahan/STDOK/SEM 4.2023) und betreibt einige Unternehmen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Mittlerweile erscheint die Gruppe eher als "Wagner-style mafia" (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine andere Quelle erklärt, dass al Shabaab außerhalb des eigenen Gebietes wie ein Kartell bzw. wie eine Mafia agiert. Für al Shabaab ist es nicht schwierig, eine Telefonnummer zu bekommen. So kann die Gruppe jede Person erreichen. In Mogadischu rufen sie z.B. Mitarbeiter einer Quelle an und sagen: "Kommen Sie zum Ort römisch zehn und geben sie uns 2.000 US-Dollar." In anderen Gebieten hat al Shabaab einen direkteren Zugriff (IO-D/STDOK/SEM 4.2023).

Sicherheitsbehörden

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Ausländische Kräfte

Letzte Änderung 2023-03-17 07:41

Im April 2022 hat die African Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) von der African Union Mission in Somalia (AMISOM) übernommen, nachdem dies vom UN Security Council (RVI 9.6.2022; vergleiche UNSC 13.5.2022, Absatz 62,) und zuvor vom Sicherheitsrat der Afrikanischen Union so beschlossen wurde (UNSC 13.5.2022, Absatz 62,). AMISOM war zuvor seit 2007 in Somalia aktiv (ISS 29.3.2022). Das Mandat von ATMIS umfasst die Umsetzung des Somali Transition Plans und die Übertragung der Verantwortung für die Sicherheit an somalische Kräfte und Institutionen mit Ende 2024 (RVI 9.6.2022). Das vorläufige Mandat von ATMIS erstreckt sich auf ein Jahr (UNSC 13.5.2022, Absatz 62,) und ist mehr oder weniger mit jenem von AMISOM ident (RVI 9.6.2022; vergleiche ACLED 14.4.2022). Das militärische Mandat umfasst: die Ausführung gezielter Operationen in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften, um al Shabaab und andere terroristische Gruppen zu bekämpfen; in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften Städte zu halten und die dort ansässige Bevölkerung zu schützen und die Sicherheit zu gewährleisten; Hauptversorgungsrouten zu sichern und einzunehmen; die Kapazitäten somalischer Sicherheitskräfte zu entwickeln, damit diese Ende 2024 die Verantwortung übernehmen können (ATMIS 2022a).

Auch hinsichtlich der Truppenstärke ist ATMIS mit AMISOM vergleichbar, die Aufstellung soll aber ein mobileres und agileres Vorgehen gegen al Shabaab gewährleisten (RVI 9.6.2022; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 8; ISS 29.3.2022). ATMIS bzw. AMISOM gelten als mächtigster Gegner der al Shabaab (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 6). Die Truppe trägt einerseits seit Jahren die Führung im Kampf gegen al Shabaab und andererseits schützt sie die Bundesregierung (BBC 18.1.2021), die in großem Maße von den Kräften der ATMIS abhängig ist (BS 2022, Sitzung 4; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 9; BBC 18.1.2021).

ATMIS ist in fünf Sektoren geteilt: Sektor 1 (Mogadischu und Umland; Lower Shabelle / Uganda); Sektor 2 (Middle und Lower Juba / Kenia); Sektor 3 (Bakool, Bay und Gedo / Äthiopien); Sektor 4 (Hiiraan und Galgaduud / Dschibuti); Sektor 5 (Middle Shabelle / Burundi); Sektor 6 (Teile von Lower Juba und Lower Shabelle / Kenia und Äthiopien) (NMG 25.10.2022). ATMIS hat eine militärische, eine polizeiliche und eine zivile Komponente. Truppenstellerstaaten für die militärische Komponente sind gegenwärtig Uganda, Burundi, Dschibuti, Kenia und Äthiopien mit einem Mandat für 18.586 Mann (ATMIS 2022a; vergleiche ATMIS 2022b). Die Stärke beträgt seit Feber 2020: Äthiopien: 3.902; Burundi: 3.715; Dschibuti: 1.691; Kenia: 3.654; Uganda: 5.513; Hauptquartier: 111. Seit Ende 2020 verfügt AMISOM bzw. ATMIS über eine zusätzliche Luftkomponente von vier Hubschraubern, die von Uganda gestellt werden. Diese dienen v. a. für Verbindung, Versorgung und medizinische Notfälle. Insgesamt verfügt ATMIS über sieben militärische Luftfahrzeuge, zwölf wären autorisiert (BMLV 9.2.2023). Bis Ende 2022 war eigentlich ein Abzug von 2.000 Mann projektiert (ATMIS 2022a). Der UN Sicherheitsrat hat im Dezember 2022 allerdings einem Aufschub dieses Teilabzugs zugestimmt, dieser wurde auf Ende Juni 2023 verschoben (Xinhua 22.12.2022). Danach soll ATMIS Stück für Stück abgezogen werden, die letzten 9.586 Mann dann Ende 2024 (BMLV 9.2.2023; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 8).

ATMIS wird maßgeblich von der EU finanziert (ÖB 11.2022, Sitzung 8; vergleiche NMG 25.10.2022; Halbeeg 7.7.2022). Seit 2007 hat die EU fast 2,3 Mrd. Euro für AMISOM bzw. ATMIS ausgegeben und wird die Truppe - und maßgeblich den Sold - auch weiterhin maßgeblich finanzieren (TET 7.7.2022; vergleiche Halbeeg 7.7.2022) während die UN für logistische Unterstützung sorgt (ISS 29.3.2022; vergleiche UNSC 1.9.2022, Absatz 82 f, f,). Die Ausbildung für ATMIS erfolgt laufend auch im Rahmen der Einsatzvorbereitung in den Herkunftsländern und in Somalia, maßgeblich durch Großbritannien, die USA, Frankreich und die EU. In manchen Gebieten kooperiert ATMIS eng mit lokalen Milizen oder anderen Kräften (BMLV 9.2.2023).

Im Land befindet sich auch eine auf 1.040 Polizisten mandatierte ATMIS-Polizeikomponente unterschiedlicher afrikanischer Teilnehmerstaaten (Uganda, Nigeria, Ghana, Sierra Leone, Kenia und Sambia) (ATMIS 2022c). ATMIS bietet spezielle Ausbildung und Beratung für die somalische Polizei, unterstützt diese bei Patrouillen und beim Schutz relevanter Infrastruktur; und bei der Bekämpfung gewaltsamer Extremisten und im Falle sozialer Unruhen (ATMIS 14.7.2022). Außerdem sind die ATMIS-Polizisten hinsichtlich der strategischen Führung und der Erstellung von Policies von großer Bedeutung (NMG 25.10.2022).

Neben ATMIS sind in Somalia noch andere militärische Kräfte aus dem Ausland aktiv, u.a. TURKSOM (türkisches Ausbildungszentrum in Mogadischu); die Kapazitätsbildungsmission der EU; die britische Mission Tangham; und Truppen der USA (UNSC 10.10.2022, Absatz 98,). Zur Zahl der bilateral auf somalischem Territorium operierenden äthiopischen Truppen gibt es unterschiedlichste Angaben. Denn Äthiopien hat auch diese Truppenteile mit dem grünen Barett von ATMIS ausgestattet. Eine Quelle berichtet von geschätzten 3.500 Mann in Gedo, Hiiraan und Galmudug (BMLV 9.2.2023). Eine andere Quelle berichtet von 2.000 äthiopischen Truppen, die nach einem Vorstoß von al Shabaab nach Äthiopien wieder verstärkt worden sind. Hunderte Soldaten wurden demnach in die Region Gedo entsandt (VOA 8.8.2022).

Zuvor abgezogene äthiopische Truppen wurden zumindest an der Grenze durch rund 1.500 Mann Liyu Police aus dem äthiopischen Somali Regional State ersetzt (BMLV 9.2.2023). Eine andere Quelle spricht von mehreren Tausend Mann - außerhalb des ATMIS-Kontingents Äthiopiens (VOA 20.7.2022). Damit ist die Liyu Police wieder verstärkt in Somalia aktiv (MM 3.8.2022). Liyu-Stützpunkte finden sich etwa in Yeed, Ato und Washaaqo. Die Liyu-Police dient den bilateral in Somalia befindlichen äthiopischen Streitkräften als Grenzschutz und zur Sicherung des Nachschubs (VOA 20.7.2022).

Die USA haben die Eliteeinheit Danaab ausgebildet (BBC 1.6.2022). Allerdings wurden die US-Truppen abgezogen, dieser Abzug war mit Mitte Jänner 2021 offiziell abgeschlossen (PGN 2.2021, Sitzung 12f). 2022 wurde die Entscheidung zum Abzug revidiert. Nun sollen wieder bis zu 500 Soldaten in Somalia stationiert werden (BBC 1.6.2022; vergleiche AQ10 5.2022), um somalische Truppen auszubilden, zu beraten und auszurüsten. Sie werden in Bali Doogle stationiert – samt Drohnen und Hubschraubern (AQ10 5.2022). Zusätzlich befinden sich im Land 50 Soldaten aus Großbritannien. Diese führen ein Trainingsprogramm für somalische Kräfte in Baidoa durch (BMLV 9.2.2023; vergleiche PGN 12.2021). Es gibt Hinweise darauf, dass die Türkei in Somalia auch über Kampfdrohnen verfügt (UNSC 10.10.2022, Absatz 96,), die auch gegen al Shabaab eingesetzt werden (VOA 30.11.2022).

Somalische Kräfte

Letzte Änderung 2023-03-17 07:48

Der Sicherheitssektor ist sehr relevant, 80 % der öffentlichen Stellen befinden sich in diesem Bereich, zwei Drittel der Staatsausgaben (AA 28.6.2022, Sitzung 9). - Nach anderen Angaben fließen jedenfalls mehr als die Hälfte dorthin (HIPS 4.2021, Sitzung 20). Der Sicherheitssektor präsentiert sich nach wie vor als Mischung aus Truppen auf Clanbasis und neuen, durch externe Akteure wie die Türkei ausgebildeten Verbänden (BMLV 9.2.2023). Die Gesamtzahl der Sicherheitskräfte wird 2021 mit ca. 40.000 angegeben (HIPS 4.2021, Sitzung 28). Nach anderen Angaben sind die Sicherheitskräfte unter der Regierung von Präsident Farmaajo mithilfe externer Unterstützung stark expandiert. Demnach hat Somalia mit 53.000 Mann auf Bundesebene und ca. 23.000 auf Ebene der Bundesstaaten mehr staatliches Sicherheitspersonal als notwendig und finanzierbar ist. Trotzdem ist die Aufnahme und Ausbildung weiterer 22.500 Soldaten in Planung (Sahan 29.6.2022).

Der Bundesregierung ist es nicht gelungen, das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen (BS 2022, Sitzung 6), obwohl in den vergangenen Jahren Milliarden an US-Dollar in die Ausbildung und Ausrüstung von tausenden Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeitern investiert worden sind. Trotzdem sind die Sicherheitskräfte Somalias auch nach 15 Jahren immer noch schwach und werden für politische Zwecke eingesetzt (HIPS 4.2021, Sitzung 4/8). Die Kräfte des Bundes werden als in „alarmierender Weise disfunktional“ beschrieben (Bryden 8.11.2021). Die somalischen Sicherheitskräfte sind jedenfalls noch zu schwach und schlecht organisiert, um selbstständig - ohne internationale Unterstützung - die Sicherheit im Land garantieren zu können (BMLV 9.2.2023; vergleiche SRF 27.12.2021).

Sie sind stark fragmentiert (AA 28.6.2022, Sitzung 10; vergleiche HIPS 4.2021, Sitzung 4/8), für die militärische Organisation gibt es kein zentrales Kommando (HIPS 3.2021, Sitzung 16). Zudem sind die Sicherheitskräfte von al Shabaab unterwandert (BMLV 9.2.2023; vergleiche GO 25.3.2021; AQ10, 5.2022), und die Loyalität vieler Sicherheitskräfte liegt eher beim eigenen Clan bzw. der patrilinearen Abstammungsgruppe als beim Staat (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29). Zudem wurde der Sicherheitssektor unter dem ehemaligen Präsidenten Farmaajo darauf getrimmt, dass nicht al Shabaab bekämpft, sondern politische Rivalen unterdrückt werden konnten. Loyale und unterqualifizierte Personen wurden auf relevante Stellen gehoben, die Führung der Sicherheitskräfte politisiert (Sahan 29.6.2022). Seither hat sich die Koordination von Aktivitäten und Operationen des Sicherheitsapparats gebessert, wie die Operationen gegen al Shabaab in Zentralsomalia gezeigt haben (BMLV 9.2.2023).

Zivile Kontrolle, Verantwortlichkeit, Ansehen: Es mangelt an effektiver Kontrolle ziviler Behörden über die Sicherheitskräfte (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1) bzw. entziehen sich Aktionen der staatlichen Sicherheitskräfte oftmals der zivilen Kontrolle. Dies gilt insbesondere für die NISA. Gleichzeitig bekennt sich die Regierung zu ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen (AA 28.6.2022, Sitzung 21/9). Bei der Polizei wurde das Police Oversight Committee (POC) eingerichtet, das durch Polizisten begangenen Vergehen nachgehen soll (UNOHCHR 25.11.2022). Die justizielle Verantwortlichkeit einzelner Mitglieder der Sicherheitsorgane ist zumeist schwach bis inexistent (AA 28.6.2022, Sitzung 9). Denn auch wenn die Regierung Schritte unternimmt, um öffentlich Bedienstete - v.a. Polizisten und Soldaten - zu bestrafen, bleibt Straflosigkeit die Norm (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Obwohl es eigene Militärgerichte gibt, bleiben Vergehen durch Armeeangehörige häufig ungeahndet (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Allerdings gibt es immer wieder Beispiele, wo Sicherheitskräfte zur Verantwortung gezogen werden [siehe Kapitel Folter].

Die Ausbildung im Menschenrechtsbereich wird zwar international unterstützt; es muss aber weiterhin davon ausgegangen werden, dass der Mehrzahl der regulären Kräfte die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen ihres Handelns nur äußerst begrenzt bekannt sind. Dies gilt insbesondere für regierungsnahe Milizen (AA 28.6.2022, Sitzung 9). Maßnahmen zur Verhinderung willkürlicher Verhaftungen werden weder von der Polizei noch von der NISA oder militärischen Institutionen beachtet. Zudem wird deren Arbeit von Korruption unterminiert (FH 2022a, F2). Da die Sicherheitskräfte gegenüber der Zivilbevölkerung oft auch als Gewalt- und nicht als Sicherheitsakteure auftreten (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29), genießen sie insgesamt keinen guten Ruf bei der Bevölkerung (AA 28.6.2022, Sitzung 10; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29).

Polizei: Die nationale Polizei untersteht dem Ministerium für innere Sicherheit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1). Neben der Bundespolizei führt jeder Bundesstaat eigene regionale Polizeikräfte. Die Kräfte sind jeweils dem Bundes- bzw. dem bundesstaatlichen Ministerium für innere Sicherheit unterstellt (SIDRA 12.2022, Sitzung 14). Die genaue Größe der somalischen Polizei ist unbekannt. Laut offiziellen Angaben stehen 11.000 Polizisten auf der Gehaltsliste des dafür zuständigen Ministeriums für innere Sicherheit. Die große Mehrheit dieser Polizisten versieht ihren Dienst in Mogadischu und Umgebung (HIPS 4.2021, Sitzung 7). Nach anderen Angaben umfasst die Polizei mittlerweile 37.000 Mann, wovon ungefähr die Hälfte der Bundespolizei zuzurechnen ist (Sahan 29.6.2022).

Weitere verfügbare Zahlen hierzu [inkl. Polizei einzelner Bundesstaaten]:

●             Benadir/Mogadischu: Stand September 2021 - ca. 11.000 Mann;

●             Galmudug: mindestens 700;

●             HirShabelle: ca. 600;

●             Jubaland: Stand vom August 2017 - 500-600; allerdings bildet Kenia jedes Halbjahr 100-200 neue Polizisten aus;

●             South West State: Zwischen 1.000 bis 1.100 (BMLV 9.2.2023).

Im Bereich der Polizeiausbildung bestehen Trainingsschulen von ATMIS und UNSOM, bilaterale Initiativen (v. a. zur Ausbildung von Polizeikräften in Mogadischu), Unterstützung durch UNDP und UNODC sowie IOM (ÖB 11.2022, Sitzung 9). Im Joint Police Programme unterstützen die UN, die EU, Deutschland und Großbritannien den Aufbau der Polizei. So haben z. B. die UN die Führungsausbildung für 500 höherrangige Polizisten aus Süd-/Zentralsomalia und Puntland unterstützt (UNSC 1.9.2022, Absatz 68,). ATMIS hat im Zeitraum 2009-2022 8.167 Polizisten in Somalia ausgebildet (FTL 17.9.2022; vergleiche ATMIS 25.8.2022), und zwar in Jubaland, HirShabelle, dem SWS und Mogadischu, auf regionaler und Bundesebene. Die Ausbildung umfasst u. a. auch Menschenrechte und Prävention von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt. Zudem wurden Polizeistationen neu gebaut oder renoviert und Ausrüstung zur Verfügung gestellt (ATMIS 25.8.2022). In Jubaland hat Anfang Oktober der fünfte Lehrgang von 150 Polizisten die Grundausbildung abgeschlossen. Die Ausbildung erfolgte durch ATMIS in Kismayo und umfasste u. a. auch Menschenrechte, geschlechtsspezifische Themen, öffentliche Ordnung und Tatortuntersuchungen (RD 4.10.2022). Überhaupt unterstützt ATMIS die somalische Polizei auch bei der Ausbildung hinsichtlich Menschenrechten. So wurden etwa im Dezember 2022 zwei Dutzend Polizisten als Trainer ausgebildet, die ihrerseits 300 Polizisten in HirShabelle hinsichtlich Menschenrechten ausbilden sollen (ATMIS 28.12.2022). Die UN unterstützen den Aufbau der Polizei im Bundesstaat HirShabelle (FTL 18.9.2022). Über das Joint Police Programme werden Kapazitäten für die Somali Police Force aufgebaut. Im Berichtszeitraum Feber bis Mai 2022 erwähnt der Bericht des UN-Sicherheitsrats die Ausbildung von 300 Polizisten für Jubaland und von 400 für Galmudug. Außerdem wurden zwölf neue Polizeistationen in Jubaland, HirShabelle, Benadir, Galmudug und Puntland ausgestattet (UNSC 13.5.2022, Absatz 69,). Polizisten werden u. a. auch in Ruanda ausgebildet bzw. weitergebildet. So durchliefen sechs somalische Polizisten den Police Senior Command and Staff Course in Ruanda (RD 15.7.2022). Auch Dschibuti bildet in Kooperation mit Italien Polizisten aus (RD 12.12.2022). UNODC führt Ausbildungslehrgänge für Polizisten durch, diese Maßnahme wird von den USA finanziert (FTL 19.11.2022).

Polizeikapazitäten: Die Strafverfolgungsbehörden sind schwach (SPC 9.2.2022). Es gibt kein zentrales Strafregister. Dies erschwert es den Sicherheitskräften, Untersuchungen durchzuführen. Polizeistationen führen handschriftliche „Vorfallsbücher“ („occurrence books“) (Sahan 16.9.2022). Die Bezahlung erfolgt meist nur unregelmäßig, dies fördert die Korruption (AA 28.6.2022, Sitzung 9). Im Fall einer kriminalitätsbedingten Notlage fehlen weitgehend funktionierende staatliche Stellen, die Hilfe leisten könnten. Die Polizei verfügt zwar über einige Kapazitäten, hat aber auch Probleme, sich an den Menschenrechten zu orientieren. Dass die Bevölkerung die Polizei nicht unbedingt als eine Kraft erachtet, welche sie schützt, scheint sich in manchen größeren Städten langsam zu ändern. Dort wurden Polizeikräfte lokal – und die lokale Clandynamik berücksichtigend – rekrutiert. Das hat zu Verbesserungen geführt. Dies betrifft etwa Kismayo, Jowhar oder Belet Weyne (BMLV 9.2.2023). In Einzelfällen funktioniert auch die Kooperation unterschiedlicher Polizeieinheiten in Süd-/Zentralsomalia. So wurde etwa im Dezember 2022 in Mogadischu ein Mann verhaftet, der von der Polizei in Gedo wegen einer Vergewaltigung gesucht worden war (HO 26.12.2022). In HirShabelle wird die Polizei in erster Linie in den größeren Städten und an Checkpoints entlang von nach Jowhar führenden Hauptverbindungsstraßen zum Einsatz gebracht (ATMIS 25.8.2022).

Die Türkei hat die paramilitärische Polizei-Spezialeinheit Haramcad (Gepard) ausgebildet und mit modernen Waffen, Ausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen ausgestattet (Bryden 8.11.2021; vergleiche Sahan 29.6.2022). Haramcad umfasst ca. 1.200 Mann (Sahan 29.6.2022). Diese Einheit wird allgemein als fähig erachtet, wurde allerdings von der Regierung Farmaajo u. a. eingesetzt, um interne Gegner auf Linie zu bringen (HIPS 2021, Sitzung 28). Damals war die Einheit dem Kommando der NISA (siehe unten) unterstellt, nunmehr steht sie wieder unter dem Kommando der Polizei (BMLV 9.2.2023).

Armee: Das Verteidigungsministerium ist für die Kontrolle der Armee verantwortlich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1). Es wurde versucht, diverse Milizen zu einer Armee unter Führung der Bundesregierung zu fusionieren (Reuters 19.2.2021). Die Regierungstruppen bestehen hauptsächlich aus Clanmilizen (LI 8.9.2022; vergleiche Robinson 27.1.2022), deren Loyalität in erster Linie beim eigenen Clan liegt (LI 8.9.2022); bzw. waren viele militärische Einheiten der Bundesarmee ursprünglich Clanmilizen (WP 10.12.2022). Anders ausgedrückt ist die Linie zwischen der Bundesarmee und Clanmilizen sehr schmal. Ein Soldat kann an einem Tag im Interesse des Landes arbeiten und am nächsten im Interesse seines Clans oder einer politischen Gruppe (BBC 1.6.2022). Jedenfalls zeigt die Bundesarmee nur wenige Merkmale einer effektiven Armee im westlichen Sinne. Ausländische Militärhilfe ist stark an Eigennutz gebunden, unterschiedliche politische Akteure werden gegeneinander ausgespielt. Als Resultat bietet sich ein Bild von einerseits Brigaden auf Clanbasis, die den Großteil der Truppen stellen und eigentlich dem eigenen Clan zur Verfügung stehen; und andererseits durch vom Ausland unterstützten, nur teilweise mit der Bundesarmee verbundenen Kräften wie Danaab (USA), Gorgor (Türkei), Haramcad, Gashaan, sowie von Eritrea (Robinson 27.1.2022), den Vereinten Arabischen Emiraten, Katar, Großbritannien, der EU, Uganda, Kenia, Dschibuti und anderen Staaten ausgebildeten Kräften. Folglich sieht man auf der Straße auch ein breites Spektrum an Uniformen und Waffen (BBC 1.6.2022).

Korruption ist verbreitet (FH 2022a, F2). Soldaten werden durch Nepotismus aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit befördert und/oder um ihre Loyalität zu erlangen. Dies zerstört die Moral der Sicherheitskräfte und lenkt ihre Loyalität in Richtung der Clans (HIPS 4.2021, Sitzung 4/28). Der chronische Nepotismus in der Bundesarmee wirkt sich hinsichtlich der Moral der Soldaten verheerend aus (HIPS 4.2021, Sitzung 14). Einige Kommandanten nehmen Bestechungsgelder an oder kooperieren mit al Shabaab (Sahan 3.3.2021). Im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Präsident Farmaajo und der Opposition 2021 haben sich Auflösungstendenzen verstärkt. Die Sicherheitskräfte und die Armee hatten sich entlang von Clanlinien fragmentiert (TNH 20.5.2021; vergleiche Sahan 4.5.2021).

Besoldung: Soldaten verdienen etwa 100 US-Dollar im Monat (BMLV 9.2.2023). Es kommt vor, dass Soldaten nur sehr unregelmäßig bezahlt werden, dies fördert die Korruption. Diese, sowie Misswirtschaft und finanzielle Einschränkungen beeinträchtigen die Wirksamkeit der Armee (AA 28.6.2022, Sitzung 9f). Die Einführung der biometrischen Registrierung aller Soldaten der Bundesarmee hat die davor bestehende Korruption eingeschränkt, aber nicht eliminiert (HIPS 4.2021, Sitzung 15). Generell erfolgt nunmehr die (elektronische) Bezahlung der Soldaten viel regelmäßiger, doch selbst hier kommt es mitunter zu Verzögerungen. Die Spezialeinheit Danab wird und wurde von den USA finanziert und regelmäßig bezahlt (BMLV 9.2.2023).

Der Armee mangelt es zudem an Ausbildung und Ausrüstung (FP 22.9.2021; vergleiche HIPS 4.2021, Sitzung 20), obwohl die Bundesarmee im vergangenen Jahrzehnt von zahlreichen Akteuren diesbezüglich Unterstützung erhalten hat - namentlich von Burundi, Dschibuti, Äthiopien, Italien, Kenia, dem Sudan, der Türkei, den VAE, Uganda, Großbritannien, den USA, der AU, der EU und den UN (Williams 2019, Sitzung 2ff). Selbst in Katar (FTL 5.7.2022; vergleiche BBC 1.6.2022) und in Eritrea wurden Soldaten ausgebildet (BMLV 9.2.2023). Alleine Großbritannien hat seit 2016 mehr als 2.000 somalische Soldaten ausgebildet (UKG 18.8.2022). Die Türkei hat bis 2022 5.000 Soldaten für die Einheit Gorgor und zudem hunderte Offiziere und Unteroffiziere ausgebildet. Die USA haben knapp 2.000 Kräfte von Danaab ausgebildet und weitere 350 Rekruten zur Ausbildung aufgenommen (VOA 30.11.2022). Die vielen externen Akteure, welche sich am Aufbau somalischer Sicherheitskräfte beteiligen, arbeiten notorisch unkoordiniert, und einige Akteure – etwa Kenia und Äthiopien – verfolgen darüber hinaus nationale Interessen (HIPS 4.2021, Sitzung 24ff). Die somalischen Streitkräfte haben keine Übersicht über ihre eigenen Lagerbestände. Und obwohl Somalia in den letzten Jahren Tausende Waffen beschafft hat, sind nach wie vor nicht alle Soldaten mit einer Waffe ausgestattet (BMLV 9.2.2023). Dabei nennt die somalische Regierung als Grund für die mangelnde Effektivität der eigenen Truppen das nach wie vor aufrechte Waffenembargo der Vereinten Nationen. Aufgrund des Embargos können weder schwere Waffen noch Fluggerät angeschafft werden (UNSC 10.10.2022, Absatz 95,).

Die Nationale Armee wird von der AU, der EU, den USA sowie anderen Ländern, wie Türkei und Israel in der Besoldung, Bewaffnung und beim Training unterstützt (ÖB 11.2022). Die USA haben Armee- und Regionalkräfte ausgebildet, die Spezialeinheit Danaab aufgestellt und Anti-Terrorismus-Kapazitäten gestärkt; die EU führt ihre Ausbildungsmission EUTM weiter (BS 2022, Sitzung 40). Die Türkei unterstützt die Bundesarmee materiell und bildet in einem eigens erbauten Stützpunkt (TURKSOM) auch Soldaten aus (HIPS 2021, Sitzung 28). Die UN-Agentur UNSOS unterstützt 11.649 Angehörige der Sicherheitskräfte logistisch (UNSC 1.9.2022, Absatz 87,).

Armee/Stärke: Die Regierung nennt unterschiedliche Zahlen: 24.000 oder 28.000 (HIPS 4.2021, Sitzung 7). Eine andere Quelle nennt eine Zahl von 19.000-20.000 Mann - ohne die 5.000 in Eritrea ausgebildeten, deren Verwendung weiterhin unklar ist (BMLV 9.2.2023). Eine andere Quelle nennt diesbezüglich mehr als 25.000 - ohne die Spezialeinheit Gorgor; mit Letzterer umfasst die Bundesarmee demnach fast 30.000 Soldaten (Sahan 29.6.2022). Insgesamt sind in den vergangenen 15 Jahren von externen Akteuren Schätzungen zufolge mehr als 100.000 Soldaten ausgebildet worden (HIPS 4.2021, Sitzung 7).

Spezialeinheiten: Danab (Blitz) - von den USA ausgebildet, ausgerüstet und betreut (HIPS 8.2.2022, Sitzung 5; vergleiche BBC 1.6.2022; Williams 2019, Sitzung 2/9) - ist die einzige Einheit, bei welcher bei der Rekrutierung nicht der Clan, sondern militärische Erfahrung und Können eine Rolle spielen (BMLV 9.2.2023; vergleiche Williams 2019, Sitzung 2/9). Es handelt sich um eine bestens ausgebildete (HIPS 8.2.2022, Sitzung 5) und um die schlagkräftigste Einheit in Somalia (Robinson 27.1.2022; vergleiche HIPS 4.2021, Sitzung 26f). Diese Truppe umfasst etwa 1.500-1.600 Mann (BMLV 9.2.2023; vergleiche BBC 23.11.2022; WP 10.12.2022) und war in der Offensive an fast allen Frontabschnitten in Hiiraan, Middle Shabelle und Galgaduud aktiv (BMLV 9.2.2023). Es ist geplant, die Mannzahl von Danab zu verdoppeln (BBC 23.11.2022). Danab-Soldaten werden regelmäßig bezahlt. Es gibt dort fixe Quoten, um dafür zu sorgen, dass die Soldaten aus allen unterschiedlichen Clans stammen. Danab hat nunmehr 1.500 Soldaten (WP 10.12.2022).

Eine weitere Spezialeinheit ist die von der Türkei ausgebildete und mit modernen Waffen, Ausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen ausgestattete Gorgor (Adler) (Bryden 8.11.2021; vergleiche Robinson 27.1.2022; HIPS 2021, Sitzung 28). Diese Einheit wird nicht geschlossen eingesetzt, sondern ist in Mogadischu, Dhusamareb, Belet Xaawo und mehreren Orten in Lower Shabelle im Einsatz (BMLV 9.2.2023). Die Einheit umfasst nunmehr mehr als 5.000 (Sahan 29.6.2022), nach anderen Angaben 5.500 Mann in vermutlich 10 Bataillonen (BMLV 9.2.2023). Danab wird zunehmend als apolitisch erachtet (WP 10.12.2022). Sowohl Danab als auch Gorgor ist es gelungen, Clanrivalitäten innerhalb ihrer Reihen aufzulösen und gleichzeitig effektive Anti-Terror-Operationen durchzuführen (Sahan 16.11.2022).

Sowohl Danab als auch Gorgor sind nun wieder klar der Armee unterstellt (BMLV 9.2.2023).

Regionale Kräfte: Die Bundesstaaten haben ihre eigenen Sicherheitsapparate (HIPS 3.2021, Sitzung 16). Unklar ist, inwiefern diese Kräfte in die zur Bundesregierung gerechneten Kräfte eingegliedert sind bzw. dorthin zugeordnet werden. Beim Operational Readiness Assessment wurden 2019 in Jubaland, Galmudug, SWS und Puntland fast 20.000 Personen registriert, welche zu "Regionalkräften" (auch Darawish) gezählt werden (UNSC 15.5.2019, Absatz 45,). Unter Darawish werden in Somalia grundsätzlich alle organisierten bewaffneten Kräfte verstanden, die außerhalb der Clanmilizen zu finden sind. Im neueren Kontext werden damit v. a. Sicherheitskräfte der Bundesstaaten bezeichnet (BMLV 9.2.2023). Darawish werden nunmehr auch national ausgebildet. So haben im Feber 2020 die ersten 300 von 1.750 Darawish ihre – u. a. von AMISOM bzw. ATMIS und EUTM gestaltete – Ausbildung in Mogadischu abgeschlossen (AMISOM 14.2.2020). Kenia kooperiert mit den Sicherheitskräften Jubalands (BS 2022, Sitzung 41) und bildet diese aus. Äthiopien (BMLV 9.2.2023) und Großbritannien bilden Sicherheitskräfte des SWS aus (AQ7 2.2022) und auch Dschibuti beteiligt sich am Aufbau lokaler Darawish Forces (UNSC 13.5.2022, Absatz 68,).

Milizen, die nicht Teil der somalischen Sicherheitskräfte sind, aber loyal zu Regionalregierungen stehen, sind Teil des Spektrums. Oft haben sie in der Vergangenheit das Sicherheitsvakuum gefüllt, wo staatliche Kräfte aufgrund ihrer Schwäche nicht dazu in der Lage waren (RD 28.8.2022). In Teilen von Galgaduud – etwa im Bezirk Baxdo – organisieren sich zunehmend lokale Gemeinden und Milizen im Widerstand gegen al Shabaab. Diese werden dabei von der Armee unterstützt (SD 14.9.2022). Auch in Hiiraan wird versucht, den gesellschaftlichen Widerstand gegen al Shabaab zu fördern (RD 15.9.2022).

Die Macawiisely – benannt nach den langen Gewändern der somalischen Nomaden – wurden ursprünglich nur bei Bedarf mobilisiert. Es gab keine permanenten Stützpunkte, keine organisierte Führung, keine regulären Kräfte und keine externe Unterstützung. Mit der zunehmenden Terrorisierung der Zivilbevölkerung in Teilen von Galmudug und HirShabelle hat ihre Bedeutung zugenommen. In der Verteidigung der eigenen Heimat und der eigenen Familien mit eigenen Mitteln und Waffen, greifen diese Milizen al Shabaab an und konnten dabei auch schon einige Erfolge verzeichnen (GF 14.9.2022). Ein signifikanter Teil der Macawiisley besteht folglich aus Personen, die keine Soldaten oder professionellen Milizionäre sind, sondern Viehzüchter und Nomaden (Sahan 23.9.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Diese lokalen Milizen stellen eine zur SNA parallele und durch die FGS aufgrund ihrer Clan-basierten Strukturen nicht kontrollierbare bewaffnete Macht dar (ÖB 11.2022, Sitzung 9). Zudem sind die Macawiisley aufgrund von Zwängen hinsichtlich der Erwerbstätigkeit nicht unbegrenzt für den Kampf verfügbar (BMLV 9.2.2023).

Zudem verfügen alle politischen Kräfte über eigene Kampftruppen (AA 28.6.2022, Sitzung 12). Einzelne Politiker, Unternehmen und Hilfsorganisationen haben eigenes Sicherheitspersonal (HIPS 3.2021, Sitzung 16).

NISA (National Intelligence and Security Agency): Die NISA ist vergleichbar mit einem Inlandsgeheimdienst. Sie hat die Aufgabe als Sicherheitspolizei vornehmlich gegen al Shabaab vorzugehen (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29), bzw. ist sie auch für den Staatsschutz zuständig und mit exekutiven Vollmachten ausgestattet. Die exekutiven Einheiten der NISA sind zwar 2018 formal in die Polizei integriert worden. Trotzdem bleibt die NISA mit exekutiven Vollmachten ausgestattet und übt weiterhin eine aktive Rolle in der Terrorismusbekämpfung aus, die über eine rein nachrichtendienstliche Tätigkeit hinausgeht. Es kommt auch immer wieder zu Zusammenstößen mit anderen Sicherheitskräften. Außerdem führt die NISA Razzien durch und nimmt Menschen fest und unterliegt wenigen bis keinen Aufsichts- und Kontrollmechanismen (AA 28.6.2022, Sitzung 10f). Am 6.2.2023 erhielt der bereits im Jahr 2013 offiziell aufgestellte Dienst mit dem im Parlament verabschiedeten NISA-Gesetz eine rechtliche Grundlage (BMLV 9.2.2023). Das in Somalia befindliche Personal der NISA umfasst 5.000 (Sahan 29.6.2022), nach anderen Angaben von 3.200 Mann (BMLV 9.2.2023), wovon die Masse in Mogadischu und Teile im SWS, in HirShabelle und Galmudug eingesetzt sind (BMLV 9.2.2023).

Die NISA verfügt über eigene Spezialeinheiten: die in Eritrea ausgebildeten Dufaan (Sturm) (Sahan 5.5.2021; vergleiche UNSC 6.10.2021) mit einer Stärke von mindestens 450 Mann (UNSC 6.10.2021) und fehlender gesetzlicher Verankerung und Verantwortlichkeit (Sahan 10.6.2022). Auch die Einheit Ruuxaan (Geister) (BMLV 9.2.2023) sowie die von den USA ausgebildeten und als Anti-Terror-Einheiten eingesetzten Waran (Speer) und Gashaan (Schild) gehört zum NISA (Bryden 8.11.2021).

Puntland: Insgesamt beläuft sich die Stärke der Streit- und Sicherheitskräfte Puntlands (Darawish, Polizei, Puntland Maritim Police Force / PMPF und andere) auf rund 10.000-12.000 Mann (BMLV 9.2.2023). Die PMPF wird weiterhin von den Vereinten Arabischen Emiraten unterstützt (Sahan 20.6.2022). PMPF ist zuständig für die Verhinderung und Bekämpfung von Piraterie, illegalem Fischfang und anderen Straftaten entlang der puntländischen Küste (RD 30.11.2022b). Diese Einheit stellt eine signifikante Ressource im Kampf gegen Extremisten und Waffenschmuggler dar (UNSC 6.10.2021). Die Spezialeinheit Puntland Security Force (PSF) dient als Anti-Terrorismuseinheit, wird von den USA ausgebildet und unterstützt (HIPS 8.2.2022, Sitzung 19; vergleiche GITOC 19.4.2022) - für den Kampf gegen al Shabaab und ISIS. Nach Angaben einer Quelle standen die PSF niemals wirklich unter dem Kommando der puntländischen Regierung. Jedenfalls wurden die PSF nach den Auseinandersetzungen Ende 2021 in die Puntland Intelligence Security Force (PISF), die eng mit der PMPF zusammenarbeitet, und die Puntland Security Commando Force (PSCF) geteilt (UNSC 10.10.2022, Sitzung 61). Die Bossaso Port Maritime Police Unit hingegen schützt den Hafen von Bossaso. Sowohl diese als auch die PMPF werden on der EU-Mission EUCAP u. a. mit Ausbildungsmaßnahmen unterstützt (RD 30.11.2022b). Ausstehende Soldzahlungen sind nach wie vor ein wiederkehrendes Problem, das zwar punktuell zu Störungen des öffentlichen Lebens durch Straßenblockaden führen kann. Diese Störungen dauern gewöhnlich aber nicht mehr als einige Stunden an (BMLV 9.2.2023). Insgesamt hat die puntländische Regierung ein gewisses Problem, an allen Orten wirklich Sicherheit zu gewähren (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 30).

Folter und unmenschliche Behandlung

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2023-03-17 07:58

Staatlichen Akteuren werden Menschenrechtsverletzungen wie Tötungen, militärische Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen, willkürliche Verhaftungen, außergerichtliche Hinrichtungen, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, Vergewaltigungen, Entführung, Folter, schwere Misshandlung von Kindern, Raub, Bestechung, Korruption und willkürlicher Waffengebrauch vorgeworfen oder diese wurden dokumentiert (AA 28.6.2022, Sitzung 10f). Vorwürfe aufgrund systematischer Verfolgung werden jedoch nicht erhoben. Es kann im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden, dass Sicherheitskräfte den entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen und bei Verstößen straffrei gehen (AA 28.6.2022, Sitzung 21).

Tötungen: Die Regierung und ihre Handlanger verüben willkürliche und ungesetzliche Tötungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2f). Auch bei bewaffneten Zusammenstößen werden Zivilisten getötet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; vergleiche BS 2022, Sitzung 18). Alleine im Dezember 2021 töteten Sicherheitskräfte bei unterschiedlichen "Unfällen" in Mogadischu mehrere Zivilisten (HIPS 8.2.2022, Sitzung 29). Während immer noch al Shabaab und Clanmilizen für die Mehrheit der extra-legalen Tötungen verantwortlich zeichnen, wächst die Zahl an Fällen von Tötungen durch Sicherheitskräfte. Es fehlen Regeln hinsichtlich der Gewaltanwendung gegen Zivilisten. Der Einsatz tödlicher Gewalt – etwa von scharfer Munition gegen Demonstranten – ist nicht unüblich und jedenfalls üblicher als eine graduelle Eskalation (Sahan 16.9.2022).

Folter: Folter ist zwar laut Verfassung verboten, es gibt allerdings keinen konkreten Tatbestand im Gesetz (UNOHCHR 25.11.2022). Nach anderen Angaben sind Folter und unmenschliche Behandlung gesetzlich verboten, es kommt aber dennoch zu derartigen Vorfällen. Regierungskräfte und alliierte Milizen setzen exzessiv Gewalt ein - darunter auch Folter. NISA misshandelt Personen bei Verhören (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5f/14), es kommt dabei zu Folter (BS 2022, Sitzung 18; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 30). Verhaftete sind einem Risiko ausgesetzt, gefoltert (FH 2022a, F3) bzw. unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten und misshandelt zu werden (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Bei mehr als tausend Besuchen in Haft- und Anhalteeinrichtungen in Baidoa, Kismayo und Mogadischu wurde festgestellt, dass Folter dort üblich ist (SW 1.2022).

Der UN-Menschenrechtskommissar hat Besorgnis geäußert, wonach sowohl NISA als auch Armee in Fälle von Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt und anderen Vergehen verwickelt sind. Unter Folter fallen demnach auch öffentliche Exekutionen (SG 27.11.2022). römisch fünf. a. NISA verhaftet Personen ohne Haftbefehl, sperrt diese über längere Zeiten ein, misshandelt Personen bei Verhöhren (UNOHCHR 25.11.2022). Vorwürfe gibt es mitunter auch gegen Angehörige der Spezialeinheit Haramcad. So wurde z. B. am 19.2.2021 ein Journalist verhaftet und dann gefoltert (WQ 21.2.2021). Außerdem wenden auch Clanmilizen - auch mit der Regierung affiliierte - Folter und unmenschliche Behandlung an. Aufgrund des Clanschutzes für Täter herrscht diesbezüglich eine Kultur der Straflosigkeit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6).

In Puntland gibt es einige Vorwürfe gegen die Puntland Intelligence Agency, wonach diese gegen Terrorismusverdächtige in Haft Folter anwendet (BS 2022, Sitzung 18).

Verhaftungen: Willkürliche Verhaftungen sind üblich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 10). Es gibt immer wieder Berichte über Polizeigewalt und exzessive Gewaltanwendung, Drohungen, Belästigungen und willkürliche Verhaftungen – vor allem von Terrorverdächtigen, Menschenrechtsverteidigern und Journalisten (UNOHCHR 25.11.2022). Alleine von Feber bis Mai 2022 wurden 27 Journalisten und Medienmitarbeiter willkürlich verhaftet (UNSC 13.5.2022, Absatz 52,). NISA verhaftet Menschen und hält diese über längere Zeit ohne Anklage fest (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6).

Rechenschaft: Hinsichtlich Folter durch Polizei und Armee besteht weitgehende Straffreiheit (UNOHCHR 25.11.2022). Sicherheitskräfte agieren, ohne eine Strafe befürchten zu müssen. Fälle von Polizeigewalt werden oft nicht registriert, die Straffreiheit bei der Polizei floriert. Polizisten können selbst im Fall eines Mordes ungeschoren davonkommen (Sahan 16.9.2022). Nur einige Sicherheitsbeamte wurden in der Vergangenheit zur Verantwortung gezogen (Sahan 16.9.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 16). Der Polizei fehlt für Untersuchungen schon die Kapazität. Die Armee verfügt diesbezüglich über bessere Justizmechanismen, diese werden allerdings nicht immer effizient eingesetzt (Sahan 16.9.2022). Im Juli 2022 wurde ein Soldat für einen an einem Zivilisten begangenen Mord von einem Militärgericht zum Tod verurteilt (Sonna 20.7.2022); ein Soldat wurde im Juli 2022 hingerichtet, der zuvor von einem Militärgericht wegen des Mordes an einem Geheimdienstmitarbeiter und dessen Schwester in Cabudwaaq verurteilt worden war (HO 27.7.2022); Anfang September 2022 wurden zwei Soldaten der Gorgor-Einheit wegen der Ermordung zweier Zivilisten in Lower Shabelle zum Tode verurteilt, ein weiterer Soldat, der bei der Tat anwesend war, wurde zu drei Jahren Haft verurteilt (RD 6.9.2022); ein Soldat wurde Anfang Dezember 2022 von einem Militärgericht zum Tode verurteilt, weil er an einer Straßensperre einen Taxilenker erschossen hat (HO 4.12.2022).

Generell bleibt Straffreiheit aber die Norm (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche FH 2022a, F3). Dies gilt auch für willkürliches Vorgehen der Polizeikräfte, dieses bleibt i. d. R. ungeahndet (AA 28.6.2022, Sitzung 10), denn ohne zivilrechtliche Aufsicht und Rechenschaftsablegung haben die Opfer polizeilicher Willkür und Gewalt oft gar keine legale Möglichkeit, juristisch dagegen vorzugehen (AA 28.6.2022, Sitzung 15).

Al Shabaab: Die Gruppe tötet, entführt und misshandelt Zivilisten, verübt geschlechtsspezifische Gewalt und führt Frauen einer Zwangsehe zu. Zudem rekrutiert al Shabaab Kinder und setzt diese auch ein (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15ff). Außerdem verhängt und vollstreckt die Gruppe in den Gebieten unter ihrer Kontrolle weiterhin harte Strafen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6). Dort ist auch von unmenschlicher Behandlung auszugehen, wenn Personen gegen die Interessen von al Shabaab handeln oder dessen verdächtigt werden (AA 28.6.2022, Sitzung 21; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 62). Mitunter wird gegen Zivilisten - z.B. gegen potenzielle Spione und gegen Personen, die keine Abgaben leisten - auch Folter eingesetzt (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 62; vergleiche UNSC 6.10.2021). Mitunter entführt al Shabaab Zivilisten (SMN 2.1.2023) - etwa Verwandte von Clanmilizionären (VOA 15.12.2022).

Somaliland

Letzte Änderung 2022-07-26 09:34

Die Sicherheitskräfte Somalilands entziehen sich in ihrem Handeln weitgehend der öffentlichen Kontrolle. Vorwürfe aufgrund systematischer Verfolgung werden nicht erhoben (AA 28.6.2022, Sitzung 21). Allerdings wird den Sicherheitskräften unverhältnismäßige Gewaltanwendung vorgeworfen (FH 2022b, F3). Der Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums meldet – wie auch in vergangenen Jahren – bezüglich Somaliland keine Vorfälle von Folter; auch über willkürliche Tötungen durch Behörden oder über Verschwindenlassen gibt es keine Meldungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2ff). Die lokale NGO Human Rights Center hat im zweiten Trimester 2021 sieben Fälle von Polizeigewalt und unrechtmäßiger Verhaftung dokumentiert. Manche Polizeikommandeure verhaften demnach willkürlich Menschen und lassen diese ebenso willkürlich wieder frei – ohne Grund, ohne Rechtsstaatlichkeit und völlig eigenmächtig (HRC 8.2021).

Wehrdienst und Rekrutierungen (durch den Staat und Dritte)

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2022-07-26 09:37

Die somalische Armee ist eine Freiwilligenarmee (BMLV 19.7.2022). Es gibt keinen verpflichtenden Militärdienst. Allerdings rekrutieren Clans regelmäßig – und teils unter Androhung von Zwangsmaßnahmen für die Familie – junge Männer zum Dienst in einer Miliz, bei den staatlichen Sicherheitskräften oder bei al Shabaab. Dadurch soll für den eigenen Clan oder Subclan Schutz erlangt werden (AA 28.6.2022, Sitzung 16).
(Zwangs-)Rekrutierungen und Kindersoldaten

Letzte Änderung 2023-03-17 08:09

Kindersoldaten: Allen Konfliktparteien wird vorgeworfen, Kinder zu rekrutieren (BS 2022, Sitzung 19). Im Jahr 2021 gab es immer wieder Berichte über den Einsatz von Kindersoldaten durch die Bundesarmee, alliierte Milizen, die Sufi-Miliz Ahlu Sunna Wal Jama’a (ASWJ) und al Shabaab (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16). Im ersten Halbjahr 2021 sind 631 Kinder rekrutiert und eingesetzt worden; weitere 348 wurden entführt - oft mit dem Ziel einer Rekrutierung. Für 77 % der Fälle zeichnet al Shabaab verantwortlich (UNSC 6.10.2021). Dahingegen waren im Vergleichszeitraum 2020 insgesamt 535 Kinder rekrutiert worden, mehr als 400 davon durch al Shabaab. Im Jahr 2019 waren noch 1.169 durch al Shabaab rekrutiert worden, 2018 waren es 2.300 (UNSC 28.9.2020, Absatz 137 f,). Die Regierung versucht der Rekrutierung von Kindern durch die Armee mit Ausbildungs- und Screening-Programmen entgegenzuwirken. Der Umstand, dass es keine Geburtenregistrierung gibt, macht diese Arbeit schwierig (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16f).

Generell wird festgestellt, dass immer dann, wenn aktive Kampfhandlungen zunehmen, in der Vergangenheit ein damit verbundener Anstieg bei der Rekrutierung von Kindern zu verzeichnen war (UNSC 6.10.2021). Gerade in umkämpften Gebieten ist wiederholt eine besonders hohe Zahl an Rekrutierungen zu verzeichnen (AA 28.6.2022, Sitzung 17).

Kindersoldaten - al Shabaab: Al Shabaab ist weniger an die Rekrutierung Erwachsener als an der Rekrutierung von 8-12-jährigen Kindern interessiert. Diese sind leichter zu indoktrinieren und formbarer (Sahan 6.5.2022). Al Shabaab rekrutiert und entführt auch weiterhin Kinder (UNSC 10.10.2022, Absatz 127 ;, vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 6; HRW 13.1.2022). Alleine im Zeitraum Jänner bis März 2022 sind 177 derartige Fälle bekannt (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,). Die Gruppe entführt systematisch Kinder von Minderheitengruppen (BS 2022, Sitzung 19). Al Shabaab führt u. a. Razzien gegen Schulen, Madrassen und Moscheen durch (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Es gibt Berichte über Gruppenentführungen aus Madrassen heraus. So sind etwa bei zwei Vorfällen in Bay und Hiiraan im ersten Halbjahr 2021 insgesamt 35 Buben entführt und zwangsrekrutiert worden (UNSC 6.10.2021). Außerdem indoktriniert und rekrutiert al Shabaab Kinder gezielt in Schulen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17; vergleiche UNSC 6.10.2021; ÖB 11.2022, Sitzung 6). Al Shabaab betreibt eigene Schulen mit eigenem Curriculum. Die besten Schüler werden einer höheren Bildung zugeführt, während der große Rest in Ausbildungslager der Gruppe gebracht wird (VOA 16.11.2022).

Manchmal werden Clanälteste bedroht und erpresst, damit Kinder an die Gruppe abgegeben werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Es wird mitunter auch Gewalt angewendet, um von Gemeinden und Ältesten junge Rekruten zu erpressen (BS 2022, Sitzung 19). In den Gebieten unter ihrer Kontrolle verlangt al Shabaab von Familien, dass sie einen oder zwei ihrer Buben in ihre Ausbildungslager schicken. Familien, die sich weigern, müssen mit Bußgeldern rechnen; manchmal werden sie auch mit Strafverfolgung oder Schlimmerem bedroht. Manche Familien schicken ihre Buben weg, damit sie einer Rekrutierung entgehen (Sahan 6.5.2022). Knapp die Hälfte der Kinder wird mittels Gewalt und Entführung rekrutiert, die andere durch Überzeugung der Eltern, Ältesten oder der Kinder selbst (AA 28.6.2022, Sitzung 17). Die Methoden unterscheiden sich jedenfalls. So wurde beispielsweise ein Fall dokumentiert, wo im Gebiet um Xudur (Bakool) al Shabaab in manchen Dörfern die „freiwillige“ Übergabe von Kindern zwischen 12 und 15 Jahren forderte, während in anderen Dörfern Kinder zwangsweise rekrutiert wurden. Zudem sind Clans unterschiedlich stark betroffen. So berichten etwa die Hadame [Rahanweyn], dass immer wieder Kinder von al Shabaab zwangsrekrutiert worden sind - z.B. im Feber 2021 (UNSC 6.10.2021). Insgesamt bleibt die freiwillige oder Zwangsrekrutierung von Kindern aber unüblich und hauptsächlich auf jene Gebiete beschränkt, wo al Shabaab am stärksten ist (Sahan 6.5.2022). Nach Angaben einer Quelle entführt al Shabaab aber systematisch Kinder von Minderheitengruppen. Auch Mädchen werden für Zwangsehen mit Al-Shabaab-Kämpfern entführt (ÖB 11.2022, Sitzung 6).

Aus Lagern oder anderen Einrichtungen der al Shabaab können Kinder nur mit Schwierigkeit entkommen. Die Kinder sind dort brutalem physischen und psychischen Stress ausgesetzt, die der Folter nahekommen; sie sollen gebrochen werden (Sahan 6.5.2022). In Lagern werden Kinder einer grausamen körperlichen Ausbildung unterzogen. Sie erhalten keine adäquate Verpflegung, dafür aber eine Ausbildung an der Waffe, physische Strafen und religiöse Indoktrination. Kinder werden gezwungen, andere Kinder zu bestrafen oder zu exekutieren. Eingesetzt werden Kinder etwa als Munitions- und Versorgungsträger, zur Spionage, als Wachen; aber auch zur Anbringung von Sprengsätzen, in Kampfhandlungen und als Selbstmordattentäter (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Mädchen werden auf eine Ehe vorbereitet, manchmal aber auch auf Selbstmordmissionen. Armeeeinheiten - wie Danab - haben immer wieder Operationen unternommen, um Kinder aus solchen Ausbildungslagern zu befreien (6.5.2022 Sahan).

Manchmal werden Kinder aus den Händen der al Shabaab befreit, so etwa durch Sicherheitskräfte im August 2020, als 33 Buben aus einer Madrassa in Kurtunwareey (Lower Shabelle) befreit wurden. Alle Kinder wurden mit ihren Eltern wiedervereint (UNSC 13.11.2020, Absatz 46,).

(Zwangs-)Rekrutierung: Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia (ÖB 11.2022, Sitzung 6). Die meisten Rekruten stammen aus ländlichen Gebieten – v. a. in Bay und Bakool. Bei den meisten neuen Rekruten handelt es sich um Kinder, die das Bildungssystem der al Shabaab durchlaufen haben, was wiederum ihre Loyalität zur Gruppe fördert (HI 12.2018, Sitzung 1). Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus den Regionen Bay und Bakool (Marchal 2018, Sitzung 107). Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren hierbei eine Hauptquelle an Fußsoldaten (EASO 9.2021c, Sitzung 18). Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich hingegen um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu (Ingiriis 2020). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022).

Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet (Ingiriis 2020), jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen (Marchal 2018, Sitzung 92). Alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet sind als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z.B. bei militärischen Operationen im Bereich oder zur Aufklärung (BMLV 9.2.2023). Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen (Marchal 2018, Sitzung 105). Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen (FIS 7.8.2020, Sitzung 18; vergleiche ICG 27.6.2019, Sitzung 2). Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren (Khalil 1.2019, Sitzung 14). Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 36/40). Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 17f). Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen (BMLV 9.2.2023). Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM bzw. ATMIS oder die Regierung äußern (EASO 9.2021c, Sitzung 21).

Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan (Ingiriis 2020). Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (EASO 9.2021c, Sitzung 18).

Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt (EASO 9.2021c, Sitzung 21). Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können, trotz fehlendem religiösem Verständnis, auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle (FIS 7.8.2020, Sitzung 17; vergleiche Khalil 1.2019, Sitzung 33). Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle (Khalil 1.2019, Sitzung 33). Etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab sind der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden (Felbab 2020, Sitzung 120f). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52 % der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 % (Botha 2019). Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen (SIDRA 6.2019a, Sitzung 4). Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen von al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent (Khalil 1.2019, Sitzung 16). Nach neueren Angaben verdienen Fußsoldaten und niedrige Ränge 60-100 US-Dollar, Finanzbedienstete z. B. 250 US-Dollar im Monat (UNSC 10.10.2022, Absatz 52,). Gemäß somalischen Regierungsangaben erhalten neue Rekruten 30 US-Dollar im Monat, ein ausgebildeter Fußsoldat oder ein Fahrer 70 US-Dollar; den höchsten Sold erhält demnach mit 25.000 US-Dollar der Emir selbst (FGS 2022, Sitzung 99). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge überhaupt nicht bezahlt worden sind (Botha 2019).

Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer (FIS 7.8.2020, Sitzung 17). Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans (Khalil 1.2019, Sitzung 14f; vergleiche EASO 9.2021c, Sitzung 20). Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern (FIS 5.10.2018, Sitzung 34). Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 42f). So z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft Tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (Ingiriis 2020).

Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Diese "Vorschreibung" - also wieviele Rekruten ein Dorf, ein Gebiet oder ein Clan stellen muss - erfolgt üblicherweise jährlich, und zwar im Zuge der Vorschreibung anderer jährlicher Abgaben. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens (BMLV 9.2.2023). Eltern versuchen, durch Geldzahlungen die Rekrutierung ihrer Kinder zu verhindern (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,). Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (BMLV 9.2.2023).

Sich einer Rekrutierung zu entziehen ist möglich, aber nicht einfach. Die Flucht aus von al Shabaab kontrolliertem Gebiet gestaltet sich mit Gepäck schwierig, eine Person würde dahingehend befragt werden (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 18). Trotzdem schicken Eltern ihre Kinder mitunter in von der Regierung kontrollierte Gebiete – meist zu Verwandten (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,).

Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat (BMLV 9.2.2023). Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 40). Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt (BMLV 9.2.2023; vergleiche UNSC 28.9.2020, Annex 7.2).

Frauen: Der Einsatz von Frauen bei al Shabaab erfolgt zumeist in unterstützender Rolle: Als Steuereinheberinnen, Lehrer- oder Predigerinnen in Madrassen, Wächterinnen in Gefängnissen; zum Kochen und Putzen, in der Waffenpflege oder Spionage (UNSC 10.10.2022, Absatz 29,). In den Führungsgremien und Kampfkräften von al Shabaab finden sich keine Frauen. Deren Rolle reicht von jener der einfachen Ehefrau bis hin zu Rekrutierung, Missionierung, Spionage, Waffenschmuggel und Spendensammlung (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Frauen, die mit Soldaten oder AMISOM bzw. ATMIS Kleinhandel treiben, werden als Spione und Informationsbeschafferinnen rekrutiert (ICG 27.6.2019, Sitzung 12). Andererseits werden Frauen und Mädchen der Bantu mitunter nicht nur in eine Ehe gezwungen – und zwar unter Todesdrohungen – die Ehe gestaltet sich noch dazu eher als temporäre sexuelle Versklavung (Benstead 2021).

Deserteure und ehemalige Kämpfer von al Shabaab

Letzte Änderung 2023-03-17 08:11

Allgemein geben Deserteure für das Verlassen der al Shabaab folgende Gründe an: inadäquate Bezahlung, familiäre Verpflichtungen, schlechte Lebensbedingungen, Risiko für Leib und Leben (Khalil 1.2019, Sitzung 33/16f). Mit Letzterem ist nicht bloß die Gefahr von Kampfhandlungen gemeint, sondern auch die von al Shabaab angewandte Bestrafung bei (vermeintlichen) Regelbrüchen (Khalil 1.2019, Sitzung 16f). Generell stellt die Desertion eines Einzelnen für al Shabaab ein kleineres Problem dar, als der Seitenwechsel ganzer Clans und der zugehörigen Milizen (BMLV 9.2.2023).

Verfolgung: Al Shabaab duldet keine Desertion – wie auch andere dschihadistische Bewegungen erlaubt die Gruppe keinen Austritt (EASO 9.2021c, Sitzung 28). Allerdings sind nicht alle ehemaligen Kämpfer der al Shabaab Deserteure. Es gibt Beispiele, wo Angehörige die Entlassung eines Familienmitglieds durch die al Shabaab erwirken konnten (Khalil 1.2019, Sitzung 17f). Zudem werden Kämpfer der al Shabaab nicht auf unbestimmte Zeit als Soldaten eingesetzt. Nach einem bestimmten Zeitraum (möglicherweise auch je nach Funktion variabel), werden diese abgerüstet und aus dem Dienst entlassen. Als ausgebildete Kämpfer können sie im Notfall rasch wieder reaktiviert werden (BMLV 9.2.2023). Auch manche Deserteure gehen zurück zu al Shabaab (Sahan 18.11.2021).

Eine Desertion gleicht jedoch oft einer Flucht – mit entsprechender Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens al Shabaab. Manche Deserteure warten Monate oder sogar Jahre, bevor sich ihnen eine Gelegenheit zur Flucht bietet (Khalil 1.2019, Sitzung 17f). In manchen Fällen kann ein Deserteur bei seinem eigenen Clan Schutz finden (FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Der Experte Marchal betont, dass für Deserteure, die nach Mogadischu geflüchtet sind, der Clan eine bestimmte Rolle spielt – nämlich bei der Frage, ob der Clan innerhalb von al Shabaab stark oder wenig vertreten ist. Für jene, deren erweiterte Familie in Mogadischu stark vertreten ist und deren Clan bei al Shabaab wenig vertreten ist (z. B. Hawiye / Habr Gedir), wird es eine Möglichkeit geben unterzutauchen. Für andere, deren Clan in Mogadischu keine starke Position hat, und dieser noch dazu bei al Shabaab stark involviert ist (z. B. Rahanweyn), wird ein Untertauchen mitunter schwierig (EASO 9.2021c, Sitzung 28). Al Shabaab ist aufgrund eines Systems von Informanten in der Lage, Deserteure nahezu im gesamten Land aufzuspüren. Die Gruppe nutzt dafür unter anderem Clannetzwerke. In Mogadischu sind Deserteure nicht sicher. Ob sie jedoch zum Ziel werden oder nicht, hängt auch von ihrer früheren Rolle bei al Shabaab ab (ÖB 11.2022, Sitzung 7). Generell richtet sich al Shabaab aufgrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen darauf ein, Gewalt "exemplarisch" auszuüben. Bestrafungen kommen zum Einsatz, um die Bevölkerung zu ängstigen (ACCORD 31.5.2021). Der Experte Marchal erklärt, dass al Shabaab versucht, jene Deserteure, welcher sie habhaft werden kann, auch zu bestrafen – und zwar zum Zweck des statuierten Exempels (EASO 9.2021c, Sitzung 28). Dieses soll potenziellen Deserteuren zur Abschreckung dienen (EASO 9.2021c, Sitzung 28; vergleiche Sahan 18.11.2021). Ein Deserteur befindet sich also dann in einer gefährlichen Situation, wenn al Shabaab ihn aufspüren konnte (FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Es gibt Berichte, wonach Deserteure von al Shabaab als Abtrünnige (murtadd) verfolgt und teilweise exekutiert werden (ÖB 11.2022, Sitzung 7; Sahan 18.11.2021). Dies gilt insbesondere für Deserteure mittleren Ranges. Doch auch einfache Mannschaftsgrade können zum Ziel werden (BFA 8.2017, Sitzung 43f; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 7, FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Viele Deserteure haben Angst davor, vom Amniyad [Geheimdienst von al Shabaab] aufgespürt zu werden (BBC 27.5.2019). 70 % von 32 bei einer Studie im Jahr 2017 befragten Deserteuren haben angegeben, Todesdrohungen von al Shabaab erhalten zu haben. Sie fühlten sich verfolgt. Weitere Deserteure berichteten davon, dass ihre Familien bedroht worden sind. Von jenen, die nicht bedroht wurden, hatten die meisten ihre Telefonnummern gewechselt (Taylor 2019, Sitzung 9ff).

Andererseits gibt es keine Hinweise darauf, dass die Gruppe z. B. in Mogadischu aktiv Deserteure sucht und liquidiert (LI 8.9.2022). Es gibt zudem kaum bekannte Beispiele für getötete Deserteure (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Überhaupt gibt es keine konkreten Zahlen bzw. Berichte zu Tötungen von Deserteuren (BMLV 9.2.2023; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 7). Interessanterweise sind auch die vorhandenen Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige der al Shabaab nie zum Angriffsziel geworden [siehe unten] (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 34). Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass desertierte Fußsoldaten von al Shabaab über weite Strecken verfolgt werden (ACCORD 31.5.2021). Inwiefern al Shabaab also tatsächlich Energie in das Aufspüren und Töten von desertierten Fußsoldaten investieren will, ist unklar. Insgesamt besteht in einigen Fällen offenbar auch die Möglichkeit, dass sich ein Deserteur mit der al Shabaab verständigt – etwa durch die Zahlung von Geldbeträgen (BMLV 9.2.2023; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 7).

Deserteure in Somaliland und Puntland gelten grundsätzlich nicht als gefährdet. Deserteure aus Süd- oder Zentralsomalia befinden sich jedoch in Somaliland in einer schwierigen Lage, da sie nicht wissen, wem sie vertrauen können oder wer al Shabaab nahe steht (ÖB 11.2022, Sitzung 7; vergleiche BMLV 9.2.2023).

Amnestie: Der ehemalige Präsident Farmaajo hat zwar eine Amnestie für Angehörige der al Shabaab ausgesprochen, welche sich freiwillig ergeben. Allerdings ist diese Amnestie nur mündlich ausgesprochen worden. Es gibt keine rechtliche Grundlage dafür. Trotzdem geben Deserteure an, dass die Aussicht auf eine Amnestie ein maßgeblicher Faktor für ihre Desertion war (Khalil 1.2019, Sitzung 17). Ehemalige Mitglieder der al Shabaab werden von der NISA gescreent; jene, die als „high risk“ eingestuft werden, werden dem Justizministerium zur Strafverfolgung übergeben (Santur 22.10.2018). Insgesamt gibt es keine eindeutigen Prozeduren oder Regeln im Umgang mit Deserteuren. Es fehlt an Vorhersagbarkeit und Transparenz (Sahan 18.11.2021).

Rehabilitation/Reintegration: Die somalische Regierung betreibt mehrere Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige von al Shabaab, die als "low-risk" eingestuft wurden. Dies sind in erster Linie Zentren in Mogadischu, Baidoa und Kismayo (UNSC 1.9.2022, Absatz 70 ;, vergleiche Sahan 18.11.2021). Im Rahmen des National Program for the Treatment and Handling of Disengaged Combatants, über welches auch die Rehabilitationszentren geführt werden, wurden tausende Deserteure der al Shabaab rehabilitiert und reintegriert. Das Rehabilitationsprogramm wird maßgeblich von Großbritannien und Deutschland finanziert. Mit Stand Ende Dezember 2022 befanden sich mehr als 450 männliche und weibliche Deserteure in Betreuung (VOA 29.12.2022), im Juli 2022 waren es 304 Männer und 184 Frauen. Von Jänner bis August 2022 sind 187 Männer und 186 Frauen aus den Zentren als rehabilitiert entlassen und in die Gesellschaft reintegriert worden (UNSC 1.9.2022, Absatz 70,). IOM unterstützt in Baidoa ein Projekt zur Demobilisierung und Reintegration von männlichen und weiblichen "disengaged combatants" der al Shabaab. Dabei wird die Grundversorgung gesichert, Zugang zu Berufsausbildung ermöglicht und Mediationsarbeit zur langfristigen Reintegration geleistet. Nach der Ausbildung wird Geld zur Verfügung gestellt, um gegebenenfalls ein Unternehmen gründen zu können (ÖB 11.2022, Sitzung 7). Bei der Reintegration gibt es unterschiedliche Erfolge. Einige schaffen es, in ein normales Leben zurückzufinden. Andere sehen sich gezwungen, das Land zu verlassen, nachdem sie unter ständigen Einschüchterungen durch al Shabaab leiden. Eine unbekannte Zahl wurde von al Shabaab ermordet – als Abschreckung für andere (Sahan 18.11.2021).

Für Kinder gibt es eigene Zentren. Diese werden von NGOs betrieben, Kindern wird dort Bildung und Berufsbildung zur Verfügung gestellt (Santur 22.10.2018). U. a. werden bei von UNICEF unterstützten Reintegrationsprojekten für ehemalige Kindersoldaten Minderjährige in ihren Gemeinden resozialisiert. Sie erhalten außerdem Zugang zu einer Ausbildung (ÖB 11.2022, Sitzung 7).

Reintegration - Beispiel Serendi Rehabilitation Centre (SRC), Mogadischu: Das SRC steht jenen ehemaligen Angehörigen der al Shabaab offen, die als "low-risk" eingestuft wurden (Khalil 1.2019, Sitzung vii). Als "low-risk" wird von der NISA herausgefiltert, wer al Shabaab freiwillig verlassen hat; wer sich gegen die Ideologie der Gruppe ausspricht; und wer nicht als künftiges Risiko für die öffentliche Sicherheit erachtet wird (Khalil 1.2019, Sitzung 19/2; vergleiche BBC 23.11.2020). Trotzdem gibt es in Rehabilitationszentren auch Agenten von al Shabaab (BBC 23.11.2020).

Die Aufenthaltsdauer im SRC beträgt 6-12 Monate (Khalil 1.2019, Sitzung 19). Am SRC erhalten die Bewohner neben psycho-sozialer Unterstützung auch eine schulische und eine Berufsausbildung (Khalil 1.2019, Sitzung 23/12). Ein Rehabilitierter erzählt, dass er nun Schulbusfahrer ist, ein anderer ist Friseur. Im Zentrum gibt es z.B. auch Ausbildung in Mechanik, Schweißen, IT, Basisbildung und Englisch (BBC 23.11.2020). Das SRC unterstützt die Bewohner bei der Wiederherstellung des Kontakts zu Familie und Clan (Khalil 1.2019, Sitzung 24). Spätestens im Zuge der Reintegration in Mogadischu wenden sich viele aus dem SRC Entlassene an (teils entfernte) Verwandte. In vielen Fällen konnten positive Beziehungen zur Familie wieder hergestellt werden, die meisten wurden von ihrer Kernfamilie wieder aufgenommen (Khalil 1.2019, Sitzung 27f).

Nach der Entlassung aus dem SRC stellt gesellschaftliche Diskriminierung kaum ein relevantes Problem für ehemalige Angehörige der al Shabaab dar, wohl auch, weil es vielen gelingt, ihre Vergangenheit zu verschweigen (Kahlil 1.2019, Sitzung 29/34). Viele der Deserteure stammen zwar aus Mogadischu (Kahlil 1.2019, Sitzung 3), die Mehrheit jedoch aus Lower Shabelle, Middle Juba, Hiiraan oder Galgaduud (Kahlil 1.2019, Sitzung 3/27). Trotzdem entscheiden sich viele für eine Reintegration in Mogadischu – mitunter, weil dort relative Anonymität herrscht (Khalil 1.2019, Sitzung 29/27).

Bereits entlassene rehabilitierte ehemalige Angehörige von al Shabaab bleiben auch in Mogadischu und versuchen, dort in der Masse unerkannt zu bleiben (BBC 23.11.2020). Viele der aus dem SRC Entlassenen sind aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht in ihre eigentliche Heimat zurückgekehrt. Einige von ihnen meiden auch in Mogadischu bestimmte Stadtgebiete, da sie Angst haben, dort als ehemalige Angehörige der al Shabaab identifiziert zu werden. Insgesamt äußern aus dem SRC Entlassene häufig Sicherheitsbedenken bezüglich al Shabaab – natürlich besteht eine latente Bedrohung, von ehemaligen Kameraden erkannt zu werden. Allerdings ist nur in einem Fall auch tatsächlich eine Drohung (über SMS) ausgesprochen worden (Khalil 1.2019, Sitzung 27f). Schon in ihrer Zeit im halb-offenen SRC haben Deserteure am Wochenende Ausgang, und fast alle nehmen diesen auch in Anspruch (Khalil 1.2019, Sitzung 22).

Allgemeine Menschenrechtslage

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2023-03-17 08:13

In der somalischen Verfassung ist der Schutz der Menschenrechte ebenso verankert wie die prägende Rolle der Scharia als Rechtsquelle (AA 28.6.2022, Sitzung 20).

Trotzdem werden Grund- und Menschenrechte regelmäßig und systematisch verletzt. Im Wettstreit stehende, politische Akteure in Süd-/Zentralsomalia sind in schwere und systematische Menschenrechtsverbrechen involviert (BS 2022, Sitzung 18; vergleiche AI 29.3.2022). Die schwersten Menschenrechtsverletzungen sind: willkürliche und ungesetzliche Tötungen durch Kräfte der somalischen Bundesregierung; Entführungen und Verschwindenlassen; Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten; Folter und andere grausame Behandlung; harte Haftbedingungen; willkürliche und politisch motivierte Verhaftungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1f; vergleiche BS 2022, Sitzung 34). Al Shabaab ist für die Mehrheit der schweren Menschenrechtsverletzungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche UNSC 6.10.2021) und für den größten Teil ziviler Todesopfer verantwortlich (BS 2022, Sitzung 34). Es gibt aber auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Kräfte der Bundesregierung und von Regionalregierungen. Auch Clanmilizen sind für Vergehen verantwortlich - darunter Tötungen, Entführungen und Zerstörung zivilen Eigentums (UNSC 6.10.2021).

Bei Kämpfen unter Beteiligung von ATMIS, Regierung, Milizen und al Shabaab kommt es zur Tötung, Verletzung und Vertreibung von Zivilisten sowie zu anderen Kriegsverbrechen, welche durch alle Konfliktbeteiligten verübt werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 2). Es gibt zahlreiche Berichte, wonach die Regierung und ihre Handlanger Personen willkürlich und außergesetzlich töten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Nach anderen Angaben stellen extralegale Tötungen bei den Sicherheitskräften kein strukturelles Problem dar (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Jedenfalls werden Sicherheitskräfte beschuldigt, Zivilisten bei Streitigkeiten um Land, bei Checkpoints, bei Zwangsräumungen und anderen Gelegenheiten willkürlich angegriffen zu haben (BS 2022, Sitzung 18). In solchen Fällen ist aufgrund des dysfunktionalen Justizsystems häufig von Straflosigkeit auszugehen (AA 28.6.2022, Sitzung 22).

Für die meisten Tötungen sind aber al Shabaab und Clanmilizen verantwortlich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; vergleiche AI 29.3.2022). Im Zeitraum 7.5. bis 23.8.2022 kamen landesweit 419 Zivilisten ums Leben oder wurden verletzt. Für 88 Opfer trug dabei al Shabaab, für 249 Unbekannte, für 30 Clanmilizen, für 46 staatliche Sicherheitskräfte und für sechs die Liyu Police die Verantwortung (UNSC 1.9.2022, Absatz 52,). Im Zeitraum 1.2. bis 6.5.2022 sind es vergleichsweise insgesamt 428 Opfer gewesen (UNSC 13.5.2022, Absatz 51,). In den vergangenen Jahren war die Zahl an zivilen Opfern stetig zurückgegangen. Gemäß verfügbarer Zahlen der UN ist aber 2022 bereits im November das Jahr mit den höchsten Zahlen an getöteten (613) und verletzten (948) Zivilisten seit dem Jahr 2017. Dabei wurden bei Sprengstoffanschlägen 315 Menschen getötet und 686 verletzt. Von diesen Anschlägen können mindestens 94 Prozent al Shabaab angelastet werden. Die restlichen Opfer wurden durch staatliche Kräfte, Milizen und Unbekannte verursacht (UNOHCHR 14.11.2022).

Es gibt mehrere Berichte über von der Regierung gesteuertes, politisch motiviertes Verschwindenlassen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen durch Bundes- und Regionalbehörden sowie durch alliierte Milizen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 9; vergleiche BS 2022, Sitzung 16). Die Regierung verwendet bei derartigen Verhaftungen oft den Vorwurf der Mitgliedschaft bei al Shabaab (USDOS 12.4.2022, Sitzung 10).

Generell ist Straflosigkeit die Norm. Die Regierung macht zumindest einige Schritte, um öffentlich Bedienstete – vor allem Sicherheitskräfte – strafrechtlich zu verfolgen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2).

Al Shabaab verletzt in den Gebieten unter ihrer Kontrolle systematisch Grundrechte (BS 2022, Sitzung 19). Die Gruppe ist für die Mehrheit schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Al Shabaab verübt terroristische Anschläge gegen Zivilisten; begeht Morde und Attentate; entführt Menschen, begeht Vergewaltigungen und vollzieht grausame Bestrafungen; Bürgerrechte und Bewegungsfreiheit werden eingeschränkt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Die Gruppe rekrutiert Kindersoldaten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche HRW 13.1.2022). Al Shabaab entführt Menschen und nimmt Geiseln (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Die Entführung und Verhaftung von Zivilisten erfolgt, um Regelbrüche zu ahnden oder Kollaboration zu erzwingen. Von Ende 2020 bis September 2021 wurden 13 derartige Entführungen dokumentiert, betroffen waren 155 Zivilisten – u. a. Älteste, Wirtschaftstreibende und Jugendliche (UNSC 6.10.2021). Nachdem sich al Shabaab bei schweren Kämpfen im Bereich Siigale Degta (Lower Shabelle) am 8.3.2022 zurückziehen musste, kehrte die Gruppe noch am selben Tag in das Dorf zurück. Al Shabaab beschuldigte die Gemeinde der Spionage und Kollaboration mit der Bundesarmee, tötete mindestens einen Mann und entführte 33 Dorfbewohner (darunter neun Frauen). Der Verbleib dieser Menschen ist bis heute ungeklärt (UNSC 10.10.2022, Sitzung 86).

Al Shabaab verhängt in ihren Gebieten Körperstrafen. So werden sexuelle Vergehen mitunter mit Auspeitschen, Diebstahl mit Amputation und Spionage mit dem Tode bestraft (UNSC 6.10.2021). Al Shabaab richtet regelmäßig und ohne ordentliches Verfahren Menschen hin, denen Kooperation mit der Regierung, internationalen Organisationen oder westlichen Hilfsorganisationen vorgeworfen wird (AA 28.6.2022, Sitzung 16), bzw. Zivilisten, die zu Abtrünnigen oder Spionen deklariert werden (BS 2022, Sitzung 19). Al Shabaab übt teils Rache an der Bevölkerung von Gebieten, die zuvor „befreit“ aber danach von al Shabaab wieder eingenommen worden waren. Die Gruppe wendet u. a. auch das Mittel von Zwangsvertreibungen an, um sich an sich widersetzenden oder nicht die eigenen Regeln befolgenden Bevölkerungsgruppen zu rächen. Bei derartigen Kollektivstrafen wurden z. B. im ersten Halbjahr 2021 im SWS und in Galmudug mehr als 11.000 Familien vertrieben (UNSC 6.10.2021). Mitunter kommt es bei al Shabaab auch zu Zwangsarbeit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46).

Todesstrafe

Letzte Änderung 2023-03-17 08:26

In allen Landesteilen wird die Todesstrafe verhängt und vollzogen, deutlich seltener [im Gegensatz zu Gebieten von al Shabaab] in Gebieten unter der Kontrolle der jeweiligen Regierung – und dort nur für schwerste Verbrechen (AA 28.6.2022, Sitzung 21). Allerdings kommt es dort auch nach Verfahren, die nicht internationalen Standards genügen, zur Ausführung der Todesstrafe (AA 28.6.2022, Sitzung 15; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; HRW 13.1.2022). Die von Bundes- aber auch von Regionalbehörden verhängten Todesurteile werden oft innerhalb weniger Tage vollstreckt; in manchen Fällen wird Verurteilten eine bis zu dreißigtägige Berufungsfrist eingeräumt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3/12f).

Im Jahr 2021 wurden in ganz Somalia mindestens 27 Todesurteile verhängt und mindestens 21 Todesurteile vollstreckt (AI 24.5.2022). 21 Urteile und unmittelbare Vollstreckungen erfolgten am 27.6.2021 in Puntland. Dort wurden wegen Al-Shabaab-Terrorismus Verurteilte durch ein Erschießungskommando exekutiert (AI 24.5.2022; vergleiche UNSC 10.8.2021, Absatz 43 ;, HRW 13.1.2022). Im Zeitraum Feber bis Mai 2022 wurden in Puntland zwei Angehörige der al Shabaab, fünf ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte und ein Zivilist zum Tod verurteilt. In Jubaland wurden zwei ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte exekutiert (UNSC 13.5.2022, Absatz 53,). Schon Anfang Jänner 2022 waren in Puntland vier Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren zum Tode verurteilt worden (STC 11.2.2022). Die Zahl der im Gefängnis sitzenden zum Tode Verurteilten ist unklar (UNOHCHR 25.11.2022).

In Somaliland wurde die Todesstrafe nach einem neunjährigen Moratorium 2016 wieder eingeführt. 2020 wurden dort 12 Menschen exekutiert (AA 28.6.2022, Sitzung 16/22), Anfang des Jahres 2022 wurden vier ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte exekutiert (UNSC 13.5.2022, Absatz 53,). In Somaliland ist es möglich, zum Tode Verurteilte bis zur letzten Minute hin durch Verhandlungen freizukaufen. Üblicherweise dient als Kompensation das Äquivalent von hundert Kamelen. Dass derartige Einigungen noch in letzter Minute kurz vor der Exekution vorkommen, ist nicht unüblich (AE 7.9.2022).

In den von al Shabaab kontrollierten Gebieten kommt es zu öffentlichen Exekutionen, v. a. nach Spionagevorwürfen (USDOS 2.6.2022, Sitzung 6) oder wegen Blasphemie (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6). Die Todesstrafe wird auch wegen Ehebruchs und "Kooperation mit den Feinden des Islam" (d. h. mit der Regierung, ATMIS, UNO oder Hilfsorganisationen) verhängt (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Al Shabaab hat alleine im Zeitraum Mai-Juli 2021 19 Zivilisten öffentlich hingerichtet – 18 davon wegen vorgeblicher Spionage und eine Person wegen Mordes (UNSC 10.8.2021, Absatz 42,). Exekutionen durch al Shabaab werden öffentlich vollzogen (AA 28.6.2022, Sitzung 22), manchmal werden Menschen zum Zuschauen gezwungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6).

Religionsfreiheit

Letzte Änderung 2023-03-17 08:28

Die somalische Bevölkerung bekennt sich zu über 99 % zum sunnitischen Islam (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Eine Konversion zu einer anderen Religion bleibt in einigen Gebieten verboten und gilt als sozial inakzeptabel. Nur eine sehr kleine Minderheit hängt tatsächlich einer anderen Religion oder islamischen Richtung an (USDOS 2.6.2022, Sitzung 2). Die auf einige Hundert geschätzten (ÖB 11.2022, Sitzung 4) Christen praktizieren ihren Glauben nicht in der Öffentlichkeit (FH 2022a, D2).

Somalis folgten traditionell der Shafi’i-Schule des islamischen Rechts, geführt von mehreren dominanten Sufi-Orden bzw. Sekten (turuuq) (Bryden 8.11.2021). Der Sufismus hat sich in Ostafrika in den vergangenen 200 Jahren ausgebreitet und in Somalia eigene Formen angenommen (AQ11 10.7.2022). Trotz des aggressiven Vordringens des importierten Salafismus’ schätzen viele Somali nach wie vor ihren Sufi-Glauben und ihre Sufi-Bräuche (Bryden 8.11.2021). Als Sufi-Hochburgen gelten Galgaduud und Hiiraan (Sahan 14.10.2022). Allerdings macht sich seit 20 Jahren der Einfluss des Wahhabismus und damit der Vormarsch einer konservativen Auslegung des Islams bemerkbar (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Salfafisten, al Quaida und al Shabaab verabscheuen die Sufi-Interpretation des Islam (AQ11 10.7.2022).

Gebiete unter Regierungskontrolle

Letzte Änderung 2022-07-26 09:59

Somalia ist seinem verfassungsmäßigen Selbstverständnis nach ein islamischer Staat, der nicht vorrangig auf religiöse Vielfalt und Toleranz ausgelegt ist (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Die Verfassungen von Somalia, Puntland und Somaliland bestimmen den Islam als Staatsreligion. Das islamische Recht (Scharia) wird als grundlegende Quelle der staatlichen Gesetzgebung genannt (AA 28.6.2022, Sitzung 14f; vergleiche BS 2022, Sitzung 9; USDOS 2.6.2022, Sitzung 1ff), alle Gesetze müssen mit den generellen Prinzipien der Scharia konform sein. Auch die Verfassungen der anderen Bundesstaaten erklären den Islam zur offiziellen Religion (USDOS 2.6.2022, Sitzung 1ff).

Der Übertritt zu einer anderen Religion ist gesetzlich nicht explizit verboten, wohl aber wird die Scharia entsprechend interpretiert. Blasphemie und "Beleidigung des Islam" sind Straftatbestände (USDOS 2.6.2022, Sitzung 2f). Nach anderen Angaben ist es Muslimen verboten, eine andere Religion anzunehmen (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Jedenfalls sind Missionierung bzw. die Werbung für andere Religionen laut Verfassung verboten (FH 2022a, D2; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 15). Andererseits bekennt sich die Verfassung zu Religionsfreiheit (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Auch sind dort ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion (FH 2022a, D2) sowie die freie Glaubensausübung festgeschrieben (USDOS 2.6.2022, Sitzung 2).

Unabhängig von staatlichen Bestimmungen und insbesondere jenseits der Bereiche, in denen die staatlichen Stellen effektive Staatsgewalt ausüben können, sind islamische und lokale Traditionen und islamisches Gewohnheitsrecht weit verbreitet (28.6.2022, Sitzung 15). Es herrscht ein starker sozialer Druck, den Traditionen des sunnitischen Islam zu folgen. Eine Konversion vom Islam zu einer anderen Religion wird als sozial inakzeptabel erachtet. Jene, die unter dem Verdacht stehen, konvertiert zu sein, sowie deren Familien müssen mit Belästigungen seitens ihrer Umgebung rechnen (USDOS 2.6.2022, Sitzung 7).

Gebiete von al Shabaab

Letzte Änderung 2023-03-17 08:29

In Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist die Praktizierung eines moderaten Islams sowie anderer Religionen untersagt (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Al Shabaab setzt in den von ihr kontrollierten Gebieten gewaltsam die eigene Interpretation des Islam und der Scharia durch (FH 2022a, D2; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 6). Al Shabaab drangsaliert, verletzt oder tötet Menschen aus unterschiedlichen Gründen, u. a. dann, wenn sich diese nicht an die Edikte der Gruppe halten (USDOS 2.6.2022, Sitzung 1). Eltern, Lehrer und Gemeinden, welche sich nicht an die Vorschriften von al Shabaab halten, werden bedroht. Zudem droht al Shabaab damit, jeden Konvertiten zu exekutieren (USDOS 2.6.2022, Sitzung 6). Auf Apostasie steht die Todesstrafe (FH 2022a, D2). Scheinbar gilt dies auch für Blasphemie, denn am 5.8.2021 wurde ein 83-Jähriger in der Nähe der Stadt Ceel Buur (Galmudug) von al Shabaab durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Dem urteilenden Gericht zufolge hatte der Mann gestanden, den Propheten beleidigt zu haben (BAMF 9.8.2021; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 6). Christen droht Verfolgung, die diesbezügliche Situation hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Al Shabaab will Christen in Somalia gezielt auslöschen (ÖB 11.2022, Sitzung 4).

In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab sind Politik und Verwaltung von religiösen Dogmen geprägt (BS 2022, Sitzung 10). Al Shabaab verbietet dort generell "un-islamisches Verhalten" - Kinos, Fernsehen, Musik, Internet, das Zusehen bei Sportübertragungen, der Verkauf von Khat, Rauchen und weiteres mehr. Es gilt das Gebot der Vollverschleierung (USDOS 2.6.2022, Sitzung 7; vergleiche CFR 19.5.2021). Allerdings scheint al Shabaab bei der Durchsetzung derartiger Normen zunehmend pragmatisch zu sein (ICG 27.6.2019, Sitzung 7).

Minderheiten und Clans

Letzte Änderung 2023-03-17 08:31

Zu Clanschutz siehe auch Kapitel Rechtsschutz / Justizwesen

Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen (SPC 9.2.2022). Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2022, Sitzung 10). Selbst relative starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan 30.9.2022).

Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessenvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des Xeer. Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler. Al Shabaab installiert oft Älteste, welche die Gruppe repräsentieren. Er wird so zum Bindeglied zwischen der Gemeinschaft und al Shabaab. So werden zuvor legitime Strukturen in Geiselhaft genommen (Sahan 26.10.2022).

In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56) und für ökonomische sowie politische Partizipation (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56; vergleiche BS 2022, Sitzung 23). Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2022, Sitzung 23). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UNOCHA 14.3.2022).

Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Weder das traditionelle Recht (Xeer) (SEM 31.5.2017, Sitzung 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, Sitzung 42; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen (ÖB 11.2022, Sitzung 4). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, Sitzung 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, Sitzung 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, Sitzung 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14).

Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel (ÖB 11.2022, Sitzung 3). Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten (ÖB 11.2022, Sitzung 3; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 31f; FH 2022a, B4). Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert (FH 2022a, B4). Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen (SPC 9.2.2022). So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (ÖB 11.2022, Sitzung 4).

Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 14; FH 2022a, F4). Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (AA 28.6.2022, Sitzung 14). Zudem sind die Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen weniger gut ausgebaut, und sie verfügen über geringere Ressourcen (Sahan 24.10.2022) und erhalten weniger Remissen (Sahan 24.10.2022; vergleiche SPC 9.2.2022). Die mächtigen Gruppen erhalten den Löwenanteil an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird (Sahan 24.10.2022). Dementsprechend stehen Haushalte, die einer Minderheit angehören, einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u.a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (UNOCHA 14.3.2022).

Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).

Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt (BS 2022, Sitzung 19; vergleiche ÖB 11.2022 Sitzung 6). Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet (DI 6.2019, Sitzung 11; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Al Shabaab hat sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Gruppen zunutze gemacht (Sahan 24.10.2022). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022). Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab beitreten (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Missstände treiben ganze Gemeinden in die Arme von al Shabaab. Sie suchen ein taktisches Bündnis – haben dabei aber keine dschihadistische Vision, sondern wollen ihre Rivalen ausstechen. Al Shabaab nimmt derartige Spannungen gerne auf und verwendet sie für eigene Zwecke (Sahan 30.9.2022). Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (ÖB 11.2022, Sitzung 4f).

Bevölkerungsstruktur

Letzte Änderung 2022-07-26 10:05

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar (AA 28.6.2022, Sitzung 11/14). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UNOCHA 14.3.2022; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44; vergleiche SEM, 31.5.2017, Sitzung 12). Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, Sitzung 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 5).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2022, Sitzung 34). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017, Sitzung 8).

Die sogenannten "noblen" Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:

●             Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

●             Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

●             Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

●             Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.

●             Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 10). Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (BS 2020, Sitzung 9).

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017, Sitzung 25). In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (FIS 7.8.2020, Sitzung 38ff).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LI 4.4.2016, Sitzung 9). Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (BS 2022, Sitzung 25).

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Ethnische Minderheiten, aktuelle Situation

Letzte Änderung 2023-03-17 08:32

Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums (SEM 31.5.2017, Sitzung 11). Die soziale Stellung der einzelnen ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich (SEM 31.5.2017, Sitzung 14). Sie werden aber als minderwertig (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44) und mitunter als Fremde erachtet (SPC 9.2.2022). So können Angehörige ethnischer Minderheiten auf Probleme stoßen - bis hin zu Staatenlosigkeit - wenn sie z. B. in einem Flüchtlingslager außerhalb Somalias geboren wurden (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Generell sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt, wie dies Anfang der 1990er der Fall war (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Dies gilt auch für Mogadischu. Allerdings sind dort all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, Sitzung 3). In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (UNFPA/DIS 25.6.2020).

Nach anderen Angaben drohen ethnischen Minderheiten Stigmatisierung, soziale Absonderung, Verweigerung von Rechten und ein niedriger sozialer, ökonomischer und politischer Status (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44), Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ressourcen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v. a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig wie für die Älteren (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff).

Die Bantu sind die größte Minderheit in Somalia (SEM 31.5.2017, Sitzung 12f; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 41). Es gibt zahlreiche Bantu-Gruppen bzw. -Clans, wie z. B. Gosha, Makane, Kabole, Shiidle, Reer Shabelle, Mushunguli, Oji oder Gobaweyne; pejorativ werden sie auch Adoon (Sklaven) oder Jareer (Kraushaar) genannt. Traditionell leben sie als sesshafte Bauern in den fruchtbaren Tälern der Flüsse Juba und Shabelle (SEM 31.5.2017, Sitzung 12f; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Von den ca. 900.000 IDPs, die sich im Großraum Mogadischu aufhalten (Stand 2020), sind rund 700.000 Bantu (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff).

Die Bantu werden überall in Somalia rassistisch stigmatisiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25) und diskriminiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25; vergleiche BS 2022, Sitzung 9; USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; GIGA 3.7.2018). Die meisten Somali schauen auf die sesshaften Bantu, die zum Teil einst als Sklaven ins Land gekommen waren, herab (SEM 31.5.2017, Sitzung 14; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Sie sind das dramatischste Beispiel für die Schlechterbehandlung durch dominierende Gruppen (Sahan 30.9.2022) und werden als Bürger zweiter Klasse erachtet (BS 2022, Sitzung 9) und befinden sich am untersten Ende der Gesellschaft (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 9f). Auch in IDP-Lagern werden sie diskriminiert, Bantu-Frauen mangelt es dort an Schutz durch die traditionelle Clanstruktur (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche LIFOS 19.6.2019, Sitzung 8). 80 % der Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt finden sich unter ihnen (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff). Überhaupt befinden sich Bantu in einer vulnerablen Situation, da zuvor bestehende Patronageverhältnisse (welche Schutz gewährleisteten) im Bürgerkrieg erodiert sind. Dadurch haben Bantu heute kaum Zugang zum Xeer (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 9f). Bantu sind besonders schutzlos (ÖB 11.2022, Sitzung 4; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 42). Andererseits sind einige Bantu-Gruppen mit lokal mächtigen Clans Allianzen eingegangen, um sich dadurch zu schützen (FIS 7.8.2020, Sitzung 44).

Mischehen werden stigmatisiert (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 7). Im September 2018 wurde ein Bantu in Mogadischu in Zusammenhang mit einer Mischehe getötet. Allerdings war dies ein sehr außergewöhnlicher Vorfall, über welchen viele Somali ihre Entrüstung äußerten (NLMBZ 3.2019, Sitzung 43). Al Shabaab hingegen hat zahlreiche Kinder der Bantu entführt oder zwangsrekrutiert. Trotzdem genießt die Gruppe bei dieser Minderheit größere Unterstützung (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 7ff). Die meisten Fußsoldaten von al Shabaab, die aus Middle Shabelle stammen, gehören zu Gruppen mit niedrigem Status – etwa zu den Bantu. Al Shabaab hat diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (Ingiriis 2020).

Einem Bericht zufolge sind aus den USA deportierte somalische Bantu - manchmal schon am Flughafen in Mogadischu - von Bewaffneten entführt worden, um Lösegeld zu erpressen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Benadiri ist ein Dachbegriff für verschiedene voneinander unabhängige urbane Minderheiten, die in den Küstenstädten des Südens leben (z. B. Mogadischu, Merka, Baraawe) und sich traditionell im Handel betätigen. Sie haben eine gemischte Abstammung aus Somalia, Arabien, Persien, Indien und Portugal (SEM 31.5.2017, Sitzung 13f; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Vor 1991 hatten sie einen privilegierten Status. Ohne bewaffnete Miliz waren sie im Bürgerkrieg aber schutzlos. Heute werden Benadiri gemeinhin als Händler respektiert (SEM 31.5.2017, Sitzung 13f). In Mogadischu stellen die Benadiri die zweitgrößte Minderheitengruppe. Einige von ihnen haben es geschafft, reich zu werden (FIS 7.8.2020, Sitzung 41ff). Im Gegensatz zu den Bantu kommt ihnen kein geringerer Status zu, Mischehen sind kein Problem (LI 14.6.2018, Sitzung 17). Auch von Sicherheitsproblemen wird (in Mogadischu) nicht berichtet (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45). Vielen Reer Xamar (Teil der Benadiri) ist es gelungen, ihre vormaligen Immobilien im Bezirk Xamar Weyne (Mogadischu) durch Zahlungen zurückzuerhalten. Dort stellen sie auch die Bevölkerungsmehrheit (LI 21.5.2019b, Sitzung 2f).

Die Bajuni sind ein kleines Fischervolk, das auf den Bajuni-Inseln im Süden Somalias sowie in Kismayo (SEM 31.5.2017, Sitzung 14; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57) aber auch entlang der kenianischen Küste bis Lamu lebt. Der UNHCR zählt die Bajuni zu den Benadiri (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57).

Kinder von Mischehen der al-Shabaab: Einige somalische Mädchen und Frauen haben ausländische Kämpfer (z.B. aus Europa, USA, Asien) der al Shabaab geheiratet. Die aus solchen Ehen hervorgegangenen Kinder sind teils leicht zu identifizieren (ICG 27.6.2019, Sitzung 9).

Berufsständische Minderheiten, aktuelle Situation

Letzte Änderung 2023-03-17 08:32

Berufsständische Gruppen unterscheiden sich weder durch Abstammung noch durch Sprache und Kultur von der Mehrheitsbevölkerung (SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff). Sie sind somalischen Ursprungs, wurden aber von den traditionellen Clan-Lineages ausgeschlossen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Im Gegensatz zu den „noblen“ Clans wird ihnen nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf Prophet Mohammed zurückverfolgen zu können (SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff). Ihre traditionellen Berufe werden als unrein oder unehrenhaft erachtet (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45; SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff) - etwa Jäger, Lederverarbeiter, Schuster, Friseure, Töpferinnen, traditionelle Heiler oder Hebammen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45). Diese Gruppen stehen damit auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie in der Gesellschaft. Sie leben verstreut in allen Teilen des somalischen Kulturraums, mehrheitlich aber in Städten. Ein v. a. im Norden bekannter Sammelbegriff für einige berufsständische Gruppen ist Gabooye, dieser umfasst etwa die Tumal, Madhiban, Muse Dheriyo und Yibir (SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff). Ein anderer Sammelbegriff ist Midgan (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57).

Diskriminierung: Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye (SEM 31.5.2017, Sitzung 43f). In Mogadischu sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Gewalt ausgesetzt. Allerdings sind all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, Sitzung 3).

Die berufsständischen Kasten werden zudem diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse erachtet (BS 2022, Sitzung 9). Zu ihrer Diskriminierung trägt bei, dass sie sich weniger strikt organisieren und sie viel ärmer sind. Daher sind sie nur in geringerem Maß in der Lage, Kompensation zu zahlen oder Blutrache anzudrohen (GIGA 3.7.2018; vergleiche SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Insgesamt ist die soziale Stufe und die damit verbundene Armut für viele das Hauptproblem. Hinzu kommt, dass diese Minderheiten in der Regel eine tendenziell schlechtere Kenntnis des Rechtssystems haben. Der Zugang berufsständischer Gruppen zur Bildung ist erschwert, weil an ihren Wohnorten z. B. Schulen fehlen. Außerdem verlassen viele Kinder die Schule früher, um zu arbeiten. Viele Familien sind auf derartige Einkommen angewiesen. Die meist schlechtere Bildung wiederum führt zur Benachteiligung bei der Arbeitssuche, bei der die Clanzugehörigkeit ohnehin oft zu Diskriminierung führen kann. Da berufsständische Gruppen nur über eine kleine Diaspora verfügen, profitieren sie zudem in geringerem Ausmaß von Remissen als Mehrheitsclans (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff).

Dennoch sind vereinzelt auch Angehörige berufsständischer Gruppen wirtschaftlich erfolgreich. Auch wenn sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht stellen, finden sich einzelne Angehörige in den Regierungen, im Parlament und in der Wirtschaft (SEM 31.5.2017, Sitzung 49).

Mischehe: In dieser Frage kommt es weiterhin zu einer gesellschaftlichen Diskriminierung, da Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen meist nicht akzeptieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Mehrheitsfrau einen Minderheitenmann heiratet. Der umgekehrte Fall ist weniger problematisch (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Aufgrund dieses teils starken sozialen Drucks (FH 2022a, G3) kommen Mischehen äußerst selten vor (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff; vergleiche FIS 5.10.2018, Sitzung 26). Diesbezüglich bestehen aber regionale Unterschiede: Im Clan-mäßig homogeneren Norden des somalischen Kulturraums sind Mischehen seltener und gleichzeitig stärker stigmatisiert als im Süden (ÖB 11.2022, Sitzung 4; vergleiche SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Hawiye und Rahanweyn sehen die Frage der Mischehe weniger eng. Außerdem ist der Druck auf Mischehen insbesondere in ländlichen Gebieten ausgeprägt (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). In Mogadischu sind Mischehen möglich (FIS 5.10.2018, Sitzung 26). Auch al Shabaab hat Hindernisse für Mischehen beseitigt, in ihren Gebieten kommt es zunehmend zu solchen Eheschließungen (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Die Gruppe hat Fußsoldaten, die zu Gruppen mit niedrigem Status gehören, dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (Ingiriis 2020).

Eine Mischehe führt so gut wie nie zu Gewalt oder gar zu Tötungen. Seltene Vorfälle, in denen es etwa in Somaliland im Zusammenhang mit Mischehen zu Gewalt kam, sind in somaliländischen Medien dokumentiert (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Trotzdem können diese Ehen negative Folgen für die Ehepartner mit sich bringen – insbesondere, wenn der Mann einer Minderheit angehört (ÖB 11.2022, Sitzung 4). So kommt es häufig zur Verstoßung des aus einem "noblen" Clan stammenden Teils der Eheleute durch die eigenen Familienangehörigen. Letztere besuchen das Paar nicht mehr, kümmern sich nicht um dessen Kinder oder brechen den Kontakt ganz ab; es kommt zu sozialem Druck (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Diese Art der Verstoßung kann vor allem in ländlichen Gebieten vorkommen. Eine Mischehe sorgt auf jeden Fall für Diskussionen und Getratsche, nach einer gewissen Zeit wird sie aber meist akzeptiert (FIS 5.10.2018, Sitzung 26).

Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose

Letzte Änderung 2022-06-13 09:42

Auch Angehörige starker Clans können zu Minderheiten werden. Dies ist dann der Fall, wenn sie in einem Gebiet leben, in dem ein anderer Clan dominant ist. Dies kann Einzelpersonen oder auch ganze Gruppen betreffen. So sehen sich beispielsweise die Biyomaal als exponierter Dir-Clan in Südsomalia manchmal in dieser Rolle. Generell gerät eine Einzelperson immer dann in die Rolle der Minderheit, wenn sie sich auf dem Gebiet eines anderen Clans aufhält. Sie verliert so die mit ihrer Clanzugehörigkeit verbundenen Privilegien. Die Position als "Gast" ist schwächer als jene des "Gastgebers". Im System von "hosts and guests" sind Personen, die sich außerhalb des eigenen Clanterritoriums niederlassen, gegenüber Angehörigen des dort ansässigen Clans schlechter gestellt. In Mogadischu gelten etwa Angehörige der Isaaq, Rahanweyn und Darod als "Gäste". Dieses System gilt auch für IDPs (SEM 31.5.2017, Sitzung 11f/32f).

Diskriminierung: In den meisten Gegenden schließt der dominante Clan andere Gruppen von einer effektiven Partizipation an Regierungsinstitutionen aus. Diskriminierung erfolgt etwa auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Gerichtsverfahren (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Angehörige eines (Sub-)Clans können in von einem anderen (Sub-)Clan dominierten Gebiete auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, insbesondere in Konfliktsituationen bezüglich Unfällen, Eigentum oder Wasser (AA 18.4.2021, Sitzung 12). In Mogadischu ist es im Allgemeinen schwierig, Menschen die dort aufgewachsen sind, nach Clans zu differenzieren. Es gibt keine äußerlichen Unterschiede, auch der Akzent ist der gleiche. Selbst anhand von Namen lassen sich die Menschen nicht einmal ethnisch zuordnen, da vor allem arabische Namen verwendet werden (UNFPA/DIS 25.6.2020).

Ashraf und Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status aus der von ihnen angegebenen Abstammung von der Tochter des Propheten; die Sheikhal aus einem vererbten religiösen Status. Beide Clans werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Die Sheikhal sind außerdem eng mit dem Clan der Hawiye/Hirab assoziiert und nehmen sogar einige Sitze der Hawiye im somalischen Parlament ein. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil-Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (EASO 8.2014, Sitzung 46f/103).

Für eine Person ohne Clanidentität ist gesellschaftlicher Schutz nicht vorhanden. Dies führt nicht automatisch zu Misshandlung, fördert aber die Vulnerabilität. Sollte eine Person ohne Clanidentität und ohne Ressourcen zurückkehren, wird es im gegenwärtigen somalischen Kontext für diese physisch und wirtschaftlich sehr schwierig, zu überleben (ACCORD 29.5.2019, Sitzung 2f). Allerdings gibt es laut Experten bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri 3.5.2021).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und andere terroristische Gruppen

Letzte Änderung 2023-03-17 09:17

Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:

●             Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS (BS 2022, Sitzung 34; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1);

●             nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter (BS 2022, Sitzung 7/34; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1);

●             Angehörige der Sicherheitskräfte (BS 2022, Sitzung 7/34; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1);

●             Regierungsangehörige, Parlamentarier, Offizielle (BS 2022, Sitzung 34; vergleiche UNSC 10.10.2022, Absatz 117,) und Wahlkandidaten (UNSC 10.10.2022, Absatz 117,); al Shabaab greift z. B. gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen (BS 2022, Sitzung 7);

●             mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche BS 2022, Sitzung 7);

●             Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15);

●             Wirtschaftstreibende (BS 2022, Sitzung 7; vergleiche Sahan 7.9.2022), insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld ("Steuer") an al Shabaab abzuführen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 57);

●             Älteste und Gemeindeführer (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche Sahan 7.9.2022; BS 2022, Sitzung 7); gemäß somalischen Regierungsangaben hat al Shabaab innerhalb von zehn Jahren 324 Älteste ermordet. Einige der Opfer waren in Wahlprozesse involviert (KM 31.8.2022). In jüngerer Vergangenheit hat al Shabaab v. a. solche Älteste ermordet, die ihre Clans zur Beteiligung an der Offensive gegen die Gruppe aufgerufen bzw. deren Teilnahme öffentlich unterstützt haben (BMLV 9.2.2023).

●             Wahldelegierte und deren Angehörige (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche BS 2022, Sitzung 7; UNSC 10.10.2022, Absatz 117,); dabei hat al Shabaab in der Vergangenheit Delegierte vor die Wahl gestellt, entweder zu ihnen zu kommen und sich zu entschuldigen, oder aber einem Todesurteil zu unterliegen. Die große Mehrheit entschuldigte sich (Mohamed 17.8.2019). Immer wieder werden jedenfalls an Wahlen Beteiligte ermordet, so z. B. ein Delegierter und Ältester am 13.6.2022 sowie ein weiterer Delegierter Mitte April 2022 – beide in Hodan (Mogadischu). Al Shabaab bekennt sich nicht immer zu derartigen Attentaten, hat in der Vergangenheit allerdings betont, jede an Wahlen beteiligte Person zum Ziel zu machen (HO 14.6.2022);

●             Angehörige diplomatischer Missionen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15);

●             prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche Sahan 7.9.2022);

●             religiöse Führer (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 57f; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 8);

●             Journalisten (BS 2022, Sitzung 34) und Mitarbeiter von Medien (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48);

●             Telekommunikationsarbeiter (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48);

●             mutmaßliche Kollaborateure und Spione (HRW 13.1.2022; vergleiche BS 2022, Sitzung 19; USDOS 12.4.2022, Sitzung 15f);

●             Deserteure (FIS 7.8.2020, Sitzung 8);

●             als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten) (BS 2022, Sitzung 19);

●             (vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des IS (AA 28.6.2022, Sitzung 16); den IS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse (JF 14.1.2020).

Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o. g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (BMLV 9.2.2023).

Kollaboration und Spionage: In von al Shabaab kontrollierten Gebieten gelten eine Unterstützung der Regierung und Äußerungen gegen al Shabaab als ausreichend, um als Verräter verurteilt und hingerichtet zu werden (AA 28.6.2022, Sitzung 19). Al Shabaab tötet - meist nach unfairen Verfahren - Personen, denen Spionage für oder Kollaboration mit der Regierung oder ausländischen Kräften vorgeworfen wird (HRW 13.1.2022; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1/6; UNSC 6.10.2021). Beispiele für Hinrichtungen wegen angeblicher Spionage (für Lokalregierungen, die Bundesregierung oder ausländische Kräfte: 2/2022, Buulo Fulay (Bay): 1 Mann (BAMF 7.2.2022); 7/2022, Bay: 6 Männer, öffentlich (RD 31.7.2022; vergleiche GN 1.8.2022); 8/2022, Kunyo Baarow (Lower Shabelle): 6 Männer, öffentlich (Menschen werden gezwungen, der Exekution beizuwohnen) (GN 22.8.2022); 9/2022, Jilib (Lower Juba): 5 Männer, öffentlich (Halbeeg 5.9.2022).

Al Shabaab bedroht Menschen, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Zivilisten können bestraft oder auch getötet werden, wenn sie für die Regierung oder die Armee arbeiten (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 20). Die Schwelle dessen, was al Shabaab als Kollaboration mit dem Feind wahrnimmt, ist mitunter sehr niedrig angesetzt (BFA 8.2017, Sitzung 40f). So wurden etwa im Feber 2021 in Mogadischu drei Frauen erschossen, die im Verteidigungsministerium als Reinigungskräfte gearbeitet hatten (Sahan 15.2.2021a). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab solche Personen hingegen nicht gezielt an (C4 15.6.2022). Insbesondere in Frontgebieten oder Orten, deren Herrschaft wechselt, kann auch das Verkaufen von Tee an Soldaten bereits als Kollaboration wahrgenommen werden (BFA 8.2017, Sitzung 40ff). So wurden etwa Anfang Juli 2021 fünf Zivilisten im Gebiet Jowhar von al Shabaab entführt, weil sie Soldaten der Armee mit Erfrischungen bewirtet bzw. mit ihnen gehandelt hatten. Mehrere Häuser und Fahrzeuge wurden angezündet (AMISOM 2.7.2021). Generell sind aber das Ausmaß und/oder die Gewissheit der Kollaboration; der Ort des Geschehens; und die Beziehungen der betroffenen Person dafür ausschlaggebend, ob al Shabaab die entsprechenden Konsequenzen setzt. Besonders gefährdet sind Personen, welche folgende Aspekte erfüllen: a) die Kollaboration ist offensichtlich; b) der Ort lässt eine leichte Identifizierung des Kollaborateurs zu; c) eine Exekution wird als maßgebliches Abschreckungszeichen wahrgenommen; d) wenn sich die Kollaboration in einem Ort mit fluktuierender Kontrolllage zugetragen hat (BFA 8.2017, Sitzung 40ff).

Auf der anderen Seite kollaborieren viele Menschen mit al Shabaab. Verwaltungsstrukturen und Sicherheitskräfte sind unterwandert. Eine derartige Kollaboration kann aus finanziellen oder ideologischen Gründen erfolgen, oft aber auch aus Angst. Es scheint wenig ratsam, ein "Angebot" von al Shabaab abzulehnen (BMLV 9.2.2023).

Kapazitäten: Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie direkt Soldaten von Armee und ATMIS. Grundsätzlich richten sich die Angriffe der al Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden (BMLV 9.2.2023).

Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an. Für diese besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 24ff) und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (BMLV 9.2.2023; vergleiche LIFOS 3.7.2019, Sitzung 25; FIS 7.8.2020, Sitzung 24). So hat Mogadischu über die Jahre Dutzende Arbeiter der Straßenreinigung verloren, die durch versteckte Sprengsätze getötet wurden, welche entlang von Straßen im dahinter liegendem Müll platziert waren (AJ 21.7.2022). Außerdem greift al Shabaab etwa Cafés, Restaurants oder Hotels an, die von Behördenvertretern oder Wirtschaftstreibenden frequentiert werden (BS 2022, Sitzung 7). So kamen etwa am 17.7.2022 bei einem Selbstmordanschlag auf ein bei Politikern beliebtes Hotel in Jowhar mindestens zwölf Personen ums Leben. Dutzende weitere Personen wurden verletzt. Unter den Opfern befanden sich regionale Minister und Direktoren sowie ehemalige Abgeordnete (SG 17.7.2022; vergleiche BAMF 18.7.2022). Zwar richten sich diese Angriffe also gegen Personengruppen, die von al Shabaab als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten. Nach einem Anschlag im Dezember 2019 hat sich al Shabaab sogar dafür entschuldigt, dass derart viele Zivilisten ums Leben gekommen sind (FIS 7.8.2020, Sitzung 25). Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 10ff). Dies führt Zivilisten in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen - und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 27).

Ausweichmöglichkeiten: Aufgrund der überregionalen Aktivitäten und der Vernetzung des Amniyad [Nachrichtendienst der al Shabaab] sind – vor allem prominente – Zielpersonen auch bei einer innerstaatlichen Flucht gefährdet (BMLV 9.2.2023). Generell kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecken (BMLV 9.2.2023; vergleiche AI 13.2.2020, A. 36). Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre, und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen (BMLV 9.2.2023).

Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (BMLV 9.2.2023). Gleichzeitig finden sich etwa Clanälteste immer wieder zwischen den Fronten. So wurden im Dezember 2022 in Galmudug drei Älteste verhaftet, denen Kollaboration mit al Shabaab vorgeworfen wird. Sie geben hingegen an, durch die ihnen vorgeworfene Vereinbarung mit al Shabaab die Freilassung von 69 Geiseln bewirkt zu haben (Halbeeg 25.12.2022).

Der Islamische Staat in Somalia (ISIS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des ISIS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, Polizisten und Angehörige von al Shabaab. In Mogadischu wendet sich der IS gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v. a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (BMLV 9.2.2023).

Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen ("Steuern")

Letzte Änderung 2023-03-17 09:19

Anders als der somalische Staat "besteuert" al Shabaab alles und jeden in Somalia (SRF 27.12.2021) - insbesondere in den eigenen Gebieten (HI 10.2020; vergleiche BBC 18.1.2021). Besteuert werden u.a. die Landwirtschaft, der Handel und Immobilientransaktionen; Fahrzeuge, Vieh, Handelswaren, Importe, Exporte von Holzkohle oder Bauarbeiten (FGS 2022, Sitzung 98). Doch auch in umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt (HI 10.2020). Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden "Steuern" an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv (HI 10.2020; vergleiche SRF 27.12.2021) bzw. wurden Schattenverwaltungen aufgebaut (BS 2022, Sitzung 6). Nach Angaben einer Quelle besteuert al Shabaab maßgeblich Im- und Export, jeden größeren Gewerbetreibenden in Mogadischu. Kleinere Marktstände sind al Shabaab hingegen weniger wichtig (BMLV 9.2.2023).

"Steuern" werden eingehoben auf: a) Agrarwirtschaft (dalag beeraha): auf Höfe, agrarische Produkte und Land; b) Fahrzeuge (gadiid): Transitgebühren hängen von der Art des Fahrzeuges und von der Länge der Reise ab. Fahrzeuge müssen jedenfalls bei al Shabaab registriert sein; c) Güter (badeeco): Wegzoll für alle Güter, die Höhe hängt von Art und Quantität ab. Zudem werden z.B. an Häfen Import- und Exportgebühren eingefordert; d) Vieh (xoolo): auf den Verkauf von Vieh, v.a. Rinder, Kamele, Ziegen. Die Haupteinnahmequelle der Gruppe ist die Besteuerung des Transits von Fahrzeugen und Gütern (UNSC 6.10.2021; vergleiche UNSC 10.10.2022). Dabei lukriert al Shabaab jährlich zig-Millionen US-Dollar. Dazu unterhält die Gruppe Dutzende von Checkpoints, die mit Steuerbeamten besetzt sind. Fahrzeuge, die einen solchen Checkpoint passieren, sind bei al Shabaab registriert. Sind sie das nicht, werden sie gegen eine Gebühr ins Register eingetragen (samt Fahrzeugdetails und Besitzern) (GITOC 8.12.2022).

Daneben hebt al Shabaab auch den Zakat ein (UNSC 6.10.2021), eine Quelle betitelt dies als "Zwangsspende" (GITOC 8.12.2022). Dieser ist eine Spendensammlung und stellt eine der fünf Säulen des Islam dar. Es handelt sich um eine religiöse Verpflichtung, einen Prozentsatz seines Besitzes an die Armen abzugeben. Al Shabaab hebt den Zakat zweimal jährlich auf die Agrarwirtschaft und einmal jährlich auf Viehwirtschaft und Wirtschaftstreibende ein. Außerdem erhält al Shabaab mit dem Infaq noch zusätzliche, freiwillige Beiträge zur Unterstützung von Kämpfern (UNSC 6.10.2021). Außerdem nimmt al Shabaab nach Entführungen Lösegelder in Empfang (GITOC 8.12.2022; vergleiche UNSC 6.10.2021). Kommt es zu Finanzengpässen, erwartet sich die Gruppe von Clanältesten, Finanzierungslücken zu schließen (FGS 2022, Sitzung 98).

Al Shabaab hebt insgesamt soviel an "Steuern" ein wie die Bundesregierung - oder sogar noch mehr. Dabei agiert die Gruppe wie ein verbrecherisches Syndikat bzw. wie eine mafiöse Organisation (HIPS 4.2021, Sitzung 5; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 18; HI 10.2020). Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu machen. Dabei dient die Religion nur als Deckmantel (FIS 7.8.2020, Sitzung 18). Konservativen Schätzungen zufolge lukriert al Shabaab alleine an monatlichen Abgaben 15 Millionen US-Dollar - davon die Hälfte in Mogadischu (HI 10.2020). Generell werden alle Wirtschaftstätigkeiten in Mogadischu von der Gruppe mit Schutzgeldforderungen belegt (FIS 7.8.2020, Sitzung 13). Wirtschaftstreibende zahlen Schutzgeld, denn die Regierung ist nicht in der Lage, sie vor Schutzgelderpressung zu schützen. Dabei verlangt al Shabaab von Wirtschaftstreibenden zunehmend höhere "Steuern". Alle großen Unternehmen im südlichen Somalia zahlen diese jährliche "Steuer". Nur sehr kleine Betriebe oder Straßenhändler müssen nichts abführen (HI 10.2020). Dahingegen werden auch zahlreiche andere Bereiche besteuert – etwa die Nutzung von Wasserstellen (UNSC 10.10.2022, Absatz 122,) oder von Bewässerungsanlagen durch Bauern (FGS 2022, Sitzung 100; vergleiche HI 10.2020). Aus Diinsoor wird berichtet, dass zurückkehrende IDPs eine Landwirtschaftsgenehmigung beantragen und bezahlen müssen, damit sie ihre eigenen Ackerflächen bewirtschaften dürfen (UNSC 10.10.2022, Absatz 117 /, S, 84). Besteuert wird auch der Immobilienmarkt (HI 10.2020). In Afgooye verlangt al Shabaab z. B. von Hausbesitzern Steuern. Für ein Steinhaus 150 US-Dollar, für ein mehrstöckiges Haus 300 US-Dollar; und für eine Wellblechhütte 100 US-Dollar (UNSC 10.10.2022, Absatz 43 /, S, 44). Auch in Mogadischu erhielten zwischen Mai und Juli 2022 zahlreiche Besitzer von gemauerten oder mehrstöckigen Häusern eine Zahlungsaufforderung von al Shabaab, und auch dort liegt die jährliche Abgabe zwischen 100 und 300 US-Dollar (GN 10.11.2022a). Auf im Entstehen begriffene Bauten erhebt die Gruppe in Mogadischu ebenfalls Steuern. Dort werden einem Bauherrn üblicherweise 25 % des Gesamtwertes des fertigen Baus in Rechnung gestellt. Berichten zufolge ist der Preis allerdings verhandelbar (UNSC 10.10.2022, Absatz 45,). Für Zahlungsverzögerungen drohen Strafzahlungen (GN 10.11.2022a).

Al Shabaab verlangt von Geschäftsleuten in der Stadt die Zahlung von „Steuern“. Das Einsammeln der Gelder erfolgt üblicherweise nicht persönlich sondern über das Mobiltelefon. römisch fünf. a. Unternehmen, die Waren nach und aus Mogadischu transportieren und nach Somalia importieren, werden zur Zahlung gezwungen. Dem Vernehmen nach sollen auch viele Hilfsorganisationen „Steuern“ an al Shabaab abführen. Ähnliches gilt für Hotels. Jedenfalls ist es immer möglich, dass hinter Steuerforderungen gar nicht al Shabaab steht, sondern andere kriminelle Akteure, die sich als al Shabaab ausgeben. Im Fall einer Weigerung der Zahlung an al Shabaab gibt es in vielen Fällen einen Spielraum für Verhandlungen über die Höhe (LI 8.9.2022).

Selbst das Personal internationaler Organisationen zahlt Schutzgeld, um in Ruhe gelassen zu werden (BFA 8.2017, Sitzung 33). Und auch Bundesbedienstete führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab, darunter hochrangige Angehörige der Armee (HI 10.2020) und sogar Bundesminister (Khalif 10.7.2020). Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöse Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (HI 10.2020).

Betriebe und Einzelpersonen werden durch Angst genötigt, Geld an al Shabaab abzuführen (UNSC 10.10.2022, Absatz 46,). Todesdrohungen und tatsächlich angewandte Gewalt halten das „Steuersystem“ al Shabaabs aufrecht. Wenn z. B. ein Fahrer die Abgabe verweigert oder versucht, einen Checkpoint der al Shabaab zu umfahren, dann muss er als Strafe meist den doppelten Betrag abführen. Diese nicht-verhandelbare Strafe wird etwa per SMS „zugestellt“ oder aber Fahrzeugbesitzer oder Fahrer werden per Nachricht an eines der Schariagerichte der Gruppe einberufen. In extremen Einzelfällen kann es auch vorkommen, dass al Shabaab Personen, die keine Gebühren abführen wollten, tötet und Fahrzeuge zerstört. Auch wenn derartige Fälle sehr selten sind, sorgen sie dafür, dass andere Fahrer aus Angst freiwillig „Steuern“ abführen (GITOC 8.12.2022). Kommt es zu einem Anschlag auf ein Hotel, dann steht für al Shabaab eine Strafaktion für ausständige "Steuerzahlungen" im Vordergrund. Allfällig anwesende Regierungsvertreter oder Staatsbedienstete sind hierbei nur nebenrangige Ziele, wiewohl al Shabaab einen "günstigen" Zeitpunkt abwartet, um gleichzeitig auch solche Ziele zu treffen (BMLV 9.2.2023). Jene, die sich weigern, an al Shabaab Abgaben abzuführen, werden bestraft und ihr Leben bedroht (HI 10.2020), oder es das eigene Geschäft wird z. B. mit einem Sprengsatz zerstört. Ein anderes Beispiel stammt aus Galmudug im Jahr 2022, wo Nomaden den Forderungen von al Shabaab nicht nachgekommen sind. Dort griff al Shabaab die Gemeinde an, entführte und tötete Nomaden und plünderte ihren Viehbestand (UNSC 10.10.2022, Absatz 47 f,). Vorerst werden i. d. R. hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Manche Personen müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (HI 10.2020). Keine "Steuern" zu zahlen, ist für Wirtschaftstreibende keine Option. Letztere sehen das Schutzgeldsystem zwar als unfair und illegal; angesichts von Morden an Zahlungsverweigerern bezahlen sie dann aber doch die geforderten Summen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 57).

Auch der Islamische Staat in Somalia (ISIS) fordert „Steuern“ - v. a. von Wirtschaftstreibenden in städtischen Gebieten. Jene, die sich der Zahlung einer „Steuer“ widersetzen, müssen mit Gewalt rechnen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 18). Auch in Mogadischu fordern Personen, die sich als Mitglieder des ISIS ausgeben, Steuern ein (UNSC 8.2.2022, Absatz 27,).

Bewegungsfreiheit und Relokation

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2023-03-17 09:21

Gesetze schützen das Recht auf Bewegungsfreiheit im Land und das Recht zur Ausreise. Diese Rechte sind in einigen Landesteilen eingeschränkt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 24) – v. a. durch die Unsicherheit entlang der wichtigsten Straßen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 37), durch Checkpoints und Straßenblockaden der jeweiligen Machthaber in bestimmten Gebieten aber auch durch Kampfhandlungen. IDPs sind in den Lagern in und um Mogadischu teils strikten Beschränkungen bezüglich ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen. Davon abgesehen sind keine Einschränkungen für bestimmte Gruppen bekannt (ÖB 11.2022, Sitzung 10).

Überlandreisen: Al Shabaab bleibt auch weiterhin die größte Bedrohung hinsichtlich Bewegungsfreiheit entlang von Hauptversorgungsrouten in Süd-/Zentralsomalia. Die Gruppe verwendet entlang dieser Straßen Sprengsätze und legt Hinterhalte. Manchmal placiert al Shabaab Sprengsätze auch deswegen, um dadurch den Verkehr auf Straßen umzulenken, an welchen sie Checkpoints unterhält, wo Gebühren eingehoben werden (UNSC 6.10.2021).

Reisende werden durch die zahlreichen, von unterschiedlichen Gruppen betriebenen Straßensperren in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 24f). Zudem sind sie dort Plünderung, Erpressung, Belästigung und Gewalt ausgesetzt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 24f; vergleiche FH 2022a, G1). Neben den Straßensperren kann auch das Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen ein Risiko darstellen (FH 2022a, G1). Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle führt al Shabaab eine Blockade durch und greift manchmal Zivilisten an, welche die Blockade durchbrechen wollen (HRW 13.1.2022). Einige Bezirke sind demnach auf Luftbrücken angewiesen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 37).

Der durchschnittliche Somali kann eine Überlandreise antreten, muss aber mit einem gewissen Risiko rechnen, während das Risiko für Sicherheitskräfte oder Regierungsbedienstete höher ist (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 38). Trotzdem bereisen Zivilisten und Wirtschaftstreibende tagtäglich die Überlandverbindungen. Die Menschen reisen nicht uninformiert. Reisende und Fahrer versuchen ihre Reise nach neuesten sicherheitsrelevanten Informationen zu adaptieren (LI 28.6.2019, Sitzung 4/9). Überlandreisen werden bevorzugt mit Minibussen (9-Sitzer), auf Lastwägen oder aber zu Fuß unternommen. Es ist einfach, sich in Mogadischu eine solche Fahrt zu organisieren. Straßenzustand und Sicherheitsüberlegungen können den Zugang zu einzelnen Destinationen fallweise verunmöglichen. Generell können Menschen aber jedes Ziel in Süd-/Zentralsomalia erreichen. Um in kleinere Dörfer zu gelangen, muss meist in der nächstgelegenen Bezirkshauptstadt umgestiegen werden (LI 28.6.2019, Sitzung 7).

Al Shabaab kontrolliert den Ort Leego an der Straße zwischen Wanla Weyne und Buur Hakaba (BMLV 9.2.2023). Damit ist die Route von Mogadischu nach Baidoa für Zwecke der Regierung geschlossen; diese gilt auch für die Hauptversorgungsroute nach Baraawe (Bryden 8.11.2021). Die Verbindung von Mogadischu nach Belet Weyne ist hingegen offen, die Zahl an Reisebewegungen auf dieser Route ist zuletzt stark angestiegen (BMLV 9.2.2023). Der Teil von Buulo Barde nach Belet Weyne wurde gesäubert, und damit ist diese Hauptverbindungsstraße nach 13 Jahren wieder frei (GN 21.9.2022). Die Route von Belet Weyne nach Dhusamareb ist weitgehend sicher (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab kontrolliert etwa auch an der Hauptversorgungsroute von Kismayo nach Dhobley (UNSC 10.10.2022, Absatz 41,). Al Shabaab verfügt an allen Ausfallstraßen aus Kismayo – sowohl in Richtung Jamaame, als auch in Richtung Dhobley oder Kolbiyow – über Checkpoints (GITOC 8.12.2022). Generell kann es an den Straßenverbindungen in der Region Lower Juba zu Übergriffen durch al Shabaab kommen. Dies gilt auch in der Region Gedo für die Verbindungen südlich von Garbahaarey. Dahingegen kommt es im Gebiet zwischen Doolow und Luuq nur selten zu Zwischenfällen. In Bakool kommt es entlang der Verbindungsstraßen zwischen Waajid, Yeed und Ceel Barde nur selten zu Zwischenfällen. Die Verbindungen von und nach Xudur unterliegen wiederkehrenden Angriffen von al Shabaab (BMLV 9.2.2023), Xudur ist von al Shabaab eingekreist (BMLV 9.2.2023; vergleiche PGN 2.2021, Sitzung 12). In Bay bzw. Lower Shabelle kann es an der Route von Baidoa nach Mogadischu zu Übergriffen durch unterschiedliche Akteure kommen. Al Shabaab hat Zugriff auf die gesamte Straße, sie kontrolliert die Verbindung von Baidoa nach Buur Hakaba und weiter nach Bali Doogle. Rund um Baidoa betreibt die Gruppe Straßensperren (BMLV 9.2.2023).

Straßensperren: In ganz Süd-/Zentralsomalia gibt es Straßensperren (Checkpoints), an welchen Fahrzeuge aufgehalten und Personen kontrolliert werden. Prinzipiell geht es an einer Straßensperre um die Einhebung von Wegzoll (LI 28.6.2019, Sitzung 8), wobei die Höhe des Zolls mitunter willkürlich ist. Es gibt permanente und ad hoc Straßensperren, betrieben von Sicherheitskräften, al Shabaab oder Clanmilizen (LI 28.6.2019, Sitzung 8; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 24f). Häufig kommt es an Checkpoints zwischen Clanmilizen, aber auch mit und unter staatlichen Einheiten, die sich um die Kontrolle und um Einnahmen streiten, zu kämpfen (AA 28.6.2022, Sitzung 9).

In Mogadischu gibt es mehrere Hundert permanente oder mobile Kontrollpunkte, dadurch wird die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Dort werden keine offiziellen Gebühren eingehoben, es kann aber zur Forderung nach Bestechungsgeldern kommen (EASO 9.2021a, Sitzung 22f). Gemäß neueren Angaben wurde die Mehrzahl der Checkpoints innerhalb des Stadtgebietes geräumt (Ausnahme: in den Bereichen wichtiger Infrastruktur wie der Villa Somalia, des Parlamentsgebäudes, dem Flughafen u. a.). Einschränkungen ergeben sich durch Sicherheitsmaßnahmen zu besonderen Anlässen wie Staatsbesuchen, die teilweise wichtige Straßenzüge für den zivilen Verkehr unpassierbar machen. Die Dauer dieser Auswirkungen ist unterschiedlich: von mehreren Stunden bis zu mehreren Tagen (BMLV 9.2.2023). Clanälteste, Bundes- und Bundesstaatsminister sowie Abgeordnete können sich in der Stadt nicht ohne Leibwächter frei bewegen (FGS 2022, Sitzung 99). Insgesamt können sich Menschen in Mogadischu aber unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit frei bewegen und sich niederlassen (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).

Frauen: Es ist nicht ungewöhnlich, alleine reisende ältere Frauen anzutreffen. Dahingegen wird vermieden, jüngere Frauen ohne Begleitung auf Reisen zu schicken – v. a. aufgrund der Gefahr sexueller Gewalt (LI 28.6.2019, Sitzung 11f). Bezüglich dieser besteht für Frauen an Straßensperren ein erhöhtes Risiko (FIS 7.8.2020, Sitzung 23).

Straßensperren von al Shabaab: Das Netzwerk an Straßensperren bzw. Checkpoints bleibt stabil, es ist auch für einen großen Teil der Einnahmen von al Shabaab verantwortlich. Die Gruppe betreibt über 100 Checkpoints in Süd-/Zentralsomalia (UNSC 10.10.2022, Absatz 41 f,). In ländlichen Gebieten der gesamten Südhälfte Somalias ist jederzeit mit spontan errichteten Checkpoints der al Shabaab zu rechnen (AA 17.5.2022). Al Shabaab kontrolliert die Versorgungsrouten zwischen den meisten Städten (BS 2022, Sitzung 6). Außerhalb der tatsächlich von der Regierung und ihren Alliierten kontrollierten Gebieten besteht eine große Wahrscheinlichkeit, auf eine Straßensperre von al Shabaab zu stoßen (LI 28.6.2019, Sitzung 4/10). Straßensperren zielen in erster Linie auf die Einhebung von Steuern und Abgaben (BS 2022, Sitzung 6; vergleiche LI 28.6.2019, Sitzung 9f) ab, und in zweiter Linie darauf, Spione zu identifizieren. Generell ist es weder Ziel von al Shabaab, Menschen am Reisen zu hindern, noch sind Reisende selbst ein Ziel. Menschen können z. B. aus den Gebieten von al Shabaab in Städte reisen, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen (LI 28.6.2019, Sitzung 9f). Ein Bericht über die „Besteuerung“ von Straßenverkehr und Gütern an Checkpoints der al Shabaab zeigt, dass der Verkehr in Süd-/Zentralsomalia aus, in und durch das Territorium der al Shabaab möglich ist. Die Studie dokumentiert mehr als 800 Fahrzeuge, die im Zeitraum Dezember 2020 bis Oktober 2021 in Lower und Middle Juba, Lower Shabelle, Bay, Bakool und Gedo unterwegs waren. Passagierfahrzeuge müssen an Straßensperren der al Shabaab nur einen vergleichsweise geringen Betrag abführen (GITOC 8.12.2022).

Allerdings verhält sich al Shabaab an Straßensperren unberechenbar. Menschen können nie voraussehen, wie sie dort behandelt werden. Gebühren werden eingehoben, die Identität aller Reisenden wird verifiziert. Al Shabaab kennt den Hintergrund vieler Menschen, ihr Nachrichtendienst ist effizient (FIS 7.8.2020, Sitzung 28). Wenn also eine Person in eine solche Kontrolle gerät, und über diese Person im Rahmen der ausführlichen Netzwerke der al Shabaab eine Meldung vorliegt, dass diese Person z. B. vor ein paar Monaten negativ aufgefallen ist, dann kann dies zu Repressalien führen (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 40).

Angst vor al Shabaab müssen in erster Linie jene Reisenden haben, die öffentlich Bedienstete sind oder die Verbindungen zur Regierung haben. Außerhalb größerer Städte können sie jederzeit auf eine Straßensperre von al Shabaab treffen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 38). Sie befinden sich in Lebensgefahr. Dies gilt insbesondere an Straßensperren in jenen Gebieten, die nicht vollständig unter Kontrolle von al Shabaab stehen. Dort dürfen Spione standrechtlich – ohne Verfahren – exekutiert werden. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab werden Verdächtige i.d.R. verhaftet und vor Gericht gestellt. Auch dies hat - bei einem Schuldspruch - den Tod zur Folge. Außerdem kann es Personen treffen, die von al Shabaab – etwa wegen des Mitführens von bestimmten Objekten (Smartphones, Regierungsdokumente, Symbole, die mit der Regierung assoziiert werden etc.) – als mit der Regierung in Zusammenhang stehend oder als Spione verdächtigt werden (LI 28.6.2019, Sitzung 9f). Auch Reisende, die im Gebiet der Reisebewegung weder über Familien- noch Clanverbindungen verfügen, können von al Shabaab unter Umständen als Spione verdächtigt werden (außer sie haben einen Bürgen). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Reiseziel der Person im von der al Shabaab kontrollierten Gebiet liegt (LI 28.6.2019, Sitzung 4/11).

Alleine die Tatsache, dass jemand in einem westlichen Land gewesen ist, stellt im Kontext mit al Shabaab an solchen Straßensperren kein Problem dar. Allerdings ruft westliches Verhalten oder westliche Kleidungsart Sanktionen hervor – etwa Auspeitschen (LI 28.6.2019, Sitzung 11). Reisende passen sich daher üblicherweise den Kleidungs- und Verhaltensvorschriften von al Shabaab an, um nicht herauszustechen (LI 28.6.2019, Sitzung 4).

Ausweichmöglichkeiten und Binnenmigration: Innerstaatliche Fluchtalternativen bestehen jedenfalls für einen Teil der somalischen Bevölkerung (ÖB 11.2022, Sitzung 12). Im Fall einer nicht durch individuelle Verfolgung begründeten Flucht aus von al Shabaab kontrollierten Gebieten bieten urbane Zentren und ländliche Gebiete unter staatlicher Kontrolle relativ größere Sicherheit. Dabei ist es schwierig, relativ sichere Zufluchtsgebiete pauschal festzulegen, denn je nach Ausweichgrund und persönlichen Umständen ist eine Person möglicherweise in einem anderen Gebiet Somalias dann von anderen Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen des humanitären Völkerrechts bedroht. Die soziale und wirtschaftliche Integration in „clanfremden“ Gebieten kann zum Teil schwierig sein (AA 28.6.2022, Sitzung 20).

Menschen aus Süd-/Zentralsomalia können sich auch in Somaliland und Puntland ansiedeln. Dort werden sie jedoch nur "halb" akzeptiert, in Somaliland kommen ihnen keine Staatsbürgerrechte zu (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25f). Trotzdem herrscht in Somaliland und Puntland (außer in den umstrittenen Gebieten) mehr Freiheit (AA 28.6.2022, Sitzung 20). Üblicherweise genießen Somalis außerdem den Schutz ihres eigenen Clans, weshalb man davon ausgehen kann, dass sie in Gebieten, in denen ihr Clan Einfluss genießt, grundsätzlich in Sicherheit sind (ÖB 11.2022, Sitzung 12). Selbst IDPs tun sich bei einer Integration leichter, wenn sie z. B. in Mogadischu über Beziehungen und Clanverbindungen verfügen. Manchmal helfen bei einer Integration auch spezielle berufliche Fähigkeiten (FIS 7.8.2020, Sitzung 36). Zudem gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen. In Mogadischu und anderen großen Städten ist es nicht automatisch nachvollziehbar, welchem Clan eine Person angehört (LI 4.4.2016, Sitzung 9). Dort leben Angehörige aller somalischen Clans, sie können sich dort frei bewegen und auch niederlassen (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).

Generell hat die Binnenmigration seit 2012 stark zugenommen, v. a. der Zuzug in urbane Gebiete. Menschen erhoffen sich in der Stadt eine bessere Zukunft und bessere Lebensbedingungen als etwa auf dem Land, wo wiederkehrende Dürren und Überschwemmungen ein nomadisches oder landwirtschaftliches Leben schwer gemacht haben (FIS 7.8.2020, Sitzung 36; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 16/24). Immer mehr Menschen flüchten und kommen nach Mogadischu (TG 8.6.2022).

Luftweg: Die sicherste Arte des Reisens in Süd-/Zentralsomalia ist das Fliegen (FIS 7.8.2020, Sitzung 29; vergleiche LI 28.6.2019, Sitzung 6f). Regierungsvertreter nutzen das Flugzeug, wo es nur geht (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 38). Von Mogadischu aus können Baidoa, Kismayo, Garoowe, Galkacyo, Bossaso, Cadaado und Guri Ceel mit Linienflügen erreicht werden (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 39). Anbieter ab Mogadischu gibt es auch für Flüge nach Cabudwaaq, Belet Weyne und Dhobley (EASO 9.2021a). Die Kosten für ein One-Way-Ticket im Binnenflugverkehr belaufen sich auf 100-150 US-Dollar (FIS 7.8.2020, Sitzung 29; vergleiche LI 28.6.2019, Sitzung 6f).

Eine effektive Ausreisekontrolle an den Grenzübergängen von Somalia in die Nachbarländer findet nicht statt. Sowohl die Landgrenze als auch die Seegrenze werden weitgehend nicht überwacht. Kontrollen werden dagegen bei Flugreisen ab Mogadischu, Garoowe und Bossaso durchgeführt (AA 28.6.2022, Sitzung 26).

Meldewesen und Staatsbürgerschaft

Letzte Änderung 2023-03-17 09:24

Es gibt in Somalia kein Personenstandswesen (AA 28.6.2022, Sitzung 26; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 40) und auch keine Institution oder Behörde, die sich mit dem Meldewesen befassen würde (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 39). Somalische Behörden haben keinen Überblick über die eigene Bevölkerung, Bürger werden normalerweise nur dann registriert, wenn sie einen Reisepass beantragen (LI 31.3.2022). Zudem gibt es weder Fahndungs- noch Strafregister (AA 28.6.2022, Sitzung 26; vergleiche Sahan 16.9.2022). Die verlässliche Feststellung von Identitäten erfolgt oft nur durch den Ältestenrat eines Dorfes oder durch Verwandte bzw. Bekannte (ÖB 11.2022, Sitzung 5). Auch an Checkpoints wird nicht nach einem Personalausweis gefragt, sondern es wird der Clanhintergrund festgestellt (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 40).

Schon vor 1991 (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 39) und erst recht nach 1991 wurden in Somalia geborene Personen nie offiziell registriert (ÖB 11.2022, Sitzung 5), und auch jetzt werden Geburten nur in sehr geringem Ausmaß behördlich registriert (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). Eine Geburtsurkunde ist de facto nur für die Ausstellung eines Reisepasses oder aber bei einer formellen Anstellung notwendig. Daher gibt es für die Bevölkerung kaum einen Anreiz, die Geburt eines Kindes erfassen zu lassen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 39). Es besteht keine Möglichkeit, über amtliche Register verlässliche Auskünfte über somalische Staatsangehörige in Süd- und Zentralsomalia und Puntland zu erhalten. Zustellungen sind nicht möglich (AA 28.6.2022, Sitzung 26).

Generell ist das Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem Jahr 1962 weiterhin in Kraft (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 13). Die Übergangsverfassung sieht allerdings vor, dass es hinsichtlich der Definition, wie jemand an die somalische Staatsbürgerschaft gelangt und wie er diese aussetzt oder verliert, ein Gesetz geben soll. Allerdings wurde ein solches Gesetz noch nicht geschaffen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 5), und es gibt daher keine neue Definition (BS 2022, Sitzung 9).

Die somalische Staatsbürgerschaft wird daher weiterhin mit der Geburt erlangt, wenn der Vater Somali ist (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 13; vergleiche LIFOS 9.4.2019, Sitzung 11). Vor 1991 galt, dass jeder Abkomme eines männlichen Somali somalischer Staatsbürger ist - unabhängig davon, wo diese Person herstammt (BS 2022, Sitzung 9). Als Somali wird hier definiert, wer durch Herkunft, Sprache oder Tradition zur somalischen Nation gehört (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 13; vergleiche BS 2022, Sitzung 9, wer also ethnischer Somali ist. Daher ist es auch nicht entscheidend, ob eine Person aus Somalia kommt oder in Somalia lebt. Vielmehr ist relevant, ob diese ethnisch Somali ist (LI 31.3.2022). Somalische Behörden betrachten demnach auch Somali, die eigentlich kenianische oder äthiopische Staatsbürger sind, als somalische Staatsbürger (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 10f). In beiden Ländern gibt es substanzielle Gruppen ethnisch somalischer Nomaden, und es ist unrealistisch, eine klare Linie zu ziehen und einzelne Familien auf der einen oder auf der anderen Seite der Grenze endgültig zu lokalisieren (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 51). Folglich können auch ethnische Somali aus Äthiopien, Dschibuti oder Kenia somalische Reisepässe erhalten (LI 31.3.2022).

Auch weiterhin erhalten Kinder somalischer Väter bei der Geburt die Staatsbürgerschaft; Kinder somalischer Mütter können die Staatsbürgerschaft nach zwei Jahren erhalten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). In einer anderen Quelle wird die Weitergabe durch die Mutter nicht erwähnt (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 20ff). Dahingegen erlangt eine Frau automatisch die somalische Staatsbürgerschaft, wenn sie einen Somali heiratet; umgekehrt ist dies nicht der Fall (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 24). Angehörige von Minderheiten werden aus rechtlicher Sicht ebenso als vollwertige Staatsbürger erachtet (BS 2022, Sitzung 9). Nach anderen Angaben kann es für Angehörige ethnischer Minderheiten mitunter schwierig werden, einen Reisepass zu erhalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie als Flüchtlings außerhalb Somalias aufgewachsen sind. Sie müssen den somalischen Behörden gegenüber „nachweisen“, dass sie aus Somalia stammen – meist durch die Darstellung entsprechender Sprachkenntnisse (LI 31.3.2022).

Seit 2004 bzw. 2012 werden Doppelstaatsbürgerschaften formell akzeptiert (LI 31.3.2022; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 42), obwohl das Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem Jahr 1962 nicht überarbeitet worden ist und dieses Doppelstaatsbürgerschaften formell verbietet. In der Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 steht etwa in Artikel 8: Einem somalischen Staatsbürger kann die somalische Staatsbürgerschaft nicht entzogen werden, auch wenn er Staatsbürger eines anderen Staates wird. Viele politisch Führer (LI 31.3.2022) und ein großer Teil der Parlamentsabgeordneten sind Doppelstaatsbürger (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 10f) – Doppelstaatsbürgerschaften werden also de facto akzeptiert. Während die provisorische Verfassung aus dem Jahr 2012 diese Auffassung unterstützt, sprechen nach wie vor bestehende Gesetze aus dem Jahr 1962 dagegen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 42; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 13f/26; LIFOS 9.4.2019, Sitzung 10f). Unklar ist, ob das Verbot der Doppelstaatsbürgerschaft überhaupt jemals durchgesetzt worden ist – also auch vor dem Zusammenbruch staatlicher Institutionen im Jahr 1991 (LI 31.3.2022).

Somalia erachtet natürlich auch alle in Somaliland lebenden Somali als somalische Staatsbürger, während Somaliland sie als somaliländische Staatsbürger erachtet (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 11f). Zudem kämpft das Land mit einer ungelösten Debatte zur Staatsbürgerschaft in Zusammenhang mit dem föderalen System. Es bleibt unklar, wer in welchem Bundesstaat welche Rechte hat und dort auch leben darf (BS 2022, Sitzung 9). Denn die Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 sieht zwar vor, dass das Staatsbürgerschaftswesen durch die Bundesregierung verwaltet wird; jedoch haben mehrere Bundesstaaten eine eigene Staatsbürgerschaft eingeführt (z. B. Puntland) oder aber die Verwaltung an sich gerissen (z. B. der SWS) (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 17f).

Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2023-03-17 09:31

Die somalische Regierung arbeitet mit dem UNHCR und IOM zusammen, um Flüchtlinge, zurückkehrende Flüchtlinge, Asylwerber, Staatenlose und andere relevante Personengruppen zu unterstützen. Der UNHCR setzt sich für den Schutz von IDPs ein und gewährt etwas an finanzieller Unterstützung (USDOS 12.4.2022, Sitzung 25f).

IDP-Zahlen: Rund 2,9 Millionen Menschen gelten als intern Vertriebene (UNSC 13.5.2022, Absatz 38,), davon sind ca. 1,9 Millionen Kinder (USDOS 12.4.2022, Sitzung 43). Im Jahr 2022 wurden mehr als 1,8 Millionen Menschen neu vertrieben (2021: 874.000), davon flohen 607.000 vor Konflikten (2021: 544.000) und 1,179.000 in Zusammenhang mit der anhaltenden Dürre (2021: 245.000). Überflutungen stellten 2022 so gut wie keine Quelle an IDPs dar (UNHCR 31.12.2022).

Es gibt mehr als 2.400 IDP-Lager in Somalia (UNOCHA 10.2.2022). Die Migration vom Land in die Stadt hat zu einem enormen und unregulierten Städtewachstum geführt. Hinsichtlich der IDP-Zahlen müssen zwei Faktoren berücksichtigt werden: Einerseits gibt es für Somalia keine Zahlen zur "normalen" Urbanisierung. Andererseits werden i.d.R. nur jene IDPs gezählt, die in Lagern wohnen. Mitglieder großer Clans kommen aber üblicherweise bei Verwandten unter und leben daher nicht in Lagern (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 16/26f). In Städten wurde die Urbanisierung durch den Zuzug vieler IDPs verstärkt. Dies hat zu einer hohen Nachfrage nach Land aber auch zu nochmaligen Zwangsräumungen geführt (SPC 9.2.2022). So leben etwa in Baidoa mittlerweile mindestens 600.000 Vertriebene - deutlich mehr als die Stadt Einwohner hat. Somalia verzeichnet eine der höchsten Urbanisierungsraten der Welt, und manche bezeichnen Baidoa als die am schnellsten wachsende Stadt Afrikas – wegen der Dürre (Spiegel 24.9.2022).

Allerdings ist die Zahl dieser Zwangsräumungen seit 2019 rückläufig (SPC 9.2.2022). Im ersten Quartal 2022 wurden ca. 31.000 IDPs zwangsweise vertrieben (UNOCHA 12.4.2022). Zehntausende IDPs wurden auch 2021 vertrieben - v.a. in Mogadischu (HRW 13.1.2022). Im Jahr 2020 waren es insgesamt 143.000 gewesen - zwei Drittel davon im Großraum Mogadischu, außerdem auch in Baidoa und Kismayo. Insgesamt bleiben Zwangsräumungen von IDPs und armer Stadtbevölkerung ein Problem (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Bewohner von Lagern leben daher in ständiger Ungewissheit, da sie immer eine Zwangsräumung befürchten müssen (FIS 7.8.2020, Sitzung 37). Die Mehrheit der betroffenen Menschen zog in der Folge in entlegene und unsichere Außenbezirke der Städte, wo es lediglich eine rudimentäre bzw. gar keine soziale Grundversorgung gibt (AA 28.6.2022, Sitzung 22).

Generell befinden sich derartige Relocation Areas am Stadtrand oder sogar weit außerhalb der jeweiligen Stadt. Allerdings bieten diese Lager wesentlich bessere Unterkünfte - etwa Häuser aus Wellblech oder sogar Stein (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 21).

Rechtliche Lage: Ende 2019 hat die Bundesregierung die Konvention der Afrikanischen Union zum Schutz von IDPs ratifiziert. Die Regionalverwaltung von Benadir (BAR) hat ein Büro für nachhaltige Lösungen für IDPs geschaffen. Auch eine nationale IDP-Policy wurde angenommen. Im Jänner 2020 präsentierte die BAR eine Strategie für nachhaltige Lösungen (UNOCHA 6.2.2020, Sitzung 4; vergleiche RI 12.2019, Sitzung 11f). Diesbezüglich wurden nationale Richtlinien zur Räumung von IDP-Lagern erlassen. Insgesamt sind dies wichtige Schritte, um die Rechte von IDPs zu schützen und nachhaltige Lösungen zu ermöglichen (RI 12.2019, Sitzung 4).

Menschenrechte: IDPs sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nicht-staatlichen – aber auch staatlichen – Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkung und Diskriminierung aufgrund von Clanzugehörigkeit sind an der Tagesordnung (AA 28.6.2022, Sitzung 22; vergleiche UNSC 13.5.2022, Absatz 38,). Dies trifft in erster Linie Bewohner von IDP-Lagern – in Mogadischu v.a. jene IDPs, die nicht über Clanbeziehungen in der Stadt verfügen (FIS 7.8.2020, Sitzung 36). Weibliche und minderjährige IDPs sind hinsichtlich einer Vergewaltigung bzw. Missbrauch besonders gefährdet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26; vergleiche UNSC 8.2.2022, Absatz 46,). Für IDPs in Lagern gibt es keinen Rechtsschutz, und es gibt in Lagern auch keine Polizisten, die man im Notfall alarmieren könnte (FIS 7.8.2020, Sitzung 36).

Versorgung: In Mogadischu sind die Bedingungen für IDPs in Lagern hart. Oft fehlt es dort an simplen Notwendigkeiten, wie etwa Toiletten (FIS 7.8.2020, Sitzung 36). Landesweit fehlen in 80 % der IDP-Lager Wasserstellen – v. a. in Benadir, dem SWS und Jubaland (UNOCHA 1.2021, Sitzung 5). Die Rate an Unterernährung ist hoch, der Zugang zu grundlegenden Diensten eingeschränkt (RI 12.2019, Sitzung 9). Es mangelt ihnen zumeist an Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften (ÖB 11.2022, Sitzung 13). Allerdings ist der Zustand von IDP-Lagern unterschiedlich. Während die neueren meist absolut rudimentär sind, verfügen ältere Lager üblicherweise über grundlegende Sanitär-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen (FIS 7.8.2020. Sitzung 36). Oft wurde dort auch eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 23). Trotzdem werden noch weniger Kinder von IDPs eingeschult, als es schon bei anderen Kindern der Fall ist (USDOS 12.4.2022, Sitzung 42).

Unterstützung: Die Weltbank stellt für fünf Jahre insgesamt 112 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Mit diesem Geld soll die städtische Infrastruktur verbessert werden, wovon sowohl autochthone Stadtbewohner als auch IDPs profitieren sollen (RI 12.2019, Sitzung 18f). Organisationen wie IOM versuchen, durch eine Umsiedlung von IDPs auf vorbereitete Grundstücke einer Zwangsräumung zuvorzukommen. So wurden z.B. in Baidoa 2019 1.000 IDP-Haushalte aus 15 Lagern auf mit der Stadtverwaltung abgestimmte Grundstücke umgesiedelt (IOM 25.6.2019; vergleiche RD 27.6.2019). Dort wurden zuvor Latrinen, Wasserversorgung, Straßenbeleuchtung und andere Infrastruktur installiert. Auch zwei Polizeistationen wurden gebaut. Den IDPs wurden außerdem Gutscheine für Baumaterial zur Verfügung gestellt (IOM 25.6.2019). Im März 2021 konnte IOM knapp 7.000 IDPs aus Baidoa in das IDP-Lager Barwaaqo übersiedeln, wo schon 2019 mehr als 6.000 IDPs angesiedelt worden waren. Das Land für dieses Lager wurde von der Lokalverwaltung zur Verfügung gestellt. In Barwaaqo bekommen Familien ein Stück Land, auf dem eine Unterkunft errichtet und ein Garten betrieben werden kann. Die Familien erhalten zudem finanzielle Unterstützung. Zwei Jahre nach der Umsiedlung erhalten die Familien dann auch Rechtsanspruch auf den von ihnen genutzten Grund (IOM 9.3.2021a). Im November 2021 hat der SWS mehr als 4.300 Landbesitzurkunden im Neuansiedlungsgebiet Barwaaqo (Baidoa) ausstellt (UNSC 8.2.2022, Absatz 39,). In einem Medienbericht wird erklärt, dass 20.000 IDPs in Baidoa auf Boden wohnen, der ihnen übereignet worden ist (Spielgel 24.9.2022).

In Galkacyo wurden für weitere 100 IDP-Familien Häuser gebaut. Das zugehörige 225 Quadratmeter große Grundstück gehört jeweils dazu. Das Projekt wurde von Galmudug gemeinsam mit UNHCR umgesetzt (RE 1.12.2022). In Baraawe hat eine Hilfsorganisation 150 Häuser und mehrere Wasserstellen für IDPs gebaut (RD 12.12.2022).

Andere Programme für nachhaltige Lösungen werden von UN-HABITAT, dem Norwegian Refugee Council und der EU finanziert oder geführt (RI 12.2019, Sitzung 9). Im März 2022 startete die Bundesregierung gemeinsam mit den UN ein vier-Jahres-Programm namens Saameynta. Mit diesem Programm soll mehr als 75.000 IDPs und Aufnahmegemeinden in Baidoa, Belet Weyne und Bossaso geholfen werden. Vor allem sollen die Abhängigkeit von humanitärer Hilfe und die Armut reduziert sowie die Integration der IDPs in den Städten gefördert werden. Das Programm umfasst den Zugang zu Wasser, Unterkunft und medizinischer Versorgung. IOM setzt das Programm in Partnerschaft mit der Bundesregierung, UNDP und UNHABITAT um (UNOCHA 12.4.2022).

Die Situation von IDPs in Puntland wird von NGOs als durchaus positiv beschrieben, sie können z.B. geregelter Tätigkeit nachgehen (ÖB 11.2022, Sitzung 13). Es gibt Anzeichen dafür, dass in Puntland aufhältige IDPs aus anderen Teilen Somalias dort permanent bleiben können und dieselben Rechte genießen wie die ursprünglichen Einwohner (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 9).

Flüchtlinge: Die Zahl ausländischer Flüchtlinge wird als sehr gering eingeschätzt (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Im April 2022 befanden sich ca. 33.000 Flüchtlinge und Asylwerber im Land, etwa die Hälfte davon in Somaliland (UNHCR 10.5.2022). Sie stammen fast zur Gänze aus Äthiopien (68,5 %), dem Jemen (27,5 %) und Syrien (3,5 %) (UNHCR 10.5.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 26f). Asylwerbern aus dem Jemen wird prima facie der Asylstatus zuerkannt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26f). Der UNHCR betreibt ein Unterstützungs- und Integrationsprogramm zur möglichst schnellen Eingliederung von Flüchtlingen in das öffentliche Leben (AA 28.6.2022, Sitzung 23).

Grundversorgung/Wirtschaft

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Wirtschaft und Arbeit

Letzte Änderung 2023-03-17 09:48

Mehrere Schocks haben die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung des Landes unterminiert, darunter Überschwemmungen, eine Heuschreckenplage und die Covid-19-Pandemie (AFDB 25.5.2022). Die somalische Wirtschaft hat sich allerdings als resilienter erwiesen, als zuvor vermutet: Ursprünglich war für 2020 ein Rückgang des BIP um 2,5 % prognostiziert worden (UNSC 13.11.2020, Absatz 17,), tatsächlich sind es dann nur minus 0,4 % geworden (UNSC 10.8.2021, Absatz 17,), nach anderen Angaben sogar nur 0,1 %. Für 2021 war ein Wachstum von 2,4 % prognostiziert, geworden sind es dann 2,9 % (FTL 29.11.2022). Für das Jahr 2022 prognostiziert die Weltbank ein Wachstum von 3,2 % (WB 6.2021, Sitzung 20).

Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Erholung sind Remissen und anhaltende Investitionen (UNSC 17.2.2021, Absatz 19,). Ein resilienter Privatsektor und starke Remissen aus der Diaspora bleiben Grundlage für Optimismus. Zudem gibt es unentwickelte Möglichkeiten aufgrund der Urbanisierung, sowie auf den Gebieten neuer Technologien, Bildung und Gesundheit Ausschussbericht 22.6.2022). Die Geldrückflüsse nach Somalia sind 2021 im Vergleich zu 2020 noch einmal gestiegen, von 30,8 % des BIP auf 31,3 % (AFDB 25.5.2022). Neben der Diaspora (VICE 1.3.2020) sind auch zahlreiche Agenturen der UN (etwa UN-Habitat, UNICEF, UNHCR) tatkräftig dabei, das Land wiederaufzubauen (ÖB 11.2022, Sitzung 21). Das Maß an privaten Investitionen bleibt konstant. Die Inflation lag 2021 bei 4,6 %, für 2022 werden aufgrund höherer Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise sowie der herrschenden Dürre 9,4 % prognostiziert (AFDB 25.5.2022).

Allerdings war das Wirtschaftswachstum schon in besseren Jahren für die meisten Somalis zu gering, als dass sich ihr Leben dadurch verbessern hätte können (UNSC 21.12.2018, Sitzung 4). Der Bevölkerungszuwachs nivelliert das Wirtschaftswachstum und hemmt die Reduzierung von Armut (BS 2022, Sitzung 30). Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt 875 US-Dollar (BS 2022, Sitzung 3). Zusätzlich bleibt die somalische Wirtschaft im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt (ÖB 11.2022, Sitzung 15). Landwirtschaft, Handel, Kommunikation und mobile Geldtransferdienste tragen maßgeblich zum BIP bei; alleine die Viehwirtschaft macht rund 60 % des BIP (BS 2022, Sitzung 31) und 80 % der Exporte aus (BS 2022, Sitzung 25). Der Großteil der Wirtschaft bzw. der wirtschaftlichen Aktivitäten ist dem informellen Sektor zuzurechnen (UNSC 10.10.2022, Absatz 64,). Insgesamt sind zuverlässige Daten zur Wirtschaft schwierig bis unmöglich zu erhalten bzw. zu verifizieren (ÖB 11.2022, Sitzung 2/15) bzw. sind vertrauenswürdige Daten kaum vorhanden (BS 2022, Sitzung 30).

Al Shabaab und andere nicht staatliche Akteure behindern kommerzielle Aktivitäten in Bakool, Bay, Gedo und Hiiraan (USDOS 12.4.2022, Sitzung 25).

Staatshaushalt: Die Regierung ist stark abhängig von externer Hilfe. Ein Großteil der Regierungsausgaben wird durch externe Akteure bezahlt (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29; vergleiche BS 2022, Sitzung 40). Alleine die offizielle Entwicklungshilfe betrug 2019 1,9 Milliarden US-Dollar – 40 % des BIP (BS 2022, Sitzung 40). Aufgrund der fehlenden Kontrolle über das Territorium – aber auch hinsichtlich technischer Fähigkeiten – war die Regierung bisher nicht in der Lage, ein nationales Steuersystem aufzubauen. Selbst für grundlegende Staatsausgaben ist das Land auf externe Geber angewiesen (BS 2022, Sitzung 36). Von den Bundesstaaten gelingt es neben Puntland nur Jubaland, ein relevantes Maß an Einnahmen selbst zu generieren (WB 6.2021, Sitzung 16).

Dabei entwickelten sich die Budgetzahlen in den letzten Jahren stetig nach oben:

38 % der Staatsausgaben entfallen auf Verteidigung und Sicherheit (BS 2022, Sitzung 28), in den Jahren 2017 bis 2021 waren es durchschnittlich 31 % (AI 18.8.2021, Sitzung 19). Das Budget für das Jahr 2023 sieht mehr Geld für öffentliche Dienste wie Gesundheitszentren, Bildungseinrichtungen und Sicherheitskräfte vor (RD 28.12.2022).

Im Jahr 2020 hatte Somalia mit der Normalisierung der Beziehungen zu internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, Währungsfonds, Afrikanische Entwicklungsbank) einen Meilenstein erreicht. Das Land kann wieder partizipieren (HIPS 2021, Sitzung 4/23).

Arbeitsmarkt: Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. Ca. 95 % der Berufstätigen arbeiten im informellen Sektor (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48). In einer von Jahrzehnten des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängen die Möglichkeiten des Einzelnen generell sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort ab (BS 2022, Sitzung 30).

Das Unternehmertum spielt in der somalischen Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Schätzungen zufolge werden alleine dadurch mehr als drei Viertel aller Arbeitsplätze geschaffen (WB 22.3.2022). Zum Beispiel hat der Telekom-Konzern Hormuud Telecom in den vergangenen Jahren tausende Arbeitsplätze geschaffen und beschäftigt heute mehr als 20.000 Frauen und Männer (EAT 14.2.2021). Überhaupt sind zwei Drittel der aktiven Erwerbsbevölkerung Selbständige (WB 13.7.2022)

Einerseits wird berichtet, dass die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge und zurückkehrende Flüchtlinge in Süd-/Zentralsomalia limitiert sind. So berichten etwa Personen, die aus Kenia zurückgekehrt sind, über mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 27). Andererseits wird ebenso berichtet, dass die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora fallen – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse (FIS 7.8.2020, Sitzung 33f). Am Arbeitsmarkt spielen Clanverbindungen eine Rolle (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48). Gerade, um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen. Dementsprechend schwer tun sich IDPs, wenn sie vor Ort über kein Netzwerk verfügen; meist sind sie ja nicht Mitglieder der lokalen Gemeinde (FIS 7.8.2020, Sitzung 33f). Männer, die vom Land in Städte ziehen, stehen oft vor der Inkompatibilität ihrer landwirtschaftlichen Kenntnisse mit den vor Ort am Arbeitsmarkt gegebenen Anforderungen (DI 6.2019, Sitzung 22f; vergleiche OXFAM 6.2018, Sitzung 10). Die Zugezogenen tun sich schwer, eine geregelte Arbeit zu finden (OXFAM 6.2018, Sitzung 10); außerdem wird der Umstieg von Selbstständigkeit auf abhängige Hilfsarbeit oft als Demütigung und Erniedrigung gesehen. Darum müssen gerade IDPs aus ländlichen Gebieten in die Lage versetzt werden, neue Fähigkeiten zu erlernen, damit sie etwa am informellen Arbeitsmarkt oder als Kleinhändler ein Einkommen finden. Dies geschieht auch teilweise (DI 6.2019, Sitzung 22f). Generell finden Männer unter anderem auf Baustellen, beim Graben, Steinebrechen, Schuhputzen oder beim Khatverkauf eine Arbeit. Ein Großteil der Tätigkeiten ist sehr anstrengend und mitunter gefährlich. Außerdem wird von Ausbeutung und Unterbezahlung berichtet (OXFAM 6.2018, Sitzung 10).

Ende Mai 2022 hat die Regierung die National Youth Development Initiative gestartet. Mit dieser sollen Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen werden (WB 13.7.2022). Die von der EU finanzierte Dalbile Youth Initiative wurde im August 2020 gestartet und läuft weiter fort. Mit diesem Programm wird das Leben von ca. 5.000 jungen Menschen verändert werden, durch Unternehmertum, soziale Unternehmungen, Management Training, Mentorship, Ausbildung und Geldern für Start-ups (RD 23.9.2022). Im Rahmen dieses und anderer Programme hat UNFPA diverse Maßnahmen umgesetzt, um Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt besserzustellen. Im ersten Jahr der Dalbile Youth Initiative wurden mehr als 1.500 Jugendliche (davon ca. die Hälfte weiblich) mit Kapazitätsbildungsmaßnahmen erreicht. 68 Start-ups wurden mit Krediten versorgt (UNFPA 27.7.2022). Ein Programm von IOM unterstützt Jugendliche dabei, neue Fähigkeiten zu erwerben, die auf dem Arbeitsmarkt von Vorteil sind – etwa als Schneider, Installateur oder Elektriker. In Baidoa und Kismayo wurden 300 Jugendliche finanziell unterstützt, um bei lokalen Firmen Berufspraktika absolvieren zu können. Die meisten der Absolventen des Programms können danach ihren Lebensunterhalt mit eigenem Einkommen finanzieren (IOM 27.12.2022).

Einkommen, Tätigkeiten: An Arbeitstätigkeiten genannt werden: Träger am Bau; Arbeiten am Hafen (FIS 7.8.2020, Sitzung 33f) Köhler; Hilfsarbeiter am Bau; Koranlehrer; Rickshaw-Fahrer; Transporteur mit einer Eselkarre; Transporteur mit einer Scheibtruhe (Khalil 1.2019, Sitzung 30). Arzt; Krankenschwester (FIS 5.10.2018, Sitzung 36); Universitätslektor (TG 8.6.2022); angestellte und selbstständige Überlandfahrer; Fleischverkäufer (RE 18.2.2021); Magd; Hausangestellte; Wäscherin; Marktverkäuferin. In der Verwaltung sind nur wenige Stellen verfügbar, besser stellt sich die Situation bei Polizei und Armee dar. Viele Menschen leben vom Kleinhandel oder von ihrer Arbeit in Restaurants oder Teehäusern. Allerdings ist eine Arbeit in der Gastwirtschaft mit niedrigem Ansehen verbunden. Die Mehrheitsbevölkerung ist derartige Tätigkeiten sowie jene auf Baustellen äußerst abgeneigt. Dort finden sich vielmehr marginalisierte Gruppen – z. B. IDPs – die oft auch als Tagelöhner arbeiten. Weibliche IDPs arbeiten als Mägde, Hausangestellte oder Wäscherinnen. Manche verkaufen Früchte auf Märkten (FIS 7.8.2020, Sitzung 33f). Durch den Niedergang der Landwirtschaft, der maßgeblich durch die Dürre verursacht worden ist, ist auch die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Landwirtschaft gesunken bzw. haben sich die Löhne dort verringert (IPC 4.6.2022).

IOM berichtet aus Mogadischu, dass dort für ungelernte Arbeitskräfte Jobs zur Verfügung stehen - etwa als Reinigungskraft, Träger oder im Zustelldienst, als Ziegelmacher, Wäscherin oder auch als Buchhalter. Oft werden derartige Jobs aber von Arbeitgebern an eigene Verwandte vergeben. Zu finden sind Jobs meist über die eigene Verwandtschaft oder persönliche Netzwerke. Es gibt aber auch Websites zur Arbeitsvermittlung: Shaqodoon.net und Qaranjobs.com. Frauen mit Ausbildung können sich um einen Job umsehen. Frauen ohne Ausbildung übernehmen üblicherweise Aufgaben im Haushalt oder aber sie finden eine Anstellung über Familienkontakte, oder indem sie von Tür zu Tür gehen. Frauen ohne Kontakte in Mogadischu müssen oft die am schlechtesten bezahlten Jobs annehmen - etwa als Wäscherin oder Reinigungskraft (IOM 2.3.2023)

Gesucht werden in Mogadischu Fachkräfte in den Bereichen Medizin (Ärzte, Krankenpfleger), Hotellerie, Wirtschaft und IT (IOM 2.3.2023).

Hier einige Beispiele zu Einkommen:

IOM berichtet im Feber 2023 von folgenden durchschnittlichen Einkommen in Mogadischu:

Arbeitslosenquote: Die Arbeitslosenquote ist landesweit hoch (USDOS 12.4.2022, Sitzung 27), wobei es zu konkreten Zahlen unterschiedlichste und teils widersprüchliche Angaben gibt: Laut einer Quelle lag die Erwerbsquote (labour force participation) 2018 bei Männern bei 58 %, bei Frauen bei 37 % (UNSC 21.12.2018, Sitzung 4). Die Zahl für Frauen wird auch von einer Quelle im Jahr 2021 erwähnt (SLS 6.4.2021). Zwei Quellen nennen 2022 eine Jugendarbeitslosigkeit (15-29 Jahre) von 67-68 % (RD 10.6.2022; vergleiche UNFPA 27.7.2022). Allerdings suchen laut einem Bericht der ILO nur 40 % der Jugendlichen tatsächlich nach einer Arbeit (UNFPA 27.7.2022). Eine weitere Quelle erklärte 2016, dass 58 % der männlichen Jugendlichen (Altersgruppe 15-35) ökonomisch aktiv waren, während drei von zehn Jugendlichen arbeitslos waren (UNFPA 8.2016, Sitzung 4). In einer anderen Quelle wird die Arbeitslosenrate für 2020 mit 13,1 % angeführt (BS 2022, Sitzung 23); die Weltbank nennt für das Jahr 2021 für ganz Somalia eine Arbeitslosenquote bei der Erwerbsbevölkerung von 19,9 % (WB 2022). Eine weitere Quelle nannte 2018 bei 15-24-Jährigen eine Quote von 48 % (OXFAM 6.2018, Sitzung 22, FN8) und die österreichische Botschaft in Nairobi erklärt, dass unterschiedliche Quellen unterschiedliche Kriterien verwenden und die Schätzungen zwischen 19,9 % und 47,4 % schwanken (ÖB 11.2022, Sitzung 15). Bei einer Studie aus dem Jahr 2016 gaben hingegen nur 14,3 % der befragten Jugendlichen (Mogadischu 6 %, Kismayo 13 %, Baidoa 24 %) an, gegenwärtig arbeitslos zu sein. Dies kann auf folgende Gründe zurückzuführen sein: a) dass die Situation in diesen drei Städten anders ist als in anderen Teilen Somalias; b) dass die wirtschaftliche Entwicklung seit 2012 die Situation verbessert hat; c) dass es nun mehr Unterbeschäftigte gibt; d) dass die Definition von „arbeitslos“ unklar ist (z.B. informeller Sektor) (IOM 2.2016).

Nach Angaben einer Quelle hat sich die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - infolge der Covid-19-Pandemie verstärkt. 21 % mussten ihre Arbeit niederlegen; und das, obwohl nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnehmen. 78 % der Haushalte berichteten über einen Rückgang des Einkommens (WB 6.2021, Sitzung 23).

[Zur Arbeitsmarktlage in Somalia gibt es kaum aktuelle, v. a. kaum detaillierte Informationen.] In einer eingehenden Analyse hat UNFPA im Jahr 2016 Daten zur Ökonomie in der somalischen Gesellschaft erhoben. Dabei wird festgestellt, dass nur knapp die Hälfte der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (15-64) überhaupt am Arbeitsleben teilnimmt. Der Rest ist „ökonomisch inaktiv“; in diese Gruppe fallen in erster Linie Hausfrauen, gefolgt von Schülern/Studenten, pensionierten oder arbeitsunfähigen Personen. Bei den ökonomisch Aktiven wiederum finden sich in allen Lebensbereichen deutlich mehr Männer (UNFPA 2016):

●             Ländlich: 68,8 % der Männer - 40,5 % der Frauen

●             Urban: 52,6 % der Männer - 24,6 % der Frauen

●             IDP-Lager: 55,2 % der Männer - 32,6 % der Frauen

●             Nomaden: 78,9 % der Männer - 55,6 % der Frauen (UNFPA 2016)

Aufgeschlüsselt für Puntland und Süd-/Zentralsomalia ergibt sich aus den UNFPA-Daten, dass dort 44,4 % der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeiten. 11,4 % gelten als Arbeitssuchende. 44,2 % der Bevölkerung sind ökonomisch inaktiv. Als arbeitend werden in der Studie folgende Personen bezeichnet: jene, die in den der Erhebung vorangegangenen zwölf Monaten bezahlter Arbeit nachgegangen sind oder selbstständig waren. Darunter fällt auch unbezahlte (aber produktive) Arbeit in der Familie, bei welcher direkt Einkommen generiert wird (etwa Viehhüten, Arbeit am eigenen Ackerland; Wirtschaftstreibende, Dienstleister im eigenen Betrieb). Als arbeitslos werden jene Personen bezeichnet, die in diesen zwölf Monaten nach Arbeit gesucht haben und bereit waren, eine Arbeit anzunehmen (UNFPA 2016, Sitzung 29):

In der gleichen Studie wurde der Status bzgl. Arbeit auch auf Geschlechter heruntergebrochen. Folglich waren zum damaligen Zeitpunkt in Puntland und Süd-/Zentralsomalia 13,8 % der Männer und 9 % der Frauen im Alter von 15-64 Jahren auf der Arbeitssuche, wohingegen 55,8 % der Männer und 32,9 % der Frauen einer Arbeit nachgingen (UNFPA 2016, Sitzung 31):

Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen in Puntland und Süd-/Zentralsomalia arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (65,6 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (13,5 %) (UNFPA 2016, Sitzung 36f):

Frauen: Der vor allem unter Männern vorherrschende Khat-Konsum, der im langjährigen Konflikt geforderte Blutzoll an der männlichen Bevölkerung und die hohe Scheidungsrate haben dazu geführt, dass Frauen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vorstoßen – etwa bei der Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei (ICG 27.6.2019, Sitzung 10f). Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben (DI 6.2019, Sitzung 22). In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43 % der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener (OXFAM 6.2018, Sitzung 10). Frauen spielen - außer bei den großen Betrieben - eine führende Rolle beim Unternehmertum. In Mogadischu und Bossaso sind ca. 45 % der formellen Unternehmen im Besitz von Frauen (WB 22.3.2022).

Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z. B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i. d. R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z. B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80-90 % des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft (FIS 5.10.2018, Sitzung 24f), oder sie verkaufen Kleidung und Essen (RE 19.2.2021). Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin (OXFAM 6.2018, Sitzung 10) oder aber auch auf Baustellen (FIS 5.10.2018, Sitzung 24f; vergleiche OXFAM 6.2018, Sitzung 10). Viele der hunderten Straßenreiniger in Mogadischu sind Witwen und die alleinigen Geldverdiener ihrer Familien. Das höchste hier verfügbare Einkommen beträgt 150 US-Dollar im Monat; manche bekommen Essensrationen. Die Stadtverwaltung versucht auch, männliche Reinigungskräfte anzuwerben, hat aber wenig Erfolg. Viele Männer weigern sich demnach, solche Arbeiten zu verrichten (AJ 21.7.2022). All die zuvor genannten Tätigkeiten führen Frauen jenseits des ihnen traditionell zugeschriebenen Bereichs des eigenen Haushalts aus (OXFAM 6.2018, Sitzung 10). Natürlich gibt es für Frauen auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z. B. können sie nicht Taxifahrerin werden (FIS 5.10.2018, Sitzung 24f). Sie haben hinsichtlich Einkommensmöglichkeiten eine eingeschränkte Auswahl. Von Frauen abgehaltene Workshops (z. B. Schneiderei-, Henna- und Kochkurse) in Mogadischu tragen zur Verbesserung der Situation bei (DW 11.3.2021). Allerdings ist auch bekannt, dass Frauen eine geringere Aussicht auf eine Vollzeitanstellung haben (SLS 6.4.2021).

Lebensunterhalt: Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, kleine Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar (BS 2022, Sitzung 25f). Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig (OXFAM 6.2018, Sitzung 4). Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1 %). 6,9 % arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8 % als Handwerker, 4,7 % als Techniker, 4,1 % als Hilfsarbeiter und 2,3 % als Manager (UNFPA 2016, Sitzung 22).

Die Mehrheit der IDPs verdingt sich als Tagelöhner. Frauen gehen oft von Tür zu Tür und bieten ihre Dienste an, etwa als Wäscherinnen oder in der Hausarbeit. Männer gehen häufig auf Baustellen - die Städte werden ja wieder aufgebaut und daher braucht es auch viele Tagelöhner. Die begehrtesten Jobs sind jene auf Baustellen, wo der Verdienst höher ist als in anderen Bereichen. Es gibt auch viele Kleinstunternehmer beiderlei Geschlechts. Dabei bekommen die Menschen nicht immer einen Job, sie arbeiten z. B. nur 2-3 Tage in der Woche. Daneben gibt es humanitäre Hilfe, aber damit sind die Menschen nicht ausreichend versorgt (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 23). Nach anderen Angaben bieten NGOs und der Privatsektor den Menschen grundlegende Dienste – vor allem in urbanen Zentren (OXFAM 6.2018, Sitzung 4). Zudem haben Menschen in IDP-Lagern - v.a. wenn sie länger dort leben - in der Regel auch eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 23).

In einer Studie von IOM aus dem Jahr 2016 gaben arbeitslose Jugendliche (14-30 Jahre) an, in erster Linie von der Familie in Somalia (60 %) und von Verwandten im Ausland (27 %) versorgt zu werden (IOM 2.2016, Sitzung 42f). Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- (SEM 31.5.2017, Sitzung 5/32f; vergleiche GIGA 3.7.2018) bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z. B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus (GIGA 3.7.2018). Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z. B. Großfamilie) (SEM 31.5.2017, Sitzung 9/32ff). Erweiterte Familie und Clan stellen also das grundlegende soziale Sicherheitsnetz dar (BS 2022, Sitzung 29).

Aufgrund des Fehlens eines formellen Bankensystems ist die Schulden-Kredit-Beziehung (debt-credit relationship) ein wichtiges Merkmal der somalischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei spielen Vertrauen, persönliche und Clanverbindungen eine wichtige Rolle – und natürlich auch der ökonomische Hintergrund. Es ist durchaus üblich, dass Kleinhändler und Greißler anschreiben lassen (RVI 9.2018, Sitzung 4). Zusätzlich ist es 2019 gelungen, die Gargaara Company Ltd. zu etablieren. Über diese Institution werden Kredite an Mikro-, Klein- und mittlere Unternehmen vergeben. Gargaara spielt auch beim Abfedern von Auswirkungen der Covid-19-Pandemie eine Rolle (WB 6.2021, Sitzung 7).

Die Lebenshaltungskosten in Mogadischu liegen bei mindestens 200 US-Dollar im Monat, für mittlere Standards jedenfalls bei 300 US-Dollar (IOM 2.3.2023). Die Inflation zeigt Auswirkungen auf die Bewertung von Einkommen. Ein Universitätslektor in Mogadischu erörtert, dass vorher 130 US-Dollar ausgereicht haben, um für die Kinder Milch und Nahrung zu besorgen. Nun aber reichen nicht einmal 250 US-Dollar. Er verdient 800 US-Dollar und damit konnte er mit seiner Frau und sieben Kindern ein komfortables Leben führen. Jetzt erklärt er, kaum alle lebenswichtigen Kosten abdecken zu können (TG 8.6.2022).

Beispiele für Lebenshaltungskosten:

●             Ein Bauarbeiter in Middle Shabelle gibt an, 9 US-Dollar am Tag verdient zu haben. Dies reicht für den Unterhalt der Familie und das Schulgeld für zwei Kinder aus. Zudem konnte eine Tochter auf eine Krankenschwesternschule in Mogadischu geschickt werden, und für die Familie wurde ein dreiräumiges Haus gekauft (RE 6.12.2022).

●             Ein anderer Bauarbeiter in Jowhar erklärt, dass er 4,5 US-Dollar am Tag verdient hat und damit seiner Familie zwei tägliche Mahlzeiten garantieren konnte. Zudem wurde damit die Miete für ein zweiräumiges Haus (40 US-Dollar) bezahlt (RE 6.12.2022).

●             Ein Lehrer an einer Privatschule in Mogadischu berichtet, dass er dort 120 US-Dollar im Monat verdient. Die Hälfte davon gibt er für die Miete eines kleinen Hauses aus, den Rest für die Erhaltung seiner Familie. Pro Tag geht sich demnach nur eine Mahlzeit aus (RE 29.11.2022).

●             Ein Lehrer für Arabisch und Islam an einer Volksschule im Bezirk Hodan, Mogadischu, erklärt, dass er 100 US-Dollar im Monat verdient. Damit fällt es ihm schwer, seine vier Kinder ernähren zu können (RE 29.11.2022).

●             Ein Bauarbeiter in Cadaado berichtet, dass er 12-14 US-Dollar pro Tag und rund 350 US-Dollar im Monat verdient. Die Preise sind derart gestiegen, dass er damit seine Familie nicht mehr erhalten kann. Zuvor reichten dafür 250 US-Dollar im Monat (RE 3.8.2022).

●             Ein 36-jähriger Bauarbeiter aus Bakool berichtet, dass sein Einkommen ca. 7,5 US-Dollar pro Tag betragen hat. Damit konnten er und seine Familie leben und drei Mahlzeit am Tag konsumieren. Mit den Preisanstiegen von teils 70 % ist dies nicht mehr möglich (RE 16.8.2022).

●             An Privatschulen in Mogadischu zahlen Schüler 10-15 US-Dollar im Monat (RE 29.11.2022), die Schulgebühren in Kismayo betragen 10-18 US-Dollar (RE 24.8.2022). Ein Vater von vier Kindern in Galkacyo berichtet, dass er für vier Kinder insgesamt 30 US-Dollar Schulgeld bezahlt (RE 18.12.2022).

●             Eine Viehmaklerin an einem Markt in Luuq, Gedo, gibt an, 4-5 US-Dollar pro Tag zu verdienen. Damit kann sie vier ihrer acht Kinder in die Schule schicken – Kostenpunkt 51 US-Dollar – und ihrer Familie zwei Mahlzeiten pro Tag garantieren. Zudem konnte sie 3.000 US-Dollar ansparen und mit weiteren 1.800 geborgten US-Dollar ein Stück Land erwerben und darauf ein Haus bauen (RE 30.11.2022).

●             Eine andere Viehmaklerin aus Luuq – ebenfalls IDP – berichtet, dass sie pro verkaufter Ziege 30-70 US-Cent erhält. Sie Verkauft am Tag 5-10 Ziegen. Die Frau gibt an, ihrer Familie zwei Mahlzeiten am Tag garantieren zu können. Zuvor hat sie bei Lebensmittelhändlern Schulden gemacht (RE 30.11.2022).

●             Ein IDP aus Bay, der in Luuq Bauarbeiter ist, kann mit seinem Einkommen sich und seinen neun Geschwistern zwei Mahlzeiten am Tag gewähren. Anfangs wohnten sie im IDP-Lager bei Verwandten, mit verdientem Geld konnte der Mann sich und seinen Geschwistern eine eigene Hütte bauen. Sich selbst hat er in einer Abendschule eingeschrieben und zahlt dort 10 US-Dollar Schulgeld (RE 26.10.2022).

●             Ein 29-jähriger Mann aus Bakool, der nach Luuq in Gedo geflüchtet ist, erklärt, dass er als Bauarbeiter 6-8 US-Dollar am Tag verdient. Jede Woche schickt er 24 US-Dollar an seine in Bakool verbliebene Familie. Damit kann sich diese zwei Mahlzeiten pro Tag leisten (RE 26.10.2022).

●             Eine Teeverkäuferin in Cadaado berichtet, dass die Miete für ein Haus dort bei rund 25 US-Dollar / Monat liegt (RE 3.8.2022). Eine IDP-Frau in Galkacyo gibt an, für eine kleine Hütte im Lager in Buulo Jawan 10 US-Dollar Miete pro Monat bezahlt zu haben (RE 1.12.2022).

●             Ein Taxifahrer in Cadaado berichtet, dass er und seine fünfköpfige Familie zuvor von 4 US-Dollar am Tag gelebt haben, die Lebenshaltungskosten aber nun auf 7 US-Dollar gestiegen sind (RE 3.8.2022).

●             Eine Schneiderin in Galkacyo berichtet, dass sie 2-3 US-Dollar am Tag verdient. Sie bezahlt 15 US-Dollar Miete für ein Haus und insgesamt 35 US-Dollar Schulgeld pro Monat für ihre vier Kinder (RE 18.12.2022).

Remissen: Im Jahr 2020 wurden insgesamt 2,8 Milliarden US-Dollar (2019: 2,3 Milliarden) nach Somalia zurück überwiesen. Davon flossen 1,6 Milliarden an Privathaushalte (2019: 1,3 Milliarden) (WB 6.2021, Sitzung 11f). Wie erwähnt, sind für viele Haushalte Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle (FIS 7.8.2020, Sitzung 34) bzw. ermöglichen sie es vielen somalischen Staatsbürgern, den Lebensunterhalt zu bestreiten (BS 2022, Sitzung 26). Diese Remissen, die bis zu 40 % eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen also wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei (BS 2022, Sitzung 29) und fördern die Resilienz der Haushalte (DI 6.2019, Sitzung 5). Städtische Haushalte erhalten viel eher regelmäßige monatliche Remissen, dort sind es 72 %. Die durchschnittliche Höhe der monatlichen Überweisungen beträgt 229 US-Dollar (RVI 9.2018, Sitzung 1f). IDPs bekommen verhältnismäßig weniger oft Remissen (DI 6.2019, Sitzung 28). Auch die Bevölkerung in Südsomalia – und hier v. a. im ländlichen Raum – empfängt verhältnismäßig weniger Geld als jene in Somaliland oder Puntland. Ein Grund dafür ist, dass dort ein höherer Anteil marginalisierter Gruppen und ethnischer Minderheiten beheimatet ist (RVI 9.2018, Sitzung 2).

Mindestens 65 % der Haushalte, welche Remissen beziehen, erhalten diese regelmäßig (monatlich), der Rest erhält sie anlassbezogen oder im Krisenfall. Remissen können folglich Fluktuationen im Einkommen bzw. gestiegene Ausgaben ausgleichen. Dies ist gerade in Zeiten einer humanitären Krise - etwa jener von 2017 - wichtig. Durch Remissen können Haushalte Quantität und Qualität der für den Haushalt besorgten Lebensmittel verbessern, und ein sehr großer Teil der Überweisungen wird auch für Lebensmittel aufgewendet. Zusätzlich wird in Somalia in Zeiten der Krise auch geteilt. Menschen bitten z. B. andere Personen, von welchen sie wissen, dass diese Remissen erhalten, um Hilfe (RVI 9.2018, Sitzung 2f).

Grundversorgung und humanitäre Lage

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. Die Ausmaße der historische Dürre sowie der anhaltende Konflikt mit al Shabaab verschärfen dieses Problem (AA 15.5.2023). Öffentliche Dienste gibt es kaum, meist finden sich Angebote wie Wasser- und Stromversorgung sowie Bildung und Gesundheitsdienste bei privaten Dienstleistern. Für viele Menschen sind derartige Dienste nur schwer oder gar nicht zugänglich (BS 2022a). Der Gouverneur der somalischen Zentralbank erklärt, dass es für die Zurverfügungstellung eines finanziellen Sicherheitsnetzes für Bedürftige seitens der Regierung keinerlei budgetären Spielraum gibt (BN 29.6.2022).

Armut: Weite Teile der Bevölkerung in Somalia leiden unter Armut und Ernährungsunsicherheit. Die Weltbank schätzt, dass 71 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag sowie 10 % knapp darüber leben. Besonders stark und weit verbreitet ist Armut in ländlichen Gebieten und in den Siedlungen von Binnenvertriebenen (ÖBN 11.2022). Es gibt viele IDPs und Kinder, die auf der Straße leben und arbeiten (USDOS 20.3.2023). Generell sind somalische Haushalte aufgrund von Naturkatastrophen, Epidemien, Verletzung oder Tod für Notsituationen anfällig. Mangelnde Bildung, übermäßige Abhängigkeit von landwirtschaftlichem Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit, geringer Wohlstand und große Haushaltsgrößen tragen weiter dazu bei (ÖBN 11.2022). Zwei Drittel der Bevölkerung leben im ländlichen Raum. Sie sind absolut vom Regen abhängig. In den vergangenen Jahren haben Frequenz und Dauer von Dürren zugenommen. Deswegen wurde auch die Kapazität der Menschen, derartigen Katastrophen zu begegnen, reduziert. Mit jeder Dürre wurden ihre Vermögenswerte reduziert: Tiere starben oder wurden zu niedrigen Preisen verkauft, Ernten blieben aus; es fehlte das Geld, um neues Saatgut anzuschaffen (Guardian 8.7.2019). Die Zahl der Menschen, die in Somalia humanitäre Hilfe benötigen, ist im Laufe der Jahre stetig gestiegen, von 5,2 Millionen im Jahr 2020 auf 5,9 Millionen im Jahr 2021; von 7,7 Millionen im Jahr 2022 auf derzeit 8,25 Millionen Menschen im Jahr 2023 (SOYDA 4.9.2023).

Dürre, Regenfälle, Überschwemmungen: Die Gu-Regenzeit (April-Juni) 2023 brachte unterschiedliche Erträge. In Nordsomalia sowie im südlichen Gedo und in Lower Juba gab es durchschnittliche bis überdurchschnittliche Niederschläge, in den zentralen Regionen nahezu durchschnittliche bis durchschnittliche Niederschläge. Damit wurde das Ende der Dürrebedingungen in den meisten Teilen Somalias signalisiert (FSNAU 18.9.2023a). Die Dürre hatte mit fünf ausgefallene Regenzeiten zu einer Dezimierung von Viehbeständen und Ernten geführt, das Land stand am Rand einer Hungersnot (STC 16.11.2023; vergleiche IPC 28.2.2023). Die Dürre hat zum Verlust von Menschenleben und von wichtigen Nahrungs- und Einkommensquellen und damit zu schweren Schäden an der Lebensgrundlage geführt. Viele ländliche Haushalte haben eine Erosion ihrer Lebensgrundlagen und ihrer Bewältigungskapazitäten erlebt und sahen sich mit wachsenden Lücken in der Nahrungsmittelversorgung konfrontiert. Diese Faktoren haben zum Anstieg der Zahl an Menschen geführt, die aus ländlichen Gebieten in IDP-Lager geflüchtet sind (IPC 28.2.2023). Von der Dürre waren fast 50 % der Bevölkerung betroffen (UNSC 1.9.2022a).

Schon im Rahmen der Gu-Regenzeit kam es zu Überschwemmungen in Hiiraan, Middle Shabelle und Lower Shabelle. Schwere Sturzfluten verursachten in Teilen von Gedo, Bay und Bakool sowie in Teilen der nordwestlichen Regionen schwere Schäden. Menschen mussten flüchten, es kam zu erheblichen Ernteverlusten sowie Einkommensverlusten aus der landwirtschaftlichen Beschäftigung (FSNAU 18.9.2023b; vergleiche SOYDA 4.9.2023). In Belet Weyne wurden 97 % der Wasserquellen zerstört oder verseucht (WHO 10.9.2023). Bereits im November 2022 wurde festgehalten, dass es Jahre dauern wird, bevor sich Somalia von der Dürre erholt haben wird (REU 21.11.2022). So werden etwa pastoralistische Haushalte in Nord- und Zentralsomalia werden mehrere Saisonen brauchen, bis sie sich von den Verlusten der jüngeren Vergangenheit erholt haben (IPC 28.2.2023).

Doch nun folgt auf die o.g. schlimmste Dürre seit 40 Jahren das Wetterphänomen El Niño, das ungewöhnlich starke Regenfälle, Gewitter und extreme Überschwemmungen mit sich bringt (STC 16.11.2023; vergleiche UN OCHA 23.11.2023). El Niño wird von einem positiven Dipol im Indischen Ozean begleitet (UN OCHA 23.11.2023). Somalia wird von einer Flutkatastrophe heimgesucht (UNICEF 31.10.2023). Schon ein Monat nach Beginn der Deyr-Regenzeit (Oktober bis Dezember) ist Somalia 2023 mit einer Überschwemmungskatastrophe konfrontiert (UN OCHA 23.11.2023; vergleiche IRC 20.11.2023). Laut FAO/SWALIM war die Regenmenge und -intensität in den Regionen Hiiraan, Bakool, Bay und Gedo sowie im Bezirk Saakow (Middle Juba) schon im Oktober 2023 außergewöhnlich hoch. In mehreren Gebieten fielen innerhalb von sieben Tagen bis zu 300 mm Niederschlag – weit mehr, als üblicherweise in der gesamten Regenzeit. Sowohl der Juba als auch der Shabelle führen Hochwasser (UN OCHA 14.11.2023). Stand 20.11.2023 waren von den Überschwemmungen 1,69 Millionen Menschen betroffen, 654.000 mussten fliehen, 40 Menschen kamen zu Tode und knapp 6.000 Häuser waren beschädigt oder zerstört (UN OCHA 20.11.2023). In Belet Weyne waren 90 % der Stadt überschwemmt (UN OCHA 17.11.2023). Ackerland, Vieh und Infrastruktur (etwa die Juba-Brücke von Buurdhuubo und eine Brücke bei Baardheere) wurden vernichtet. Gleichzeitig wird erwartet, dass die Regenfälle bis zum Ende des Jahres 2023 anhalten. Dies wird die humanitäre Lage verschärfen. Schätzungen zufolge könnten schlussendlich 4,3 Millionen Menschen Hunger leiden, nicht zuletzt, weil 1,5 Millionen Hektar Ackerland und damit auch die landwirtschaftliche Produktion betroffen sein werden (IRC 20.11.2023; vergleiche UN OCHA 17.11.2023), nicht zuletzt auch aufgrund der Zerstörung von Pumpen, Kanälen und Bewässerungsrohren (UN OCHA 17.11.2023). Die folgenden Bezirke waren von den Überschwemmungen im Herbst 2023 maßgeblich betroffen:

Humanitäre Organisationen, Behörden und lokale Gemeinschaften haben die Hilfe für die betroffenen Menschen verstärkt (UN OCHA 17.11.2023). Bis Ende November 2023 konnten bereits 820.000 Betroffene erreicht werden (UN News 30.11.2023). Auch z.B. CARE hat auf die Katastrophe reagiert und ein Programm zur finanziellen Unterstützung von 198.000 Personen ausgerollt (CARE 29.11.2023).

Überschwemmungen und Dürre stellen für Somalia kein neues Phänomen dar. Immer spielt Wasser eine Rolle: Entweder gibt es zu viel davon, oder zu wenig. Derartige Katastrophen ereignen sich seit Jahrzehnten. Im Zuge der Dürre im Jahr 1973 in Nordsomalia wurden mehr als 100.000 Familien nach Lower Shabelle und in die Juba-Regionen übersiedelt. Bei der Hungersnot in den Jahren 1991-1992 starben 300.000 Menschen, im Jahr 2011 mehr als 260.000 - die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren (Ali/TEL 28.1.2022). Somalia ist hinsichtlich des Klimawandels das am zweitstärksten vulnerable Land der Welt (TRT 10.8.2023) und ist dementsprechend als Frontstaat zu bezeichnen. Das Land hat in Ostafrika bislang den größten Temperaturanstieg zu verzeichnen (HIPS 8.2.2022; vergleiche DW 17.6.2022). Seit 1990 war das Land mehr als 30 klimabedingten Gefahren ausgesetzt, darunter Dürren und Überschwemmungen. Das ist eine Verdreifachung gegenüber dem Zeitraum zwischen 1970 und 1990 (UN OCHA 23.11.2023).

Landwirtschaft, Nahrungsmittel, Preise: Die Getreideproduktion der Gu-Saison 2023 lag in Südsomalia um 34 % unter dem langjährigen Durchschnitt, im Nordwesten sogar um 60 %. Das niedrige Produktionsniveau ist das Ergebnis einer Kombination von Faktoren, darunter unterdurchschnittliche Niederschläge, Unsicherheit, Überschwemmungen, Schädlinge und ein Mangel an landwirtschaftlichen Betriebsmitteln (FSNAU 18.9.2023b).

Der Somalische Shilling ist im Allgemeinen stabil. Die Inflation liegt im Jahr 2023 bei 4,2 %, 2024 bei 4,0 % (FSNAU 18.9.2023a). Seit Juli 2023 sind die Preise für Mais und Sorghum aufgrund des gestiegenen Angebots aus der Gu-Ernte 2023 auf ein Niveau unter dem Vorjahresniveau gesunken und liegen derzeit nahezu im Durchschnitt. Die Preise für importierte Lebensmittel haben sich im vergangenen Jahr auf den meisten Märkten aufgrund des ausreichenden Angebots stabilisiert oder sind gesunken, sie bleiben über dem Fünfjahresdurchschnitt (FSNAU 18.9.2023b).

Somalia gehört weltweit zu den Ländern mit der größten Rate an Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Laut UNICEF benötigen acht Millionen Menschen, darunter fast fünf Millionen Kinder, Unterstützung im Hygienebereich und bei der Wasserversorgung (UNICEF 31.10.2023; vergleiche SOYDA 4.9.2023). Laut anderen Angaben sind 3,9 Millionen Menschen von Wasserunsicherheit betroffen (ÖBN 11.2022). Die mäßigen bis starken Gu-Regenfälle (April–Juni) 2023 haben auch den Zugang zu Wasser und Weideland verbessert und den Menschen eine gewisse Erleichterung gebracht. Die Wasserpreise sind teils um etwa 40 % gesunken (UNSC 15.6.2023).

Bereits mit Stand Feber 2023 hatten die Pegelstände in den Flüssen Juba und Shabelle wieder annähernd Normalniveau erreicht (IPC 28.2.2023). Mit der Gu-Regenzeit 2023 hat sich der Zustand des Weidelandes deutlich verbessert. Spätestens für Ende 2023 wird sich das Weideland in ganz Somalia erholt haben (FSNAU 18.9.2023a). Die Dürre hat mindestens ein Drittel des Viehbestands in Somalia vernichtet (UN OCHA 1.3.2023). Seit Mitte 2021 sind rund 3,8 Millionen Stück Vieh umgekommen (UNSC 15.6.2023). Die Viehwirtschaft hat bis dahin maßgeblich zur Versorgung der Familien – mit Milch und Fleisch – beigetragen (AP 8.6.2022). Zudem finden sich in der Viehwirtschaft 90 % der informellen Beschäftigten und Vieh bildet 90 % der Exporte des Landes (UN OCHA 1.3.2023). Die Dürre hatte also akute Auswirkungen auf die Lebensgrundlage von Haushalten. In den meisten Fällen kam es zu einem vollständigen oder nahezu vollständigen Verlust der Viehbestände und zu erheblichen Unterbrechungen landwirtschaftlicher Aktivitäten. 40 % der im Rahmen einer Studie befragten Haushalte verfügten vor der Dürre über ein landwirtschaftliches Einkommen. Danach waren es 12 %. Auch der Verkauf von Produktionsgütern wie Vieh ist überall deutlich zurückgegangen, von 16 % auf 3 % (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023).

Fluchtbewegungen aufgrund von Dürre (Überschwemmungen siehe weiter oben): Im Jahr 2022 sind in Süd-/Zentralsomalia 1,179.000 Menschen aufgrund der Dürre vertrieben worden (UNHCR 31.12.2022). 2023 waren es Stand November 528.000; die meisten diesbezüglich Vertriebenen stammen aus den Regionen Bay (152.000), Lower Shabelle (109.000), Gedo (90.000), Bakool (62.000), Middle Juba (29.000), Bari (24.000) und Lower Juba (19.000). Die wenigsten Menschen flohen aus Woqooyi Galbeed (Somaliland; 0), Benadir (900), Nugaal (1.000), Galgaduud (2.000) und Sanaag, Sool und Togdheer (Somaliland, je 4.000) sowie Awdal (Somaliland; 6.000) (UNHCR 2023).

Hunger, Versorgungslage / IPC: [IPC = Integrated Phase Classification for Food Security; 1-moderat bis 5-Hungersnot]. Mit Stand September 2023 befanden sich ca. 2,8 Millionen Menschen in IPC-Stufe 3 (17 % der Bevölkerung); ca. 920.000 in Stufe 4 (5 %) und keine in Stufe 5 (Hungersnot). Zusammen mit den rund 5,6 Millionen in IPC 2 ist (FSNAU 9.2023) die Hälfte der Gesamtbevölkerung von 17 Millionen Menschen Ernährungsunsicherheit ausgesetzt. Knapp 1,8 Millionen Kinder leiden an Unterernährung (IR 30.8.2023). Humanitäre Hilfe verhindert in vielen Bereichen eine Verschlechterung der Ernährungssicherheit und der Ernährungslage. Im Zeitraum August-September 2023 besonders betroffen war das Küstengebiet von Zentralsomalia sowie Laascaanood (IPC 4). Die meisten pastoralen und agropastoralen Lebensräume [livelihoods] in den nördlichen und zentralen Regionen; die agro-pastoralen in ganz Somalia; sowie die Flusslebensräume in Hiiraan, Middle Shabelle, Lower Shabelle und Gedo werden auf Krisenniveau eingestuft (IPC 3); dies gilt auch für die meisten der wichtigsten IDP-Lager im Land. Die meisten städtischen Bevölkerungsgruppen stehen demnach unter Stress (IPC 2) (FSNAU 18.9.2023b).

Die folgenden IPC-Food-Insecurity-Lagekarten zeigen die Situation im Zeitraum Juli 2022 bis September 2023 sowie eine Prognose bis Dezember 2023. Angesichts der IPC-Karten ist die Stadtbevölkerung oft von IPC 3 oder IPC 4 anteilig weniger betroffen als Menschen in ländlichen Gebieten:

Generell finden sich unter IDPs mehr Personen, die unter Ernährungsunsicherheit sowie an Mangel- oder Unterernährung leiden (USDOS 20.3.2023).

IPC-Verteilung nach Gebieten in Prozent der Bevölkerung für Mai und Dezember 2022 sowie September 2023:

Eine weitere Kartensammlung, in welcher ausschließlich mehrere, für die Nahrungsmittelversorgung alarmierende Werte zusammengefasst dargestellt werden, zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre (je dunkler das Rot, desto mehr Alarmwerte wurden überschritten):

Eine Quelle gibt die Zahl der Hungertoten alleine für das Jahr 2022 mit ca. 43.000 an - die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren. Am stärksten betroffen waren die Regionen Bay, Bakool und Benadir (UNSC 15.6.2023; vergleiche XIN 20.3.2023, IR 30.8.2023). römisch fünf.a. Bay und die dortige Hauptstadt Baidoa waren massiv betroffen. Zu den 500.000 Einwohnern der Stadt kamen 600.000 Menschen aus dem Umland (AQ21 11.2023). Für das Jahr 2023 wurde bereits im März eine Übersterblichkeit von 18.000-34.000 prognostiziert (UNSC 15.6.2023; vergleiche XIN 20.3.2023), eine andere Quelle schätzt die Zahl an Menschen, die im ersten Halbjahr 2023 aufgrund der Dürre gestorben sind, auf 135 pro Tag (UNiSOM 20.3.2023).

Die Situation hinsichtlich akuter Unterernährung hat sich im Vergleich zu 2022 im Allgemeinen verbessert. Für den Zeitraum August 2023 bis Juli 2024 wird die Zahl an Kindern unter 5 Jahren, die an akuter Unterernährung leiden, auf ca. 1,5 Millionen geschätzt; davon 330.630 mit schwerer Unterernährung. Auch bei IDPs ist die Quote an Unterernährten zurückgegangen - namentlich in Mogadischu, Baidoa und in Hiiraan. Von Gu 2022 bis Gu 2023 konnten die Zahl von an akuter Unterernährung betroffenen Kindern unter fünf Jahren um 19 % gesenkt werden, jene der Kinder mit schwerer Unterernährung um 36 % (FSNAU 18.9.2023b). Im Zeitraum Feber 2021 bis September 2023 zeigte sich die Situation hinsichtlich Unterernährung bei unter Fünfjährigen wie folgt [GAM = akute Unterernährung; SAM = schwere akute Unterernährung]:

Die IPC-Stufen zur Unter- und Mangelernährung haben sich seit Herbst 2022 wie folgt entwickelt (inkl. Prognose bis Dezember 2023):

Humanitäre Hilfe: In Somalia ist die längstdienende humanitäre Mission tätig, jährlich werden Milliarden US-Dollar ausgegeben (Ali/TEL 28.1.2022). Somalia ist auch der am besten finanzierte sog. Humanitarian Plan weltweit; um eine Hungersnot zu vermeiden, umfasste das Engagement im Jahr 2022 2,27 Milliarden US-Dollar, für das Jahr 2023 sind 2,6 Milliarden vorgesehen (AQ21 11.2023). Davon waren aber laut Angaben der UN bis November 2023 erst 42 % finanziert (UN News 30.11.2023). Mit Stand Oktober 2023 waren in Somalia in 71 von 74 Bezirken 248 humanitäre Organisationen aktiv, 115 davon befassten sich in 69 Bezirken mit Ernährungssicherheit (UN OCHA 16.11.2023). In Zusammenarbeit mit Partnern konnte UNICEF in den ersten zehn Monaten des Jahres 2023 in 70 von 74 Bezirken 517.090 Kinder mit schwerer akuter Unterernährung mit lebensrettender Behandlung versorgen (UNICEF 31.10.2023). Humanitäre Hilfe spielt weiterhin eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Lage hinsichtlich Ernährungsunsicherheit und in vielen anderen Bereichen. Nahrungsmittel- und Bargeldhilfe erreichten im Zeitraum Jänner-März 2023 durchschnittlich 4,4 Millionen Menschen pro Monat. Diese Zahl ging im Zeitraum April-Juni 2023 auf 3,6 Millionen Menschen pro Monat zurück. Aufgrund von Finanzierungsengpässen musste die humanitäre Hilfe eingeschränkt werden (FSNAU 18.9.2023b).

Bis zum Geldtransferprogramm Baxnaano gab es kein Programm für ein soziales Sicherheitsnetz. Baxnaano ist das erste von der Bundesregierung geleitete Geldtransferprogramm, es wird vom WFP unterstützt und von der Weltbank finanziert. Stand Juni 2023 wurden über dieses Programm monatlich bedingungslose Geldtransfers an 200.000 arme und gefährdete Haushalte mit Kindern bereitgestellt und damit ca. 1,2 Millionen Menschen erreicht (IMF 31.7.2023). Humanitäre Hilfe erfolgt z.B. durch den Danish Refugee Council (DRC). Dieser stellte etwa in Dayniile (Mogadischu) hunderten bedürftigen Haushalten von der EU finanziertes Geld über mobile Lösungen zu. In Galkacyo hat der DRC mit EU-Geldern Brunnen, Tanks und Wasserleitungen für 800 Haushalte gebaut (DRC 15.11.2022). Ein anderes Beispiel ist jenes Projekt von der FAO und von USAID, mit welchem von der Dürre betroffene Menschen mit Bargeld und Beiträgen zum Lebensunterhalt unterstützt werden, um einen besseren Zugang zu Nahrung und anderen Grundbedürfnissen gewährleisten zu können. In Bossaso stellte die FAO z.B. 400 gefährdeten Fischerfamilien sechs Monate lang Bargeld und Fischverarbeitungsausrüstung zur Verfügung, damit sie ihre dringendsten Bedürfnisse erfüllen und sich besser im Fischereisektor engagieren können. Diese Art der Unterstützung geht mit Schulungen zum effizienten Umgang mit begrenzten Ressourcen einher. Zusätzlich zu den Ausrüstungen erhielten die Teilnehmer sechs Monate lang Geldtransfers in Höhe von 75 US-Dollar pro Monat (FAO 1.8.2023). Andere Hilfe leistete wiederum UNHCR in Galkacyo, wo 40 Betreiber kleiner Geschäfte, die einem Straßenbau weichen mussten, von UNHCR mit je 1.000 US-Dollar kompensiert worden sind. So konnten sie sich an einem neuen Ort ihr Geschäft wieder aufbauen (RE 18.12.2022).

Die Sicherheitslage beeinträchtigt die Arbeit humanitärer Kräfte. Ca. 740.000 Menschen in von nicht-staatlichen Gruppen kontrollierten Gebieten können nur schwerlich an humanitäre Hilfe gelangen (UNSC 1.9.2022b).

Ohne humanitäre Hilfe würden mehr Menschen an Hunger sterben (IR 30.8.2023). Aber auch die humanitären Organisationen stoßen auf Grenzen und haben nicht genügend Ressourcen, um allen zu helfen (IR 30.8.2023; vergleiche AA 15.5.2023). Selbst in Mogadischu haben - anekdotischen Berichten zufolge - nicht alle IDPs Zugang zu Nahrungsmittelhilfe (RE 11.11.2022; vergleiche NPR 23.12.20222). Anfang 2023 konnten fast 90 % der IDPs in Mogadischu, Garoowe, Hargeysa und Burco können ihre Grundbedürfnisse nicht abdecken (UN OCHA 1.3.2023). Menschen werden mitunter aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit von Hilfe ausgeschlossen. Zudem ist in kurzer Zeit sehr viel Geld mit wenig Kontrolle nach Somalia geflossen, einiges davon kommt nicht bei den Bedürftigen an. Es kommt zu Diebstahl und Fehlleitung humanitärer Güter sowie zur Besteuerung humanitärer Hilfe (AQ21 11.2023). In Somalia sind es die mächtigen Gruppen, die den Löwenanteil erhalten: an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird. Weitere Gründe sind, dass diese Gruppen traditionell über weniger Ressourcen verfügen, weniger Remissen erhalten und Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen nicht so gut ausgebaut sind. Al Shabaab hat sich diese Benachteiligung zunutze gemacht (Sahan 24.10.2022).

Gesellschaftliche Unterstützung: [Bis auf das o.g. Programm Baxnaano] gibt es kein öffentliches Wohlfahrtssystem (BS 2022a), keinen sozialen Wohnraum und keine Sozialhilfe (AA 15.5.2023). Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie Armutsminderung liegen im privaten Sektor (BS 2022a). Das eigentliche soziale Sicherungsnetz ist die erweiterte Familie, der Subclan oder der Clan. Sie bieten oftmals zumindest einen rudimentären Schutz (AA 15.5.2023). Ein Vorteil der somalischen Sozialstruktur ist die Verpflichtung zur Hilfe. Wenn eine Person des eigenen Clans Unterstützung braucht, dann ist die Gewährung derselben nicht verhandelbar (Sahan 24.10.2022). Vorrangig stellt die patrilineare (väterliche) Abstammungsgemeinschaft die Solidaritäts- und Schutzgruppe. Aber daneben gibt es auch die Patri-(Vater)-Linie der Mutter und zusätzlich möglicherweise noch angeheiratete Verwandtschaft. Alle drei Linien bilden i.d.R. - wie es ein Experte formuliert - "einen ganz beachtlichen Verwandtschaftskosmos". Und in diesem Netzwerk kann Hilfe und Solidarität gesucht werden, es besteht diesbezüglich eine moralische Pflicht. Allerdings müssen verwandtschaftliche Beziehungen auch gepflegt werden. Entscheidend ist also nicht unbedingt die Quantität an Verwandten, sondern die Qualität der Beziehungen. Wer als schwacher Akteur in diesem Netzwerk positioniert ist, der wird schlechter behandelt als die stark Positionierten (ACCORD 31.5.2021). Eine Frau in Baidoa berichtet etwa, dass, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, sie und ihre Kinder von ihrem Bruder erhalten werden, der als Tagelöhner arbeitet (NPR 23.12.2022). In einer Dokumentation der Deutschen Welle wird ein junger Mann gezeigt, der im Sudan medizinisch versorgt und von dort zurückgeholt werden musste. Die Ältesten bzw. Sultans sammeln Geld im ganzen Clan, und dieser gab dafür schließlich 7.000 US-Dollar aus. Danach hat der Clan dem Mann um 3.000 US-Dollar ein Tuk-Tuk finanziert, damit er den gefährlichen Weg der Migration nicht noch einmal antritt (DW 3.2021). Diese Art des "Fundraising" (Qaraan) erfolgt in Somalia und in der Diaspora als nicht nur, um sogenanntes Blutgeld im Fall eines Mordes zu sammeln, sondern auch, um andere Bedürfnisse eines Clanmitglieds abzudecken. Darunter fallen auch Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung (Majid/Abdirahman/Hassan 2017).

In Somalia sind soziale Kontakte im Fall von Dürren und anderen Krisen seit Langem eine Quelle der Widerstandsfähigkeit, ein effizienter Teil der Bewältigungsstrategie (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023; vergleiche DI 1.6.2019), die zum Überleben von Haushalten beigetragen hat. Die bei einer Studie am häufigsten angegebenen Unterstützungsquellen sind Familie, Freunde und Nachbarn (24 %), gefolgt von internationalen (15 %) und lokalen NGOs (8 %). Soziale Kontakte haben auch während der aktuellen Dürre eine entscheidende Rolle gespielt (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023). Ohne die gegenseitige Unterstützung - ohne Teilen - wäre die Katastrophe noch viel größer geworden (Spiegel/Hoffmann 24.9.2022). Die Haushalte haben sich gegenseitig auf vielfältige Weise unterstützt, auf materielle und immaterielle Art, darunter mit Bargeld, Lebensmitteln, Informationen und emotionaler Unterstützung. Oft teilen diejenigen mit mehr sozialen Verbindungen und besserem Zugang zu Ressourcen mit weniger gut vernetzten Haushalten. Der Zusammenhalt erstreckte sich mitunter auch auf externe Hilfe - etwa Bargeldhilfen durch humanitäre Organisationen. Lokale Führer haben Gemeinschaftstöpfe eingerichtet, in welche die Haushalte Teile der erhaltenen Hilfe einzahlen. So wurde einerseits sichergestellt, dass vulnerable Haushalte nicht leer ausgehen, und andererseits wurden derart Spannungen zwischen Haushalten, die Hilfe erhalten, und solchen, die keine Hilfe erhalten, abgemildert. Zu den gefährdeten Gemeindemitgliedern gehören in diesem Zusammenhang z.B. ältere und/oder behinderte Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, Waisen und Witwen (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023). NRC berichtet beispielsweise von einer IDP-Familie, die nach Baidoa geflüchtet ist. Dort siedelte sie sich gezielt in einem Lager an, wohin schon vorher Menschen aus der eigenen Community geflüchtet waren. Ein Nachbar ist in diesem Kontext manchmal ein Dorfbewohner von zu Hause, ein entfernter Verwandter. So entsteht ein Unterstützungssystem (NRC 16.11.2023). Bei einem anderen Beispiel wird hinsichtlich der Überschwemmungen im Rahmen der Deyr-Regenzeit 2023 berichtet, dass die meisten Familien aus dem überfluteten Horseed-1-IDP-Lager in Baidoa bei Verwandten untergekommen sind (UN OCHA 23.11.2023).

Neben Familie und Clan helfen hierbei auch andere soziale Verbindungen – seien es Freunde, geschlechtsspezifische oder Jugendgruppen, Bekannte, Berufsgruppen oder religiöse Bünde. Meist ist die Unterstützung wechselseitig. Über diese sozialen Netzwerke können auch Verbindungen zwischen Gemeinschaften und Instanzen aufgebaut werden, welche Nahrungsmittel, medizinische Versorgung oder andere Formen von Unterstützung bieten. Auch für IDPs stellen solche Netzwerke die Hauptinformationsquelle dar, wo sie z.B. Unterkunft und Nahrung finden können (DI 1.6.2019). Soziale Unterstützung erfolgt auch über islamische Wohltätigkeitsorganisationen und NGOs (BS 2022a). Generell ist es auch üblich, Kinder bei engen oder fernen Verwandten unterzubringen, wenn eine Familie diese selbst nicht erhalten kann (SIDRA 6.2019). 22 % der bei einer Studie befragten IDP-Familien haben Kinder bei Verwandten, 28 % bei institutionellen Pflegeeinrichtungen (7 %) untergebracht. Weitere 28 % schicken Kinder zum Essen zu Nachbarn (OXFAM/Fanning 6.2018).

In der somalischen Gesellschaft - auch bei den Bantu - ist die Tradition des Austauschs von Geschenken tief verwurzelt (DI 1.6.2019). Menschen, die selbst wenig haben, teilen ihre wenigen Habseligkeiten und helfen anderen beim Überleben. Es herrscht eine starke Solidarität (ACCORD 31.5.2021). Eine Gemeindeführer eines Dorfes bei Garoowe erklärt beispielsweise, dass Menschen ihre Verwandten nicht zurücklassen würden. Es wird demnach geteilt, so lange es etwas zu teilen gibt (UN OCHA 23.11.2023). Auch Remissen werden mitunter mit Nachbarn, Verwandten und Freunden geteilt (DI 1.6.2019). Oft borgen Haushalte also Geld oder Waren von lokalen Betrieben (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023). Selbst Kleinhändlerinnen in IDP-Lagern, die ihre Ware selbst nur auf Kredit bei einem größeren Geschäft angeschafft haben, lassen anschreiben und streichen manchmal die Schulden von noch ärmeren Menschen (RE 19.2.2021).

Eine Hilfestellung bieten Remissen aus dem Ausland (BS 2022a). Nach Somalia fließen jährlich mehr als 1,7 Milliarden US-Dollar (KNOMAD 2023; vergleiche UNCDF 4.2023, ÖBN 11.2022). Remissen spielen damit eine entscheidende Rolle bei der Verringerung der Armut (ÖBN 11.2022). Sie steuerten in den Jahren 2021 und 2022 jeweils 27,3 % zum BIP bei (AFDB 23.6.2023). So kommt weit mehr Geld ins Land als durch Entwicklungshilfe (SRF 27.12.2021). Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen (IPC 1.3.2021). Diese stellen einen bedeutenden Anteil des Budgets von Privathaushalten dar, v.a. für die unteren 40 %, wo Remissen 54 % aller Haushaltsausgaben decken (WB 1.6.2021). Laut einer Studie von IOM aus dem Jahr 2021 sind 67 % der Empfänger von Remissen arbeitslos. Für viele Menschen sind die Überweisungen ein Rettungsanker (Sahan/SWT 2.9.2022; vergleiche OXFAM 15.12.2023, Star 30.8.2022). Überweisungen werden hauptsächlich für allgemeine Haushaltsausgaben (z.B. Nahrung, Wasser) sowie Bildung und Gesundheit verwendet (UNCDF 4.2023; vergleiche OXFAM 15.12.2023). Minderheiten mangelt es oft am Zugang zu Remissen (SPC 9.2.2022). In einem Artikel berichtet ein Geschäftsmann und zehnfacher Vater, der seinen Betrieb zusperren musste, dass er von seiner Schwester in Saudi-Arabien mit 200 US-Dollar pro Monat unterstützt wird. Ein anderer Verkäufer, dem es wegen der Dürre ähnlich ergangen ist, erhält pro Monat 150 US-Dollar von einem Onkel in Südafrika, der auch noch für zwei seiner Brüder die Semestergebühren an der Universität in Mogadischu finanziert. Ein weiterer Verkäufer hat sich einerseits an einen Onkel in Großbritannien gewandt und ist andererseits mit seiner Familie zurück zu seinen Eltern gezogen, um sich die 20 US-Dollar Miete zu sparen. Vom Onkel in Großbritannien erhält er 250 US-Dollar im Monat (RE 22.7.2022).

Gegenwärtig sind die Systeme sozialer Absicherung allerdings deutlich überdehnt (IPC 28.2.2023). Diese Überlastung zeigt sich auch an der hohen Anzahl an IDPs (IPC 4.6.2022). Auch generell sind manche Clans nicht mehr in der Lage, der Armut ihrer Mitglieder entsprechend zu begegnen. Wenn Menschen in weit von ihrer eigentlichen Clanheimat entfernte Gebiete fliehen, verlieren sie zunehmend an Rückhalt und setzen sich größeren Risiken aus (DI 1.6.2019). Bei einer Studie haben 56 % der befragten Haushalte angegeben, über keinerlei Unterstützungsquellen zu verfügen. 85 % gaben an, dass sie es nicht geschafft haben, irgendwo einen Kredit zu bekommen (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023). Ein Viehzüchter aus Awdal berichtet beispielsweise, dass er aufgrund des Verlusts von Vieh bei einem lokalen Geschäft auf Kredit eingekauft hat. Als seine Schulden 1.000 US-Dollar erreicht haben, wurden ihm weitere Einkäufe versagt; seitdem leben er und seine Familie von dem, was Verwandte ihnen geben (RE 6.9.2023).

Rückkehrspezifische Grundversorgung

Letzte Änderung 2023-03-17 10:02

Einkommen: Somalis aus der Diaspora - aus Europa oder den USA - die freiwillig zurückkehren, nehmen oft keine Hilfspakete in Anspruch, sondern kehren einfach zurück. Viele der Rückkehrer aus Kenia und dem Jemen gehen in die großen Städte Kismayo, Mogadischu und Baidoa, weil sie sich dort bessere ökonomische Möglichkeiten erwarten (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 24). Der UNHCR hat für eine repräsentative Studie von 2018 bis Dezember 2021 fast 2.900 Haushalte mit mehr als 17.000 Angehörigen – darunter vor allem unterstützte Rückkehrer aus Kenia, Äthiopien und dem Jemen – zu ihrer Situation in Somalia befragt. Insgesamt haben 59 % der Rückkehrerhaushalte angegeben, dass ihr Einkommen nicht ausreicht. Dies wird zu 43 % auf mangelnde Jobmöglichkeiten zurückgeführt. Die meisten Rückkehrer leben von Einkommen als Taglöhner oder als Selbstständige sowie von humanitärer Hilfe (UNHCR 22.3.2022).

Nach Angaben einer Quelle ist Somalia auf eine Rückkehr von Flüchtlingen in großem Ausmaß nicht vorbereitet, und es kann davon ausgegangen werden, dass sich ein erheblicher Teil der Rückkehrer als IDPs wiederfinden wird (ÖB 11.2022, Sitzung 14). Arbeitslose Rückkehrer im REINTEG-Programm (siehe unten) berichten über mangelnde Möglichkeiten; über eingeschränkte Erfahrungen, Fähigkeiten und Informationen über den Arbeitsmarkt. Nur 30 % der REINTEG-Rückkehrer sind mit ihrer ökonomischen Situation zufrieden, viele klagen über niedriges Einkommen und lange Arbeitsstunden (IOM 3.12.2020). Viele von ihnen sind diesbezüglich Druck seitens ihrer Familie ausgesetzt – v. a. wenn sie aufgrund ihrer „abgebrochenen“ Migration noch Schulden offen haben. Manche Rückkehrer gehen deshalb explizit nicht in Regionen, wo Mitglieder des eigenen Clans leben (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 24).

Andererseits werden in Kismayo Somali, die nach Jahrzehnten in Kenia nach Somalia zurückgekehrt sind, auch in der Verwaltung eingesetzt – mitunter in hohen Funktionen. Anekdotische Berichte belegen, dass viele der Rückkehrer aus Kenia in ganz Somalia für Behörden oder NGOs arbeiten (AJ 14.9.2022a). Laut einer Quelle muss eine nach Mogadischu zurückgeführte Person nicht damit rechnen, ohne Angehörige zu verhungern. Selbst wenn jemand tatsächlich überhaupt niemanden kennen sollte, dann würde diese Person in ein IDP-Lager gehen und dort in irgendeiner Form Hilfe bekommen. Die Person ist auf Mitleid angewiesen; Hilfe findet sich vielleicht auch in einer Moschee. Jedenfalls würde eine solche Person so schnell wie möglich versuchen, dorthin zu gelangen, wo sich ein Familienmitglied befindet. Dass gar keine Familie existiert, ist sehr unwahrscheinlich (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 37).

Rückkehrer, die im Ausland ausgebildet wurden, können - bei vorhandenen, besseren Fähigkeiten - am Arbeitsmarkt Vorteile haben. Jedenfalls sind Netzwerke aus Familie, Nachbarn und Freunden für Rückkehrer höchst relevant. Die Unterstützung, die ein Rückkehrer aus diesen Netzwerken ziehen kann, hängt maßgeblich davon ab, wie sehr er diese Netzwerke während seines Auslandsaufenthalts gepflegt hat. Natürlich spielen auch Clannetzwerke eine Rolle. Dies ist mit ein Grund dafür, dass Rückkehrer sich oft in Gebieten ansiedeln, die von eigenen Clanmitgliedern bewohnt werden (EASO 9.2021a).

Unterstützung / Netzwerk: Der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] ist unter anderem dafür verantwortlich, Mitglieder in schwierigen finanziellen Situationen zu unterstützen. Das traditionelle Recht (Xeer) bildet hier ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z. B. Großfamilie) (SEM 31.5.2017, Sitzung 5/31f). Jedenfalls versucht die Mehrheit der Rückkehrer in eine Region zu kommen, wo zumindest Mitglieder ihres Clans leben (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 24), denn eine erfolgreiche Rückkehr und Reintegration kann in erheblichem Maße von der Clanzugehörigkeit bzw. von lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person abhängig sein. Rückkehrer ohne Clan- oder Familienverbindungen am konkreten Ort der Rückkehr finden sich ohne Schutz in einer Umgebung wieder, in der sie oftmals als Fremde angesehen werden (ÖB 11.2022, Sitzung 14). Nach anderen Angaben ist es bei einer Rückkehr weniger entscheidend, ob jemand Verwandte hat oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, wie diese persönlichen Verwandtschaftsbeziehungen funktionieren und ob sie aktiv sind, ob sie gepflegt wurden. Denn Solidarität wird nicht bedingungslos gegeben. Wer sich lange nicht um seine Beziehungen gekümmert hat, wer einen (gesellschaftlichen) Makel auf sich geladen hat oder damit behaftet ist, der kann - trotz vorhandener Verwandtschaft - nicht uneingeschränkt auf Solidarität und Hilfe hoffen (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 39f). Laut Angestellten von IOM in Somaliland würde ein Rückkehrer ohne Beziehungen oder Kontakten in Hargeysa in der Stadt trotzdem mit Wasser, Nahrung und Unterkunft versorgt werden. Dies erfolgt informell und aus Gründen der Gastfreundschaft und anderen kulturellen Werten. Die Verfügbarkeit derartiger kulturell bedingter Unterstützung kann aber weder geplant werden, noch ist diese längerfristig garantiert (IOM 2.3.2023).

Auch in Mogadischu sind Freundschaften und Clannetzwerke sehr wichtig. Zur Aufnahme kleinerer oder mittelgroßer wirtschaftlicher Aktivitäten ist aber kein Netzwerk notwendig (FIS 7.8.2020, Sitzung 39). Insgesamt herrschen am Arbeitsmarkt Nepotismus und Korruption (SIDRA 6.2019a, Sitzung 5).

Unterstützung extern: Für Rückkehrer aus dem Jemen (LIFOS 3.7.2019, Sitzung 63) und Kenia gibt es seitens des UNHCR Rückkehrpakete (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 23). Deutschland unterstützt in Jubaland ein Vorhaben, das der Vorbereitung der aufnehmenden Gemeinden für freiwillige Rückkehrer dient (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Der UNHCR unterstützt ausgewählte Haushalte in unterschiedlichen Teilen Somalias mit Ausbildungs-, Schulungs- und finanziellen Maßnahmen (UNHCR 27.6.2021, Sitzung 9).

Rückkehrprogramme: Bis Ende 2022 setzt IOM für Österreich das Rückkehrprogramm Restart römisch III um, das auch Somalia umfasst. Das Programm bietet Rückkehrern 500 Euro Bargeld sowie 2.800 Euro Sachleistungen - etwa im Rahmen einer Unternehmensgründung oder für Bildungsmaßnahmen; Beratung nach der Rückkehr; situationsspezifische Unterstützung vor Ort - etwa für vulnerable Rückkehrer; Zuweisung zu weiteren spezifischen Organisationen; Monitoring (IOM 26.11.2021; vergleiche IOM o.D.).

Die auf Rückkehrer spezialisierte Organisation IRARA kooperiert mit Frontex, um u. a. in Somalia eine Reintegration zu gewährleisten. Hierbei werden nicht nur freiwillige, sondern auch unfreiwillige Rückkehrer unterstützt und vom Programm abgedeckt. Einerseits bietet IRARA Leistungen bei der Ankunft (Abholung vom Flughafen; Unterstützung bei der Weiterreise; temporäre Unterkunft; dringende medizinische Betreuung; spezielle Betreuung vulnerabler Personen; Geldaushilfe). Zum anderen bietet die Organisation auch sogenannte post-return assistance (Hilfe beim Aufbau eines Betriebes; langfristige Unterstützung bei der Unterkunft; soziale, rechtliche und medizinische Unterstützung; Hilfe bei der Arbeitssuche; Bildung und Berufsausbildung; Geldaushilfe (IRARA 2022).

Im ebenfalls von IOM geführten Programm RESTART römisch III wird Somalia als Projektland für freiwillige Rückkehr angeführt. Dieses wird dort über Büros in Mogadischu und Bossaso abgewickelt. Voraussetzung einer Rückführung ist hier eine Freigabe durch somalische Behörden vor der Rückkehr (Kontakt über Operations bei IOM Österreich) (IOM 12.2021).

Unterkunft: Der Zugang zu einer Unterkunft oder zu Bildung wird von Rückkehrern im REINTEG-Programm als problematisch beschrieben (IOM 3.12.2020). Ein Appartementzimmer in einer sichereren Wohngegend Mogadischus kostet rund 200 US-Dollar im Monat, in Gegenden mit niedrigerem Lebensstandard zahlt eine Einzelperson für ein Zimmer in einem Mietshaus 80-100 US-Dollar. Mieten für Wellblechhäuser beginnen bei 45 US-Dollar. Nach Angaben von IOM-Mitarbeitern in Mogadischu spielt die Clanmitgliedschaft bei der Anmietung einer Unterkunft keine Rolle (IOM 2.3.2023). Grundsätzlich braucht es zur Anmietung eines Objektes einen Bürgen, der vor Ort bekannt ist. Dies ist i. d. R. ein Mann (FIS 7.8.2020, Sitzung 31f). Für eine alleinstehende Frau gestaltet sich die Wohnungssuche dementsprechend schwierig, dies ist kulturell unüblich (IOM 2.3.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 31f) und wirft unter Umständen Fragen auf (FIS 7.8.2020, Sitzung 31f). In Hargeysa kann es vorkommen, dass mehrere alleinstehende Frauen zusammen ein Objekt anmieten. In Mogadischu verfügen viele Haushalte über Fließwasser. Es gibt auch kollektive Wasserstellen. Im Feber 2023 kostete ein Kubikmeter Wasser 1,5 US-Dollar (IOM 2.3.2023).

Es gibt keine eigenen Lager für Rückkehrer, daher siedeln sich manche von ihnen in IDP-Lagern an (LIFOS 3.7.2019, Sitzung 63; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 24); nach anderen Angaben finden sich viele der Rückkehrer aus dem Jemen und aus Kenia schlussendlich in IDP-Lagern wieder (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 24). IOM-Mitarbeiter erklären, dass der durchschnittliche Rückkehrer sich vorübergehend nur eine Wellblechhütte oder eine traditionelle Wohnstatt als Unterkunft leisten kann (IOM 2.3.2023). Gemäß der bereits weiter oben erwähnten Rückkehrer-Studie des UNHCR haben hingegen nur 22 % der unterstützten und 38 % der nicht unterstützten, von UNHCR befragten 2.900 Rückkehrerhaushalte angegeben, in einem IDP-Lager zu wohnen (UNHCR 22.3.2022).

Vom Returnee Management Office (RMO) der somalischen Immigrationsbehörde kann gegebenenfalls eine Unterkunft und ein inner-somalischer Weiterflug organisiert und bezahlt werden, die Rechnung ist vom rückführenden Staat zu begleichen. Generell mahnen Menschenrechtsorganisationen, dass sich Rückkehrer in einer prekären Situation befinden und die Grundvoraussetzungen für eine freiwillige Rückkehr nicht gewährleistet sind (AA 28.6.2022, Sitzung 24f).

Frauen und Minderheiten: Prinzipiell gestaltet sich die Rückkehr für Frauen schwieriger als für Männer. Eine Rückkehrerin ist auf die Unterstützung eines Netzwerks angewiesen, das i. d. R. enge Familienangehörige – geführt von einem männlichen Verwandten – umfasst. Für alleinstehende Frauen ist es mitunter schwierig, eine Unterkunft zu mieten oder zu kaufen (FIS 5.10.2018, Sitzung 23). Auch für Angehörige von Minderheiten – etwa den Bantus – gestaltet sich eine Rückkehr schwierig. Ein Mangel an Netzwerken schränkt z. B. den Zugang zu humanitärer Hilfe ein (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 8). Für eine weibliche Angehörige von Minderheiten, die weder Aussicht auf familiäre noch Clanunterstützung hat, stellt eine Rückkehr tatsächlich eine Bedrohung dar (ÖB 11.2022, Sitzung 12).

Medizinische Versorgung

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2023-03-17 10:31

Das somalische Gesundheitssystem ist das zweitfragilste weltweit (WB 6.2021, Sitzung 32). Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft (AA 28.6.2022, Sitzung 24) und nicht durchgängig gesichert (AA 17.5.2022). Die Infrastruktur bei der medizinischen Versorgung ist minimal und beschränkt sich meist auf Städte und sichere Gebiete. Die Ausrüstung reicht nicht, um auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend abdecken zu können. Es mangelt an Geld, Personal, Referenzsystemen, Diagnoseeinrichtungen, an Ausbildungseinrichtungen, Regulierungen und Managementfähigkeiten (HIPS 5.2020, Sitzung 38). 2021 betrug das Budget des Gesundheitsministeriums 33,6 Millionen US-Dollar (AI 18.8.2021, Sitzung 19). Allerdings zeigt sich in Aufwärtstrend: 2020 wurden 1,3 % des Budgets für den Gesundheitsbereich ausgegeben, 2021 wurden dafür 5 % veranschlagt (WB 6.2021, Sitzung 19). Nach anderen Angaben wurden für den Gesundheitsbereich in den Jahren 2017-2021 jährlich durchschnittlich 2 % des Budgets ausgegeben (AI 29.3.2022).

Insgesamt zählt die Gesundheitslage zu den schlechtesten der Welt (ÖB 11.2022, Sitzung 16). Die durchschnittliche Lebenserwartung ist zwar von 45,3 Jahren im Jahr 1990 auf heute 57,1 Jahre beträchtlich gestiegen, bleibt aber immer noch niedrig (WB 6.2021, Sitzung 29). Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu trinkbarem Wasser oder zu hinreichenden sanitären Einrichtungen (AA 28.6.2022, Sitzung 24); daran sterben jährlich 87 von 100.000 Einwohnern (Äthiopien: 44) (HIPS 5.2020, Sitzung 24). Die Quoten von Mütter- und Säuglingssterblichkeit sind unter den höchsten Werten weltweit (AA 28.6.2022, Sitzung 24). Eine von zwölf Frauen stirbt während der Schwangerschaft, eines von sieben Kindern vor dem fünften Geburtstag (Äthiopien: 17). Bei der hohen Kindersterblichkeit schwingt Unterernährung bei einem Drittel der Todesfälle als Faktor mit (ÖB 11.2022, Sitzung 16; vergleiche HIPS 5.2020, Sitzung 21ff). Selbst in Somaliland und Puntland werden nur 44 % bzw. 38 % der Mütter von qualifizierten Geburtshelfern betreut (ÖB 11.2022, Sitzung 16). Insgesamt haben nur ca. 15 % der Menschen in ländlichen Gebieten Zugang zu medizinischer Versorgung (AI 18.8.2021, Sitzung 5). Die Rate an grundlegender Immunisierung für Kinder liegt bei Nomaden bei 1 %, in anderen ländlichen Gebieten bei 14 %, in Städten bei 19 % (WB 6.2021, Sitzung 31). Zudem gibt es für medizinische Leistungen und pharmazeutische Produkte keinerlei Qualitäts- oder Sicherheitsstandards (WB 6.2021, Sitzung 27).

Es mangelt an Personal für die medizinische Versorgung. Besonders akut ist der Mangel an Psychiatern, an Technikern für medizinische Ausrüstung und an Anästhesisten. Am größten aber ist der Mangel an einfachen Ärzten (HIPS 5.2020, Sitzung 42). Insgesamt kommen auf 10.000 Einwohner 4,28 medizinisch ausgebildete Personen (Subsaharaafrika: 13,3; WHO-Ziel: 25) (WB 6.2021, Sitzung 34). Nach anderen Angaben kommen auf 100.000 Einwohner fünf Ärzte, vier Krankenpfleger und eine Hebamme. Dabei herrscht jedenfalls eine Ungleichverteilung: In Puntland gibt es 356 Ärzte, in Jubaland nur 54 und in Galmudug und im SWS je nur 25 (HIPS 5.2020, Sitzung 27/44ff). Die Weltbank hat das mit 100 Millionen US-Dollar dotierte "Improving Healthcare Services in Somalia Project / Damal Caafimaad" genehmigt. Damit soll die Gesundheitsversorgung für ca. 10 % der Gesamtbevölkerung Somalias, namentlich in Gebieten von Nugaal (Puntland), Bakool und Bay (SWS), Hiiraan und Middle Shabelle verbessert werden (WB 22.7.2021).

Die Gesundheitsdirektion der Benadir Regional Administration (BRA) verfügt über 69 Gesundheitszentren für die Primärversorgung, sechs Stabilisierungszentren für unterernährte Kinder und elf Zentren für die Behandlung von Tuberkulose. Zusätzlich gibt es in der Hauptstadtregion fast 80 private Gesundheitszentren. Insgesamt sind diese Zahlen zwar vielversprechend, decken aber keinesfalls die Bedürfnisse der Bevölkerung ab (SPA 31.8.2022). Nach anderen Angaben gibt es in Benadir 61 Gesundheitseinrichtungen, in HirShabelle 81. In anderen Bundesstaaten stehen folgende Gesundheitseinrichtungen zur Verfügung (HIPS 5.2020, Sitzung 39ff):

Nach anderen Angaben gibt es in ganz Somalia elf öffentliche und 50 andere Spitäler. In Mogadischu gibt es demnach vier öffentliche und 46 andere Gesundheitszentren (FIS 7.8.2020, Sitzung 31). Jedenfalls müssen Patienten oft lange Wegstrecken zurücklegen, um an medizinische Versorgung zu gelangen (HIPS 5.2020, Sitzung 39). In Mogadischu gibt es mindestens zwei Spitäler, die für jedermann zugänglich sind. In manchen Spitälern kann bei Notlage über die Ambulanzgebühr verhandelt werden (FIS 5.10.2018, Sitzung 36). Im Gegensatz zu Puntland werden in Süd-/Zentralsomalia Gesundheitseinrichtungen vorwiegend von internationalen NGOs unter Finanzierung von Gebern betrieben (HIPS 5.2020, Sitzung 39). Das Keysaney Hospital wird von der Somali Red Crescent Society (SRCS) betrieben. Zusätzlich führt die SRCS Rehabilitationszentren in Mogadischu und Galkacyo (SRCS 2021, Sitzung 8). Die Spitäler Medina und Keysaney (Mogadischu) sowie in Kismayo und Baidoa werden vom Roten Kreuz unterstützt (ICRC 15.2.2022). Insgesamt gibt es im Land nur 5,34 stationäre Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohnern (WHO-Ziel: 25 Betten) (WB 6.2021, Sitzung 34). In Gebieten von al Shabaab mangelt es – mit der Ausnahme von Apotheken – generell an Gesundheitseinrichtungen (UNSC 10.10.2022, Absatz 30,).

Zudem sind die öffentlichen Krankenhäuser mangelhaft ausgestattet (AA 28.6.2022, Sitzung 24; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 31f), was Ausrüstung, medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht (AA 28.6.2022, Sitzung 24). Die am besten ausgerüsteten Krankenhäuser Somalias befinden sich in Mogadischu (SPA 31.8.2022). Der Standard von Spitälern außerhalb Mogadischus ist erheblich schlechter (FIS 5.10.2018, Sitzung 36). Die Mehrheit der Krankenhäuser bietet außerdem nicht alle Möglichkeiten einer tertiären Versorgung (HIPS 5.2020, Sitzung 38). Speziellere medizinische Versorgung – etwa Chirurgie – ist nur eingeschränkt verfügbar – in öffentlichen Einrichtungen fast gar nicht, unter Umständen aber in privaten. So werden selbst am Banadir Hospital – einem der größten Spitäler des Landes, das über vergleichsweise gutes Personal verfügt und auch Universitätsklinik ist – nur einfache Operationen durchgeführt (FIS 5.10.2018, Sitzung 35). Relativ häufig müssen daher Patienten von öffentlichen Einrichtungen an private verwiesen werden (FIS 7.8.2020, Sitzung 31). Immerhin stellt der private Sektor 60 % aller Gesundheitsleistungen und 70 % aller Medikamente. Und auch in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen wird der Großteil der Dienste über NGOs erbracht (WB 6.2021, Sitzung 27f). Qatar Charity hat in Bossaso ein Gesundheitszentrum eröffnet. Dieses soll 10.000 Unterprivilegierten aus Bossaso und dem Umland dienen. Das Zentrum verfügt über Abteilungen für Geburten, Notfälle, Impfungen, über ein Labor, Radiologie und eine Apotheke. 2021 hatte Qatar Charity bereits Gesundheitszentren in Puntland, Galmudug, dem SWS und in Mogadischu eröffnet. Fünf weitere Zentren sowie neun Geburts- und Mütterzentren sind in Bau (Gulf 5.6.2022).

Die Primärversorgung wird oftmals von internationalen Organisationen bereitgestellt und ist für Patienten kostenfrei. Allerdings muss manchmal für Medikamente bezahlt werden (FIS 5.10.2018, Sitzung 35f; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 20). Oft handelt es sich bei dieser Primärversorgung um sogenannte "Mother Health Clinics", von welchen es in Somalia relativ viele gibt. Diese werden von der Bevölkerung als Gesamtgesundheitszentren genutzt, weil dort die Diagnosen eben kostenlos sind (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 20). Private Einrichtungen, die spezielle Leistungen anbieten, sind sehr teuer. Schon ein kleiner operativer Eingriff kostet 100 US-Dollar. Am Banadir-Hospital in Mogadischu wird eine Ambulanzgebühr von 5-10 US-Dollar eingehoben, die Behandlungsgebühr an anderen Spitälern beläuft sich auf 5-12 US-Dollar. Medikamente, die Kindern oder ans Bett gebundenen Patienten verabreicht werden, sind kostenlos. Üblicherweise sind die Kosten für eine Behandlung aber vom Patienten zu tragen (FIS 5.10.2018, Sitzung 35f). Am türkischen Spital in Mogadischu, das als öffentliche Einrichtung wahrgenommen wird, werden nur geringe Kosten verrechnet, arme Menschen werden gratis behandelt (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 73). Generell gilt, wenn z.B. ein IDP die Kosten nicht aufbringen kann, wird er in öffentlichen Krankenhäusern auch umsonst behandelt. Zusätzlich kann man sich auch an Gesundheitseinrichtungen wenden, die von UN-Agenturen betrieben werden. Bei privaten Einrichtungen sind alle Kosten zu bezahlen (FIS 7.8.2020, Sitzung 31/37). Es gibt keine Krankenversicherung (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 73); nach anderen Angaben ist diese so gut wie nicht existent, im Jahr 2020 waren nur 2 % der Haushalte hinsichtlich Ausgaben für Gesundheit versichert (WB 6.2021, Sitzung 34).

Beispiel Garoowe: Quellen von EASO berichten, dass am Garoowe Group Hospital (GGH) eine Aufnahmegebühr von 5 US-Dollar zu entrichten ist, bei der Aufnahme zur Behandlung bei einem Spezialisten auch bis zu 10 US-Dollar. Auch Labortests müssen selbst bezahlt werden; ein normaler Bluttest kostet 1-4 US-Dollar. Normale Betten kosten nichts, Einzelzimmer 10 US-Dollar pro Nacht. Die Pflege, normale Dienste und im Spital lagernde Medikamente sind kostenfrei. Für Operationen muss allerdings bezahlte werden. Ein Kaiserschnitt kostet ca. 350 US-Dollar. In privaten Krankenhäusern ist die Aufnahmegebühr etwas höher als am GGH. Alle Dienste und Übernachtungen müssen bezahlt werden. Operationen kosten in etwa so viel, wie am GGH (EASO 9.2021a, Sitzung 64f).

Es gibt auch mobile Gesundheitseinrichtungen, etwa durch die Organisation Somali Aid in Lower Juba. Damit wird der Zugang für die Menschen, die ansonsten weite, teure und manchmal gefährliche Reisen zum nächstgelegenen Spital auf sich nehmen müssen, verbessert (RE 16.12.2022). Die SRCS betreibt 53 stationäre und zwölf mobile Kliniken zur primären medizinischen Versorgung. Im Jahr 2020 wurden dort mehr als 1,2 Millionen Patienten behandelt. Davon waren 45 % Kinder und 40 % Frauen. Die häufigsten Behandlungen erfolgten in Zusammenhang mit akuten Atemwegserkrankungen (24 %), Durchfallerkrankungen (12,4 %), Anämie (15,6 %), Hautkrankheiten (6,2 %), Harnwegs- (10 %) und Augeninfektionen (5,2 %) (SRCS 2021, Sitzung 9f). Die am öftesten diagnostizierten chronischen Krankheiten sind Diabetes und Bluthochdruck (WB 6.2021, Sitzung 30). Mobile Kliniken versorgen wöchentlich oder zweiwöchentlich IDP-Lager am Stadtrand von Mogadischu. Diese Versorgung erfolgt allerdings nur unregelmäßig (EASO 9.2021a, Sitzung 40). Gesundheitspartner der UN haben von Jänner bis November in Somalia 2,6 Millionen präventive und heilkundliche Konsultationen durchgeführt, u. a. 12.000 Konsultationen zur psychischen Gesundheit (UNOCHA 11.2021).

Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen unterbrochen werden (AA 28.6.2022, Sitzung 24). Zudem mangelt es an Rettungsdiensten. So gibt es selbst in Mogadischu bei einer Bevölkerung von ca. drei Millionen Menschen nur zwei Krankenwagen, die kostenfrei Covid-19-Patienten transportieren (AI 29.3.2022).

Psychiatrie: Für 16,8 Millionen Einwohner gibt es in ganz Somalia (inkl. Somaliland) nur 82 professionelle Kräfte im Bereich psychischer Gesundheit, nur vier davon sind Psychiater (UNSOM 24.8.2022). In Süd-/Zentralsomalia und Puntland gibt es nur einen Psychiater, elf Sozialarbeiter für psychische Gesundheit sowie 19 Pflegekräfte. Folgende psychiatrische Einrichtungen sind bekannt (WHO Rizwan 8.10.2020):

An psychiatrischen Spitälern gibt es nur zwei, und zwar in Mogadischu; daneben gibt es drei entsprechende Abteilungen an anderen Spitälern und vier weitere Einrichtungen (WHO Rizwan 8.10.2020). Nach Angaben einer Quelle gibt es in Bossaso, Mogadischu, Baidoa und Belet Weyne psychiatrische Abteilungen an Krankenhäusern (Ibrahim 2022). Nach anderen Angaben gibt es auch am Rand von Garoowe eine Psychiatrie, dort fallen für einen monatlichen Aufenthalt 100 US-Dollar an Kosten an (EASO 9.2021a, Sitzung 64f).

Es gibt eine hohe Rate an Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung (WHO Rizwan 8.10.2020). Psychische Probleme werden durch den bestehenden Konflikt und den durch Instabilität, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit verursachten Stress gefördert. Schätzungen zufolge sind 30 % der Bevölkerung betroffen (FIS 5.10.2018, Sitzung 34; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 16), die absolute Zahl wird mit 1,9 Millionen Betroffenen beziffert (HIPS 5.2020, Sitzung 26). Nach anderen Angaben (Stand 2020) wurden bei 4,3 % der Bevölkerung durch einen Arzt eine psychische Erkrankung diagnostiziert, während man von einer Verbreitung von 14 % ausgeht (WB 6.2021, Sitzung 31).

Im Falle psychischer Erkrankung sind die meisten Somali von der Unterstützung durch Familie und Gemeinde abhängig. Oft werden die Dienste traditioneller und spiritueller Heiler in Anspruch genommen; andere Patienten greifen zu Selbstmedikation oder Drogen (Ibrahim 2022). Psychisch Kranken haftet meist ein mit Diskriminierung verbundenes Stigma an (Ibrahim 2022; vergleiche Sahan 2.6.2022; WHO Rizwan 8.10.2020), es kommt zu dadurch verursachter Diskriminierung (Ibrahim 2022). Nach wie vor ist das Anketten psychisch Kranker eine weitverbreitete Praxis. Dies gilt selbst für psychiatrische Einrichtungen – etwa in Garoowe (WHO Rizwan 8.10.2020). Die WHO schätzt, dass 90 % der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen bereits einmal in ihrem Leben angekettet worden sind (Ibrahim 2022). Aufgrund des Mangels an Einrichtungen werden psychisch Kranke mitunter an Bäume gebunden oder zu Hause eingesperrt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 44). Im Zweifelsfall suchen Menschen mit psychischen und anderen Störungen Zuflucht im Glauben (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 38). Spirituelle Heilungsanstalten bzw. -Programme heißen Ilaaj (Ibrahim 2022). Es gibt ein Netzwerk an diesen Ilaaj. Jedermann kann eine solche Anstalt eröffnen – ohne Qualifikation; viele werden von pseudo-religiösen Heilern betrieben, die "traditionelle" Mittel anwenden. Selbst aus der Diaspora werden Jugendliche, die an psychischen Krankheiten leiden oder drogensüchtig sind, nach Somalia zur Heilung geschickt. Dort werden sie manchmal gegen ihren Willen festgehalten und mitunter angekettet (Sahan 2.6.2022).

Verfügbarkeit:

Nur 5 % der Einrichtungen sind in der Lage, Krankheiten wie Tuberkulose, Diabetes oder Gebärmutterhalskrebs zu diagnostizieren und zu behandeln (WB 6.2021, Sitzung 34). Durch die anhaltenden Konflikte, Angriffe auf Krankenhäuser, aber auch durch die Dürre wird der Zugang zu Therapiemöglichkeiten erschwert, wenn dieser überhaupt gegeben ist. Dies gilt für Tuberkulose und andere gängige Krankheiten (ÖB 11.2022, Sitzung 16).

●             Diabetes: Kurz- und langwirkendes Insulin ist kostenpflichtig verfügbar. Medikamente können überall gekauft werden. Die Behandlung erfolgt an privaten Spitälern (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 84). Rund 537.000 Menschen leiden in Somalia an einer Form von Diabetes (HIPS 5.2020, Sitzung 26).

●             Dialyse: In Mogadischu ist Dialyse nicht möglich (FIS 7.8.2020, Sitzung 31); nach anderen Angaben steht Dialyse in Städten zur Verfügung, nicht aber auf Bezirksebene (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 74). Am türkischen Krankenhaus in Mogadischu kostet jede Behandlung 35 US-Dollar (DIS 11.2020, App. F, Sitzung 16).

●             HIV/AIDS: Kostenlose Dienste stehen zur Verfügung (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 74). Über das Land verstreut gibt es Zentren, in welchen anti-retrovirale Medikamente kostenfrei abgegeben werden (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 83).

●             Krebs: Es gibt nur diagnostische Einrichtungen, keine Behandlungsmöglichkeiten (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 74). Es sind auch keine Medikamente verfügbar. Wer es sich leisten kann, geht zur Behandlung nach Indien, Äthiopien, Kenia oder Dschibuti (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 83).

●             Orthopädie: Das SRCS betreibt in Hargeysa, Mogadischu und Galkacyo orthopädische Rehabilitationszentren samt Physiotherapie. An den genannten Zentren der SRCS in Mogadischu und Galkacyo werden Prothesen, Orthosen, Physiotherapie, Rollstühle und Gehhilfen organisiert, unterhalten und repariert (SRCS 2021, Sitzung 8/19ff).

●             Psychische Krankheiten: Die Verfügbarkeit ist hinsichtlich der Zahl an Einrichtungen, qualifiziertem Personal und geografischer Reichweite unzureichend. Auch die Verfügbarkeit psychotroper Medikamente ist nicht immer gegeben, das Personal im Umgang damit nicht durchgehend geschult (WHO Rizwan 8.10.2020). Oft werden Patienten während psychotischer Phasen angekettet (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 84).

●             Transplantationen: Diese sind in Somalia nicht möglich, es gibt keine Blutbank. Patienten werden i.d.R. nach Indien, in die Türkei oder nach Katar verwiesen (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 84).

●             Tuberkulose: Die Behandlung wird über den Global Fund gratis angeboten (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 84). Die Zahl an Infizierten mit der multi-resistenten Art von Tuberkulose ist in Somalia eine der höchsten in Afrika. Mehr als 8 % der Neuinfizierten weisen einen resistenten Typ auf (HIPS 5.2020, Sitzung 25). Im Jahr 2022 ist Tuberkulose immer noch eine wesentliche Todesursache in Somalia. Es gibt immer noch viele Fehldiagnosen und zu wenig Bewusstsein über die Krankheit und ihre Infektionswege (ÖB 11.2022, Sitzung 16).

Medikamente: Grundlegende Medikamente sind verfügbar (FIS 5.10.2018, Sitzung 37; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 31), darunter solche gegen die am meisten üblichen Krankheiten sowie jene zur Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck, Epilepsie und von Geschwüren. Auch Schmerzstiller sind verfügbar. In den primären Gesundheitszentren ländlicher Gebiete kann es bei Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten zu Engpässen kommen (FIS 5.10.2018, Sitzung 37). Nach anderen Angaben kommt es in Krankenhäusern allgemein immer wieder zu Engpässen bei der Versorgung mit Medikamenten und medizinischen Verbrauchsmaterialien (AA 17.5.2022).

Es gibt keine lokale Medikamentenproduktion, alle Medikamente werden importiert. Im Jahr 2014 gelangten 30 % der verfügbaren Medikamente durch Spenden der internationalen Gemeinschaft ins Land. Der Rest wird v.a. aus Indien, der Türkei, auch Ägypten und der VR China importiert (Sahan 12.9.2022). Es kommt mitunter auch zu Großspenden, etwa Anfang November 2022, als die WHO 39 Tonnen medizinische Versorgungsgüter an Somalia übergeben hat (FTL 5.11.2022). Es gibt keine Regulierung des Imports von Medikamenten (DIS 11.2020, Sitzung 73). Nach anderen Angaben ist im Jahr 2015 zwar ein Regulatorium für Medikamente eingeführt worden, um Registrierung, Lizenzierung, Herstellung, Import und andere Aspekte zu regulieren. Aber es gibt diesbezüglich keine Rechtsdurchsetzung. Jeder kann sich ein Zertifikat holen, um eine Apotheke zu eröffnen (Sahan 3.6.2022), es gibt für Apotheken keinerlei Aufsicht (FIS 5.10.2018, Sitzung 37). Es gibt keine Standards zur Qualitätssicherung. Einige der verfügbaren Medikamente sind abgelaufen, andere sind Fälschungen oder enthalten giftige Zutaten (Sahan 12.9.2022).

Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt in erster Linie über private Apotheken. Medikamente können ohne Verschreibung gekauft werden (FIS 5.10.2018, Sitzung 37). Die zuständige österreichische Botschaft kann zur Medikamentenversorgung in Mogadischu keine Angaben machen (ÖB 11.2022, Sitzung 16).

Rückkehr

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2023-03-17 10:28

Rückkehr international: Seit Jahren steigt die Anzahl der nach Somalia zurückgekehrten somalischen Flüchtlinge (ÖB 11.2022, Sitzung 13). Seit 2009 kommen Somali der Diaspora zurück in ihre Heimat, viele mit Bildung, Fähigkeiten und einer unternehmerischen Einstellung. Zuerst tröpfelten sie nur ins Land, ab 2012 fluteten sie zurück (Sahan 27.5.2022). Viele lokale Angestellte internationaler NGOs oder Organisationen sind aus der Diaspora zurückgekehrte Somali. Andere kommen nach Somalia auf Urlaub oder eröffnen ein Geschäft (BFA 3./4.2017). Viele Somalis in der Diaspora wollen zurückkommen und das Land aufbauen. Manche tun es nicht, weil es in Somalia keine adäquate Schulbildung für ihre Kinder gibt (SRF 27.12.2021). Andere schicken ihre Kinder gezielt nach Somalia: Alleine im Jahr 2019 wurden hunderte Kinder der somalischen Diaspora in London nach Somalia, Somaliland und Kenia gebracht, weil sich die Eltern zunehmend Sorgen um die Zunahme von Drogenbanden und Gewalt in England machten (TG 9.3.2019).

Die USA, Kanada, Großbritannien, Finnland, Dänemark, die Niederlande, Belgien und Norwegen führen grundsätzlich Abschiebungen nach Mogadischu durch (AA 28.6.2022, Sitzung 25). Aus Europa wurden im Jahr 2022 – in geringen Zahlen – jedenfalls Somali aus Belgien, Norwegen, Dänemark, der Schweiz und Schweden nach Somalia rückgeführt, die meisten davon freiwillig (ÖB 14.12.2022). Pandemiebedingt und aufgrund der schwierigen Zusammenarbeit mit den somalischen Behörden finden nur wenige bis keine Rückführungen statt (AA 28.6.2022, Sitzung 25). Österreich beteiligt sich am von IOM geführten Programm RESTART römisch III, das freiwillige Rückkehr nach Somalia abwickelt (IOM 12.2021). Insgesamt hat IOM von 2020 bis 2022 bei 187 freiwilligen Rückführungen aus Europa Unterstützung geleistet. Die Rückkehrer kamen u. a. aus Belgien (14), Deutschland (66), Finnland (12), Griechenland (20), den Niederlanden (8), Österreich (8), der Schweiz (22) und Zypern (14). 33 der Rückgeführten waren weiblich. 141 verblieben in Mogadischu, die anderen reisten weiter nach Garoowe (6) und Hargeysa (34) (IOM 2.3.2023).

Rückkehr regional: Die Rückkehrbewegung nach Somalia hat sich seit 2020 deutlich verlangsamt. Insgesamt sind von Ende 2014 bis Jänner 2022 knapp 134.000 Menschen mit oder ohne Unterstützung nach Somalia zurückgekehrt. Im Jahr 2021 waren es ca. 2.500 – vor allem aus dem Jemen (UNHCR 10.2.2022). Verursacht wurde der Rückgang nicht zuletzt von der COVID-19-Pandemie (UNHCR 22.3.2022). In den ersten drei Monaten des Jahres 2022 kehrten nur 187 Personen von UNHCR assistiert nach Somalia zurück (UNHCR 22.4.2022).

Aus dem Jemen kamen mehr als 5.400 somalische Flüchtlinge mit Unterstützung durch den UNHCR zurück in ihr Land. Weitere knapp 46.000 sind aus dem Jemen ohne Unterstützung zurückgekehrt (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Somaliland ist zwar der Hauptankunftsort für Flüchtlinge und Rückkehrer aus dem Jemen, doch UNHCR und Partnerorganisationen unterstützen somalische Rückkehrer bei der Weiterreise zu den Herkunftsgebieten in anderen Teilen Somalias (ÖB 11.2022, Sitzung 19).

Der UNHCR und andere internationale Partner unterstützen seit 2014 die freiwillige Rückkehr von Somaliern aus Kenia. Grundlage ist ein trilaterales Abkommen zwischen Kenia, Somalia und dem UNHCR (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Seit Abschluss des trilateralen Abkommens kehrten mit Unterstützung des UNHCR über 85.000 Menschen aus Kenia nach Somalia zurück (AA 28.6.2022, Sitzung 23; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 69). Diese gingen vor allem nach Kismayo und das südliche Jubaland (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Noch nie wurde ein Bus, welcher Rückkehrer transportiert, angegriffen (FIS 7.8.2020, Sitzung 28). Allerdings kommt es aufgrund von Gewalt und Konflikten sowie durch die Pandemie bedingte Reisebeschränkungen immer wieder zu Unterbrechungen bei der Rückkehrbewegung (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26). Trotz seiner Rolle bei der Rückführung aus Kenia warnt der UNHCR angesichts der aktuellen Lage in Somalia davor, Personen in Gebiete in Süd- oder Zentralsomalia zwangsweise zurückzuschicken, da die Sicherheit nicht gewährt werden kann (ÖB 11.2022, Sitzung 14).

Seit Frühjahr 2018 unterstützt die sogenannte EU-IOM Joint Initiative for Migrant Protection and Reintegration rückkehrwillige somalische Migranten vornehmlich in Libyen und Äthiopien. Die Leistungen umfassen Beratung zu Möglichkeiten der Rückkehr sowie der Integration in den somalischen Arbeitsmarkt. Außerdem wird die Entwicklung von standardisierten Rückführungsverfahren nach Somalia gefördert. Mit Unterstützung von IOM sind 2021 803 Personen nach Somalia zurückgekehrt, davon 340 aus Saudi-Arabien, 295 aus dem Jemen und 16 aus Deutschland (AA 28.6.2022, Sitzung 24).

Behandlung: Die Zahl der von westlichen Staaten zurückgeführten somalischen Staatsangehörigen nimmt stetig zu. Mit technischer und finanzieller Unterstützung haben sich verschiedene westliche Länder über die letzten Jahre hinweg für die Schaffung und anschließende Professionalisierung eines speziell für Rückführung zuständigen Returnee Management Offices (RMO) innerhalb des Immigration and Naturalization Directorates (IND) eingesetzt. Das RMO hat für alle Rückführungsmaßnahmen nach Somalia eine einheitliche Prozedur festgelegt, die konsequent zur Anwendung gebracht wird (AA 28.6.2022, Sitzung 24). Es liegen keine Informationen dahingehend vor, dass abgelehnte Asylwerber am Flughafen in Mogadischu Probleme seitens der Behörden erfahren (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 71). Das RMO befragt sie hinsichtlich Identität, Nationalität, Familienbezügen sowie zum gewünschten zukünftigen Aufenthaltsort. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für unbegleitete minderjährige und andere Rückkehrer. Eine Unterkunft und ein innersomalischer Weiterflug kann vom RMO organisiert werden, die Rechnung begleichen die rückführenden Staaten. Staatliche Repressionen sind nicht die Hauptsorge der Rückkehrer. Nach vorliegenden Erkenntnissen werden Rückkehrer vom RMO/IND grundsätzlich mit Respekt behandelt (AA 28.6.2022, Sitzung 24f). Eine strukturelle Diskriminierung von Rückkehrern aus dem Ausland gibt es nicht (AA 28.6.2022, Sitzung 20).

Rückkehrstudie von UNHCR: Der UNHCR hat für eine repräsentative Studie von 2018 bis Dezember 2021 fast 2.900 Haushalte mit mehr als 17.000 Angehörigen – darunter vor allem unterstützte Rückkehrer aus Kenia, Äthiopien und dem Jemen – zu ihrer Situation in Somalia befragt. Dabei hatten 48% der Befragten angegeben, wegen der verbesserten Sicherheitslage nach Somalia zurückgegangen zu sein. 14 % machten diesen Schritt wegen besserer ökonomischer Möglichkeiten. Nur 24 % der befragten Haushalte gaben an, in einem "IDP-Lager" zu wohnen [Anführungszeichen von UNHCR übernommen]. 94 % der Rückkehrer gaben an, nach ihrer Rückkehr keinerlei Form von Gewalt (Drohungen, Einschüchterungen, physische Gewalt) erlebt zu haben. 90 % gaben an, sich in ihrer Gemeinde und im Bezirk frei bewegen zu können. 91 % der Befragten gaben an, dass sie nicht als Rückkehrer diskriminiert würden; und 88 % wurden auch nicht wegen ihrer ethnischen oder Clan-Zugehörigkeit diskriminiert. 88 % der Befragten haben keine Streitigkeiten austragen müssen. Von jenen, die in Konflikte verwickelt waren, gaben 38 % Wohnungs- und Landstreitigkeiten als Gründe an, weitere 27 % Familienstreitigkeiten (UNHCR 22.3.2022).

Erreichbarkeit: Einen regelmäßigen internationalen Direktflugverkehr nach Mogadischu gibt es aus Istanbul, Addis Abeba, Nairobi, Doha und Entebbe (AQ9 1.2022). Darüber hinaus fliegen regionale Fluglinien, die Vereinten Nationen, die Europäische Union und private Chartermaschinen Mogadischu aus Nairobi regelmäßig an (AA 18.4.2021, Sitzung 24). Von Bossaso (Puntland) aus wird Addis Abeba und Dubai angeflogen, von Garoowe (Puntland) Addis Abeba und Nairobi (AQ9 1.2022). Für Rückführungen somalischer Staatsbürger wurden vor der COVID-19-Pandemie die Verbindungen der Turkish Airlines via Istanbul bzw. via Nairobi mit Jubba Airways bevorzugt. Bei Ersterer erfolgte meist eine polizeiliche Eskortierung bis Mogadischu, bei Letzterer nur bis Nairobi, da die Fluglinie sich dann gegen die Zahlung einer Gebühr um die Sicherheit kümmerte (AA 18.4.2021, Sitzung 24).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person des BF

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit sowie Religionszugehörigkeit des BF und zu seinen muttersprachlichen Sprachkenntnissen beruhen auf seinen diesbezüglich gleichbleibenden Angaben im verwaltungsbehördlichen Verfahren. Ebenso brachte er gleichbleibend im Laufe des Asylverfahrens vor, dem Clan der Gabooye, Sub Clan Boon, anzugehören vergleiche AS 5f; AS 41f und AS 142; OZ 5 Sitzung 4)), was auch vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid festgestellt wurde vergleiche AS 72). Er tätigte auch vor dem Bundesverwaltungsgericht dieselben Angaben vergleiche OZ 5, Sitzung 4f).

Auch der Herkunftsort sowie, dass er zwei Monate vor seiner Ausreise in römisch 40 gewohnt hat konnte aufgrund dessen stringenten Vorbringens im Laufe des Verfahrens festgestellt werden vergleiche AS 5 und 7; AS 27 und 33 und 30; AS 142; OZ 5 Sitzung 5). Dass der BF zwei Jahre die Koranschule besucht hat, brachte er sowohl in der Einvernahme vor dem Bundesamt vergleiche AS 28) als auch in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vergleiche OZ 5, Sitzung 7f) vor.

Die Feststellungen zur Familie des BF konnte aus seinem Vorbringen in der Erstbefragung vergleiche AS7), der Einvernahme vergleiche AS 28f) und der Verhandlung vergleiche OZ 5, Sitzung 5f) abgeleitet werden. Er gab zwar an keinen Kontakt zu seiner Familie zu haben, ihm ist jedoch zumutbar diesen bei einer Rückkehr nach Somalia wiederaufzunehmen, zumal er keine Gründe geltend machte, welche den Schuss auf eine Gegenteilige Annahme zulassen würden. Außerdem verneinte er in diesem Zusammenhang, trotz seines relativ langen Aufenthaltes im Bundesgebiet in der Verhandlung vor dem BVwG, versucht zu haben Kontakt im Wege des römisch 40 oder des römisch 40 mit seinen Familienangehörigen unternommen zu haben vergleiche OZ 5, Sitzung 7).

Die Feststellung, dass der BF gesund und arbeitsfähig ist, beruht auf einer Zusammenschau seines Vorbringens zu seinem Gesundheitszustand. Er brachte zwar in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor manchmal an Migräne zu leiden und eine Tablette zu nehmen vergleiche OZ 5, Sitzung 28), eine maßgebliche gesundheitliche Beeinträchtigung kann hieraus jedoch nicht abgeleitet werden, weshalb auch dessen Arbeitsfähigkeit abgeleitet werden konnte. Anhaltspunkte, die gegensätzliches vermuten lassen würden, brachte er nicht vor.

2.2. Zum Verfahrensgang

Die Feststellungen zum Verfahren über den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stützen sich auf den unbestrittenen Akteninhalt, insbesondere jedoch auf die Niederschrift der Erstbefragung vom römisch 40 vergleiche AS 5ff) sowie den Bescheid des Bundesamtes vom römisch 40 vergleiche AS 57ff.).

2.3. Zum Privatleben des BF in Österreich

Dass der BF im Bundesgebiet strafgerichtlich unbescholten ist, ergibt sich aus einem aktuellen Auszug aus dem Strafregister.

Da er sowohl in der Einvernahme als auch in der Verhandlung verneinte, Mitglied in einem Verein, Club oder Organisation zu sein, einer caritativen Tätigkeit oder einer rechtmäßigen Beschäftigung nachzugehen bzw. Kinder zu haben, verheiratet zu sein, in einer Lebensgemeinschaft zu leben oder Verwandte in Österreich oder anderen Europäischen Ländern zu haben, konnten derartige Feststellungen nicht getroffen werden vergleiche AS 32f; OZ 5, Sitzung 27). Er gab in der Verhandlung zwar an Freunde im Bundesgebiet zu haben und mit ihnen Fußball zu spielen, bzw. dass diese ihn besuchen würden, eine besondere Nahebeziehung konnte hieraus jedoch nicht geschlossen werden. Zu deren Namen befragt, nannte er lediglich die Vornamen, bzw. meinte zu einem Freund, dass er „glaube“, dass es sich bei dem Namen um seinen Spitznamen handle vergleiche OZ 5, Sitzung 26). Die Feststellungen zur Teilnahme am römisch 40 und seinen Deutschkenntnissen konnte aus der Vorlage der Schreiben vergleiche OZ 5, Sitzung 3f, Beilagen ./A bis ./K) sowie der Stellung einfacher Fragen in der Verhandlung, welche er teilweise und in gebrochenem Deutsch zu beantworten im Stande war vergleiche OZ 5, Sitzung 25f), getroffen werden. Sein Leistungsbezug aus der Grundversorgung war aus einem aktuellen Auszug aus der Bundesbetreuungsinformation zu entnehmen.

2.4. Zum Fluchtvorbringen

2.4.1. Aufgrund seines in der mündlichen Verhandlung erhaltenen persönlichen Eindrucks, sowie der im Verwaltungsakt einliegenden Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahme des BF vor dem Bundesamt, geht der zur Entscheidung berufene Richter des Bundesverwaltungsgerichtes davon aus, dass dem BF hinsichtlich seines vorgetragenen Fluchtvorbringens keine Glaubwürdigkeit zukommt, zumal seine diesbezüglichen Angaben in mehrerer Hinsicht Widersprüche bzw. Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten aufweisen.

Die gilt bereits hinsichtlich der Darstellung im Vorfeld der Ereignisse des sich am römisch 40 behaupteten zugetragenen Vorfalls. Führte dieser in der niederschriftlichen Einvernahme am römisch 40 vor dem BFA noch aus, dass er von der Al Shabaab einige Tage vor dem Vorfall aufgefordert worden wäre sich diesen anzuschließen vergleiche AS 31), schilderte der BF es in Verhandlung so, dass zunächst dort lebende Jugendliche mit der Aufforderung, sich der Al Shabaab als Soldat anzuschließen zu ihm gekommen wären. Vom Umstand, dass darüber hinaus einige Tage vor diesem Vorfall auch mit der Mutter des BF wegen seines Anschlusses an die Al Shabaab, gesprochen worden wäre, wurde ebenso nichts erwähnt. Unterschiede ergeben sich überdies bei der Darstellung, als das Elternhaus des BF eines Abends von Mitgliedern der Al Shabaab gestürmt, der BF mitgenommen und in ein Lager gebracht worden sei vergleiche OZ 5 Sitzung 15). Genauer hierzu befragt meinte er in der Verhandlung, dass es Nacht gewesen sei, als die Männer zu ihnen nach Hause gekommen seien. Bevor sie in das Haus gekommen seien, hätten sie ein paar Schüsse in die Luft abgegeben. Sie seien alle aufgestanden, dann seien die Männer herein und zum BF gekommen. Sie hätten ihn aus seinem Zimmer nach draußen gebracht. Als seine Mutter dies gesehen habe, hätte sie versucht zu verhindern, dass sie ihn mitnehmen würden. Sie hätten dann angefangen ihn und seine Mutter zu schlagen, die anderen Kinder hätten alle geweint. Dann hätten sie den BF mitgenommen, wo viele Männer gewesen seien vergleiche OZ 5 Sitzung 17). In der Verhandlung erwähnte der BF damit erstmals, dass Al Shabaab Schüsse abgegeben habe, bevor sie in sein Haus gekommen seien und steigerte dahingehend sein Vorbringen maßgeblich.

Des Weiteren ergeben sich in diesem Zusammenhang auch Differenzen, was der eigentliche Auslöser gewesen sei, der den BF bzw. dessen Familienmitglieder zum Aufstehen bewogen habe. In der Einvernahme brachte der BF vor, dass die Männer von Al Shabaab ins Zimmer gekommen seien, den BF mit einer Taschenlampe angeleuchtet hätten und er geschrien habe, was seiner Schilderung nach offenbar der Auslöser gewesen sei, dass seine Mutter dann aufgestanden sei vergleiche AS 34). In der Verhandlung stellte er es hingegen so dar, dass sie bereits nach den abgegebenen Schüssen aufgestanden seien und Al Shabaab daraufhin in das Haus gekommen sei. Außerdem erwähnte er die in diesem Zusammenhang gegen seine Mutter verabreichten Schläge erstmals in der Verhandlung. Selbiges gilt, wie bereits oben angeführt, dass sie bereits vor diesem Vorfall mit seiner Mutter über einen Anschluss des BF an die Al Shabaab gesprochen hätten. Im Übrigen stellte er es in der niederschriftlichen Einvernahme noch so dar, dass er sich an das Datum dieses Vorfalles so genau erinnern könne, weil man ihn an diesen Tag so viel angetan habe. In der Verhandlung führte er das Wissen um das konkrete Datum darauf zurück, dass seine Mutter ihm dieses Datum genannt habe, weil es für diese ein historisches Datum gewesen sei.

Gesamt betrachtet ist es keineswegs nachvollziehbar, warum der Beschwerdeführer nicht dazu in der Lage war ein einheitliches Vorbringen zu erstatten, wodurch auch dessen Glaubhaftigkeit maßgeblich beeinträchtigt wird. Diese Unstimmigkeiten wiegen auch deshalb besonders schwer, da es sich hierbei um wesentliche und besonders einschneidende Umstände seiner Fluchtgeschichte handelt.

Unstimmigkeiten ergeben sich überdies auch im Hinblick der Schilderung des BF während seiner Gefangenschaft durch die Al Shabaab. Führte dieser in der Verhandlung an, dass sich ca. 20 Personen in seinem Raum, indem er angehalten worden sei, befunden hätten, gab dieser, in der mit ihm vor dem BFA aufgenommenen Niederschrift noch an, dass es lediglich über 10 Personen gewesen wären. Hinsichtlich der behaupteten Folterungen schilderte der BF in der Verhandlung, dass sie jeden Tag und jede Nacht misshandelt worden wären, indem man ihnen kaltes Wasser über den Körper geschüttet hätte und sie in der Folge dann geschlagen worden wären. Zwar gab der BF vor dem BFA in Übereinstimmung mit den Ausführungen vor dem BVwG ebenso an mit einem Gewehrkolben geschlagen worden zu sein, mit Wasser seien sie aber dieser Schilderung nach, offenbar erst dann begossen worden, nachdem sie durch die verabreichten Schläge schwach geworden seien und diese nicht mehr reagiert hätten. Ziel dieser Handlungen sei den Angaben des BF nach gewesen, diese dazu zu bringen sich der Al Shabaab anzuschließen. Während der BF diesbezüglich vor dem BFA dazu noch ausführte, dass dies von ihm und den anderen Mitinsassen abgelehnt worden wäre vergleiche AS 31), gab dieser in der Verhandlung vor dem BVwG an, dass sie darauf nicht geantwortet hätten („R: Wie haben Sie auf die entsprechenden Aufforderungen reagiert? BF: Keiner hat was dazu gesagt, jeder hat Angst gehabt. Danach haben sie angefangen uns zu schlagen. Dann gingen sie weg“. vergleiche OZ 5, Seite 21). Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang, dass der BF trotz seiner Angst, in den gesamten Tagen seiner Anhaltung, auf die Aufforderung sich der Al Shababb anzuschließen, keine Antwort gegeben haben will. Umso unverständlicher ist es dann für das BVwG, unter den vom BF geschilderten Umständen, dass dieser es hingenommen haben will zu sterben, bevor er mit diesen zusammengearbeitet hätte. („R: Wie können Sie sich erklären, dass Sie einerseits Angst hatten, aber andererseits auf die Aufforderung der Al Shababb sich ihnen anzuschließen, keine Antwort gegeben haben? BF: Es war mir lieber zu sterben, als mit denen zusammenzuarbeiten…..“ OZ 5, Seite 21).

Im Übrigen ist es für das BVwG hinsichtlich des in Somalia vorherrschenden Clansystems und des dort an Bedeutung eingenommenen Raumes auch nicht nachvollziehbar, dass der BF mit den anderen aus seinem Dorf stammenden, namentlich genannten inhaftierten Jugendlichen, römisch 40 , befreundet gewesen sein will, nicht aber gewusst haben will, welchem Clan diese angehört hätten, als sie sich darüber nicht unterhalten hätten vergleiche AS 34f). In der Beschwerde verwies er in Bezug auf die Zeit in seiner Gefangenschaft, darauf, dass er aufgrund der traumatisierenden Ereignisse vieles vergessen und verdrängt hätte. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass hieraus dennoch nicht abgeleitet werden kann, warum sich der BF in diese, eben dargestellten, Widersprüche verstrickte.

Unstimmigkeiten ergeben sich des weiteres auch hinsichtlich der Schilderung des Ausbruches in der Unterbringung eines aus Blech bestehenden Zimmers des BF. In der Verhandlung stellte er es zunächst noch so dar, dass er mit seinen Mitinsassen am Ausbruch beteiligt gewesen sei („…Bevor die Bedenkzeit zu Ende war, haben wir eines Abends versucht von dort zu entkommen. Wir haben dieses Blech aufgebrochen, insgesamt waren wir 4 Personen (Ich, römisch 40 und noch 2 andere), daran beteiligt…..“ vergleiche OZ 5, Seite 15). Näher hierzu befragt erweckte der BF im Laufe der Verhandlung dann aber den Eindruck an dem Aufbruch des Zimmers gar nicht beteiligt gewesen zu sein, als lediglich ein Mithäftling namens römisch 40 mit anderen das Blech durchgeschnitten hätten. Zu der Art und Weise, wie dies geschehen sei, konnte der BF gar keine Angaben machen („….. römisch 40 war älter als ich und die haben das Blech durchgeschnitten. Ich weiß nicht mit welchen Gegenstand sie geschnitten haben.“ OZ 5, Seite 22). In weiterer Folge schränkte der BF die Wahrnehmung des Durchschneidens des Bleches dann gänzlich ein, in dem er die explizite Frage, wer das Blech durchgeschnitten hätte, völlig verneinte und lediglich die Gunst dieser Situation auch zur persönlichen Flucht nutzte („R: Wer hat jetzt das Blech durchgeschnitten? BF: Das weiß ich nicht. Ich habe nur gesehen, als diese Männer durch das durchgeschnittene Blech nach draußen gelaufen sind. Ich bin ihnen dann nachgelaufen.“ OZ 5, Seite 22). Der Vollständigkeit halber wird in diesem Zusammenhang überdies noch ausgeführt, dass der BF in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA nicht ausgeführt hat, dass vor seiner Flucht Blech durchgeschnitten hätte werden müssen, um aus dem Zimmer herauszulangen.

Ungereimtheiten ergeben sich überdies sowohl in den Angaben zur Abgrenzung des Geländes des Lagers, indem der BF angehalten worden sein soll, als auch in der Beschreibung der Art und Weise, wie dieser das Hindernis überwunden haben will. Gab dieser in der Verhandlung dazu zunächst an, über einen das Lager umrandeten Holzzaun gesprungen zu sein („R: Wie ist es Ihnen gelungen, das Gelände der Al Shabaab zu verlassen. BF: Nachdem wir das Zimmer verlassen haben, war das Lager mit einem Holzzaun umrandet. Über diesen Zaun sind wir dann gesprungen.“ OZ 5, Seite 22), vermeinte er in der Folge dessen, dass er darüber geklettert sei. Dies ist umso unverständlicher, als er zuvor, die Absolvierung eines solch durchgeführten Sprunges, noch mit der gefährlichen Situation zu rechtfertigen versuchte („R: Wie ist es Ihnen gelungen über diese Höhe zu springen? BF: Es ging damals um mein Leben, wir hatten alle Angst. Ich bin einfach über diesen Zaun gesprungen.“ OZ 5, Seite 23). Im Hinblick der vom BF in der Verhandlung einzuschätzenden Höhe des Hindernisses („R: Wie hoch war der Holzzaun? BF: Bis zur Höhe meines Kopfes, wie ich jetzt sitze“) gab dieser dann, nach Wiederholung der Frage, wie es ihm gelungen sei diese Höhe zu überwinden, im Gegensatz zur diesbezüglich ursprünglichen Antwort an, dass sie geklettert seien. Die Frage, ob er nunmehr gesprungen oder geklettert sei, beantwortete er im Gegensatz zu seiner früheren Aussage damit, dass dieser zunächst klettern hätte müssen, bevor er springen hätte können. Auf Vorhalt, dass er zuerst aber gesagt habe gesprungen und nicht geklettert zu sein, erwiderte der BF ohne den eigentlichen Widerspruch aufzuklären nur, dass man nicht zuerst springen habe könne, man habe klettern und dann springen müssen vergleiche OZ 5, Sitzung 21f).

Entsprechend den Ausführungen in der Verhandlung hätte es sich bei der Flucht aus dem Lager letztendlich bei Wahrunterstellung um ein hierbei offenbar weitaus größeres zu überwindendes Hindernis, als die Wand bzw. den Zaun gehandelt. Es ist demnach nicht nachvollziehbar, warum er hiervon nicht bereits in der Einvernahme erzählt habe. Zudem handelt es sich bei einer Wand und einem Holzzaun um grundlegend unterschiedliche Bauteile. Aus welchen Gründen er auch dahingehend kein einheitliches Vorbringen erstatten konnte, ist ebenso nicht schlüssig. Auf Vorhalt dieses Widerspruches erwiderte er ebenso ohne den eigentlichen Widerspruch aufzulösen nur, dass er gemeint habe, dass es eine Holzwand gewesen sei. Unter einem Zaun verstehe er das gleiche wie eine Wand, es sei für ihn beides gleich. Da er aber auch sonst seine Flucht nicht stringent angeben konnte, ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um eine bloße Schutzbehauptung und den Versuch handelt, sein Fluchtvorbringen im Nachhinein widerspruchsfrei wirken lassen zu wollen. Dazu kommt, dass er in der Einvernahme, trotz Nennung verschiedener Vergleichshöhen (z.B. Höhe eines Bildes 2m, Tischhöhe 80cm usw), keine Angaben zur „Wandhöhe“ zu machen vermochte. In der Verhandlung hatte der BF hierzu keine Probleme. Vielmehr konnte der BF die diesbezügliche Frage ohne Probleme beantworten („R: Wie hoch war dieser Holzzaun? BF: Bis zu der Höhe meines Kopfes, wie ich jetzt sitze.“ OZ 5 Seite 23), wodurch er seine Flucht konstruiert erscheinen lässt, zumal für das BVwG auch kein Grund ersichtlich ist, warum er einerseits beim BFA eine Angabe hierzu verweigern sollte, andererseits in der Verhandlung die Antwort auf die Frage sehr wohl vorgibt zu wissen. Im Übrigen behauptete er auf Vorhalt dessen, dass das Bundesamt ihn nicht gefragt habe, wie hoch diese Mauer gewesen sei, sondern wie hoch das Zimmer gewesen sei, in dem man ihn eingesperrt habe. Dies entspricht jedoch keineswegs den Tatsachen, zumal er in der Einvernahme selbst nur wenige Fragen zuvor und auch bei der Beantwortung der Frage selbst angegeben habe, dass er über eine Wand geklettert (also nicht durch eine Blechwand durchgegangen) sowie darüber gesprungen sei, wobei er wenig später, im Zusammenhang mit dieser Antwort nach der Höhe der Mauer gefragt wurde vergleiche AS 35f).

Im Übrigen ergeben sich auch zum Zeitpunkt der Flucht Unstimmigkeiten. Gab dieser in der Einvernahme auf die Frage: „Wann konnten Sie fliehen? an: „ Das war in der Früh, kurz vor Sonnenaufgang. Wir waren ca. eine Stunde unterwegs und dann ist es hell geworden“ (AS 35), behauptete der BF vor dem BVwG, dass er nach Mitternacht geflohen sei und nach ca. zwei Stunden die Sonne aufgegangen wäre vergleiche OZ 5, Sitzung 24). Ebenso ließ der BF offen, wie sich er und seine anderen mit ihm flüchtenden Personen in der Nacht im Wald zu orientieren vermochten. Der Umstand, dass römisch 40 und die anderen beiden Flüchtenden den Weg gekannt haben mögen, erklärt nicht, wie diese in der Nacht im Wald zum Wissen gelangt sind, wo sich aufhalten und diese letztendlich so orientieren konnten, dass sie ihren Weg gefunden haben wollen.

2.2.2. Den Länderberichten zufolge ist zwar zu entnehmen, dass die Miliz Al Shabaab Zwangsrekrutierungen durchführt. Diese kommen jedoch ausschließlich in Gebieten von Al Shabaab vor und Al Shabaab ist weniger an der Rekrutierung Erwachsener als an der Rekrutierung von 8-12-jährigen Kindern interessiert (siehe das Kapitel „(Zwangs-)Rekrutierungen und Kindersoldaten“). Außerdem wird direkter Zwang bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet, jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen. Wenn Al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen. Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen. Al Shabaab agiert sehr situativ. Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in römisch 40 keine Zwangsrekrutierungen durch Al Shabaab.

Demnach sind keine ausreichenden Hinweise hervorgekommen, dass der BF im Fall der Rückkehr nach Somalia mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gegen seinen Willen einer Rekrutierung durch Al Shabaab bzw. damit in Zusammenhang stehenden Arbeiten ausgesetzt war oder sein wird. Außerdem erscheint vor diesem Hintergrund auch nicht nachvollziehbar, dass Al Shabaab kein Interesse am zehn- und achtjährigen Bruder des BF gehabt und sich nur auf die Mitnahme des BF beschränkt hätte vergleiche AS 36; OZ 5, Sitzung 17). Einen abweichenden Modus bei der Rekrutierung durch Al Shabaab konnte der BF nicht glaubhaft darlegen. Auch wenn sich die Gefahr einer Zwangsrekrutierung nicht gänzlich ausschließen lässt, ist im Fall einer (hypothetischen) Rückkehr des BF auch unter Berücksichtigung seines Alters von 22 Jahren keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit zu erkennen, dass er dort landesweit einem Zwangsrekrutierungsversuch ausgesetzt sein würde. Vor dem Hintergrund seines unglaubhaften Fluchtvorbringens und dass Personen sogar nach römisch 40 flüchten um einer Zwangsrekrutierung zu entgehen, ist auch keineswegs glaubhaft, dass der BF in römisch 40 mit einem Tuktuk von Al Shabaab attackiert worden sei vergleiche AS 32 und 36). In der Verhandlung erwähnte er dies zudem erst gar nicht mehr.

2.2.3. In einer Gesamtschau stellen sich die Ausführungen des BF über jene Vorfälle, die eine Verfolgungsgefährdung seiner Person in Somalia belegen würden, als widersprüchlich, nicht nachvollziehbar bzw. nicht plausibel dar. Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher - wie auch die belangte Behörde - zu dem Schluss, dass der BF keine individuelle Verfolgung, bzw. asylrelevante Fluchtgründe im Sinne der GFK angegeben hat, bzw. dass seinem Vorbringen die Asylrelevanz zu versagen war.

2.5. Zur Rückkehrmöglichkeit nach Somalia

Die Feststellung zu den Folgen einer Rückkehr in der Stadt römisch 40 stützt sich auf die Berichte zur allgemeinen Lage in Somalia in Verbindung mit den individuellen Umständen des BF:

Den Länderinformationen zufolge befindet sich römisch 40 unter der Kontrolle der Regierung und ATMIS (vormals) AMISOM. Die Lage für die Zivilbevölkerung sowie die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden haben sich generell seit 2014 in römisch 40 verbessert. Es können nunmehr Gebiete kontrolliert werden, in denen zuvor die Al Shabaab ungehindert agieren konnte. Es gibt ausreichend Sicherheitskräfte und seit April 2022 wird eine Militärpolizei eingesetzt, wodurch die Sicherheitslage in römisch 40 weiter verbessert werden soll. Die Sicherheitsentwicklungen in der Stadt wurden zuletzt als positiv beschrieben. Die in römisch 40 gegebene Stärke der Sicherheitskräfte reicht zwar noch nicht aus, um Aktivitäten der Al Shabaab gänzlich zu unterbinden. Die Stadt bietet alleine aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele für die Al Shabaab, es gilt jedoch als höchst unwahrscheinlich, dass diese die Kontrolle über römisch 40 zurückerlangt und es besteht auch kein Risiko, dort von Al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Es finden zwar nach wie vor Terroranschläge durch die Al Shabaab statt und werden regelmäßig Menschen ermordet. Üblicherweise zielt die Terrororganisation jedoch auf Sicherheitskräfte und Vertreter des Staates sowie auf Örtlichkeiten, die von Regierungsvertretern und Sicherheitskräften frequentiert werden, ab. Es sind auch nicht alle Teile römisch 40 s bezüglich der Übergriffe durch die Al Shabaab gleich unsicher und ist ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierter Ort kein Hauptziel. Da die in römisch 40 wohnhaften Personen um die Gefahr bestimmter Örtlichkeiten Bescheid wissen und versuchen, diese zu meiden, ist die Bewegungsfreiheit gewissermaßen eingeschränkt. Dennoch kann man sich in der Stadt bewegen und ist die Instabilität Teil des Lebens der Bewohner geworden. Eine Rückkehr nach römisch 40 ist vor dem Hintergrund der dortigen Sicherheitslage somit jedenfalls möglich. Zudem ist römisch 40 über den internationalen Flughafen erreichbar.

Hinsichtlich der Wirtschaftslage ist den aktuellen Länderinformationen zu entnehmen, dass die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung des Landes durch mehrere Schocks, darunter, Überschwemmungen, Heuschreckenplage und Covid-19-Pandemie, unterminiert wurde, sich die somalische Wirtschaft jedoch als resilienter erwiesen hat, als vermutet. Auf dem Arbeitsmarkt hängen die Möglichkeiten des Einzelnen sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort ab. Die Arbeitsmöglichkeiten sind zwar beschränkt, es besteht jedoch vor allem für Personen mit besseren Sprachkenntnissen sowie jene mit Clanverbindungen eine erhöhte Chance, eine bessere Arbeit zu erhalten.

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Teilen des Landes nicht gewährleistet. Es gibt – abgesehen vom Geldtransferprogramm Baxnaano - auch kein öffentliches Wohlfahrtssystem, keinen sozialen Wohnraum und keine soziale Hilfe. Das eigentliche soziale Sicherheitsnetz ist jedoch die erweiterte Familie, der Subclan oder der Clan, die oftmals zumindest einen rudimentären Schutz bieten. Soziale Kontakte haben auch hinsichtlich der Dürre eine entscheidende Rolle gespielt. Somalia verfügt auch über ein funktionierendes System humanitärer Hilfen und humanitäre Organisationen sind in beinahe allen Bezirken aktiv. Mit der Gu-Regenzeit (April bis Juni) 2023 wurde in den meisten Teilen Somalias das Ende der Dürrebedingungen signalisiert. Auf die historische Dürre folgten Überschwemmungen in mehreren Bezirken. Humanitäre Organisationen, Behörden und lokale Gemeinschaften haben daraufhin die Hilfe für die betroffenen Menschen verstärkt.

Vor dem Hintergrund der allgemeinen Wirtschafts- und Versorgungslage in Somalia ist unter Berücksichtigung der individuellen Situation des BF nicht zu erwarten, dass dieser bei einer Neuansiedlung in der Stadt römisch 40 nicht in der Lage wäre, seine grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen:

Er wurde in Somalia geboren, verbrachte dort den überwiegenden Teil seines Lebens, ist daher mit den dortigen Gepflogenheiten vertraut und spricht auch Somalisch als Muttersprache. Zwei Monate vor seiner Ausreise aus Somalia hat er in römisch 40 gelebt. Darüber hinaus verfügt der gesunde und arbeitsfähige, 22 -jährige BF über eine zweijährige Schulbildung in einer Koranschule. Zudem kann bei einem als volljährigen, arbeitsfähigen, jungen Mann die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden. Es ist ihm auch die Aufnahme von Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten, deren Aufnahme keiner Berufsausbildung bedarf, zur Sicherung seiner Existenz zumutbar. Aus den Länderinformationen der Staatendokumentation geht zudem hervor, dass in römisch 40 auch für ungelernte Arbeitskräfte Jobs zur Verfügung stehen, welche zwar meist über persönliche Netzwerke, wie es der BF durch seinen Onkel in römisch 40 hat, aber auch auf Websites zur Arbeitsvermittlung zu finden sind (siehe das Unterkapitel „Wirtschaft und Arbeit“ im Kapitel „Grundversorgung / Wirtschaft“).

Auch die allgemeine Versorgungslage steht einer Ansiedlung des BF in römisch 40 nicht entgegen. Wie bereits erwähnt, gestaltete sich diese als schwierig. Die Stadt römisch 40 im Speziellen ist aber auf den in den festgestellten Länderberichten enthaltenen IPC-Lagekarten zur Nahrungsmittelsicherheit sowohl betreffend den aktuellen Status als auch hinsichtlich der Prognose für Dezember 2023 auf der fünfteiligen IPC-Skala (für nicht in Binnenvertriebenenlagern Lebenden) mit der Stufe 2 („stressed“ bzw. grenzwertig unsichere Ernährung) bewertet, d.h. dass für zumindest 20% der Haushalte der Lebensmittelkonsum zwar reduziert, aber geradeso ausreichend ist, ohne dass sie sich auf irreversible Bewältigungsstrategien einlassen müssen. Es ist auch zu beachten, dass nach den IPC-Stufen definitionsgemäß nicht (notwendigerweise) die gesamte Bevölkerung von den jeweiligen Versorgungsschwierigkeiten betroffen ist, sondern die jeweilige Stufe bereits dann erreicht wird, wenn zumindest ein Fünftel der Bevölkerung diese Schwierigkeiten aufweist. Das zeigt sich auch darin, dass sich nach der in den festgestellten Länderberichten enthaltenen Tabelle im Dezember 2022 73% der Bevölkerung in der Region Benadir / römisch 40 in den IPC-Stufen 1 und 2 befanden, sodass sohin ein Großteil der Bevölkerung in diesem Gebiet ihren Grundbedarf an sicheren und nahrhaften Nahrungsmitteln ohne atypische Bewältigungsstrategien decken konnten (IPC-Stufe 1) bzw. der Lebensmittelkonsum zwar reduziert, aber geradeso ausreichend war, ohne dass sie sich auf irreversible Bewältigungsstrategien einlassen müssen (IPC-Stufe 2). Im September 2023 befanden sich 86 % Bevölkerung in der Region Benadir / römisch 40 in den IPC-Stufen 1 und 2, sodass in dieser Hinsicht eine Verbesserung der Lage für die Bevölkerung römisch 40 s eingetreten ist. Eine solche ist mit der Prognose der Klassifizierung in IPC Stufe 1 für die Monate April bis Juni 2024 für den städtischen Bereich römisch 40 s ebenso anzunehmen vergleiche Somalia: Acute Food Insecurity Situation for January - March 2024 and Projection for April - June 2024 | IPC - Integrated Food Security Phase Classification (ipcinfo.org)).

Da seinem Fluchtvorbringen insgesamt kein Glaube geschenkt wurde (siehe dazu Punkt 2.4.1.), ist auch seinem Vorbringen, wonach er deshalb nicht nach Somalia zurückkehren könne, weil er Angst habe, von Al Shabaab getötet zu werden, die Grundlage entzogen. Insofern geht auch die Behauptung, dass er in diesem Zusammenhang in der zweiten Woche seines Aufenthaltes bei seinem Onkel in römisch 40 attackiert worden wäre und deswegen dann beim Schlepper untergebracht worden sei, ins Leere. Weitere substantiierte Gründe, die gegen eine Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat sprechen würde, brachte er im Laufe des Verfahrens nicht vor. Der BF verfügt somit mit seinem Onkel mütterlicherseits jedenfalls über einen familiären Anknüpfungspunkt in der Stadt römisch 40 . Auch wenn er derzeit nicht mit ihm in Kontakt steht, so machte der BF keine Umstände geltend aus denen abgeleitet hätte werden können, warum ihm dies bei einer Rückkehr nicht wieder möglich wäre. Er römisch 40 dem Clan der Boon (Gabooye), demnach keinem lokalen Mehrheitsclan, an, da er jedoch vor seiner Ausreise bereits zwei Monate in römisch 40 dazu in der Lage war sein Leben zu bestreiten und auch keine Gründe erkannt werden konnten, die die Annahme rechtfertigen würden, dass ihm sein Onkel nicht wieder helfen könnte, ist davon auszugehen, dass er dort bei einer Rückkehr in keine existentielle Notlage geraten würde. Zur Überwindung allfälliger Anfangsschwierigkeiten kann der BF überdies Rückkehrunterstützung in Anspruch nehmen (siehe das Unterkapitel „Rückkehrspezifische Grundversorgung“ im Kapitel „Grundversorgung/Wirtschaft“). Angesichts seiner persönlichen Situation vor Ort besteht daher keine Gefahr, dass der BF auf die Versorgung in einem IDP-Lager angewiesen wäre bzw. gezwungen wäre, sich in einem Lager für Binnenvertriebene niederzulassen.

Es ist daher im Ergebnis zu prognostizieren, dass es dem BF vor dem Hintergrund der relevanten Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia möglich und zumutbar sein wird, sich in römisch 40 niederzulassen. Seiner Ansicht in der Stellungnahme der Beschwerde, dass ihm keine innerstaatliche Fluchtalternative zukommen würde, war daher nicht zu folgen.

2.7. Zu den Feststellungen zum Herkunftsstaat

Die verfahrenswesentlichen Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur Situation in Somalia stammen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation „Somalia“, Version 6, Datum der Veröffentlichung: römisch 40 , und beruhen auf den dort angeführten Quellen. Die Länderfeststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen und stellen angesichts der bisherigen Ausführungen im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens und der Rückkehrsituation des BF dar. Insofern in der Beschwerde moniert wird, dass die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen unvollständig seien und sich kaum mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF befassen würden, sodass sie als Begründung zur Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz unzureichend seien, ist darauf hinzuweisen, dass sich hierzu im Kapitel „Minderheiten und Clans“ Ausführungen zu den Gabooye befinden, welchen auch die Boon angehören, sodass es diesbezüglich keiner Ergänzungen bedurfte. Betreffend die Versorgungslage verwies der BF selbst auf die Länderinformationen. In seiner Stellungnahme in der Verhandlung bezog er sich ebenso darauf und trat diesen im Hinblick der individuellen Lage des BF nicht substantiiert entgegen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides:

3.1.1. Paragraph 3, Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.

[…]“

3.1.2. Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.

Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.1.3. Im vorliegenden Fall ist es dem BF nicht gelungen, objektiv begründete Furcht vor aktueller Verfolgung in gewisser Intensität darzutun. Wie bereits in der Beweiswürdigung unter Punkt römisch II.2.4. ausgeführt, ist es nicht glaubhaft, dass der BF zum aktuellen Zeitpunkt bei einer Rückkehr nach Somalia Gefahr läuft einer Zwangsrekrutierung durch Al Shabaab ausgesetzt zu sein. Dass er von Al Shabaab entführt und zur Mitarbeit aufgefordert worden wäre, sowie geschlagen worden sei, wobei er habe fliehen können, in römisch 40 jedoch erneut attackiert worden sei, konnte er nicht glaubhaft machen.

3.1.4. Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (VwGH 25.09.2020, Ra 2019/19/0407; mwN).

In Ermangelung von den BF individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte dieser Rechtsprechung des VwGH zu prüfen, ob der BF im Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale unabhängig von individuellen Aspekten einer gezielten Verfolgung ausgesetzt wäre.

Muslimen droht als Angehörigen der größten Glaubensgemeinschaft und traditionellen Hauptreligionen Somalias keine Verfolgung. Im Übrigen brachte der BF konkrete Probleme aufgrund seiner Religionszugehörigkeit oder seiner Volksgruppen- bzw. Clanzugehörigkeit gar nicht erst vor.

Hinweise, dass dem BF aus sonstigen Gründen im Fall der Rückkehr nach Somalia aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen die reale Gefahr einer Verfolgung droht, sind im Verfahren im Übrigen nicht hervorgekommen.

3.1.5. Insgesamt war daher das Vorbringen des BF nicht geeignet, eine mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung aus asylrelevanten Gründen darzutun, weshalb es dem BF insgesamt nicht gelungen ist, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Folglich war die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.

3.2. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides:

3.2.1. Wird ein Asylantrag "in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten" abgewiesen, so ist dem Asylwerber gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, "wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde". Nach Paragraph 8, Absatz 2, AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung dieses Status mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, AsylG 2005 zu verbinden.

Gemäß Artikel 2, EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. Letzteres wurde wiederum durch das Protokoll Nr. 6 beziehungsweise Nr. 13 zur Abschaffung der Todesstrafe hinfällig. Gemäß Artikel 3, EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Gemäß Paragraph 8, Absatz 3, AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich dieses Status abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offensteht oder wenn der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann. Daraus und aus mehreren anderen Vorschriften (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13,, Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 2,, Paragraph 27, Absatz 2 und 4 AsylG 2005) ergibt sich, dass dann, wenn dem Asylwerber kein subsidiärer Schutz gewährt wird, sein Antrag auf internationalen Schutz auch in dieser Beziehung förmlich abzuweisen ist.

Nach der (zur Auslegung der Bestimmungen zum subsidiären Schutz anwendbaren) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu Paragraph 8, Asylgesetz 1997 (AsylG 1997) in Verbindung mit Paragraph 57, Fremdengesetz 1997 BGBl römisch eins 75 (FrG) ist Voraussetzung einer positiven Entscheidung nach dieser Bestimmung, dass eine konkrete, den Asylwerber betreffende, aktuelle, durch staatliche Stellen zumindest gebilligte oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbare Gefährdung bzw. Bedrohung vorliege. Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und -fähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, eine positive Entscheidung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben vergleiche VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0122; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird - auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören - der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Artikel 3, EMRK gewährleisteten (oder anderer in Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 erwähnter) Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwSlg. 15.437 A/2000; VwGH 25.11.1999, Zl. 99/20/0465; VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0586; VwGH 21.09.2000, Zl. 99/20/0373; VwGH 21.06.2001, Zl. 99/20/0460; VwGH 16.04.2002, Zl. 2000/20/0131). Diese in der Judikatur zum AsylG 1997 angeführten Fälle sind nun zT durch andere in Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 erwähnte Fallgestaltungen ausdrücklich abgedeckt. Die bloße Möglichkeit einer dem Artikel 3, EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat (unter dem Gesichtspunkt des Paragraph 57, FrG, dies ist nun auf Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 zu übertragen) als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Paragraph 57, FrG hat der Fremde glaubhaft zu machen, dass er aktuell bedroht sei, dass die Bedrohung also im Falle, dass er abgeschoben würde, in dem von seinem Antrag erfassten Staat gegeben wäre und durch staatliche Stellen zumindest gebilligt wird oder durch sie nicht abgewandt werden kann. Gesichtspunkte der Zurechnung der Bedrohung im Zielstaat zu einem bestimmten "Verfolgersubjekt" sind nicht von Bedeutung; auf die Quelle der Gefahr im Zielstaat kommt es nicht an (VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; VwGH 26.02.2002, Zl. 99/20/0509). Diese aktuelle Bedrohungssituation ist mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender Angaben darzutun, die durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert werden (VwGH 2.8.2000, Zl. 98/21/0461). Dies ist auch im Rahmen des Paragraph 8, AsylG 1997 (nunmehr: Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005) zu beachten (VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).

Unter realer Gefahr ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen vergleiche etwa VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus. Gemäß der Judikatur des VwGH erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Artikel 3, EMRK auch sonst gültigen Maßstab des "real risk", wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat vergleiche VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582; VwGH 31.05.2005, 2005/20/0095).

"Für die zur Prüfung der Notwendigkeit subsidiären Schutzes erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des BF bei einer Rückkehr abzustellen. Kommt die Herkunftsregion des BF als Zielort wegen der dem BF dort drohenden Gefahr nicht in Betracht, kann er nur unter Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und seiner persönlichen Umstände auf eine andere Region des Landes verwiesen werden (VfGH 12.03.2013, U1674/12; 12.06.2013, U2087/2012)." (VfGH vom 13.09.2013, Zl. U370/2012).

Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Artikel 2, oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen vergleiche VwGH 30.09.2019, Ra 2018/01/0068).

3.2.2. Gemäß Paragraph 11, Absatz eins, AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz von Asylwerbern, denen in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden kann und denen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann, abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins, AsylG) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind. Gemäß Paragraph 11, Absatz 2, leg.cit. ist bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.

Paragraph 11, AsylG 2005 unterscheidet nach seinem klaren Wortlaut zwei getrennte und selbständig zu prüfende Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative. Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Demgemäß verbietet sich die Annahme, der Schutz eines Asylwerbers sei innerstaatlich zumindest in einem Teilgebiet gewährleistet, jedenfalls dann, wenn in dieser Region Verhältnisse herrschen, die Artikel 3, EMRK widersprechen. Zum anderen setzt die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative voraus, dass dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann. Die Zumutbarkeit des Aufenthaltes ist daher von der Frage der Schutzgewährung in diesem Gebiet zu trennen. Selbst wenn in dem betreffenden Gebiet also keine Verhältnisse herrschen, die Artikel 3, EMRK widersprechen (oder auf Grund derer andere Voraussetzungen des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz erfüllt wären), wäre eine innerstaatliche Fluchtalternative bei Unzumutbarkeit des Aufenthaltes in diesem Gebiet zu verneinen. Die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates hat selbstverständlich wesentliche Bedeutung. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, findet. Sind diese Voraussetzungen zu bejahen, so wird dem Asylwerber unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative zuzumuten sein. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001 und VwGH 27.06.2018, Ra 2018/18/0269).

3.2.3. Die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes verweist in Artikel 10, zur Anforderung an die Prüfung von Anträgen gleichrangig auf die Heranziehung von Quellen wie EASO und UNHCR:

„Artikel 10

[…]
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass

a) die Anträge einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden werden;

b) genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa EASO und UNHCR sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller und gegebenenfalls in den Staaten, durch die sie gereist sind, und diese Informationen den für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten zur Verfügung stehen;

[…]“

3.2.3.1. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den UNHCR-Richtlinien besondere Beachtung zu schenken (s. VwGH 22.11.2016, Ra 2016/20/0259, mwN; 08.08.2017, Ra 2017/19/0118; zur „Indizwirkung“ vergleiche VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0103 bis 0106, mwN). Diese Rechtsprechung geht auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes zurück, in der dieser erkannte, dass Empfehlungen internationaler Organisationen zweifelsohne Gewicht zukommt, wenn es um die Beurteilung der allgemeinen Verhältnisse vor Ort geht. Sie ersparen jedoch nicht eine nähere Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt vergleiche VwGH 13.11.2001, 2000/01/0453).

In den von UNHCR veröffentlichten „International Protection Considerations with Regard to People Fleeing”, Stand September 2022, werden hinsichtlich der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in römisch 40 folgende Erwägungen getroffen:

„UNHCR considers that given the current security, human rights, economic and humanitarian situation in Mogadishu, an IFA/IRA is generally not available in the city. An IFA/IRA may be available in exceptional cases, for example, for single healthy and able-bodied men of working age without identified vulnerabilities (or married couples without children where both spouses are healthy, able-bodied and of working age without identified vulnerabilities), and who belong to a local majority clan such as the Abgaal subclan of the Hawiye through which they have access to (i) shelter outside an IDP settlement and without risk of eviction, (ii) essential services such as potable water and sanitation, health care and education; and (iii) a livelihood that does not place the person at an elevated risk of the indiscriminate violence affecting Mogadishu, or proven and sustainable support to enable access to an adequate standard of living.”

Demnach vertritt UNHCR die Ansicht, dass römisch 40 angesichts der derzeitigen Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie der wirtschaftlichen und humanitären Situation in dieser Stadt generell nicht als innerstaatliche Fluchtalternative zu qualifizieren ist. Nach den weiteren Ausführungen von UNHCR kann eine innerstaatliche Fluchtalternative in römisch 40 in Ausnahmefällen jedoch angenommen werden, beispielsweise für alleinstehende gesunde und arbeitsfähige Männer im erwerbsfähigen Alter ohne Vulnerabilitäten (oder Ehepaare ohne Kinder, bei denen beide Ehegatten gesund, arbeitsfähig und im erwerbsfähigen Alter ohne Vulnerabilitäten), die einem lokalen Mehrheitsclan, wie dem Abgaal-Subclan der Hawiye, angehören und durch welchen sie Zugang haben zu

●             einer Unterkunft außerhalb einer Binnenflüchtlingssiedlung und ohne das Risiko einer Vertreibung,

●             grundlegenden Dienstleistungen wie Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen, Gesundheitsversorgung und Bildung; und

●             eine Lebensgrundlage, die die Person nicht einem erhöhten Risiko durch die willkürliche Gewalt in römisch 40 aussetzt, oder eine nachweisliche und nachhaltige Unterstützung, die den Zugang zu einem angemessenen Lebensstandard ermöglicht vergleiche Sitzung 132.).

3.2.3.2. Die „European Union Agency for Asylum“ (EUAA) geht in der EUAA Country Guidance zu Somalia vom August 2023 (siehe insbesondere Seite 230) ebenso davon aus, dass römisch 40 vor dem Hintergrund der allgemeinen Lage und unter Berücksichtigung der jeweiligen individuellen Umstände nur in Ausnahmefällen eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative darstellen kann. Diese Ausnahmefälle beträfen insbesondere bestimmte erwerbsfähige Männer und kinderlose Ehepaare, bei denen es keine weiteren Hinweise auf eine Schutzbedürftigkeit gibt und die zu einem der örtlichen Mehrheitsclans gehören. Darüber hinaus ist Voraussetzung, dass sie aufgrund ihres Bildungsniveaus und ihres beruflichen Hintergrunds eine Beschäftigung finden können oder ein soziales Netz haben, das in der Lage ist, sie bei der Sicherung ihres Lebensunterhalts zu unterstützen, oder anderweitig über hinreichende finanzielle Mittel verfügen. Bei Paaren muss der Lebensunterhalt am Ort der innerstaatlichen Fluchtalternative für beide Ehegatten gewährleistet sein.

3.2.4. Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG nicht gegeben sind:

Wie unter Punkt römisch II.3.1. ausgeführt, besteht für den BF keine reale Gefahr, aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe verfolgt zu werden. Im gegenständlichen Verfahren sind auch keine anderen Gründe hervorgekommen, aufgrund welcher der BF im Herkunftsstaat der realen Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt ist.

Dem BF ist eine Rückkehr nach römisch 40 möglich:

Der BF hat keine individuellen Umstände dargetan und glaubhaft gemacht, die im Fall der Wiederansiedlung in der Stadt römisch 40 eine reale Gefahr der Verletzung von Artikel 2, EMRK und Artikel 3, EMRK für maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen.

Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung unter Punkt römisch II.2.5. dargelegt wurde, ist die Sicherheitslage in römisch 40 zwar angespannt, es herrschen jedoch keine Bedingungen, welche die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Überdies verfügt römisch 40 über einen internationalen Flughafen, über welchen die Stadt sicher erreicht werden kann.

In Zusammenschau der persönlichen Situation des BF mit der allgemeinen Versorgungslage in römisch 40 ist zu prognostizieren, dass der BF seinen Lebensunterhalt und existenzielle Grundbedürfnisse sichern wird können, wie bereits unter Punkt römisch II.2.5. dargelegt wurde. Es wird ihm möglich sein, in römisch 40 nach anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können, sodass ihm eine Wiederansiedlung in römisch 40 im Hinblick auf die zu erwartenden Lebensumstände zumutbar ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes reicht eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet allerdings nicht aus, um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen vergleiche VwGH 15.02.2021, Ra 2020/01/0351; VwGH 09.11.2020, Ra 2020/20/0373; jeweils mwN).

Dem stehen auch nicht die UNHCR-Erwägungen vom September 2022 entgegen, da dort eine innerstaatliche Fluchtalternative in Ausnahmefällen als zulässig erachtet und in den UNHCR-Erwägungen vom September 2022 hierfür Beispiele angeführt werden. Als alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger Mann im erwerbsfähigen Alter ohne Vulnerabilitäten, der zwar in römisch 40 keinem lokalen Mehrheitsclan angehört, aber dort über familiären Rückhalt verfügt und Unterkunft sowie Unterstützung von seinem Onkel in römisch 40 in Anspruch nehmen kann, sowie dort bereits in der Vergangenheit zwei Monate in der Lage war sein Leben zu bestreiten, sodass er nicht auf ein IDP-Lager angewiesen ist, ist dem BF eine Rückkehr nach römisch 40 zumutbar

Da dem BF eine Rückkehr nach römisch 40 möglich ist, sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben und war damit auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides abzuweisen.

3.3. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides:

3.3.1. Gemäß Paragraph 58, Absatz eins, Ziffer 2, AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch bezüglich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.

3.3.2. Paragraph 57, Absatz eins, AsylG 2005 lautet:

'Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz'

"1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Absatz eins a, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist."

Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung auf internationalen Schutz im Mai 2022 im Bundesgebiet und sein Aufenthalt ist nicht geduldet. Er ist nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG liegen daher nicht vor und ein dementsprechendes Vorbringen wurde auch nicht erstattet.

3.4. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt wird sowie kein Fall der Paragraphen 8, Absatz 3 a, oder 9 Absatz 2, AsylG vorliegt.

Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

Der BF ist als Staatsangehöriger von Somalia kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu.

3.4.1. Der mit "Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikel 8, EMRK" betitelte Paragraph 55, AsylG lautet wie folgt:

"§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 9, Integrationsgesetz (IntG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017,, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (Paragraph 5, Absatz 2, Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 189 aus 1955,) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Absatz eins, Ziffer eins, vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen."

Der mit "Schutz des Privat Familienlebens" betitelte Paragraph 9, BFA-VG lautet wie folgt:

"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraph 45, oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.

Anmerkung, Absatz 4, aufgehoben durch Artikel 4, Ziffer 5,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 56 aus 2018,)

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraphen 52, Absatz 4, in Verbindung mit 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 4, FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß Paragraph 53, Absatz 3, FPG vorliegen. Paragraph 73, Strafgesetzbuch (StGB), Bundesgesetzblatt Nr. 60 aus 1974, gilt."

Artikel 8, EMRK lautet wie folgt:

"(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Artikel 8, Absatz 2, EMRK erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinne wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wögen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist vergleiche VfGH 29.09.2007, B 1150/07-9; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423).

Hierbei ist neben diesen (beispielhaft angeführten) Kriterien, aber auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal etwa das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt rechtswidrig oder lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist vergleiche VfGH 12.06.2007, B 2126/06; VfGH vom 29.09.2007, Zl. B 1150/07-9; VwGH 24.04.2007, 2007/18/0173; VwGH 15.05.2007, 2006/18/0107, und 2007/18/0226).

Das nach Artikel 8, EMRK geschützte Familienleben ist nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Beziehungen beschränkt, sondern erfasst auch faktische Familienbindungen, bei welchen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben. Auch eine aufrechte Lebensgemeinschaft fällt unter das von Artikel 8, EMRK geschützte Familienleben (VwGH 09.09.2013, Zl. 2013/22/0220 mit Hinweis auf E vom 19.03.2013, Zl. 2012/21/0178, E vom 30.08.2011, Zl. 2009/21/0197, und E vom 21.04.2011, Zl. 2011/01/0131).

Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen vergleiche EGMR 16.06.2005, Fall Sisojeva ua., Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nehmen die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren vergleiche VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001). Die bisherige Rechtsprechung legt keine Jahresgrenze fest, sondern nimmt eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vor vergleiche dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, EMRK, in ÖJZ 2007, 852 ff, aber auch VwGH 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479, wonach ein dreijähriger Aufenthalt "jedenfalls" nicht ausreichte, um daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abzuleiten, so im Ergebnis auch VfGH 12.06.2013, Zl. U485/2012).

Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kam für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH 15.03.2016, Ra 2016/19/0031; 23.06.2015, Ra 2015/22/0026).

Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt, ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, werden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach einem so langen Inlandsaufenthalt noch als verhältnismäßig angesehen vergleiche VwGH 14.4.2016, Ra 2016/21/0029; 17.10.2016, Ro 2016/22/0005). Diese Rechtsprechung wurde vom Verwaltungsgerichtshof wiederholt auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag vergleiche zu einem ungefähr neuneinhalbjährigen Aufenthalt VwGH 30.7.2014, 2013/22/0226; 9.9.2014, 2013/22/0247; 16.12.2014, 2012/22/0169).

Die Umstände, dass ein Fremder perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, stellen keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale dar (Hinweis E 26. November 2009, 2008/18/0720). Auch die strafgerichtliche Unbescholtenheit vergleiche Paragraph 66, Absatz 2, Ziffer 6, FrPolG 2005) vermag die persönlichen Interessen des Fremden nicht entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029). Vom Verwaltungsgerichtshof wurde im Ergebnis auch nicht beanstandet, dass in Sprachkenntnissen und einer Einstellungszusage bzw. einem arbeitsrechtlichen Vorvertrag keine solche maßgebliche Änderung des Sachverhalts gesehen wurde, die eine Neubeurteilung im Hinblick auf Artikel 8, EMRK erfordert hätte vergleiche VwGH 23.11.2017, Zl. Ra 2015/22/0162; VwGH 12.10.2015, Zl. Ra 2015/22/0074; VwGH 27.01.2015, Zl. Ra 2014/22/0108; VwGH 19.11.2014, Zl. 2012/22/0056; VwGH 19.11.2014, Zl. 2013/22/0017).

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit vergleiche Paragraph 66, Absatz 2, Ziffer 6, FrPolG 2005) vermag die persönlichen Interessen des Fremden nicht entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029). Hingegen besteht aber im Hinblick auf strafgerichtliche Verurteilungen eines Fremden ein großes öffentliches Interesse an der Verhinderung der Eigentumskriminalität vergleiche etwa VwGH 09.09.2010, Zl. 2006/20/0176, VwGH 28.02.2008, Zl. 2006/18/0467, VwGH 07.02.2008, Zl. 2006/21/0388).

Gemäß der aktuellen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist die Integration von Asylwerbern stärker zu berücksichtigen, wenn – anders als in Fällen, in denen die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basierte vergleiche dazu insbesondere auch VwGH 30.04.2009, Zl. 2009/21/0086; VwGH 19.02.2009, Zl. 2008/18/0721; VwGH 18.12.2008, Zl. 2007/21/0505) – diese während eines einzigen Asylverfahrens erfolgt ist und von den Asylwerbern nicht schuldhaft verzögert wurde vergleiche VfGH 07.10.2010, Zl. B 950/10; VfGH 12.06.2013, Zl. U485/2012).

In seiner davor erfolgten Entscheidung Nnyanzi gegen United Kingdom vom 08.04.2008 (Nr. 21878/06) kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass bei der vorzunehmenden Interessensabwägung zwischen dem Privatleben des Asylwerbers und dem staatlichen Interesse eine unterschiedliche Behandlung von Asylwerbern, denen der Aufenthalt bloß aufgrund ihres Status als Asylwerber zukommt, und Personen mit rechtmäßigem Aufenthalt gerechtfertigt sei, da der Aufenthalt eines Asylwerbers auch während eines jahrelangen Asylverfahrens nie sicher ist. So spricht der EGMR in dieser Entscheidung ausdrücklich davon, dass ein Asylwerber nicht das garantierte Recht hat, in ein Land einzureisen und sich dort niederzulassen. Eine Abschiebung ist daher immer dann gerechtfertigt, wenn diese im Einklang mit dem Gesetz steht und auf einem in Artikel 8, Absatz 2, EMRK angeführten Grund beruht. Insbesondere ist nach Ansicht des EGMR das öffentliche Interesse jedes Staates an einer effektiven Einwanderungskontrolle jedenfalls höher als das Privatleben eines Asylwerbers; auch dann, wenn der Asylwerber im Aufnahmestaat ein Studium betreibt, sozial integriert ist und schon 10 Jahre im Aufnahmestaat lebte.

3.4.2. Abwägung im gegenständlichen Fall

Der Begriff des "Familienlebens" in Artikel 8, EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Artikel 8, EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.6.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 7.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 5.7.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt vergleiche Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Da sich keine Familienangehörige oder Verwandte des BF im Bundesgebiet oder in Europa befinden, stellt die Erlassung einer Rückkehrentscheidung keinen unzulässigen Eingriff in das Recht des BF auf Schutz des Familienlebens dar.

Die aufenthaltsbeendende Maßnahme könnte daher allenfalls in das Privatleben des BF eingreifen.

Zunächst ist auszuführen, dass der BF zum Aufenthalt in Österreich nur auf Grund eines Antrages auf internationalen Schutz, der sich letztlich nicht als begründet erwiesen hat, berechtigt gewesen ist. Anhaltspunkte dafür, dass ihm ein nicht auf asylrechtliche Bestimmungen gestütztes Aufenthaltsrecht zukäme, sind gleichfalls nicht ersichtlich.

Weiters ist auf die noch relativ kurze Aufenthaltsdauer des BF von zwei Jahren und fünf Monaten zu verweisen. Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so muss die in dieser Zeit erlangte Integration aber außergewöhnlich sein, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (VwGH vom 18.09.2019, Ra 2019/18/0246). Die Kombination aus Fleiß, Arbeitswille, Unbescholtenheit, dem Bestehen sozialer Kontakte in Österreich, dem verhältnismäßig guten Erlernen der deutschen Sprache sowie dem Ausüben einer Erwerbstätigkeit stellt selbst bei einem Aufenthalt von knapp vier Jahren im Zusammenhang mit der relativ kurzen Aufenthaltsdauer keine außergewöhnliche Integration dar vergleiche VwGH vom 18.09.2019, Ra 2019/18/0212). Es ist im Sinne des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 8, BFA-VG maßgeblich relativierend, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (VwGH vom 28.02.2019, Ro 2019/01/003).

Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist festzuhalten, dass beim BF keine außergewöhnliche Integration vorliegt, die für ein Überwiegen seiner privaten Interessen an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet sprechen würde.

Denn obwohl er sich einen Freundeskreis im Bundesgebiet aufgebaut hat, konnten zu diesem keine besonderen Nahebeziehungen festgestellt werden. Ihm ist zwar zugute zu halten, dass er grundlegendste Deutschkenntnisse erworben, sowie an Integrationskursen teilgenommen hat. Ihm gelang es aber dennoch nicht ein Deutschzertifikat zu erwerben. Außerdem geht er im Bundesgebiet keiner rechtmäßigen Arbeit nach und ist weder Mitglied in einem Verein, Club oder einer Organisation noch betätigt er sich ehrenamtlich.

Der Umstand, dass der BF in Österreich nicht straffällig geworden ist, bewirkt keine Erhöhung des Gewichtes der Schutzwürdigkeit von persönlichen Interessen an einem Aufenthalt in Österreich, da die Begehung von Straftaten einen eigenen Grund für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen darstellt vergleiche VwGH 24.07.2002, 2002/18/0112).

Hinzu kommt im gegenständlichen Fall, dass der BF den überwiegenden Teil seines Lebens in seinem Herkunftsstaat verbracht hat und mit seinem Onkel in römisch 40 über soziale Anknüpfungspunkte in Somalia verfügt. Der BF wurde in seinem Herkunftsstaat geboren, wuchs dort auf, besuchte die Schule und spricht mit Somalisch auch eine anerkannte Landessprache. Es liegen daher keine Anhaltspunkte vor, weshalb sich der arbeitsfähige BF im Falle der Rückkehr nicht wieder in die Gesellschaft seines Heimatlandes eingliedern könnte.

Es ist festzuhalten, dass die Dauer des Verfahrens nicht jenes Maß übersteigt, dass für ein rechtsstaatlich geordnetes, den verfassungsrechtlichen Vorgaben an Sachverhaltsermittlungen und Rechtschutzmöglichkeiten entsprechendes Asylverfahren angemessen ist. Es liegt somit jedenfalls kein Fall vor, in dem die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der einreise- und fremdenrechtlichen Vorschriften sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung angesichts der langen Verfahrensdauer oder der langjährigen Duldung des Aufenthaltes im Inland nicht mehr hinreichendes Gewicht haben, die Rückkehrentscheidung als "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" erscheinen zu lassen vergleiche VfSlg 18.499/2008, 19.752/2013; EGMR 04.12.2012, Fall Butt, Appl. 47.017/09, Ziffer 85, f.).

Insgesamt betrachtet ist davon auszugehen, dass die Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet nur geringes Gewicht haben und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des VwGH ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten.

Nach einer individuellen Abwägung der berührten Interessen ist ein Eingriff in das Privatleben des BF durch eine Rückkehrentscheidung als im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK verhältnismäßig und ihre Erlassung zur Errichtung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele, insbesondere der öffentlichen Ordnung, als geboten zu erachten. Daraus folgt ihre Zulässigkeit iSd Paragraph 9, BFA-VG.

Die Verfügung der Rückkehrentscheidung gem. Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG war daher im vorliegenden Fall dringend geboten und auch nicht unverhältnismäßig.

3.5.       Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG hat das BFA mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.

Nach Paragraph 50, Absatz eins, FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Nach Paragraph 50, Absatz 2, FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Artikel 33, Ziffer eins, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974,), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005).

Nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

Unter Zugrundelegung des bisher Ausgeführten (siehe insbesondere die Punkte römisch II.3.1. und römisch II.3.2.) können keine Gründe erkannt werden, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des Paragraph 50, FPG ergeben würde. Die Zulässigkeit der Abschiebung des BF in den Herkunftsstaat Somalia ist gegeben.

3.6.       Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch VI. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach Paragraph 55, Absatz 2, FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt worden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche die zu Spruchteil A) angeführten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes) ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stützen, die bei den jeweiligen Erwägungen wiedergegeben wurde. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2024:W124.2277228.1.00