Bundesverwaltungsgericht
15.10.2024
I423 2290559-1
I423 2290559-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Daniela GREML über die Beschwerde des römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Syrien, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.03.2024, IFA-Zahl/Verfahrenszahl: römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.10.2024 zu Recht:
A)
römisch eins. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins., mit dem der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde, wird gemäß Paragraph 3, AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
römisch II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 stattgegeben und römisch 40 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien zuerkannt. Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 wird römisch 40 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
römisch III. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte römisch III. bis römisch VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Syriens, stellte nach unrechtmäßiger Einreise am 28.04.2022 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am darauffolgenden Tag gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass er Syrien verlassen habe, weil er sein Studium nicht habe abschließen können. Er sei Sunnit und stamme aus römisch 40 , deswegen sei er diskriminiert worden. Die Regierung sei schlecht, einige Studentenkollegen von ihm seien festgenommen worden. Er müsse in Syrien den Militärdienst leisten und werde vielleicht verraten und eingesperrt.
2. Aufgrund unsteten Aufenthalts wurde das Asylverfahren des Beschwerdeführers am 06.05.2022 eingestellt. Am 29.03.2023 wurde er von Deutschland rücküberstellt.
3. Am 19.02.2024 erfolgte vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, im Folgenden als belangte Behörde bzw. BFA bezeichnet, die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers. In dieser führte er aus, dass seine Wohnung in Latakia im Jahr 2011 während seiner Studienzeit von einer Ermittlungsbehörde des Regimes durchsucht worden sei. Diese hätten im Personalausweis gesehen, dass er aus römisch 40 komme. Sie hätten gesagt, er müsse nach Damaskus zurückgehen, weil sie Terroristen wären. Das habe der Beschwerdeführer dann getan. Über zehnmal habe er an Demonstrationen teilgenommen. Er wollte den Militärdienst nicht ableisten. Auch bedrohe in sein Schwiegervater.
4. Mit Bescheid des BFA vom 14.03.2024 wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 28.04.2022 auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen. Eine Aufenthaltsberechtigung „besonderer Schutz“ wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt römisch IV.), festgestellt, dass seine Abschiebung nach Syrien zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.) und ihm eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt römisch VII.).
5. Dagegen richtet sich die Beschwerde vom 12.04.2024, in der die inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert wurde. Zusammengefasst wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer 2011 und 2012 an mehreren Demonstrationen teilgenommen habe. Zudem stamme er aus einem oppositionellen Gebiet und habe bereits als Student Probleme aufgrund seiner Herkunft gehabt. Im Falle einer Rückkehr befürchte er die Einberufung zum Militärdienst sowie die Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung. Zudem habe der Vater seiner Ehefrau mit dem Tode bedroht.
6. Mit Schriftsatz vom 15.04.2024, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 19.04.2024, legte die belangte Behörde die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
7. Einlangend mit 23.07.2024 wurde dem Bundesverwaltungsgericht ein Bescheid des AMS, ein Arbeitsvertrag sowie ein Mutterpass der Ehefrau des Beschwerdeführers übermittelt.
8. Am 14.10.2024 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertretung und eines Dolmetschers für die arabische Sprache einvernommen wurde. Eine Vertreterin bzw. ein Vertreter der belangten Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der volljährige, nach islamischen Recht verheiratete Beschwerdeführer syrischer Staatsangehörigkeit ist der Volksgruppe der Araber zugehörig und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Identität steht nicht fest.
Der Beschwerdeführer stammt aus römisch 40 im Gouvernement Damaskus Umgebung. Dort wuchs er in der Eigentumswohnung seiner Eltern auf, besuchte die Schule und erwarb seinen AHS-Abschluss im Jahr 2011. Von 2011 bis 2013 studierte der Beschwerdeführer in Latakia und in Damaskus Englische Literatur. Im Sommer 2013 verließ der Beschwerdeführer Syrien und reiste über den Libanon in die Vereinigten Arabischen Emirate, wo er bis 2019 lebte und als Koch arbeitete. Aufgrund seiner Berufserfahrung hat der Beschwerdeführer die Chance, hinkünftig am syrischen Arbeitsmarkt unterzukommen. Von 2019 bis 2022 war der Beschwerdeführer legal in der Türkei aufhältig. Anschließend reiste er über Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo er am 28.04.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am 03.05.2022 wurde die Abmeldung des Beschwerdeführers aufgrund unbekannten Aufenthalts vorgenommen und am 06.05.2022 das Asylverfahren eingestellt. Am 29.03.2023 wurde der Beschwerdeführer von den deutschen Behörden nach Österreich rücküberstellt.
Die Eltern und zwei Schwestern des Beschwerdeführers leben nach wie vor in römisch 40 in Syrien. Der Vater des Beschwerdeführers war früher als Händler tätig. Mittlerweile hat er sein Geschäft dem Cousin übergeben, der ihm eine kleine Miete dafür bezahlt. Das Haus der Familie in römisch 40 ist teilweise beschädigt. Ein Teil wurde für Wohnzwecke renoviert.
Eine weitere Schwester ist in der Türkei wohnhaft, ein Bruder des Beschwerdeführers in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die seit 01.09.2022 nach traditionellem Recht mit dem Beschwerdeführer verheiratete Ehefrau lebt in Deutschland, wo sie über eine Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte verfügt. Sie hat einen Sohn aus einer früheren Beziehung. Die gemeinsame Tochter wurde am 26.09.2024 in Deutschland geboren.
Für seine Reise nach Österreich hat der Beschwerdeführer einen Betrag von EUR 6.000,00 aufgebracht, wobei er etwa die Hälfte selbst aufbrachte und die andere Hälfte von Freunden auslieh.
Dem Beschwerdeführer wurde mit Bescheid des AMS vom 19. Juni 2024 eine Beschäftigungsbewilligung erteilt und arbeitet er seit 22.06.2024 als Küchenhilfe im Ausmaß von 40 Wochenstunden. Parallel dazu bezieht er auch Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Eine Sprachprüfung hat er bis dato nicht absolviert. Der Beschwerdeführer leistete Freiwilligenarbeit bei der römisch 40 GmbH, ebenso bei der Stadtgemeinde römisch 40 . Insgesamt konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer außergewöhnlichen Integration des Beschwerdeführers in Österreich festgestellt werden.
Strafgerichtlich ist der Beschwerdeführer unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtmotiven und zur individuellen Rückkehrsituation
römisch 40 im Gouvernement Damaskus Umgebung steht unter der Kontrolle des syrischen Regimes, ebenso die angrenzenden Gebiete.
Der Beschwerdeführer hat seinen Wehrdienst für das syrische Regime bis dato nicht abgeleistet. Ihm wurde zweimal ein Aufschub gewährt; einmal bis 13.03.2012, dann bis 15.03.2014. Vor Ablauf des Aufschubs verließ der Beschwerdeführer Syrien.
Der Beschwerdeführer kann sich vom syrischen Wehrdienst freikaufen. Die Voraussetzungen dafür liegen aufgrund seines mehrjährigen Aufenthaltes außerhalb Syriens vor. Es war ihm aufgrund seiner finanziellen Möglichkeiten auch zumutbar, sich vom Militärdienst freizukaufen. Der Beschwerdeführer hat sich bewusst gegen den Freikauf entschieden und das vorhandene Geld dafür genützt, (letztlich) die Türkei zu verlassen und nach Österreich zu immigrieren. Dem Beschwerdeführer ist es auch gegenwärtig noch möglich und zumutbar, sich vom syrischen Wehrdienst freizukaufen. Im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet besteht für den Beschwerdeführer damit nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, zum Militärdienst des syrischen Regimes eingezogen zu werden bzw. eine Verfolgung vom syrischen Regime in diesem Zusammenhang zu erfahren.
Der Beschwerdeführer konnte eine verinnerlichte politische bzw. oppositionelle Überzeugung nicht glaubhaft machen. Es kann keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür erkannt werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Heimatregion einer Verfolgung zum Opfer fallen würde, weil ihm eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde. Es liegen auch sonst keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers vor.
Er wurde in seinem Herkunftsland Syrien weder aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, noch aufgrund seiner politischen Gesinnung verfolgt.
Der Beschwerdeführer wird im Falle seiner Rückkehr nach Syrien vor dem Hintergrund der dort nach wie vor vorherrschenden Bürgerkriegssituation als Zivilperson der realen Gefahr einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes ausgesetzt sein. Eine innerstaatliche Relokation steht nicht offen.
1.3. Zu den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Syrien
Die aktuelle Situation im Herkunftsstaat (Stand 27.03.2024) des Beschwerdeführers stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:
1.3.1 Politische Lage
Letzte Änderung 08.03.2024
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 Prozent des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023). Solange das militärische Engagement von Iran, Russland, Türkei und USA auf bisherigem Niveau weiterläuft, sind keine größeren Veränderungen bei der Gebietskontrolle zu erwarten (AA 2.2.2024).
Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen (AA 2.2.2024). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus (FH 9.3.2023). In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus (AA 2.2.2024). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).
Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen (AA 2.2.2024). Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vergleiche SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon (CMEC 16.5.2023; vergleiche Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren (AA 2.2.2024). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen(AA 2.2.2024).
Regional positionierte sich das Regime seit Ausbruch der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023 öffentlich an der Seite der Palästinenser und kritisierte Israel, mit dem sich Syrien formell weiterhin im Kriegszustand befindet, scharf (AA 2.2.2024).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/document/2089904.html, Zugriff 23.6.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 23.6.2023
● Alaraby - New Arab, the (31.5.2023): Why Syria's Kurds and Hayat Tahrir al-Sham are offering to host refugees, https://www.newarab.com/analysis/why-syrias-kurds-and-hts-are-offering-host-refugees, Zugriff 28.6.2023
● Brookings (27.1.2023): Syria’s dissolving line between state and nonstate actors, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2023/01/27/syrias-dissolving-line-between-state-and-nonstate-actors/, Zugriff 27.6.2023
● CMEC - Carnegie Middle East Center (16.5.2023): An Inauspicious Return, https://carnegie-mec.org/diwan/89762, Zugriff 23.6.2023
● FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2088564.html, Zugriff 23.6.2023
● HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103131.html, Zugriff 22.1.2024
● IPS - Inter Press Service (20.5.2022): What the Russian Invasion Means for Syria, https://www.ipsnews.net/2022/05/russian-invasion-means-syria/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=russian-invasion-means-syria, Zugriff 27.6.2023
● SOHR - The Syrian Observatory For Human Rights (7.5.2023): Assad will demand high price for return of refugees, https://www.syriahr.com/en/298175/, Zugriff 23.6.2023
● Spiegel, Der (29.8.2016): Die Fakten zum Krieg in Syrien, https://www.spiegel.de/politik/ausland/krieg-in-syrien-alle-wichtigen-fakten-erklaert-endlich-verstaendlich-a-1057039.html#sponfakt=1, Zugriff 23.6.2023
● USIP - United States Institute for Peace (14.3.2023): Syria’s Stalemate Has Only Benefitted Assad and His Backers, https://www.usip.org/publications/2023/03/syrias-stalemate-has-only-benefitted-assad-and-his-backers, Zugriff 27.6.2023
● Wilson - Wilson Center (6.6.2023): Syria and the Arab League, https://www.wilsoncenter.org/blog-post/syria-and-arab-league, Zugriff 23.6.2023
1.3.1.1. Syrische Arabische Republik
Letzte Änderung 08.03.2024
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 2.5.2023). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer der Alawiten und anderer religiöser Minderheiten (FH 9.3.2023) und die alawitische Minderheit hat weiterhin einen im Verhältnis zu ihrer Zahl überproportional großen politischen Status, insbesondere in den Führungspositionen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Nachrichtendienste, obwohl das hochrangige Offizierskorps des Militärs weiterhin auch Angehörige anderer religiöser Minderheitengruppen in seine Reihen aufnimmt (USDOS 15.5.2023). In der Praxis hängt der politische Zugang jedoch nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten. Alawiten, Christen, Drusen und Angehörige anderer kleinerer Religionsgemeinschaften, die nicht zu Assads innerem Kreis gehören, sind politisch entrechtet. Zur politischen Elite gehören auch Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft, doch die sunnitische Mehrheit des Landes stellt den größten Teil der Rebellenbewegung und hat daher die Hauptlast der staatlichen Repressionen zu tragen (FH 9.3.2023).
Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba'ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba'ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige (USDOS 20.3.2023). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft infrage stellen könnten (FH 9.3.2023). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch die Verfassung und den bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v. a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich (AA 29.3.2023).
Dem ehemaligen Berater des US-Außenministeriums Hazem al-Ghabra zufolge unterstützt Syrien beinahe vollständig die Herstellung und Logistik von Drogen, weil es eine Einnahmemöglichkeit für den Staat und für Vertreter des Regimes und dessen Profiteure darstellt (Enab 23.1.2023). Baschar al-Assad mag der unumschränkte Herrscher sein, aber die Loyalität mächtiger Warlords, Geschäftsleute oder auch seiner Verwandten hat ihren Preis. Beispielhaft wird von einer vormals kleinkriminellen Bande berichtet, die Präsident Assad in der Stadt Sednaya gewähren ließ, um die dort ansässigen Christen zu kooptieren, und die inzwischen auf eigene Rechnung in den Drogenhandel involviert ist. Der Machtapparat hat nur bedingt die Kontrolle über die eigenen Drogennetzwerke. Assads Cousins, die Hisbollah und Anführer der lokalen Organisierten Kriminalität haben kleine Imperien errichtet und geraten gelegentlich aneinander, wobei Maher al-Assad, der jüngere Bruder des Präsidenten und Befehlshaber der Vierten Division, eine zentrale Rolle bei der Logistik innehat. Die Vierte Division mutierte in den vergangenen Jahren 'zu einer Art Mafia-Konglomerat mit militärischem Flügel'. Sie bewacht die Transporte und Fabriken, kontrolliert die Häfen und nimmt Geld ein. Maher al-Assads Vertreter, General Ghassan Bilal, gilt als der operative Kopf und Verbindungsmann zur Hisbollah (Spiegel 17.6.2022).
Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 2.2.2024).
Institutionen und Wahlen
Syrien ist nach der geltenden Verfassung von 2012 eine semipräsidentielle Volksrepublik. Das politische System Syriens wird de facto jedoch vom autoritär regierenden Präsidenten dominiert. Der Präsident verfügt als oberstes Exekutivorgan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Generalsekretär der Ba'ath-Partei über umfassende Vollmachten. Darüber hinaus darf der Präsident nach Artikel 113, der Verfassung auch legislativ tätig werden, wenn das Parlament nicht tagt, aufgelöst ist oder wenn "absolute Notwendigkeit" dies erfordert. De facto ist die Legislativbefugnis des Parlaments derzeit außer Kraft gesetzt. Gesetze werden weitgehend als Präsidialdekrete verabschiedet (AA 29.3.2023).
Der Präsident wird nach der Verfassung direkt vom Volk gewählt. Seine Amtszeit beträgt sieben Jahre. Seit der letzten Verfassungsänderung 2012 ist maximal eine einmalige Wiederwahl möglich. Da diese Verfassungsbestimmung jedoch erstmals bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zur Anwendung kam, war es dem aktuellen Präsidenten Baschar al-Assad erlaubt, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2021 erneut zu kandidieren. Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt werden nach Artikel 85, vom Obersten Verfassungsgericht überprüft und müssen Voraussetzungen erfüllen, die Angehörige der Opposition faktisch weitgehend ausschließen. So muss ein Kandidat u. a. im Besitz seiner bürgerlichen und politischen Rechte sein (diese werden bei Verurteilungen für politische Delikte in der Regel entzogen), darf nicht für ein "ehrenrühriges" Vergehen vorbestraft sein und muss bis zum Zeitpunkt der Kandidatur ununterbrochen zehn Jahre in Syrien gelebt haben. Damit sind im Exil lebende Politikerinnen und Politiker von einer Kandidatur de facto ausgeschlossen (AA 29.3.2023). Bei den Präsidentschaftswahlen, die im Mai 2021 in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie einigen syrischen Botschaften abgehalten wurden, erhielt Bashar al-Assad 95,1 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von rund 77 Prozent und wurde damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 Prozent und 3,3 Prozent der Stimmen (Standard 28.5.2021; vergleiche Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als 'weder frei noch fair' und als 'betrügerisch', und die Opposition nannte sie eine 'Farce' (Standard 28.5.2021).
Das Parlament hat nicht viel Macht. Dekrete werden meist von Ministern und Ministerinnen vorgelegt, um ohne Änderungen vom Parlament genehmigt zu werden. Sitze im Parlament oder im Kabinett dienen nicht dazu, einzelne Machtgruppen in die Entscheidungsfindung einzubinden, sondern dazu, sie durch die Vorteile, die ihnen ihre Positionen verschaffen, zu kooptieren (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden die Wahlen für das "Volksrat" genannte syrische Parlament mit 250 Sitzen statt, allerdings nur in Gebieten, in denen das Regime präsent ist. Auch diese Wahlen wurden durch die weitverbreitete Vertreibung der Bevölkerung beeinträchtigt. Bei den Wahlen gab es keinen nennenswerten Wettbewerb, da die im Exil lebenden Oppositionsgruppen nicht teilnahmen und die Behörden keine unabhängigen politischen Aktivitäten in dem von ihnen kontrollierten Gebiet dulden. Die regierende Ba'ath-Partei und ihre Koalition der Nationalen Progressiven Front erhielten 183 Sitze. Die restlichen 67 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, die jedoch alle als regierungstreu galten (FH 9.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7 Prozent (BS 23.2.2022). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.7.2020).
Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba'ath-Partei (MEI 24.7.2020). Die vom Regime und den Nachrichtendiensten vorgenommene Reihung auf der Liste ist damit wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen. Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien quasi zu managen und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren (BS 23.2.2022). Zudem gilt der Verkauf öffentlicher Ämter an reiche Personen, im Verbund mit entsprechend gefälschten Wahlergebnissen, als zunehmend wichtige Devisenquelle für das syrische Regime (AA 29.3.2023). Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022).
Im September 2022 fanden in allen [unter Kontrolle des syrischen Regimes stehenden] Provinzen Wahlen für die Lokalräte statt. Nichtregierungsorganisationen bezeichneten sie ebenfalls als weder frei noch fair (USDOS 20.3.2023).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/document/2089904.html, Zugriff 23.6.2023
● BBC - BBC News (2.5.2023): Why is there a war in Syria?, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-35806229, Zugriff 23.6.2023
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SYR.pdf Zugriff 23.6.2023
● Enab - Enab Baladi (23.1.2023): Following 'Captagon Act', Will Washington put al-Assad on Noriega’s track, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/01/following-captagon-act-will-washington-put-al-assad-on-noriegas-track/, Zugriff 23.6.2023
● FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2088564.html, Zugriff 23.6.2023
● MEI - Middle East Institute (24.7.2020): Syria’s 2020 parliamentary elections: The worst joke yet, https://www.mei.edu/publications/syrias-2020-parliamentary-elections-worst-joke-yet, Zugriff 23.6.2023
● Reuters (28.5.2021): Syria’s Assad wins 4th term with 95% of vote, in election the West calls fraudulent, https://www.reuters.com/world/middle-east/syrias-president-bashar-al-assad-wins-fourth-term-office-with-951-votes-live-2021-05-27/, Zugriff 23.6.2023
● SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 23.6.2023
● Spiegel, Der (17.6.2022): "Sie selbst sind das Kartell", https://www.spiegel.de/ausland/syrien-drogenhandel-des-regimes-von-baschar-al-assad-sie-selbst-sind-das-kartell-a-869b875b-5edd-46c5-b2c7-f3074ca91791, Zugriff 23.6.2023
● Standard - Standard, der (28.5.2021): Syriens Machthaber Assad erhält bei 'Präsidentenwahl' 95 Prozent, https://www.derstandard.at/story/2000126983065/syriens-machthaber-assad-erhaelt-bei-praesidentenwahl-95-prozent, Zugriff 23.6.2023
● USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2021): United States Commission on International Religious Freedom 2021 Annual Report; USCIRF - Recommended for Countries of Particular Concern (CPC): Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052987/Syria+Chapter+AR2021.pdf, Zugriff 23.6.2023
● USDOS – United States Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2091896.html, Zugriff 23.6.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 23.6.2023
● WP - Washington Post, The (22.7.2020): Syria’s elections have always been fixed. This time, even candidates are complaining., https://www.washingtonpost.com/world/middle_east/syrias-elections-have-always-been-fixed-this-time-even-candidates-are-complaining/2020/07/22/76e0bb12-cb5f-11ea-99b0-8426e26d203b_story.html, Zugriff 23.6.2023
1.3.1.2. Syrische Interimsregierung und syrische Heilsregierung
Letzte Änderung 11.07.2023
Im März 2013 gab die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte als höchste offizielle Oppositionsbehörde die Bildung der syrischen Interimsregierung (Syrian Interim Government, SIG) bekannt, welche die Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes im ganzen Land verwalten soll. Im Laufe der Zeit schrumpften die der Opposition angehörenden Gebiete jedoch, insbesondere nach den Vereinbarungen von 2018, die dazu führten, dass Damaskus die Kontrolle über den Süden Syriens und die Oppositionsgebiete im Süden von Damaskus und im Umland übernahm. Der Einfluss der SIG ist nun auf die von der Türkei unterstützten Gebiete im Norden Aleppos beschränkt (SD 18.3.2023). Formell erstreckt sich ihr Zuständigkeitsbereich auch auf die von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierte Zone. Dort wurde sie von der HTS jedoch an den Rand gedrängt (Brookings 27.1.2023). Die von der HTS kontrollierten Gebiete in Idlib und Teile der Provinzen Aleppo und Latakia werden inzwischen von der syrischen Heilsregierung (Syrian Salvation Government, SSG), dem zivilen Flügel der HTS, regiert (SD 18.3.2023).
Nicht-staatliche Akteure in Nordsyrien haben systematisch daran gearbeitet, sich selbst mit Attributen der Staatlichkeit auszustatten. Sie haben sich von aufständischen bewaffneten Gruppen in Regierungsbehörden verwandelt. In Gebieten, die von der HTS, einer sunnitischen islamistischen politischen und militärischen Organisation, kontrolliert werden, und in Gebieten, die nominell unter der Kontrolle der SIG stehen, haben bewaffnete Gruppen und die ihnen angeschlossenen politischen Flügel den institutionellen Rahmen eines vollwertigen Staates mit ausgefeilten Regierungsstrukturen wie Präsidenten, Kabinetten, Ministerien, Regulierungsbehörden, Exekutivorganen usw. übernommen (Brookings 27.1.2023).
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die HTS die dominanteste ist (MEI 26.4.2022). Mit der im November 2017 gegründeten (NPA 4.5.2023) syrischen Heilsregierung hat die HTS ihre Möglichkeiten zur Regulierung, Besteuerung und Bereitstellung begrenzter Dienstleistungen für die Zivilbevölkerung erweitert. Doch wie jüngste Studien gezeigt haben, sind diese Institutionen Mechanismen, die hochrangige Persönlichkeiten innerhalb der herrschenden Koalitionen ermächtigen und bereichern (Brookings 27.1.2023). In dem Gebiet werden keine organisierten Wahlen abgehalten und die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen. Die HTS versucht in Idlib, eine autoritäre Ordnung mit einer islamistischen Agenda durchzusetzen. Obwohl die Mehrheit der Menschen in Idlib sunnitische Muslime sind, ist HTS nicht beliebt. Die von der HTS propagierten religiösen Dogmen sind nur ein Aspekt, der den Bürgerinnen und Bürgern missfällt. Zu den anderen Aspekten gehören der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, willkürliche Verhaftungen, Gewalt und Missbrauch (BS 23.2.2022).
In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral-Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vergleiche SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw. 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
[Für mehr Informationen siehe insbesondere das Unterkapitel Nordwest-Syrien im Kapitel Sicherheitslage.]
Quellen:
● Brookings (27.1.2023): Syria’s dissolving line between state and nonstate actors, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2023/01/27/syrias-dissolving-line-between-state-and-nonstate-actors/, Zugriff 27.6.2023
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 23.6.2023
● MEI - Middle East Institute (26.4.2022): Divided Syria: An examination of stabilization efforts and prospects for state continuity, https://www.mei.edu/publications/divided-syria-examination-stabilization-efforts-and-prospects-state-continuity, Zugriff 27.6.2023
● NPA - North Press Agency (4.5.2023): What lies behind the rift between Syrian opposition’s two main governments?, https://npasyria.com/en/97444/, Zugriff 27.6.2023
● SD - Syria Direct (18.3.2023): 12 years on, ‘revolution’ service institutions under Turkish authority, https://syriadirect.org/12-years-on-revolution-service-institutions-under-turkish-authority/, Zugriff 27.6.2023
1.3.1.3. Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien
Letzte Änderung 08.03.2024
2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) gekommen sein, deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine 'zweite Front' in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrîn, 'Ain al-'Arab (Kobanê) und die Jazira/Cizîrê von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017).
Im November 2013 - etwa zeitgleich mit der Bildung der syrischen Interimsregierung (SIG) durch die syrische Opposition - rief die PYD die sogenannte Demokratische Selbstverwaltung (DSA) in den Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê aus und fasste das so entstandene, territorial nicht zusammenhängende Gebiet unter dem kurdischen Wort für "Westen" (Rojava) zusammen. Im Dezember 2015 gründete die PYD mit ihren Verbündeten den Demokratischen Rat Syriens (SDC) als politischen Arm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) (SWP 7.2018). Die von den USA unterstützten SDF (TWI 18.7.2022) sind eine Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheitengruppen (USDOS 20.3.2023), in dem der militärische Arm der PYD, die YPG, die dominierende Kraft ist (KAS 4.12.2018). Im März 2016 riefen Vertreter der drei Kantone (Kobanê war inzwischen um Tall Abyad erweitert worden) den Konstituierenden Rat des "Demokratischen Föderalen Systems Rojava/Nord-Syrien" (Democratic Federation of Northern Syria, DFNS) ins Leben (SWP 7.2018). Im März 2018 (KAS 4.12.2018) übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrîn mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022). Im September 2018 beschloss der SDC die Gründung des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) auf dem Gebiet der drei Kantone (abzüglich des von der Türkei besetzten Afrîn). Darüber hinaus wurden auch Gebiete in Deir-ez Zor und Raqqa (K24 6.9.2018) sowie Manbij, Takba und Hassakah, welche die SDF vom Islamischen Staat (IS) befreit hatten, Teil der AANES (SO 27.6.2022).
Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet 'belohnt' zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 20.3.2023). Türkische Vorstöße auf syrisches Gebiet im Jahr 2019 führten dazu, dass die SDF zur Abschreckung der Türkei syrische Regierungstruppen einlud, in den AANES Stellung zu beziehen (ICG 18.11.2021). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren (ÖB Damaskus 1.10.2021). Mit Stand Mai 2023 besteht kein entsprechender Vertrag zwischen den AANES und der syrischen Regierung (Alaraby 31.5.2023). Unter anderem wird über die Verteilung von Öl und Weizen verhandelt, wobei ein großer Teil der syrischen Öl- und Weizenvorkommen auf dem Gebiet der AANES liegen (K24 22.1.2023). Normalisierungsversuche der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und der syrischen Regierung wurden in den AANES im Juni 2023 mit Sorge betrachtet (AAA 24.6.2023). Anders als die EU und USA betrachtet die Türkei sowohl die Streitkräfte der YPG als auch die Partei PYD als identisch mit der von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und daher als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 2.2.2024).
Die Führungsstrukturen der AANES unterscheiden sich von denen anderer Akteure und Gebiete in Syrien. Die "autonome Verwaltung" basiert auf der egalitären, von unten nach oben gerichteten Philosophie Abdullah Öcalans, der in der Türkei im Gefängnis sitzt [Anm.: Gründungsmitglied und Vorsitzender der PKK]. Frauen spielen eine viel stärkere Rolle als anderswo im Nahen Osten, auch in den kurdischen Sicherheitskräften. Lokale Nachbarschaftsräte bilden die Grundlage der Regierungsführung, die durch Kooptation zu größeren geografischen Einheiten zusammengeführt werden (MEI 26.4.2022). Es gibt eine provisorische Verfassung, die Lokalwahlen vorsieht (FH 9.3.2023). Dies ermöglicht mehr freie Meinungsäußerung als anderswo in Syrien und theoretisch auch mehr Opposition. In der Praxis ist die PYD nach wie vor vorherrschend, insbesondere in kurdisch besiedelten Gebieten (MEI 26.4.2022), und der AANES werden autoritäre Tendenzen bei der Regierungsführung und Wirtschaftsverwaltung des Gebiets vorgeworfen (Brookings 27.1.2023; vergleiche SD 22.7.2021). Die mit der PYD verbundenen Kräfte nehmen regelmäßig politische Opponenten fest. Während die politische Vertretung von Arabern formal gewährleistet ist, werden der PYD Übergriffe gegen nicht-kurdische Einwohner vorgeworfen (FH 9.3.2023). Teile der SDF haben Berichten zufolge Übergriffe verübt, darunter Angriffe auf Wohngebiete, körperliche Misshandlungen, rechtswidrige Festnahmen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie willkürliche Zerstörung und Abriss von Häusern. Die SDF haben die meisten Vorwürfe gegen ihre Streitkräfte untersucht. Einige Mitglieder der SDF wurden wegen Missbrauchs strafrechtlich verfolgt, jedoch lagen dazu keine genauen Zahlen vor (USDOS 20.3.2023).
Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP [Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak] nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der PYD, welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 1.10.2021).
Seitdem der Islamische Staat (IS) 2019 die Kontrolle über sein letztes Bevölkerungszentrum verloren hat, greift er mit Guerilla- und Terrortaktiken Sicherheitskräfte und lokale zivile Führungskräfte an (FH 9.3.2023). Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021).
Anmerkung: s. die entsprechenden Unterkapitel des Kapitels Sicherheitslage zum Frontverlauf in Nordsyrien sowie zur Vorgehensweise der Türkei.
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AAA - Asharq Al-Awsat (24.6.2023): Syria: AANES Issues Warning Regarding Outcomes of ‘Astana Meetings’, https://english.aawsat.com/arab-world/4399071-syria-aanes-issues-warning-regarding-outcomes-%E2%80%98astana-meetings%E2%80%99, Zugriff 28.6.2023
● Alaraby - New Arab, the (31.5.2023): Why Syria's Kurds and Hayat Tahrir al-Sham are offering to host refugees, https://www.newarab.com/analysis/why-syrias-kurds-and-hts-are-offering-host-refugees, Zugriff 28.6.2023
● Brookings (27.1.2023): Syria’s dissolving line between state and nonstate actors, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2023/01/27/syrias-dissolving-line-between-state-and-nonstate-actors/, Zugriff 27.6.2023
● FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2088564.html, Zugriff 23.6.2023
● ICG - International Crisis Group (18.11.2021): Syria: Shoring Up Raqqa’s Shaky Recovery, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064234/229-raqqas-shaky-recovery.pdf, Zugriff 29.6.2023
● K24 - Kurdistan 24 (22.1.2023): Syrian Kurds deny stealing oil and wheat, https://www.kurdistan24.net/en/story/30513-Syrian-Kurds-deny-stealing-oil-and-wheat, Zugriff 28.6.2023
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● KAS - Konrad Adenauer Stiftung (4.12.2018): Zwischen den Fronten - Die Kurden in Syrien, https://www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/zwischen-den-fronten-1, Zugriff 28.6.2023
● MEI - Middle East Institute (26.4.2022): Divided Syria: An examination of stabilization efforts and prospects for state continuity, https://www.mei.edu/publications/divided-syria-examination-stabilization-efforts-and-prospects-state-continuity, Zugriff 27.6.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 28.6.2023
● Savelsberg, Eva: Der Aufstieg der kurdischen PYD im syrischen Bürgerkrieg (2011 bis 2017). In STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 28.6.2023
● SD - Syria Direct (22.7.2021): Authoritarian tendencies mar the AANES’ quest for recognition, https://syriadirect.org/authoritarian-tendencies-mar-the-aanes-quest-for-recognition/, Zugriff 28.6.2023
● SO - Syrian Observer, the (27.6.2022): Belgium Seeks Recognition of AANES – Belgian Envoy to Syria, https://syrianobserver.com/news/76218/belgium-seeks-recognition-of-aanes-belgian-envoy-to-syria.html, Zugriff 28.6.2023
● SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (7.2018): Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des 'Islamischen Staates', https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S11_srt.pdf, Zugriff 28.6.2023
● taz - Tageszeitung, die (15.10.2022): Kurdischer Kanton Afrin in Nordsyrien: Eine Bande durch die andere ersetzt, https://taz.de/Kurdischer-Kanton-Afrin-in-Nordsyrien/!5888260/, Zugriff 28.6.2023
● TWI - Washington Institute for Near East Policy, the (18.7.2022): How the Autonomous Administration Leadership and Civilians Will View a Turkish Incursion into Northeast Syria, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/how-autonomous-administration-leadership-and-civilians-will-view-turkish-incursion, Zugriff 28.6.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 23.6.2023
1.3.2 Sicherheitslage
Letzte Änderung: 08.03.2024
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Im Wesentlichen gibt es drei Militärkampagnen: Bestrebungen durch eine Koalition den Islamischen Staat zu besiegen, Kampfhandlungen zwischen der Syrischen Regierung und Kräften der Opposition und türkische Militäroperationen gegen syrische Kurden (CFR 24.1.2024). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 60 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 2.2.2024). United Nations Geospatial veröffentlichte eine Karte mit Stand Juni 2023, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind (UNGeo 1.7.2023):
Quelle: UNGeo 1.7.2023 (Stand: 6.2023)
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten mit IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:
Quelle: CC 13.12.2023 (Stand: 30.9.2023)
Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (VN) für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023). Für keinen Landesteil Syriens kann insofern von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (AA 2.2.2024).
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) der VN stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den VN benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Im Mai 2023 begannen zusätzlich dazu die jordanischen Streitkräfte Luftangriffe gegen die Drogenschmuggler zu fliegen (SOHR 8.5.2023). Die USA sind mit mindestens 900 Militärpersonen in Syrien, um Anti-Terror-Operationen durchzuführen (CFR 24.1.2024). Seit Ausbruch des Krieges zwischen der Hamas und Israel begannen die USA mehrere Luftangriffe gegen iranische Milizen in Syrien und dem Irak zu fliegen. Anfang Februar 2024 eskalierten die Spannungen zwischen dem Iran und den USA, nachdem iranische Milizen in Jordanien eine militärische Stellung der USA mit einer Drohne angriffen und dabei mehrere US-amerikanische Soldaten töteten und verletzten. Die USA reagierten mit erhöhten und verstärkten Luftangriffen auf Stellungen der iranischen Milizen in Syrien und dem Irak. In Syrien trafen sie Ziele in den Räumen Deir ez-Zor, Al-Bukamal sowie Al-Mayadeen. Die syrische Armee gab an, dass bei den Luftangriffen auch Zivilisten sowie reguläre Soldaten getötet wurden (CNN 3.2.2024).
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 intensivierte Israel die Luftangriffe gegen iranische und syrische Militärstellungen CFR 24.1.2024). Infolge der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023, wurde israelisch kontrolliertes Gebiet auch von Syrien aus mindestens dreimal mit Raketen beschossen. Israel habe daraufhin Artilleriefeuer auf die Abschussstellungen gerichtet. Beobachter machten iranisch kontrollierte Milizen für den Raketenbeschuss verantwortlich. Israel soll im selben Zeitraum, am 12.10.2023 und 14.10.2023 jeweils zweimal den Flughafen Aleppo sowie am 12.10.2023 den Flughafen Damaskus mit Luftschlägen angegriffen haben; aufgrund von Schäden an den Startund Landebahnen mussten beide Flughäfen daraufhin den Betrieb einstellen (AA 2.2.2024).
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung hat derzeit die Kontrolle über ca. zwei Drittel des Landes, inklusive größerer Städte, wie Aleppo und Homs. Unter ihrer Kontrolle sind derzeit die Provinzen Suweida, Daraa, Quneitra, Homs sowie ein Großteil der Provinzen Hama, Tartus, Lattakia und Damaskus. Auch in den Provinzen Aleppo, Raqqa und Deir ez-Zor übt die syrische Regierung über weite Teile die Kontrolle aus (Barron 6.10.2023). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 2.2.2024). Die Opposition konnte eingeschränkt die Kontrolle über Idlib und entlang der irakisch-syrischen Grenze behalten. Das Erdbeben 2023 in der Türkei und Nordsyrien machte die tatsächliche Regierung fast unmöglich, weil die Opposition Schwierigkeiten hatte, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen (CFR 24.1.2024). Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Iran unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah (AA 2.2.2024). Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:
Quelle: Jusoor 30.7.2023
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen ’Operation Claw-Sword’, die nach türkischen Angaben auf Stellungen der SDF und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022; vergleiche CFR 24.1.2024). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten ’eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen’ in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022). Die Türkei bombardierte auch im Oktober 2023 kurdische Ziele in Syrien als Reaktion auf einen Bombenangriff in Ankara durch die PKK (Reuters 7.10.2023; vergleiche AA 2.2.2024).
Im Gouvernement Dara’a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten ’Versöhnungsabkommens’. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023). In Suweida kam es 2020 und 2022 ebenfalls zu Aufständen, immer wieder auch zu Sicherheitsvorfällen mit Milizen, kriminellen Banden und Drogenhändlern. Dies führte immer wieder zu Militäroperationen und schließlich im August 2023 zu größeren Protesten (CC 13.12.2023). Die Proteste weiteten sich nach Daraa aus. Die Demonstranten in beiden Provinzen forderten bessere Lebensbedingungen und den Sturz Assads (Enab 20.8.2023).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).
Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nichtidentifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).
Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vergleiche DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vergleiche CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vergleiche BAMF 6.12.2022). Im August 2023 wurde dieser bei Kampfhandlungen mit der HTS getötet und der IS musste zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren einen neuen Führer ernennen. Als Nachfolger wurde Abu Hafs al-Hashimi al-Qurayshi eingesetzt (WSJ 3.8.2023). Die Anit-Terror-Koalition unter der Führung der USA gibt an, dass 98 Prozent des Gebiets, das der IS einst in Syrien und Irak kontrollierte, wieder unter Kontrolle der irakischen Streitkräfte bzw. der SDF sind (CFR 24.1.2024).
Der Sicherheitsrat der VN schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Mit mehreren Tausend Kämpfern sowie deren Angehörigen, die sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF befinden, sowie einer vermutlich dreistelligen Zahl von im Untergrund aktiven Kämpfern bleibt der IS jedoch ein relevanter asymmetrischer Akteur (AA 2.2.2024). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle und Attentate (DIS 29.6.2020). Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien (AA 2.2.2024). IS-Kämpfer sind in der Wüste von Deir ez-Zor, Palmyra und Al-Sukhna stationiert und konzentrieren ihre Angriffe auf Deir ez-Zor, das Umland von Homs, Hasakah, Aleppo, Hama und Raqqa (NPA 15.5.2023). In der ersten Jahreshälfte 2023 wurde von 552 Todesopfer durch Angriffe des IS berichtet (NPA 8.7.2023).
Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich zehn bis 15 Angriffe auf die Regierungsstreitkräfte pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).
Zivile Todesopfer landesweit
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London (SOHR), verzeichnete für das Jahr 2023 mit 4.361 getöteten Personen die höchste Todesopferzahl in drei Jahren. Darunter zählten sie 1.889 ZivilistInnen, darunter 307 Kinder und 241 Frauen (SOHR 31.12.2023).
Quelle: SOHR 31.12.2023
Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.2021 bis 30.6.2023 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern. Demnach kamen im Jahr 2022 5.949 Menschen ums Leben und im ersten Halbjahr 2023 2.796 Personen (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):
Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 1.1.2020-30.6.2023 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):
Quelle: ACLED o.D.; *2023: Zeitraum 1.1.-30.6.2023
Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).
Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).
Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien
Die syrische Regierung wird beschuldigt mehrmals chemische Waffen eingesetzt zu haben, was zu internationalen Verurteilungen in den Jahren 2013, 2017 und 2018 führte (CFR 24.1.2024). Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Teams“ (IIT) zu ermitteln. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.3.2017 sowie Chlorgas am 25.3.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 1.3.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 7.4.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds“). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.5.2019 wiederholt Chlorgas in Kabana/ Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 1.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (1.8.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.1.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.9.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.1.2022). In einem weiteren Bericht vom 1.2.2022 kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.10.2016 in Kafr Zeita eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 1.2.2022).
Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 Prozent der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021).
Auch wenn es im Jahr 2022 kein Einsatz von chemischen Waffen berichtet wurde, so wird davon ausgegangen, dass das Regime weiterhin über ausreichende Vorräte von Sarin und Chlor verfügt, und über die Expertise zur Produktion und Anwendung von Chlor-hältiger Munition verfügt. Das Regime erfüllte nicht die Forderungen der Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) Conference of the States Parties, weshalb seine Rechte in der Organisation suspendiert bleiben (USDOS 20.3.2023).
Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln
Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Die Gesamtzahl der durch Landminen (bekannten) getöteten Opfer im Jahr 2023 beträgt 101, darunter 25 Kinder und acht Frauen. Laut dem Humanitarian Needs Overiew der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und – Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA2.2.2024).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 6.7.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf, Zugriff 6.7.2023
● ACLED/ACCORD - Armed Conflict Location & Event Data Project, zusammengestellt von ACCORD (25.3.2021): Syrien, Jahr 2020: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2050734/2020ySyria_en.pdf, Zugriff 6.7.2023
● ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Data https://acleddata.com/data-export-tool/, Zugriff 6.7.2023
● BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (6.12.2022): Briefing Notes KW 49, Gruppe 62 - Informationszentrum Asyl und Migration, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw49-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=2, Zugriff 6.7.2023
● Barron - Barron’s (6.10.2023): Who Controls What Territory In Syria?, https://www.barrons.com/news/who-controls-what-territory-in-syria-76b277d4, Zugriff 8.2.2024
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● CNN - Cable News Network (30.11.2022): ISIS acknowledges the death of its leader, announces his successor, https://edition.cnn.com/2022/11/30/middleeast/isis-leader-dies-intl/index.html, Zugriff 6.7.2023
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● USIP - United States Institute of Peace (Yacoubian, Mona) (14.3.2023): Syria’s Stalemate Has Only Benefitted Assad and His Backers, https://www.usip.org/publications/2023/03/syrias-stalemate-has-only-benefitted-assad-and-his-backers, Zugriff 13.4.2023
● VOA - Voice of America (24.10.2022): Islamic State Group Still Active in Southern Syria, Observers Say, https://www.voanews.com/a/islamic-state-group-still-active-in-southern-syria-observers-say-/6804095.html, Zugriff 6.7.2023
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● Zenith (11.2.2022): Der IS rekrutiert eine neue Generation von Kämpfern, https://magazin.zenith.me/de/politik/interview-mit-syrien-experte-fabrice-balanche-%C3%BCber-den-die-kurden-und-syrien, Zugriff 6.7.2023
1.3.2.1. "Versöhnungsabkommen" (auch "Beilegungsabkommen")
Letzte Änderung 08.03.2024
Die syrischen Behörden nutzen sogenannte "reconciliation agreements" [in anderen Quellen auch als "settlement agreements" - Beilegungsabkommen - bezeichnet] seit Beginn des Konfliktes (NMFA 5.2022). Die Evakuierung der von Rebellen gehaltenen Gemeinde Daraya im August 2016 markierte dabei einen Wendepunkt in der Nutzung von Versöhnungsabkommen durch die syrische Regierung als Strategie zur Rückeroberung der von Rebellen gehaltenen Gebiete. Bis zur Vereinbarung in Daraya waren in verschiedenen Gemeinden in ganz Syrien örtlich begrenzte Waffenstillstände eingesetzt worden. Sowohl die lokalen Waffenstillstände als auch die Versöhnungsvereinbarungen sind eine militärische Strategie, mit der Rebellengebiete entweder sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt zum Einlenken gezwungen werden sollen, um Menschen und Gebiete in den Staat wiedereinzugliedern (MEE 28.3.2018). Das Verfahren ist grundsätzlich für Personen gedacht, die im Sicherheitsapparat aktenkundig sind oder die von den Behörden im Zusammenhang mit einer offenen Angelegenheit gesucht werden. Sowohl Kombattanten als auch Zivilisten können Versöhnungsvereinbarungen unterzeichnen. Es gibt lokale und individuelle Versöhnungsabkommen (NMFA 5.2022).
Lokale Versöhnungsabkommen in ehemaligen Oppositionsgebieten
Die "Versöhnungsprozesse" scheinen ad hoc durchgeführt zu werden, was bedeutet, dass sie variieren und keine eindeutige Beschreibung des Prozesses gegeben werden kann. Für die praktische Umsetzung der Vereinbarungen ist ein "Versöhnungsausschuss" zuständig. Dieses Gremium ist kein Gericht. Es gibt kein materiell-rechtliches Verfahren und das Justizministerium ist nicht beteiligt. Das Ergebnis ist kein Urteil, sondern eine Sicherheitserklärung. Der Inhalt des Abkommens kann nicht angefochten werden. Die betreffende Person gibt ihre leichten Waffen ab und erklärt schriftlich, dass sie von Widerstandstätigkeiten absehen wird. Im Gegenzug verspricht die syrische Regierung, die Vorwürfe aus dem Strafregister zu streichen und den Namen der Person von den Fahndungslisten zu entfernen. Männer, die noch ihren Militärdienst ableisten müssen, haben sechs Monate Zeit, sich beim Rekrutierungsbüro zu melden. Es gibt Quellen, die berichten, dass diejenigen, die freigelassen werden, ein Dokument erhalten (NMFA 5.2022).
Der Abschluss der "Versöhnungsabkommen" folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat. Die Vereinbarungen mit Rebellentruppen werden meist am Ende einer Belagerung durch Regierungstruppen abgeschlossen (ÖB Damaskus 12.2022). Laut der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD), eine 2018 gegründete zivilgesellschaftliche Basisbewegung aus Syrien, gehörten zu den Taktiken bisher auch Belagerungen, bei denen das Regime die Menschen in diesen Gebieten nicht nur der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten beraubte, sondern sie auch mit Luftangriffen und Granaten beschoss, die Infrastruktur zerstörte und Zivilisten tötete, um das Gebiet schließlich zur Kapitulation und zur Unterzeichnung eines Versöhnungsabkommens zu zwingen (SACD 8.11.2021). Im Allgemeinen bieten die Versöhnungsverfahren zwei Möglichkeiten: eine Versöhnungsvereinbarung zu unterzeichnen und weiterhin im Regierungsgebiet zu leben oder in das Oppositionsgebiet im Nordwesten Syriens zu ziehen (NMFA 5.2022). Die Vereinbarungen beinhalten oft die Evakuierung der Gebiete von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden (ÖB Damaskus 12.2022). Sie werden also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche OFPRA 13.12.2022) und sind de facto Kapitulationsvereinbarungen (NMFA 5.2022; vergleiche SACD 8.11.2021, TIMEP 15.10.2021). Weiters dienen die Versöhnungsabkommen der Syrischen Regierung zur Rekrutierung von Wehrpflichtigen, die dann entweder in der regulären Armee oder regierungsnahen Milizen dienen müssen (EUAA 10.2023).
Die von der Regierung angebotenen Versöhnungsabkommen sind an verschiedene Bedingungen geknüpft (STDOK 8.2017). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden (STDOK 8.2017), oder den Männern im wehrpflichtigen Alter wird eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert (AA 2.2.2024; vergleiche EB 14.6.2023; vergleiche SD 9.6.2023). Einem von EUAA interviewten Experten zufolge können Deserteure oder Wehrdienstverweigerer durch ein Versöhnungsabkommen mit der Regierung Strafen entgehen. Teilweise treten sie im Rahmen dieser Abkommen Milizen bei oder formen neue, welche mit der syrischen Armee oder dem Geheimdienst zusammenarbeiten (EUAA 10.2023). Im Rahmen von Versöhnungsabkommen gemachte Garantien der Regierung werden jedoch nicht eingehalten. Die syrischen Behörden haben Einzelpersonen verhaftet, nachdem ihnen die Freilassung zugesichert wurde, und Vereinbarungen über die Freistellung von der Wehrpflicht, über den Dienstort neuer Wehrpflichtiger (BS 23.2.2022) oder zur Schonfrist vor dem Einzug zum Militärdienst wurden gebrochen (AA 2.2.2024). Es wird von willkürlichen Verhaftungen von Personen berichtet, die sich zuvor mit der syrischen Regierung "versöhnt" hatten (UNHRC 7.2.2023; vergleiche HRW 12.1.2023; vergleiche UNHRC 24.8.2023) und es kommt trotz Abkommen zu Verhaftungen und dem Verschwinden von früheren Kämpfern in deren Häusern oder an Checkpoints. Es gibt Berichte über die gezielte Tötung von ehemaligen Kämpfern, die sich nunmehr den syrischen Streitkräften angeschlossen haben (ÖB Damaskus 12.2022). Auch werden manche Personen, die einen Versöhnungsprozess durchlaufen haben, von ihren Nachbarn früherer Vergehen beschuldigt und bekommen dadurch Probleme mit dem Geheimdienst (EUAA 10.2023). Der Abschluss von "Versöhnungsabkommen" in bestimmten Gebieten schützt die dortige Bevölkerung nicht vor dem willkürlichen, rücksichtslosen Verhalten der dort präsenten regierungsfreundlichen Milizen (OFPRA 13.12.2022). Diese Menschenrechtsverletzungen decouragieren auch die Rückkehr von geflüchteten Personen. Durch mehrere Gesetzeserlässe wurde die Regierung 2019 zur Konfiskation des Eigentums von "Terroristen" ermächtigt. Als Terroristen werden vor allem auch viele Oppositionelle gelistet (ÖB Damaskus 12.2022).
Generell lässt sich seitens der Regierung das Bestreben feststellen, möglichst schnell wieder staatliche Strukturen in den eroberten Gebieten zu etablieren. Allerdings gibt es offenbar große Herausforderungen für die syrische Regierung, dieses Bestreben flächendeckend umzusetzen (ÖB Damaskus 12.2022).
Individuelle Versöhnungsabkommen
Soweit bekannt, gibt es auch individuelle Versöhnungsabkommen für Syrer, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehren wollen, bzw. für Vertriebene, die in ein Gebiet unter der Kontrolle der Behörden zurückkehren. Der Abschluss eines individuellen Versöhnungsabkommens ist auch hier kein genau definiertes Verfahren und kann von Person zu Person und von Botschaft zu Botschaft variieren; in der Regel beinhaltet es jedoch die Unterzeichnung eines Dokuments in einer Botschaft, in dem die Person ihre "Straftat" zugibt. Versöhnungsabkommen bieten allerdings keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen (NMFA 5.2022). Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums gibt an, dass der individuelle Versöhnungsprozess entweder aus dem Ausland oder aus einem Gebiet, das nicht unter Regierungskontrolle steht, begonnen werden kann, aber der Abschluss in einem Gebiet unter Regierungskontrolle erfolgen muss. Das Dokument zur Bestätigung dieses individuellen Versöhnungsprozesses kann nur in einem Gebiet unter der Kontrolle der syrischen Regierung ausgestellt werden. Dieselbe Quelle merkt an, dass Personen, die einen solchen individuellen Versöhnungsprozess beginnen, erst recht die Aufmerksamkeit der syrischen Behörden auf sich ziehen (NMFA 8.2023).
Anmerkung: Für weitere Informationen sowie zusätzliche Genehmigungsverfahren siehe Kapitel Rückkehr, Unterkapitel "Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort".
Quellen:
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● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 3.7.2023
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Syria Country Report 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 4.7.2023
● EB - Enab Baladi (14.6.2023): New security settlement to enhance regime grip on Daraa: activists, displaced, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/06/new-security-settlement-to-enhance-regime-grip-on-daraa-activists-displaced/, Zugriff 24.1.2024
● EUAA - European Union Asylum Agency (10.2023): Syria: Country Focus, https://www.ecoi.net/en/file/local/2098437/2023_10_EUAA_COI_Report_Syria_Country_focus.pdf, Zugriff 11.1.2024
● HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 4.7.2023
● MEE - Middle East Eye (28.3.2018): Besiege, bombard, retake: Reconciliation agreements in Syria, https://www.middleeasteye.net/opinion/besiege-bombard-retake-reconciliation-agreements-syria, Zugriff 3.7.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (8.2023): Country of Origin Information Report on Syria, https://open.overheid.nl/documenten/ronl-e07a04cd19e3da2dac1adebf7a36701e6aee7e7d/pdf, Zugriff 11.12.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 3.7.2023
● ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022, Antwortschreiben per E-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
● OFPRA - Office français de protection des réfugiés et apatrides [France] (13.12.2022): Syrie : Situation dans les zones reconquises par les forces pro-régime depuis 2020, https://www.ofpra.gouv.fr/libraries/pdf.js/web/viewer.html?file=/sites/default/files/ofpra_flora/2212_syr_zones_reconquises_par_le_regime_156325_web.pdf, Zugriff 4.7.2023
● SACD - Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) (8.11.2021): Did Daraa mark the end of reconciliation agreements in Syria?, https://syacd.org/did-daraa-mark-the-end-of-reconciliation-agreements-in-syria/, Zugriff 3.7.2023
● SD - Syria Direct (9.6.2023): Wave of new Daraa settlements amid Arab normalization efforts, https://syriadirect.org/wave-of-new-daraa-settlements-amid-arab-normalization-efforts/, Zugriff 24.1.2024
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● STDOK - Staatendokumentation of the BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Bericht Syrien – mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 3.7.2023
● TIMEP - The Tahrir Institute for Middle East Policy (15.10.2021): Daraa: Another Example of the Regime’s Failure of Reconciliation, https://timep.org/commentary/analysis/daraa-another-example-of-the-regimes-failure-of-reconciliation/, Zugriff 3.7.2023
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1.3.2.2. Nordwest-Syrien
Letzte Änderung 08.03.2024
Während das Assad-Regime etwa 60 Prozent des Landes kontrolliert, was einer Bevölkerung von rund neun Millionen Menschen entspricht, gibt es derzeit [im Nordwesten Syriens] zwei Gebiete, die sich noch außerhalb der Kontrolle des Regimes befinden: Nord-Aleppo und andere Gebiete an der Grenze zur Türkei, die von der von Ankara unterstützten Syrischen Nationalarmee (Syrian National Army, SNA) kontrolliert werden, und das Gebiet von Idlib, das von der militanten islamistischen Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert wird. Zusammen kontrollieren sie 10 Prozent des Landes mit einer Bevölkerung von etwa 4,4 Millionen Menschen, wobei die Daten zur Bevölkerungsanzahl je nach zitierter Institution etwas variieren (ISPI 27.6.2023).
Auf diesem Kartenausschnitt sind die Machtverhältnisse in Nordwest-Syrien eingezeichnet:
Quelle: Zenith 11.2022
Das Gebiet unter Kontrolle von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS)
In der nordwestlichen Provinz Idlib und den angrenzenden Teilen der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo befindet sich die letzte Hochburg der Opposition in Syrien (BBC 2.5.2023). Das Gebiet wird von dem ehemaligen al-Qaida-Ableger Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: übersetzt soviel wie: Komitee zur Befreiung der Levante] beherrscht, der nach Ansicht von Analysten einen Wandel durchläuft, um seine Herrschaft in der Provinz zu festigen (Alaraby 5.6.2023). Das Gebiet beherbergt aber auch andere etablierte Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden (BBC 2.5.2023). HTS hat die stillschweigende Unterstützung der Türkei, die die Gruppe als Quelle der Stabilität in der Provinz und als mäßigenden Einfluss auf die radikaleren, transnationalen dschihadistischen Gruppen in der Region betrachtet. Durch eine Kombination aus militärischen Konfrontationen, Razzien und Festnahmen hat die HTS alle ihre früheren Rivalen wie Hurras ad-Din und Ahrar ash-Sham effektiv neutralisiert. Durch diese Machtkonsolidierung unterscheidet sich das heutige Idlib deutlich von der Situation vor fünf Jahren, als dort eine große Anzahl an dschihadistischen Gruppen um die Macht konkurrierte. HTS hat derzeit keine nennenswerten Rivalen. Die Gruppe hat Institutionen aufgebaut und andere Gruppen davon abgehalten, Angriffe im Nordwesten zu verüben. Diese Tendenz hat sich nach Ansicht von Experten seit dem verheerenden Erdbeben vom 6.2.2023, das Syrien und die Türkei erschütterte, noch beschleunigt (Alaraby 5.6.2023).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten, ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren Rückzugsgebiet vieler moderater, aber auch radikaler, teils terroristischer Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021). Zehntausende radikal-militanter Kämpfer, insb. der HTS, sind in Idlib präsent. Unter diesen befinden sich auch zahlreiche Foreign Fighters (Uiguren, Tschetschenen, Usbeken) (ÖB Damaskus 12.2022). Unter dem Kommando der HTS stehen zwischen 7.000 und 12.000 Kämpfer, darunter ca. 1.000 sogenannte Foreign Terrorist Fighters (UNSC 25.7.2023). Viele IS-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren und sich nun anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front [Jabhat al-Nusra], heute als HTS bekannt, angeschlossen haben. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichen derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.2.2022). Der IS sieht den Nordwesten als potenzielles Einfallstor in die Türkei und als sicheren Rückzugsort, wo seine Anhänger sich unter die Bevölkerung mischen (UNSC 25.7.2023). Laut einem Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Februar 2023 sind neben HTS und Hurras ad-Din unter anderem auch die zentralasiatischen Gruppierungen Khatiba at-Tawhid wal-Jihad (KTJ) - im März 2022 in Liwa Abu Ubayda umbenannt - und das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM) - auch bekannt als Turkistan Islamic Party (TIP) - in Nordwestsyrien präsent (UNSC 13.2.2023).
Im Jahr 2012 stufte Washington Jabhat an-Nusra [Anm.: nach Umorganisationen und Umbenennungen nun HTS] als Terrororganisation ein (Alaraby 8.5.2023). Auch die Vereinten Nationen führen HTS als terroristische Vereinigung (AA 2.2.2024). Die Organisation versuchte, dieser Einstufung zu entgehen, indem sie 2016 ihre Loslösung von al-Qaida ankündigte und ihren Namen mehrmals änderte, aber ihre Bemühungen waren nicht erfolgreich und die US-Regierung führt sie weiterhin als "terroristische Vereinigung" (Alaraby 8.5.2023; vergleiche CTC Sentinel 2.2023). HTS geht gegen den IS und al-Qaida vor (COAR 28.2.2022; vergleiche CTC Sentinel 2.2023) und reguliert nun die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wird. Die HTS versucht so, dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und signalisiert so ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung (COAR 28.2.2022). Im Mai 2023 startete die HTS in den Provinzen Idlib und Aleppo beispielsweise eine Verhaftungskampagne gegen Hizb ut-Tahrir (HuT) als Teil der langfristigen Strategie, andere islamistische Gruppen in den von ihr kontrollierten Gebieten zu unterwerfen und die Streichung der HTS von internationalen Terroristenlisten zu erwirken (ACLED 8.6.2023; vergleiche Alaraby 8.5.2023). Das Vorgehen gegen radikalere, konkurrierende Gruppierungen und die Versuche der Führung, der HTS ein gemäßigteres Image zu verpassen, führten allerdings zu Spaltungstendenzen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen (AM 22.12.2021). Im Dezember 2023 wurden diese Spaltungstendenzen evident. Nach einer Verhaftungswelle, die sich über ein Jahr hinzog, floh eine Führungspersönlichkeit in die Türkei, um eine eigene rivalisierende Gruppierung zu gründen. Die HTS reagierte mit einer Militäroperation in Afrin (Etana 12.2023). HTS verfolgt eine Expansionsstrategie und führt eine Offensive gegen regierungsnahe Milizen im Raum Aleppo durch (UNSC 25.7.2023).
Anmerkung: s. das Unterkapitel "Syrische Interimsregierung und syrische Heilsregierung" des Kapitels "Politische Lage" für weitere Informationen zu den Regierungsstrukturen in Nordwestsyrien.
Konfliktverlauf im Gebiet
Im Jahr 2015 verlor die syrische Regierung die Kontrolle über Idlib und diverse rivalisierende oppositionelle Gruppierungen übernahmen die Macht (BBC 18.2.2020), wobei die Freie Syrische Armee (FSA) manche Teile der Provinz schon 2012 erobert hatte (KAS 4.2020). Während die syrische Regierung die gesamte Provinz zurückerobern will, versucht Ankara zu verhindern, dass Idlib an Damaskus fällt, und daraufhin noch mehr Syrer in die Türkei flüchten (ORF 14.3.2021; vergleiche Alaraby 25.1.2023). Die Türkei hat HTS als terroristische Organisation eingestuft, doch hat sie die Rebellengruppe in den letzten Jahren nicht aktiv daran gehindert, die Verwaltungsmacht in Idlib zu übernehmen (USCIRF 11.2022). Im Mai 2017 einigten sich Russland, Iran und die Türkei im Rahmen der Astana-Verhandlungen auf die Errichtung vier sogenannter Deeskalationszonen (DEZ) in Syrien (KAS 6.2020), wobei Idlib Teil einer DEZ wurde, die sich von den nordöstlichen Bergen Lattakias bis zu den nordwestlichen Vororten von Aleppo erstreckt und sowohl durch Hama als auch durch Idlib verläuft (SOHR 2.12.2022). Gemeint waren damit kampffreie Räume, in denen Zivilisten vor Angriffen geschützt sein sollten (KAS 6.2020; vergleiche SD 18.8.2019). Gemäß der Übereinkunft von Astana rückte die türkische Armee im Oktober 2017 in die DEZ Idlib ein und errichtete Beobachtungsposten zur Überwachung der Waffenruhe. Ankara hatte sich in Astana verpflichtet, die Rebellen zu entwaffnen und den freien Verkehr auf den Fernstraßen M4 und M5 zu gewährleisten. Im Gegenzug hatten Moskau und Damaskus zugesichert, die Provinz nicht anzugreifen. Zusagen, die letztlich keine Seite einhielt. Die syrische Regierung führte im Zeitraum 2018-2020 Offensiven in Idlib durch, die zur Flucht von rund einer Million Menschen führten (KAS 6.2020).
Das syrische Regime hat den Wunsch geäußert, die Provinz zurückzuerobern, doch seit einer Offensive im März 2020, die mit einer für die syrische Regierung katastrophalen Niederlage gegen die Türkei endete, hat das Gebiet den Besitzer nicht mehr gewechselt (Alaraby 5.6.2023). Im März 2020 vermittelten Russland und die Türkei einen Waffenstillstand, um einen Vorstoß der Regierung zur Rückeroberung von Idlib zu stoppen (BBC 26.6.2023). Die vereinbarte Waffenruhe in der DEZ Idlib wurde weitestgehend eingehalten (AA 2.2.2024), sie führte zu einer längeren Pause in der Gewalt, aber sporadische Zusammenstöße, Luftangriffe und Beschuss gehen weiter (BBC 26.6.2023). Der Konflikt ist derzeit weitgehend eingefroren, auch wenn es immer wieder zu Kämpfen kommt (AJ 15.3.2023). Durch den türkisch-russischen Waffenstillstand kam es an der Frontlinie zwischen den Regime-Truppen und HTS zu einem kleinen Rückgang der Gewalt. 2022 änderte sich die Intensität und Art der Vorfälle allerdings. Einerseits erhöhte HTS die Anzahl ihrer direkten Angriffe auf die syrische Regierung und andererseits kam es zu einem Anstieg an direkten bewaffneten Zusammenstößen, wobei Beschuss noch immer die häufigste Kampfart blieb (ACLED 26.7.2023).
Insbesondere im Süden der DEZ kommt es unverändert regelmäßig zu Kampfhandlungen zwischen Einheiten des Regimes und seiner Verbündeten und regimefeindlichen bewaffneten Oppositionsgruppen (AA 2.2.2024; vergleiche UNSC 20.4.2023), inklusive schwerer Artillerieangriffe durch das syrische Regime und Luftschläge der russischen Luftwaffe (AA 2.2.2024; vergleiche USDOS 20.3.2023). In der Region ist es beispielsweise im November (SOHR 2.12.2022) und Dezember 2022 (CC 1.5.2023) sowie Juni 2023 (Reuters 25.6.2023) zu einer spürbaren Eskalation der Militäroperationen durch russische und regimetreue Kräfte und den ihnen nahestehenden Milizen gekommen (CC 1.5.2023, SOHR 2.12.2022, Reuters 25.6.2023), einschließlich des täglichen Bombardements mit Dutzenden von Raketen und Artilleriegranaten und russischen Luftangriffen, die alle zu erheblichen menschlichen Verlusten und Sachschäden geführt haben (SOHR 2.12.2022). Die syrischen Weißhelme meldeten Ende 2022, dass sie im Laufe des Jahres auf mehr als 800 Angriffe des Assad-Regimes, russischer Streitkräfte und verbündeter Milizen im Nordwesten Syriens reagiert haben. Dabei wurden 165 Personen, darunter 55 Kinder und 14 Frauen, bei Luftangriffen sowie Artillerie- und Raketenangriffen auf mehr als 200 öffentliche Einrichtungen, darunter Wohnhäuser, landwirtschaftliche Felder, öffentliche Gebäude, Märkte, Schulen und ein Krankenhaus, getötet (USDOS 20.3.2023). Die HTS-Kämpfer greifen die Regierungskräfte dagegen vor allem mit Flugabwehrgeschossen an und sind hauptsächlich mit Maschinengewehren und Panzerfäusten ausgerüstet. Die Miliz hat jedoch auch improvisierte Sprengsätze gegen Assads Streitkräfte gelegt (Wilson 13.7.2022) und Selbstmordattentäter eingesetzt (Wilson 13.7.2022; vergleiche CC 1.5.2023).
Zwar rechtfertigt insbesondere das syrische Regime sein militärisches Vorgehen als Einsatz gegen terroristische Akteure. Ziele der Angriffe des Regimes und seiner Verbündeten bleiben jedoch neben Stellungen der bewaffneten Opposition (AA 2.2.2024) nicht zuletzt die zivile Infrastruktur in den Zielgebieten, darunter auch für die humanitäre Versorgung kritische Einrichtungen (AA 2.2.2024; vergleiche HRW 12.1.2023). Diese wurden teilweise mit Präzisionsraketen und zielgenauen Waffensystemen von Kampfflugzeugen unter Beschuss genommen. In ihrem Bericht vom September 2022 dokumentiert die vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UNHRC) eingerichtete internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien (CoI=Commission of Inquiry) acht Angriffe, u.a. auf eine Wasserstation, mit insgesamt 39 getöteten oder verletzten Zivilpersonen (AA 2.2.2024). Im November 2022 dokumentierte die CoI den Einsatz von Streumunition durch die Regierungskräfte in einem dicht besiedelten Flüchtlingslager in Idlib, wodurch mindestens sieben Zivilisten getötet wurden (UNHRC 7.2.2023; vergleiche AA 2.2.2024). Die CoI sieht zudem begründeten Anlass zu der Annahme, dass HTS-Mitglieder Menschen weiterhin willkürlich ihrer Freiheit beraubten und einige von ihnen in Isolationshaft und andere in einer Weise festhielten, die einem erzwungenen Verschwinden gleichkam. Darüber hinaus haben HTS-Mitglieder möglicherweise die Kriegsverbrechen der Folter und grausamen Behandlung sowie der Verhängung von Strafen ohne vorheriges Urteil eines regulär konstituierten Gerichts begangen (UNHRC 7.2.2023).
Im Oktober 2023 kam es zu einer erneuten Eskalation, die vom Vorsitzenden der CoI als größte Eskalation von Kampfhandlungen in Syrien in vier Jahren bezeichnet (UNHRC 24.10.2023). Angefangen hat die Gewaltperiode am 5.10.2023 durch einen Drohnenangriff auf die Ausmusterungsveranstaltung der Militärakademie in Homs, bei dem 89 Personen getötet und 270 verletzt wurden. Die Hay'at Tahrir ash-Sham wird verdächtigt, hinter dem Anschlag zu stehen. Noch am selben Tag reagierten die syrische Regierung gemeinsam mit russischen Streitkräften vor Ort mit intensivem Beschuss der Provinzen Idlib und Aleppo. Weitere Drohnenangriffe folgten zwischen 7.10.2023 auf einen russisch geführten Militärflughafen in der Provinz Lattakia und 18.10. in der Stadt Aleppo. Die russischen Streitkräfte intensivierten ihre Luftangriffe und die Syrische Armee den Beschuss. Die HTS und ihre Verbündeten reagierten wiederum mit Artilleriebeschuss, Scharfschützen, Lenkflugkörpern und mutmaßlich auch weiteren Drohnenangriffen. Die Situation in Nordwestsyrien beruhigte sich im November wieder und die Kampfhandlungen gingen auf das Niveau vor der Eskalation im Oktober 2023 zurück, waren aber auch im Dezember 2023 noch unverändert evident (ICG 10.2023).
Im Februar 2023 wurde die Region von verheerenden Erdbeben heimgesucht, bei denen Tausende von Menschen ums Leben kamen [Anm.: s. Karte des betroffenen Gebiets samt Gebietskontrolle unten] (AJ 15.3.2023). Daraufhin wurde in Nordsyrien ein signifikanter, wenn auch zeitlich begrenzter, Rückgang der Kampfhandlungen verzeichnet (CC 12.6.2023; vergleiche UNSC 20.4.2023). Der gegenseitige Beschuss und begrenzte Zusammenstöße zwischen nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen, der syrischen Regierung und regierungsnahen Kräften über die Front hinweg im Nordwesten der Arabischen Republik Syrien hielten jedoch an, wobei es in einigen Fällen zu Opfern unter der Zivilbevölkerung kam (UNSC 20.4.2023). Auch im Juni 2023 wurde ein Wiederaufflammen der Kampfhandlungen zwischen Regierungskräften und Rebellengruppen in den Provinzen Aleppo und Idlib vermeldet (NPA 2.7.2023; vergleiche AN 28.6.2023).
Quelle: BBC 15.2.2023
Die folgende Karte zeigt die Vorfälle sowie die Intensität der Kampfhandlungen im Norden Syriens von Jänner bis Juni 2023:
Quelle: UNGeo 1.7.2023
Die Gebiete unter Kontrolle der Türkei und Türkei-naher Milizen
Die Opposition im Nordwesten Syriens ist in zwei große Gruppen/Bündnisse gespalten: HTS im Gouvernement Idlib und die von der Türkei unterstützte SNA im Gouvernement Aleppo. Die SNA setzt sich in erster Linie aus ehemaligen Gruppen der FSA zusammen, hat sich jedoch zu einer gespaltenen Organisation mit zahlreichen Fraktionen entwickelt, die zu internen Kämpfen neigen (CC 1.5.2023). Die SNA ist auf dem Papier die Streitkraft der syrischen Übergangsregierung (SIG), die rund 2,3 Millionen Syrer regiert. In Wirklichkeit ist die SNA allerdings keine einheitliche Truppe, sondern setzt sich aus verschiedenen Fraktionen zusammen, die unterschiedliche Legionen bilden und nicht unbedingt der Führung des Verteidigungsministers der SIG folgen (Forbes 22.10.2022). Eine hochrangige syrische Oppositionsquelle in Afrîn sagte, dass innerhalb der SNA strukturelle Probleme bestehen, seit die von der Türkei unterstützten Kräfte das Gebiet 2018 von kurdischen Kräften erobert haben (MEE 15.10.2022) und es wird von internen Kämpfen der SNA-Fraktionen berichtet (MEE 25.10.2022). Trotz der internen Streitigkeiten operieren die SIG-Verwaltungen und die bewaffneten Gruppen innerhalb der SNA innerhalb der von Ankara vorgegebenen Grenzen (Forbes 22.10.2022; vergleiche Brookings 27.1.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden von bewaffneten Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Duldung des Missbrauchs und der Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
Die Lage in den von der Türkei und Türkei-nahen Milizen, darunter der Syrischen Nationalarmee (SNA, vormals "Freie Syrische Armee"), kontrollierten Gebieten im Norden um die Städte Afrîn und Jarabulus im Norden des Gouvernements Aleppo bleibt instabil. Auch kam es dort immer wieder zu teils umfangreichen Kampfhandlungen, insbesondere zwischen Türkei-nahen Milizen und der HTS einerseits, sowie Türkei-nahen Milizen, der kurdischen YPG (Yekîneyên Parastina Gel) und in der Region eingesetzten Truppen des Regimes andererseits (AA 2.2.2024). Durch den Beschuss eines Marktplatzes in der türkisch kontrollierten Stadt al-Bab (Gouvernement Aleppo) durch Regimetruppen wurden etwa im August 2022 mindestens 20 Zivilpersonen getötet und rund 40 verletzt. Anfang Oktober 2022 rückte HTS aus dem Nordwesten auf die Stadt Afrîn und Umgebung vor, nachdem es innerhalb der SNA nach dem Mord an einem zivilgesellschaftlichen Aktivisten zu teils gewalttätigen internen Auseinandersetzungen kam (AA 29.3.2023). Die Auseinandersetzungen standen dabei im Zusammenhang mit dem lukrativen und weitverbreiteten Drogenhandel in Syrien sowie konkurrierenden Interessen verschiedener Brigaden innerhalb der SNA (TWI 19.10.2022). Dies war der erste größere Gebietsaustausch zwischen den Kriegsparteien seit zwei Jahren (Forbes 22.10.2022). Nach rund zwei Wochen zogen sich die Kämpfer der HTS wieder aus Afrîn zurück (MEE 25.10.2022).
Um die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung durch die Kämpfe der SNA zu verringern, haben viele lokale Versammlungen und die örtliche Polizei versucht, Maßnahmen zu ergreifen, um die Gruppen daran zu hindern, mit automatischen oder schweren Waffen in die Städte einzudringen. Dennoch werden zivile Gebiete bei Zusammenstößen zwischen den Gruppen immer noch schwer getroffen und die häufigen Zusammenstöße zwischen den SNA-Gruppen, die in Gebieten wie Afrin, Jarabulus und Tal Abyad operieren, haben auch zu Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt (MEE 25.10.2022). Im Norden Aleppos kommt es weiterhin zu Angriffen auf Zivilisten. Die CoI des UN-Menschenrechtsrats dokumentierte im zweiten Halbjahr 2022 fünf Angriffe, die 60 Todesopfer forderten. Trotz eines offensichtlichen Rückgangs der Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen in diesem Zeitraum wurden Zivilisten bei Bodenangriffen getötet oder verletzt, auch in ihren Häusern in einem Vertriebenenlager oder auf öffentlichen Märkten. Dem Untersuchungsbericht für das zweite Halbjahr 2022 zufolge hat die CoI des UN-Menschenrechtsrats begründeten Anlass zu der Annahme, dass Mitglieder der SNA weiterhin willkürlich Personen der Freiheit beraubten und Gefangene ohne Kontakt zur Außenwelt und einige in einer Weise festhielten, die einem Verschwindenlassen gleichkam. SNA-Mitglieder haben auch weiterhin Folter, einschließlich Vergewaltigung, und grausame Behandlung, Mord, Geiselnahme sowie Plünderung begangen, die allesamt als separate Kriegsverbrechen gelten können (UNHRC 7.2.2023). Nach Angaben der NGO Syrians for Truth and Justice (STJ) begehen SNA-Fraktionen ungestraft und unbehelligt vom türkischen Militär, das sie unterstützt und eine effektive Kontrolle in der Region ausübt, wiederholt und systematisch Verstöße. Seit 2018 haben mehrere unabhängige lokale und internationale Organisationen sowie die zuständigen UN-Gremien massive Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, darunter Tötungen, willkürliche Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen, Misshandlungen, Folter, Plünderungen und Beschlagnahmungen von Eigentum sowie die Nötigung kurdischer Einwohner, ihre Häuser zu verlassen, und die Behinderung der Rückkehr von Einheimischen an ihre ursprünglichen Wohnorte nach Feindseligkeiten, demografischen Veränderungen und Versuche der Türkisierung (STJ 16.5.2023). Während des Jahres 2022 führten mit der Türkei verbundene Oppositionsgruppierungen angeblich außergerichtliche Tötungen durch (USDOS 20.3.2023).
Zu den türkischen Militäroffensiven in Nordsyrien siehe das Unterkapitel "Türkische Militäroperationen in Nordsyrien" im Kapitel "Sicherheitslage".
Quellen:
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1.3.2.3. Türkische Militäroperationen in Nordsyrien
Letzte Änderung 08.03.2024
"Operation Schutzschild Euphrat" (türk. "Fırat Kalkanı Harekâtı")
Am 24.8.2016 hat die Türkei die "Operation Euphrates Shield" (OES) in Syrien gestartet (MFATR o.D.; vergleiche CE 19.1.2017). Die OES war die erste große Militäroperation der Türkei in Syrien (OR o.D.). In einer Pressemitteilung des Nationalen Sicherheitsrats (vom 30.11.2016) hieß es, die Ziele der Operation seien die Aufrechterhaltung der Grenzsicherheit und die Bekämpfung des Islamischen Staates (IS) im Rahmen der UN-Charta. Außerdem wurde betont, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) sowie die mit ihr verbundene PYD (Partiya Yekîtiya Demokrat) und YPG (Yekîneyên Parastina Gel) keinen "Korridor des Terrors" vor den Toren der Türkei errichten dürfen (CE 19.1.2017). Obwohl die türkischen Behörden offiziell erklärten, dass die oberste Priorität der Kampf gegen den IS sei, betonen viele Kommentatoren und Analysten, dass das Ziel darin bestand, die Schaffung eines einzigen von den Kurden kontrollierten Gebiets in Nordsyrien zu verhindern (OR o.D.; vergleiche TWI 26.3.2019, SWP 30.5.2022). Die Türkei betrachtet die kurdische Volksverteidigungseinheit (YPG) und ihren politischen Arm, die Partei der Demokratischen Union (PYD), als den syrischen Zweig der PKK und damit als direkte Bedrohung für die Sicherheit der Türkei (SWP 30.5.2022).
"Operation Olivenzweig" (türk. "Zeytin Dalı Harekâtı")
Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) im Rahmen der "Operation Olive Branch" (OOB) den zuvor von der YPG kontrollierten Distrikt Afrin ein (Bellingcat 1.3.2019). Laut türkischem Außenministerium waren die Ziele der OOB die Gewährleistung der türkischen Grenzsicherheit, die Entmachtung der "Terroristen" in Afrin und die Befreiung der lokalen Bevölkerung von der Unterdrückung der "Terroristen". Das türkische Außenministerium berichtete weiter, dass das Gebiet in weniger als zwei Monaten von PKK/YPG- und IS-Einheiten befreit wurde (MFATR o.D.). Diese Aussage impliziert, dass Ankara bei der Verfolgung der Grenzsicherheit und der regionalen Stabilität keinen Unterschied zwischen IS und YPG macht (TWI 26.3.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen (UN) die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.1.2019).
"Operation Friedensquelle" (türk. "Barış Pınarı Harekâtı")
Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mithilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive, einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 10.10.2019). Der UN zufolge wurden innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Im Hinterland begannen IS-Zellen, Anschläge zu organisieren (GEG 3.4.2023). Medienberichten zufolge sind in dem Gefangenenlager ʿAyn Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (Standard 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (Zeit 10.10.2019). Auch im Zuge der türkischen Militäroperation "Friedensquelle" kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022).
Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der "türkischen Aggression" entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichteten (Standard 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernahmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (WP 14.10.2019). Seitdem verblieben die Machtverhältnisse [mit Stand April 2023] weitgehend unverändert (GEG 3.4.2023). Die syrischen Regierungstruppen üben im Gebiet punktuell Macht aus, etwa mit Übergängen zwischen einzelnen Stadtvierteln (z. B. Stadt Qamischli im Gouvernement Al-Hassakah) (AA 29.3.2023). Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine "Sicherheitszone" in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra's al-ʿAyn ein (SWP 1.1.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.5.2020).
Siehe dazu auch die Unterkapitel "Nordost-Syrien" und "Nordwest-Syrien" im Kapitel "Sicherheitslage".
"Operation Frühlingsschild" (türk. "Bahar Kalkanı Harekâtı")
Nachdem die syrische Regierung im Dezember 2019 eine bewaffnete Offensive gestartet hatte, gerieten ihre Streitkräfte im Februar 2020 mit den türkischen Streitkräften in einen direkten Konflikt (CC 17.2.2021). Während des gesamten Februars führten die syrische Regierung und regierungsnahe Kräfte im Nordwesten Syriens Luftangriffe durch, und zwar in einem Ausmaß, das laut den Vereinten Nationen zu den höchsten seit Beginn des Konflikts gehörte. Auch führten die syrischen Regierungskräfte Vorstöße am Boden durch. Zu den täglichen Zusammenstößen mit nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen gehörten gegenseitiger Artilleriebeschuss und Bodenkämpfe mit einer hohen Zahl von Opfern (UNSC 23.4.2020). Nach Angriffen syrischer Streitkräfte auf Stellungen der türkischen Armee, bei denen 34 türkische Soldaten getötet wurden, leitete Ankara die Operation "Frühlingsschild" in der Enklave Idlib (INSS 4.9.2022) am 27.2.2020 ein (UNSC 23.4.2020). Die Türkei versuchte damit ein Übergreifen des syrischen Konflikts auf die Türkei als Folge der neuen Regimeoffensive - insbesondere in Form eines Zustroms von Extremisten und Flüchtlingen in die Türkei - zu verhindern. Ein tieferer Beweggrund für die Operation war der Wunsch Ankaras, eine Grenze gegen weitere Vorstöße des Regimes zu ziehen, welche die türkischen Gebietsgewinne in Nordsyrien gefährden könnten. Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) war ein - wenn auch unintendierter - wichtiger Profiteur der Operation (Clingendael 9.2021). Im März 2020 wurde ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der Türkei und Russland in Idlib unterzeichnet, das die Schaffung eines sicheren Korridors um die Autobahn M4 und gemeinsame Patrouillen der russischen und türkischen Streitkräfte vorsah (INSS 4.9.2022). Der zwischen den Präsidenten Erdoğan und Putin vereinbarte Waffenstillstand sorgte für eine Deeskalation. Es kommt aber immer wieder zu lokal begrenzten militärischen Gefechten zwischen den erwähnten Konfliktparteien (ÖB Damaskus 12.2022). Rund 8.000 Soldaten des türkischen Militärs verbleiben in der Region und unterstützen militärisch und logistisch die dort operierenden Organisationen, vor allem die Syrian National Army (SNA, ehemals Free Syrian Army, FSA) und die HTS (INSS 4.9.2022).
"Operation Klauenschwert" (türk. "Pençe Kılıç Hava Harekâtı") und von Präsident Erdoğan ankündigte Bodenoffensiven der Türkei
Ein Hauptziel der Türkei besteht darin, eine Pufferzone zu den Kräften des syrischen Regimes aufrechtzuerhalten, deren Vorrücken - ohne vorherige Absprache oder Vereinbarung - die Sicherheit der türkischen Grenze gefährden würde. Das vorrangige Ziel Russlands und des syrischen Regimes ist es, den Druck auf HTS aufrechtzuerhalten (EPC 17.2.2022). Es kommt in den türkisch-besetzten Gebieten zu internen Kämpfen zwischen von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen (AC 1.12.2022; vergleiche SO 26.5.2022) und vor allem im nördlichen Teil der Provinz Aleppo, auch vermehrt zu Anschlägen seitens der kurdischen YPG. Die sehr komplexe Gemengelage an (bewaffneten) Akteuren, u. a. YPG und Türkei-nahe Rebellengruppen, die sich auch untereinander bekämpfen, führt zu einer sehr konfliktgeladenen Situation in der Provinz Aleppo und vor allem in deren nördlichem Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Erdoğan hat wiederholt angekündigt, einen 30 Kilometer breiten Streifen an der syrischen Grenze vollständig einzunehmen, um eine sogenannte Sicherheitszone auf der syrischen Seite der Grenze zu errichten (MI 21.11.2022; vergleiche IT 30.5.2023), unter anderem, um dort syrische Flüchtlinge und Vertriebene, sowohl sunnitische Araber als auch Turkmenen, anzusiedeln. Dieser Prozess ist in Afrîn, al-Bab und Ra's al-'Ayn bereits im Gange (GEG 3.4.2023; vergleiche NPA 5.6.2023, VOA 12.1.2023). Zuletzt konzentrierte die türkische Regierung ihre Drohungen auf die Region um Kobanê und Manbij - also die westlichen Selbstverwaltungsgebiete (MI 21.11.2022). Damit kann eine Verbindung zwischen dem Gebiet al-Bab-Jarablus und dem Gebiet Tel Abyad-Ra's al-'Ayn hergestellt werden (GEG 3.4.2023), außerdem ist Kobanê ein Symbol des kurdischen Widerstands gegen den IS (GEG 3.4.2023; vergleiche ANF 29.11.2022).
Am 13.11.2022 wurde in Istanbul ein Bombenanschlag verübt, bei dem sechs Menschen starben und rund 80 verletzt wurden (AJ 22.11.2022). Die Türkei machte die YPG und PKK für den Anschlag verantwortlich, was beide Gruppierungen bestritten (AJ 24.11.2022; vergleiche REU 14.11.2022). Die Türkei hat ihre militärischen Aktivitäten im Norden und Nordosten als Antwort auf den Vorfall verstärkt (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche AJ 24.11.2022). Eine Woche nach dem Anschlag startete das türkische Militär die Operation "Klauenschwert" (AJ 22.11.2022) und führte als Vergeltungsmaßnahme eine Reihe von Luftangriffen auf mutmaßliche militante Ziele in Nordsyrien und im Irak durch (BBC 20.11.2022). Nach Angaben der SDF wurden bei den Luftschlägen auch zivile Ziele getroffen, während es sich bei den zerstörten Zielen laut türkischen Angaben um Bunker, Tunnel und Munitionsdepots handelte (Zeit 20.11.2022). Am 23.11.2022 richteten sich die türkischen Angriffe auch gegen einen SDF-Posten im Gefangenenlager al-Hol, in dem mehr als 53.000 IS-Verdächtige und ihre Familienangehörigen festgehalten werden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder aus etwa 60 Ländern (HRW 7.12.2022).
Türkische Regierungsvertreter signalisierten wiederholt, dass eine Bodenoffensive folgen könnte (AJ 22.11.2022, FR24 14.1.2023), wovor Russland, der Iran (AJ 22.11.2022) und die USA warnten (NPA 18.1.2023). Die USA haben zur "sofortigen Deeskalation" aufgerufen. Größte Sorge in Washington ist, dass eine türkische Offensive im Nordirak der Terrormiliz IS in die Hände spielt (RND 27.11.2022; vergleiche USDOS 23.11.2022). Zellen des IS sind in Syrien immer noch aktiv. Die YPG ist ein wichtiger Verbündeter der USA im Kampf gegen den IS. Tausende ehemalige IS-Kämpfer sitzen in Gefängnissen, die von der Kurdenmiliz kontrolliert werden. Eine Schlüsselrolle für die türkische Syrien-Strategie spielt Russland. Präsident Wladimir Putin ist der wichtigste politische und militärische Verbündete des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Die russischen Streitkräfte haben die Lufthoheit über Syrien. Für eine Bodenoffensive braucht Erdoğan zumindest die Duldung Moskaus (RND 27.11.2022). Auch auf Bestreben Moskaus (FR24 14.1.2023) gibt es Normalisierungsbemühungen zwischen Ankara und Damaskus (Alaraby 25.1.2023; vergleiche FR24 14.1.2023). Syriens Außenminister betonte im Mai 2023 allerdings, dass es zu keiner Normalisierung der beiden Länder kommen werde, solange die Türkei syrisches Staatsgebiet besetzt hält (Tasnim 22.5.2023). Die syrischen Kurden befürchten, dass Präsident Assad im Gegenzug für einen vollständigen Rückzug der Türkei aus Syrien einem härteren Vorgehen gegen die YPG zustimmen könnte (IT 30.5.2023). Analysten gingen Anfang 2023 allerdings davon aus, dass ein vollständiger Rückzug der Türkei in naher Zukunft aus einer Reihe von Gründen unwahrscheinlich sei und sich wahrscheinlich als äußerst kompliziert erweisen werde (Alaraby 25.1.2023).
Anmerkung: Weitergehende Informationen zur Lage in Nordsyrien können dem Kapitel Sicherheitslage sowie den Unterkapiteln "Nordwestsyrien" und "Nordostsyrien" entnommen werden. Informationen zu Konfliktlösungsversuchen auf der politischen Ebene können den Kapiteln "Politische Lage" und "Sicherheitslage" entnommen werden.
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● Zeit - Zeit online (10.10.2019): Militäroffensive der Türkei - Angst vor den Dschihadisten, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-10/militaeroffensive-tuerkei-islamischer-staat-nordsyrien/komplettansicht, Zugriff 4.7.2023
1.3.2.4. Nordost-Syrien (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) und das Gebiet der SNA (Syrian National Army)
Letzte Änderung: 13.07.2023
Besonders volatil stellt sich laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amt die Lage im Nordosten Syriens (v. a. Gebiete unmittelbar um und östlich des Euphrats) dar. Als Reaktion auf einen, von der Türkei der PKK zugeschriebenen, Terroranschlag mit mehreren Toten in Istanbul startete das türkische Militär am 19.11.2022 eine mit Artillerie unterstützte Luftoperation gegen kurdische Ziele u. a. in Nordsyrien. Bereits zuvor war es immer wieder zu vereinzelten, teils schweren Auseinandersetzungen zwischen türkischen und Türkei-nahen Einheiten und Einheiten der kurdisch dominierten SDF (Syrian Defence Forces) sowie Truppen des Regimes gekommen, welche in Abstimmung mit den SDF nach Nordsyrien verlegt wurden. Als Folge dieser Auseinandersetzungen, insbesondere auch von seit Sommer 2022 zunehmenden türkischen Drohnenschlägen, wurden immer wieder auch zivile Todesopfer, darunter Kinder, vermeldet (AA 29.3.2023). Auch waren die SDF gezwungen, ihren Truppeneinsatz angesichts türkischer Luftschläge und einer potenziellen Bodenoffensive umzustrukturieren. Durch türkische Angriffe auf die zivile Infrastruktur sind auch Bemühungen um die humanitäre Lage gefährdet (Newlines 7.3.2023). Die Angriffe beschränkten sich bereits im 3. Quartal 2022 nicht mehr nur auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfanden; im Juli und August 2022 trafen türkische Drohnen Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobanê, Tell Abyad, Ar-Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und al-Hassakah (CC 3.11.2022). Bereits im Mai 2022 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine vierte türkische Invasion seit 2016 angekündigt (HRW 12.1.2023). Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der YPG als auch der Democratic Union Party (PYD) Nähe zur von der EU als Terrororganisation gelisteten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und bezeichnet diese daher ebenfalls als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.11.2021).
Der Think Tank Newslines Institute for Strategy and Policy sieht auf der folgenden Karte besonders die Gebiete von Tal Rifa'at, Manbij und and Kobanê als potenzielle Ziele einer türkischen Offensive. Auf der Karte sind auch die Strecken und Gebiete mit einer Präsenz von Regime- und pro-Regime-Kräften im Selbstverwaltungsgebiet ersichtlich, die sich vor allem entlang der Frontlinien zu den pro-türkischen Rebellengebieten und entlang der türkisch-syrischen Grenze entlangziehen. In Tal Rifa'at und an manchen Grenzabschnitten sind sie nicht präsent:
Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen (CMEC 2.10.2020) [Anm.: Siehe hierzu Unterkapitel türkische Militäroperationen in Nordsyrien im Kapitel Sicherheitslage]. Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der 'Syrian National Army' (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Auf der folgenden Karte sind die militärischen Akteure der Region wie auch militärische und infrastrukturelle Maßnahmen, welche zur Absicherung der kurdischen "Selbstverwaltung" (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) nötig wären, eingezeichnet. Auf dieser Karte ist entlang der gesamten Frontlinie zu pro-türkischen Gebieten bzw. der türkisch-syrischen Grenze die Präsenz einer Kooperation zwischen SDF, Regime und russischen Truppen mit Ausnahme entlang des Trigris im äußersten Nordosten verzeichnet:
Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch präsent (ÖB Damaskus 1.10.2021; vergleiche AA 29.11.2021; JsF 9.9.2022). Am 4.9.2022 errichteten die US-Truppen einen neuen Militärstützpunkt im Dorf Naqara im Nordosten Syriens, der zu den drei Standorten der US-geführten internationalen Koalition in der Region Qamishli gehört. Der neue Militärstützpunkt kann dazu beitragen, die verstärkten Aktivitäten Russlands und Irans in der Region zu überwachen; insbesondere überblickt er direkt den von den russischen Streitkräften betriebenen Luftwaffenstützpunkt am Flughafen Qamishli. Er ist nur wenige Kilometer von den iranischen Militärstandorten südlich der Stadt entfernt (JsF 9.9.2022). Hinzukamen wiederholte Luft- bzw. Drohnenangriffe zwischen den in Nordost-Syrien stationierten US-Truppen und Iran-nahen Milizen (AA 29.3.2023).
SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad-Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022). Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS (PBS 22.2.2022), und die Region gilt als "Hauptschauplatz für den Aufstand des IS" (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022).
Die kurdischen, sogenannten 'Selbstverteidigungseinheiten' (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien vorgehen (AA 29.11.2021). In Reaktion auf die Reorganisation der Truppen zur Verstärkung der Front gegen die Türkei stellten die SDF vorübergehend ihre Operationen und andere Sicherheitsmaßnahmen gegen den Islamischen Staat ein. Dies weckte Befürchtungen bezüglich einer Stärkung des IS in Nordost-Syrien (Newlines 7.3.2023). Die SDF hatten mit Unterstützung US-amerikanischer Koalitionskräfte allein seit Ende 2021 mehrere Sicherheitsoperationen durchgeführt, in denen nach eigenen Angaben Hunderte mutmaßliche IS-Angehörige verhaftet wurden (AA 29.3.2023).
Der IS führt weiterhin militärische Operationen und Gegenangriffe durch, und IS-Zellen sind nach wie vor in der Lage, ein Sicherheitsvakuum zu nutzen und Attentate zu verüben. SOHR hat seit Anfang 2022 181 Operationen des IS, darunter bewaffnete Angriffe und Explosionen, in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung dokumentiert. Laut Statistiken des SOHR wurden bei diesen Operationen 135 Menschen getötet, darunter 52 Zivilisten und 82 Angehörige der SDF, der Inneren Sicherheitskräfte und anderer militärischer Formationen, die in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung operierten. Bei diesen Angriffen wurde der Angriff auf das Sina'a-Gefängnis in al-Hassakah nicht berücksichtigt (SOHR 29.11.2022).
Mit dem Angriff auf die Sina’a-Haftanstalt in Al-Hassakah in Nordostsyrien im Januar 2022 und den daran anschließenden mehrtägigen Kampfhandlungen mit insgesamt ca. 470 Todesopfern (IS-Angehörige, SDF-Kämpfer, Zivilisten) demonstrierte der IS propagandawirksam die Fähigkeit, mit entsprechendem Vorlauf praktisch überall im Land auch komplexe Operationen durchführen zu können (AA 29.3.2023). Bei den meisten Gefangenen handelte es sich um prominente IS-Anführer (AM 26.1.2022). Unter den insgesamt rund 5.000 Insassen des überfüllten Gefängnisses befanden sich nach Angaben von Angehörigen jedoch auch Personen, die aufgrund von fadenscheinigen Gründen festgenommen worden waren, nachdem sie sich der Zwangsrekrutierung durch die SDF widersetzt hatten, was die SDF jedoch bestritten (Al Jazeera 26.1.2022). Die Gefechte dauerten zehn Tage, und amerikanische wie britische Kräfte kämpften aufseiten der SDF (HRW 12.1.2023). US-Angaben zufolge war der Kampf die größte Konfrontation zwischen den US-amerikanischen Streitkräften und dem IS, seit die Gruppe 2019 das (vorübergehend) letzte Stück des von ihr kontrollierten Gebiets in Syrien verloren hatte (NYT 25.1.2022). Vielen Häftlingen gelang die Flucht, während sich andere im Gefängnis verbarrikadierten und Geiseln nahmen (ANI 26.1.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen mussten schätzungsweise 45.000 Einwohner von al-Hassakah aufgrund der Kämpfe aus ihren Häusern fliehen, und die SDF riegelte große Teile der Stadt ab (MEE 25.1.2022; vergleiche NYT 25.1.2022, EUAA 9.2022). Während der Kampfhandlungen erfolgten auch andernorts in Nordost-Syrien Angriffe des IS (TWP 24.2.2022). Die geflohenen Bewohner durften danach zurückkehren (MPF 8.2.2022), wobei Unterkünfte von mehr als 140 Familien scheinbar von den SDF während der Militäraktionen zerstört worden waren. Mit Berichtszeitpunkt Jänner 20223 waren Human Rights Watch keine Wiederaufbaupläne, Ersatzunterkünfte oder Kompensationen für die zerstörten Gebäude bekannt (HRW 12.1.2023).
Während vorhergehende IS-Angriffe von kurdischen Quellen als unkoordiniert eingestuft wurden, erfolgte die Aktion in al-Hassakah durch drei bestens koordinierte IS-Zellen. Die Tendenz geht demnach Richtung seltenerer, aber größerer und komplexerer Angriffe, während dezentralisierte Zellen häufige, kleinere Attacken durchführen. Der IS nutzt dabei besonders die große Not der in Lagern lebenden Binnenvertriebenen im Nordosten Syriens aus, z. B. durch die Bezahlung kleiner Beträge für Unterstützungsdienste. Der IS ermordete auch einige Personen, welche mit der Lokalverwaltung zusammenarbeiteten (TWP 24.2.2022). Das Ausüben von koordinierten und ausgeklügelten Anschlägen in Syrien und im Irak wird von einem Vertreter einer US-basierten Forschungsorganisation als Indiz dafür gesehen, dass die vermeintlich verstreuten Schläferzellen des IS wieder zu einer ernsthaften Bedrohung werden (NYT 25.1.2022). Trotz der laufenden Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung hat der IS in letzter Zeit im Nordosten Syriens an Stärke gewonnen und seine Aktivitäten im Gebiet der SDF intensiviert. Am 28.9.2022 gaben die SDF bekannt, dass sie eines der größten Waffenverstecke des IS seit Anfang 2019 erobert haben. Sowohl die Größe des Fundes als auch sein Standort sind ein Beleg für die wachsende Bedrohung, die der IS im Nordosten Syriens darstellt (TWI 12.10.2022). Bei einem weiteren koordinierten Angriff des IS auf das Quartier der kurdischen de facto-Polizeikräfte (ISF/Asayish) sowie auf ein nahegelegenes Gefängnis für IS-Insassen in Raqqa Stadt kamen am 26.12.2022 nach kurdischen Angaben sechs Sicherheitskräfte und ein Angreifer ums Leben (AA 29.3.2023). Laut dem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juli 2022 sind einige der Mitgliedstaaten der Meinung, dass der IS seine Ausbildungsaktivitäten, die zuvor eingeschränkt worden waren, insbesondere in der Wüste Badiya wieder aufgenommen habe (EUAA 9.2022).
Für weitere Informationen über die Aktivitäten des IS in Syrien siehe das Kapitel "Sicherheitslage".
Die kurdischen Sicherheitskräfte kontrollieren weiterhin knapp 30 Lager mit 11.000 internierten IS-Kämpfern (davon 500 aus Europa) sowie die Lager mit Familienangehörigen; der Großteil davon in al-Hol (ÖB Damaskus 1.10.2021). Nach einigen Rückführungen und Repatriierungen beläuft sich die Gesamtzahl der Menschen in al-Hol nun auf etwa 53.000, von denen etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige sind (MSF 7.11.2022b), auch aus Österreich (ÖB Damaskus 1.10.2021). Das Ziel des IS ist es, diese zu befreien, aber auch seinen Anhängern zu zeigen, dass man dazu in der Lage ist, diese Personen herauszuholen (Zenith 11.2.2022). Das Lager war einst dazu gedacht, Zivilisten, die durch den Konflikt in Syrien und im Irak vertrieben wurden, eine sichere, vorübergehende Unterkunft und humanitäre Dienstleistungen zu bieten. Der Zweck von al-Hol hat sich jedoch längst gewandelt, und das Lager ist zunehmend zu einem unsicheren und unhygienischen Freiluftgefängnis geworden, nachdem die Menschen im Dezember 2018 aus den vom IS kontrollierten Gebieten dorthin gebracht wurden. 64 Prozent der Bewohner von al-Hol sind Kinder (MSF 7.11.2022b), die täglicher Gewalt und Kriminalität ausgesetzt sind (STC 5.5.2022; vergleiche MSF 7.11.2022a). Laut Ärzte ohne Grenzen wurden zusätzlich zu den 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen - der mit 38 Prozent häufigsten Todesursache in dem Lager - auch 30 Mordversuche gemeldet (MSF 7.11.2022a). Das Camp ist zusätzlich zu einem Refugium für den IS geworden, um Mitglieder zu rekrutieren (NBC News 6.10.2022). Am 22.11.2022 schlugen türkische Raketen in der Nähe des Lagers ein. Das Chaos, das zu den schwierigen humanitären Bedingungen im Lager hinzukommt, hat zu einem Klima geführt, das die Indoktrination durch den IS begünstigt. Die SDF sahen sich zudem gezwungen, ihre Kräfte zur Bewachung der IS-Gefangenenlager abzuziehen, um auf die türkische Bedrohung zu reagieren (AO 3.12.2022).
Türkische Angriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens (Zenith 11.2.2022). Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich heute in einer zunehmend prekären politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (TWI 15.3.2022). Wie in anderen Bereichen üben die dominanten Politiker der YPG, der mit ihr verbündeten Organisationen im Sicherheitsbereich sowie einflussreiche Geschäftsleute Einfluss auf die Wirtschaft aus, was verbreiteten Schmuggel zwischen den Kontrollgebieten in Syrien und in den Irak ermöglicht (Brookings 27.1.2023). Angesichts der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Nordosten Syriens haben die SDF zunehmend drakonische Maßnahmen ergriffen, um gegen abweichende Meinungen im Land vorzugehen und Proteste zum Schweigen zu bringen, da ihre Autorität von allen Seiten bedroht wird (Etana 30.6.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem wurde gegen den niedrigen Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.8.2021) sowie gegen steigende Treibstoffpreise (AM 30.5.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im Gouvernement al-Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem Asayish [Anm: Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion] in die Proteste eingriffen (al-Sharq 27.8.2021; vergleiche AM 30.5.2021). Die Türkei verschärft die wirtschaftliche Lage in AANES absichtlich, indem sie den Wasserfluss nach Syrien einschränkt (KF 5.2022). Obwohl es keine weitverbreiteten Rufe nach einer Rückkehr des Assad-Regimes gibt, verlieren einige Einwohner das Vertrauen, dass die kurdisch geführte AANES für Sicherheit und Stabilität sorgen kann (TWI 15.3.2022).
Quellen:
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● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 6.7.2023
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● ANI – Asian News International (26.1.2022): Over 500 Islamic State terrorists surrender in Syrian Al-Hasakah after prison break: SDF, https://www.aninews.in/news/world/asia/over-500-islamic-state-terrorists-surrender-in-syrian-al-hasakah-after-prison-break-sdf20220126120507/, Zugriff 6.7.2023
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● TWI - The Washington Institute for Near East Policy (12.10.2022): The SDF römisch eins s Caught Between Turkey and the Islamic State Again, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/sdf-caught-between-turkey-and-islamic-state-again, Zugriff 6.7.2023
● TWI - The Washington Institute for Near East Policy (15.3.2022): How to Preserve the Autonomy of Northeast Syria, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/how-preserve-autonomy-northeast-syria, Zugriff 6.7.2023
● TWP - The Washington Post (Loveluck, Louisa) (24.2.2022): How the Islamic State used bullying and bribes to rebuild in Syria, https://www.washingtonpost.com/world/2022/02/24/islamic-state-syria-attacks/, Zugriff 6.7.2023
● Zenith (11.2.2022): »Der IS rekrutiert eine neue Generation von Kämpfern«, https://magazin.zenith.me/de/politik/interview-mit-syrien-experte-fabrice-balanche-%C3%BCber-den-die-kurden-und-syrien, Zugriff 6.7.2023
1.3.2.5. Deir ez-Zor /Syrisch-Irakisches Grenzgebiet
Letzte Änderung 08.03.2024
Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) war es nach Kämpfen mit der Nusra-Front und gegnerischen arabischen Stämmen im Juli 2014 gelungen, die Provinz Deir ez-Zor fast vollständig einzunehmen. 2017 führte die syrische Armee mit Unterstützung Russlands und Irans größere Militäroperationen durch, die zur Rückeroberung der Stadt Deir ez-Zor führten. Bis Ende 2017 verlor der IS den größten Teil seines Territoriums auf der Westseite des Euphrat. Auf der östlichen Seite des Flusses waren die Syrian Democratic Forces (SDF) bis Anfang 2019 in heftige Kämpfe mit dem IS verwickelt. Der IS kontrollierte damals noch ein kleines Stück Land nahe der syrisch-irakischen Grenze (EASO 5.2020). Im März 2019 wurde das letzte vom IS gehaltene Gebiet, das Dorf Baghouz, von den SDF eingenommen (EASO 5.2020; vergleiche DZ 24.3.2019) [Anm.: zum Lager al-Hol siehe Unterkapitel Kinder sowie zu den Sicherheitsaspekten siehe auch Unterkapitel Nordost-Syrien im Kapitel Sicherheitslage].
Das Gouvernement Deir ez-Zor ist grob in zwei Kontrollbereiche unterteilt. Der westliche Teil des Gouvernements - d.h. vor allem die Gebiete westlich des Euphrat - wird von der syrischen Regierung und ihren iranischen und russischen Verbündeten kontrolliert. Dieses Gebiet umfasst die wichtigsten Städte (Deir Ez-Zor, Mayadin und Al-Bukamal) und die logistische Route, die die von der Regierung kontrollierten Gebiete mit der syrisch-irakischen Grenze verbindet. Der östliche Teil des Gouvernements - die meisten Gebiete östlich des Euphrat - wird von den kurdisch dominierten SDF und ihren Verbündeten in der US-geführten Koalition kontrolliert (EUAA 9.2022; vergleiche JfS 12.1.2021). Da die SDF ihre Einflusssphären in der Region von der östlichen Seite her bis zum Euphrat ausdehnten, ist das al-Omar-Feld nun als die größte US-Militärbasis in Syrien bekannt. Das Feld im Osten von Deir ez-Zor ist das größte Ölfeld in Syrien (Enab 23.9.2022; vergleiche EUAA 9.2022).
Der Euphrat markierte bisher die Grenze zwischen dem russischen und dem US-Einflussgebiet im Bürgerkriegsland Syrien. Westlich des Flusses besitzt Russland die Lufthoheit und unterstützt mit seinen Kampfjets die eigenen Truppen in Syrien und die Armee von Machthaber Bashar al-Assad. Östlich des Stroms herrschten bisher die USA und ihre kurdischen Partner. Doch diese Abmachung bröckelt, weil Russland den militärischen Druck auf die USA in Syrien erhöht, um die Amerikaner aus dem Land zu drängen. Washington schickte aus diesem Grund Mitte 2023 zusätzliche Kampfflugzeuge (Die Presse 22.6.2023).
Die Bemühungen der Regierung Syriens in den 2017 vom IS zurückeroberten Gebieten die Kontrolle zu übernehmen, sind begrenzt, was der lokalen regierungsfreundlichen Miliz, den Nationalen Verteidigungskräften (NDF - National Defence Forces), freie Hand ließ und zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen führte, darunter Plünderungen und die gewaltsame Aneignung von zivilem Eigentum (WI 4.9.2020). Das vom Regime kontrollierte Deir ez-Zor wird von einem komplizierten Geflecht lokaler und anderer Sicherheitskräfte überwacht, von denen viele auch wichtige soziale und wirtschaftliche Funktionen in ihren Städten erfüllen. Stammesmilizen, die mit den NDF verbündet sind, Geheimdienstoffiziere und ihre Milizen, Freiwillige und Wehrpflichtige der Republikanischen Garde sowie der syrischen Armee (Syrische Arabische Armee - SAA) sowie eine Vielzahl ausländischer und syrischer Milizen, die unter anderem mit Iran verbündet sind, bemannen Außenposten und verwalten Städte im gesamten Gouvernement. Die Spannungen zwischen den lokalen Sicherheitskräften und der von Damaskus aus kommandierten SAA haben in den Jahren nach der Befreiung der Provinz vom IS stetig zugenommen (MEI 19.4.2021).
Im August 2023 brachen gewaltsame Konflikte zwischen den kurdisch geführten SDF und arabischen Stämmen in Deir ez-Zor aus (AJ 30.8.2023). Auslöser war die Verhaftung eines arabischen Stammesführers durch die SDF und sind Ausdruck von jahrelangem Unmut gegenüber dem System der SDF (MEI 1.9.2023). Nicht alle Stämme beteiligten sich an den Kampfhandlungen, einige stellten sich auf die Seite der SDF (MEI 30.8.2023). Berichte über willkürliche Gewalt der SDF und steigende zivile Opferzahlen führten zur erhöhten Mobilisierung von Stammeskämpfern (MEI 1.9.2023). Zeitweise war es den Aufständischen gelungen, die Kontrolle über Ortschaften entlang des Euphrats zu erlangen (AA 2.2.2024). Mitte September 2023 wurden die Todesopfer mit 96 Toten und 106 Verletzten sowie ca. 6.500 vertriebenen Familien beziffert (OCHA 14.9.2023). Ende September erreichten die gewaltsamen Zusammenstöße erneut einen Höhepunkt durch mehrere Angriffe durch die arabischen Stämme (Etana 9.2023). Den SDF gelang es, alle Räume zurückzuerobern, die von den arabischen Stämmen erobert worden waren. Letztere führten im Oktober weiterhin Angriffe auf Stellungen der SDF aus (Etana 10.2023). Diese Angriffe dauerten auch im November 2023 weiter an (Etana 11.2023). Mit Dezember 2023 flauten die Auseinandersetzungen zunehmend ab, die Stämme führten aber weiterhin kleinere Angriffe durch (Etana 12.2023). Im Jänner 2024 führten die Stammeskämpfer weiterhin Angriffe gegen die SDF durch, es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, Ausgangssperren und Verhaftungswellen (SO 4.1.2024). Die Kampfhandlungen in Deir ez-Zor veranlassten auch Stämme, die der von der Türkei unterstützten Syrian National Army (SNA) nahe stehen, in Manbij in der Provinz Aleppo gegen die SDF zu kämpfen und es gelang ihnen mehrere militärische Stellungen unter ihre Kontrolle zu bringen. Durch russische Luftangriffe und Artilleriebeschuss durch die syrische Armee und die SDF zwangen diese Stammeskämpfer allerdings wieder zum Rückzug (CC 13.12.2023).
Das Gebiet von Deir ez-Zor galt im Jahr 2019 als Kerngebiet der IS-Aktivität in Syrien, vor allem die Gebiete im Süden von Bosaira in Richtung Diban (BBC 27.10.2019). Der IS konnte im Jahr 2020 seinen Aufstand und seine klandestinen Operationen geringer Intensität in Zentralsyrien ausweiten und hat im ganzen Land Hochburgen und Zufluchtsorte errichtet, auch in der ostsyrischen Wüste und im von den SDF kontrollierten Teil von Deir ez-Zor (ICCT 28.6.2022). Die IS-Bewegung hat vor allem in der Wüstenregion Badia entlang der syrischen-irakischen Grenze im Jahr 2022 wieder zugenommen, was Experten zu Folge zu weiteren IS-Angriffen im Nordosten Syriens führen könnte. Der IS bedroht nach wie vor fast alle Parteien in Syrien. Die Spannungen zwischen den verschiedenen Fraktionen im syrischen Konflikt und das fragile Sicherheitsumfeld haben es dem IS ermöglicht, zu wachsen und sich durch die verschiedenen Kontrollgebiete zu bewegen (CC 3.11.2022; vergleiche NI 8.8.2022). Die Wüste ist gebirgig und dünn besiedelt, und es hat keine systematische, anhaltende Militär- und Sicherheitskampagne gegeben, um die Kämpfer aufzuspüren und aus diesen unmöglich zu kontrollierenden Gebieten zu vertreiben (NI 8.8.2022). Das Tal des mittleren Euphrat und die Wüstengebiete im Gouvernement Deir ez-Zor werden als IS-Unterstützungsgebiet beschrieben, das seine Mitglieder nutzen können, um Sicherheitsoperationen zu umgehen und Waffen, Ausrüstung und Personal über die syrisch-irakische Grenze zu bringen (USDOD 3.11.2020). Für den Zeitraum Juli bis September 2022 sind z. B. eine Reihe von sicherheitsrelevanten Vorfällen mit dem IS im Gouvernement Deir ez-Zor verzeichnet:
Quelle: CC 3.11.2022
Der IS nutzt die Gebiete in der syrischen Wüste im Gouvernement Deir ez-Zor als sicheren Zufluchtsort und als Basis für Angriffe auf die Streitkräfte der Regierung und die SDF (UNSC 3.2.2021) sowie auf iranische Milizen und russische Streitkräfte. Auch wurde von Angriffen auf Arbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zor berichtet (AM 29.12.2021). Die Sicherheitslage in Deir ez-Zor wird demnach durch Angriffe des IS gegen Regierungstruppen (NPA 13.11.2021; vergleiche Asharq 30.8.2021) beeinträchtigt, sowie auch durch Angriffe des IS auf die SDF bzw. durch Operationen der SDF gegen den IS, z.T. unter Beteiligung von US-Streitkräften (MEMO 29.12.2021; vergleiche K24 23.9.2021, BAMF 20.12.2021, USDOD 3.11.2021). Im April und Mai 2021 kam es in Deir ez-Zor zu zahlreichen Tötungen, die häufig auf IS-Aktivitäten zurückgeführt wurden (EUAA 9.2022; vergleiche UNSC 17.6.2021). Auch 2023 wurde von Angriffen auf Zivilisten, Trüffelsuchende und Schafhirten in der syrischen Wüste, insbesondere in den Provinzen Deir ez-Zor und Homs berichtet (NPA 15.5.2023). Die SDF führten mehrere Razzien gegen den IS durch, die sich sowohl auf das nördliche und nordöstliche als auch auf das östliche und nordwestliche Umland von Deir ez-Zor konzentrierten (EUAA 9.2022; vergleiche ANHA 11.5.2021). Der Osten des Gouvernements gilt als das Gebiet, in dem die Autorität der SDF am schwächsten ist (EUAA 9.2022). Trotz der laufenden Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung hat der IS im Nordosten Syriens an Stärke gewonnen und seine Aktivitäten im Gebiet der SDF intensiviert (TWI 12.10.2022). Im Jahr 2023 haben die Aktivitäten von Schläferzellen des IS vor allem in der östlichen Wüste zugenommen (CFR 13.2.2024). Insgesamt nahmen die Aktivitäten des IS im Jahr 2023 im Vergleich zu den Vorjahren aber ab (BBC 26.12.2023).
Der IS hat großteils darauf verzichtet, die Verantwortung für seine Angriffe zu übernehmen, und widersprüchliche Berichte erschweren die Verifizierung von IS-Aktivitäten (CC 5.8.2022). Dass der IS nach wie vor eine Bedrohung darstellt, und darüber hinaus auch die Gefahr besteht, dass er nun besser in der Lage sein könnte, größere Operationen durchzuführen oder die Dynamik seiner Angriffe zu erhöhen, zeigt sich auch in Zusammenhang mit dem Sina'a-Anschlag vom Januar 2022 (ICCT 28.6.2022).
Als Reaktion auf einen Angriff durch eine Drohne iranischer Machart mit einem Toten auf einen US-Stützpunkt in Hassakah führten US-Streitkräfte im März 2023 mehrere Gegenschläge auf Stellungen pro-iranischer Gruppen in den Städten Deir ez-Zor, Abu Kamal und Majadin in der Provinz Deir ez-Zor durch. Ein weiterer (pro-)iranischer Angriff zielte auf eine US-Stellung beim Ölfeld al-Omar (TAZ 24.3.2023). Laut US-Angaben starben bei den US-Luftschlägen insgesamt 19 Personen (Ha'aretz 4.4.2023):
Für weitere Informationen zum Gebiet unter Kontrolle der SDF siehe auch Abschnitt "Nordost-Syrien". Bezüglich der verschiedenen militärischen Akteure siehe auch Karten im Kapitel "Sicherheitslage".
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AC - Atlantic Council (18.5.2021): Factbox: Iranian presence in Syria’s Deir ez-Zor province,https://www.atlanticcouncil.org/blogs/menasource/factbox-iranian-presence-in-syrias-deir-ez-zor-province/, Zugriff 6.7.2023
● ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (13.10.2021): Regional Overview: Middle East 2-8 October 2021, https://acleddata.com/2021/10/13/regional-overview-middle-east2-8-october-2021/, Zugriff 6.7.2023
● AJ - Al Jazeera (30.8.2023): Several killed in fighting between SDF and tribesmen in eastern Syria, https://www.aljazeera.com/news/2023/8/30/several-killed-in-fighting-between-sdf-and-tribesmen-in-eastern-syria, Zugriff 6.2.2024
● AM - Al-Monitor (29.12.2021): Islamic State cells impose levy on oil investors in northeastern Syria, https://www.al-monitor.com/originals/2021/12/islamic-state-cells-impose-levy-oil-investors-northeastern-syria, Zugriff 6.7.2023
● AnA - Anadolu Agency (13.1.2021): Assad regime claims Israel struck areas in Deir-ez-Zor, https://www.aa.com.tr/en/middle-east/assad-regime-claims-israel-struck-areas-in-deir-ez-zor/2108001, Zugriff 6.7.2023
● ANHA - Hawar News Agency (11.5.2021): Second operation by SDF in Wadi Al-Ajeej in less than month, what for?, https://www.hawarnews.com/en/haber/second-operation-by-sdf-in-wadi-al-ajeej-in-less-than-month-what-for-h24615.html, Zugriff 6.7.2023
● Asharq - Asharq al-Awsat (30.8.2021): ISIS Attacks Russian-Backed Militia in Deir Ezzor, https://english.aawsat.com/home/article/3160581/isis-attacks-russian-backed-militia-deir-ezzor, Zugriff 6.7.2023
● BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.12.2021): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw51-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 6.7.2023
● BBC - BBC Monitoring (26.12.2023): What happened to IS in 2023?, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-67819988, Zugriff 23.2.2024
● BBC - BBC News (27.10.2019): Abu Bakr al-Baghdadi: What his death means for IS in Syria, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-50199437, Zugriff 6.7.2023
● CC - The Carter Center (13.12.2023): Quarterly Review on Syrian Political and Military Dynamics July - September 2023, https://storymaps.arcgis.com/stories/15ebd254fa7845ac90f1e0995b022ce4, Zugriff 8.2.2024
● CC - The Carter Center (3.11.2022): Quarterly Review on Syrian Political and Military Dynamics July-September 2022, https://storymaps.arcgis.com/stories/bb84958f3b0f456d9139f1447ba3e638, Zugriff 6.7.2023
● CC - The Carter Center (5.8.2022): Quarterly Review of Syrian Political and Military Dynamics April-June 2022, https://storymaps.arcgis.com/stories/cadeddf772944216b98f9b80c2837efe#_ftn1, Zugriff 6.7.2023
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● NPA - North Press Agency (13.11.2021): 16 Syrian government soldiers killed by ISIS in Deir ez-Zor, https://npasyria.com/en/67609/, Zugriff 5.7.2023
● OCHA - Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, Syrian Arab Republic: Deir-ez-Zor, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/syrian-arab-republic-deir-ez-zor-situation-report-no-1-14-september-2023, Zugriff 6.2.2023
● SO - The Syrian Observer (4.1.2024): Arab Tribal Forces Escalate Attacks Against the SDF, https://syrianobserver.com/news/86903/arab-tribal-forces-escalate-attacks-against-the-sdf.html, Zugriff 8.2.2024
● TAZ - Die Tageszeitung (24.3.2023): Mindestens elf Tote bei US-Angriff, https://taz.de/US-Angriffe-in-Syrien/!5924183&s=Syrien/, Zugriff 28.3.2023
● UNSC - United Nations Security Council (17.6.2021): Report of the Secretary-General [S/2021/583], https://www.ecoi.net/en/file/local/2054768/S_2021_583_E.pdf, Zugriff 5.7.2023
● UNSC - United Nations Security Council (3.2.2021): Twenty-seventh report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team submitted pursuant to resolution 2368 (2017) concerning ISIL (Da’esh), Al-Qaida and associated individuals and entities [S/2021/68], https://www.ecoi.net/en/file/local/2045193/S_2021_68_E.pdf, Zugriff 5.7.2023
● USDOD - United States Department of Defense [USA] (3.11.2020): OPERATION INHERENT RESOLVE, https://media.defense.gov/2020/Nov/03/2002528608/-1/-1/1/LEAD%20INSPECTOR%20GENERAL%20FOR%20OPERATION%20INHERENT%20RESOLVE.PDF, Zugriff 5.7.2023
● WI - Washington Institute (4.9.2020): Russian-Iranian Tensions in Deir al-Zour, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/russian-iranian-tensions-deir-al-zour, Zugriff 5.7.2023
1.3.2.6. Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien
Letzte Änderung 08.03.2024
Mittlerweile hat das Assad-Regime, unterstützt von Russland und Iran, unterschiedlichen Quellen zu Folge zwischen 60 Prozent (INSS 24.4.2022; vergleiche GIS 23.5.2022) und 70 Prozent des syrischen Territoriums wieder unter seine Kontrolle gebracht (USCIRF 11.2022; EUAA 9.2022; vergleiche CFR 24.1.2024). Ausländische Akteure und regierungstreue Milizen üben erheblichen Einfluss auf Teile des Gebiets aus, das nominell unter der Kontrolle der Regierung steht (AM 23.2.2021; vergleiche SWP 3.2020, FP 15.3.2021, EUI 13.3.2020) Anmerkung, siehe dazu auch das Überkapitel Sicherheitslage). Folgende Karte mit Stand 23.5.2023 veranschaulicht diese territoriale nominelle Dominanz der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten und das komplexe Verhältnis zum selbsternannten Autonomiegebiet im Nordosten, das hier als "halbautonome kurdische Zone" bezeichnet wird:
Quelle: DW 30.6.2023
Die zivilen Behörden haben nur begrenzten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Organisationen, die in Syrien operieren, darunter russische Streitkräfte, die libanesische Hizbollah, die iranischen Revolutionswächter (IRGC) und regierungsnahe Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defence Forces - NDF), deren Mitglieder zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen haben (USDOS 20.3.2023). Für alle Regionen Syriens gilt dabei, dass eine pauschale ebenso wie eine abschließende Lagebeurteilung nicht möglich ist. Auch innerhalb der verschiedenen Einflussgebiete unterscheidet sich die Lage teilweise von Region zu Region und von Ort zu Ort (AA 2.2.2024).
Die Sicherheitslage zwischen militärischen Entwicklungen und Menschenrechtslage
Ungeachtet der obigen Ausführungen bleibt Syrien bis hin zur subregionalen Ebene territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren derzeit rund 20 Prozent der Grenzen des Landes. Obwohl die syrischen Zollbehörden offiziell für die Grenzübergänge zum Irak (Abu Kamal), zu Jordanien (Nasib) und zum Libanon (al-Arida, Jdeidat, al-Jousiyah und al-Dabousiyah) zuständig sind, liegt die tatsächliche Kontrolle bei anderen: Die libanesische Grenze ist von der Hizbollah besetzt, die auf der syrischen Seite Stützpunkte eingerichtet hat (Zabadani, al-Qusayr), von denen aus sie die Bergregion Qalamoun beherrscht. Auch die irakischen schiitischen Milizen verwalten beide Seiten ihrer Grenze von Abu Kamal bis at-Tanf (WI 10.2.2021).
Vor allem Aleppo, die größte Stadt Syriens und ihr ehemaliger wirtschaftlicher Motor, bietet einen Einblick in die derzeitige Lage: Die Truppen des Regimes haben die primäre, aber nicht die ausschließliche Kontrolle über die Stadt, weil die Milizen, auch wenn sie nominell mit dem Regime verbündet sind, sich sporadische Zusammenstöße mit Soldaten und untereinander liefern und die Einwohner schikanieren. Die Rebellen sind vertrieben, kein ausländischer Akteur hat ein Interesse an einer erneuten Intervention, um das Regime herauszufordern, und die Bevölkerung ist durch den jahrelangen Krieg zu erschöpft und verarmt und zu sehr damit beschäftigt, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, um einen weiteren Aufstand zu führen. Außerdem konnten die meisten Einwohner der Stadt, die in von der Opposition gehaltene Gebiete oder ins Ausland vertrieben wurden, nicht zurückkehren, vor allem weil sie entweder die Einberufung oder Repressalien wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Aufstand fürchten (ICG 9.5.2022). Gebiete, in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, werden nun auch verstärkt durch die Geheimdienste überwacht (Üngör 15.12.2021).
Andere Regionen wie der Westen des Landes, insbesondere die Gouvernements Tartus und Latakia (Kerneinflussgebiete des Assad-Regimes), blieben auch im Berichtszeitraum von aktiven Kampfhandlungen vergleichsweise verschont. Unverändert kam es hier nur vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Latakia und Idlib (AA 2.2.2024). Damaskus, insbesondere im Zentrum sowie die Provinz Latakia gelten als Gebiete mit relativ stabiler Sicherheitslage (NMFA 8.2023).
Unabhängig von militärischen Entwicklungen kommt es laut Vereinten Nationen (VN) und Menschenrechtsorganisationen zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen, insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.11.2021) [Anm.: Siehe dazu Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Die VN-Untersuchungskommission für Syrien hält es für wahrscheinlich, dass das Regime, seine russischen Verbündeten und andere regimetreue Kräfte Angriffe begangen haben, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet sind und möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen. Dem Regime nahestehende paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufige Verstöße und Misshandlungen, darunter Massaker, wahllose Tötungen, Entführungen von Zivilisten, extreme körperliche Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, und rechtswidrige Festnahmen (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung und andere Konfliktparteien setzen weiterhin Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategie zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein (GlobalR2P 31.5.2023; vergleiche CC 3.11.2022). In Zentral-, West- und Südsyrien kommt es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen (GlobalR2P 1.12.2022) [Anm.: Siehe auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Aus den Gouvernements Dara'a, Quneitra und Suweida wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 gezielte Tötungen, Sprengstoffanschläge, Schusswechsel, Zusammenstöße und Entführungen gemeldet, an denen Kräfte der syrischen Regierung und regierungsfreundliche Milizen, ehemalige Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, IS-Kämpfer und andere nicht identifizierte Akteure beteiligt waren (EUAA 9.2022). Generell kommt es in Quneitra trotz geringer Opferzahlen zu einer sehr hohen Anzahl an Angriffen, Kriminalfällen und Kampfhandlungen zwischen sich bekriegenden Fraktionen (NMFA 8.2023).
Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versucht der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen 'Hort der Ruhe' in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 1.7.2022; vergleiche EUAA 9.2022). Nach mehreren Anschlägen in den Jahren zwischen 2020 bis 2023, bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen wurden (TSO 10.3.2020; vergleiche COAR 25.10.2021) und mehreren Anschlägen im Zeitraum von April 2022 bis Juli 2022, bei denen mehrere Personen mit Regimenähe ins Visier genommen wurden (AN 1.7.2022), ist die Sicherheitslage vertraulichen Quellen des niederländischen Außenministeriums zufolge in Damaskus Stadt mit Stand August 2023 relativ stabil. Die Syrische Regierung hat sogar alle Checkpoints aus der Innenstadt entfernt, weil die Sicherheitslage sich insbesondere im Zentrum so stark gebessert hat (NMFA 8.2023).
In Gebieten wie Daraʿa, der Stadt Deir ez-Zor und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihre Macht missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des IS, mit schweren Zerstörungen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren konfrontiert (ICG 13.2.2020).
Der Islamischer Staat (IS) verfügt über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun (AA 29.11.2021; Anmerkung, Siehe dazu auch Abschnitt "Provinz Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet"). Der IS ist unter anderem im Osten der Provinz Homs aktiv. Es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021; vergleiche DIS 5.2022).
Von Februar bis April versuchen verarmte Syrer durch die Trüffelsuche Geld zum Überleben zu verdienen - trotz Lebensgefahr (France 24 8.3.2023) aufgrund der Präsenz von IS-Kämpfern und zahlreichen Landminen in der Wüste Zentralsyriens (TAZ 24.3.2023). Im Frühjahr 2023 wurde der IS für zahlreiche Übergriffe auf Trüffelsammler in der Badia-Wüste im Nordosten verantwortlich gemacht (AA 2.2.2024).
Verschiebungen bei der militärischen Präsenz von Russland und Iran
Die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine haben begonnen, sich spürbar auf Russlands militärische und diplomatische Haltung in Syrien auszuwirken (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Russland ist seit 2015 eine dominante militärische Kraft in Syrien und trägt dazu bei, das syrische Regime an der Macht zu halten (NYT 19.10.2022). Allerdings versucht Russland nun auch, seine Position in Europa zu stärken, indem es im Stillen seine Präsenz und sein Engagement in Syrien reduziert. Berichten zufolge wurden diese Soldaten teilweise durch russische Militärpolizisten ersetzt (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Die Bemühungen Russlands, seine Präsenz in Syrien zu verringern, haben auch diplomatische Manöver mit Iran und der Türkei ausgelöst. Iran hat das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in Ostsyrien auszubauen (CC 3.11.2022). Obwohl Russland gezwungen war, die militärische Präsenz in Syrien aufgrund des Ukraine-Krieges zu reduzieren und Teile der territorialen Kontrollen an iranische Milizen abzutreten, wird diese von Russland noch immer als wichtig angesehen (ISPI 11.9.2023). Seine Präsenz nützte Russland zuletzt, um die US-amerikanischen Truppen unter Druck zu setzen, indem beispielsweise US-amerikanische Drohnen beschädigt werden, mit dem Ziel die USA aus Syrien zu vertreiben (TWI 27.11.2023).
Israelische Luftschläge
Um die Präsenz Irans zu bekämpfen und die Weitergabe von Waffen an die Hizbollah zu verhindern, hat Israel häufig Luftangriffe gegen die syrische Regierung und die vom Iran unterstützten Milizen in ganz Syrien durchgeführt (CC 3.11.2022). Die israelischen Luftschläge gingen in den letzten Jahren in die Hunderte (Haaretz 18.2.2023).
Im Jahr 2021 erhöhte sich bereits das Ausmaß der israelischen Luftangriffe mit mindestens 56 Konfliktvorfällen (CC 3.11.2022). Im November 2021 wurde von zwei israelischen Angriffen auf Ziele in der Umgebung von Damaskus berichtet (NPA 3.11.2021). Am 28.12.2021 wurden Hafenanlagen in Latakia durch Luftschläge schwer beschädigt (AA 29.3.2023). Im Jahr 2022 fanden 31 israelische Luftangriffe statt, davon 19 im dritten Quartal 2022 (CC 3.11.2022). Seit Beginn 2022 kam es zudem zu israelischen Angriffen u. a. auf den Flughafen von Damaskus, wo sowohl zivile wie militärische Landebahnen getroffen wurden (JP 11.6.2022), bzw. der Flughafen vorübergehend gesperrt wurde (Ha'aretz 30.1.2023, vergleiche AA 29.3.2023). Auch gab es am 5.7.2022 nahe der Stadt Tartus einen israelischen Angriff auf Luftabwehrsysteme (JP 5.7.2022).
Im Jahr 2023 erfolgten weitere Luftangriffe, darunter Angriffe auf den internationalen Flughafen Damaskus sowie auf den Flughafen Aleppos, bei denen Start- und Landebahnen beschädigt wurden, sodass der Flughafenbetrieb eingestellt werden musste (AA 2.2.2024). Seither gab es auch weitere Angriffsziele in Zusammenhang mit iranischen Milizen und der Hizbollah, darunter ein Ort im Stadtteil Kafr Sousa in Damaskus mit je nach Quelle divergierenden Zahlen zu den Todesopfern, welche von fünf bis 15 Personen reichten. Laut syrischer Version wurde in Kafr Sousa eine iranische Schule (Ha'aretz 18.2.2023) getroffen, während andere Quellen von einem militärischen Ziel ausgehen - hauptsächlich mit Iran-Konnex (Ha'aretz 22.2.2022). In der Region Aleppo sind pro-iranische Milizen besonders präsent (ORF 2.5.2023) Anmerkung, Zu iranischen Waffenlieferungen über die Flughäfen Lattakia, Damaskus und Aleppo unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe nach den Erdbeben siehe Unterkapitel Gouvernment Lattakia). Mittlerweile soll die Beunruhigung der Bevölkerung wachsen, weil sie immer mehr bei diesen Angriffen in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach Russland sollen zunehmend auch syrische Kräfte sich weigern, mit iranischen Verbänden gemeinsam zu patrouillieren (Zenith 24.2.2023).
US-Luftschläge in Syrien
Auch die USA gingen immer wieder gezielt mit Luftschlägen gegen Iran-nahe Akteure, aber auch ranghohe Kommandeure des sogenannten IS vor. Zugleich wurden US-Stützpunkte und von US-Kräften gesicherte Anlagen wiederholt Ziel von Drohnen- und Raketenangriffen, die nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte auf Iran-nahe Milizen zurückzuführen sind (AA 2.2.2024).
Seit Ausbruch des Krieges zwischen der Hamas und Israel begannen die USA mehrere Luftangriffe gegen iranische Milizen in Syrien und dem Irak zu fliegen. Anfang Februar 2024 eskalierten die Spannungen zwischen dem Iran und den USA, nachdem iranische Milizen in Jordanien eine militärische Stellung der USA mit einer Drohne angriffen und dabei mehrere US-amerikanische Soldaten töteten und verletzten. Die USA reagierten mit erhöhten und verstärkten Luftangriffen auf Stellungen der iranischen Milizen in Syrien und dem Irak. In Syrien trafen sie Ziele in den Räumen Deir ez-Zor, al-Bukamal sowie al-Mayadeen. Die syrische Armee gab an, dass bei den Luftangriffen auch Zivilisten sowie reguläre Soldaten getötet wurden (CNN 3.2.2024).
Dem deutschen Auswärtigen Amt zufolge kann daher in keinem Landesteil Syriens von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (AA 2.2.2024).
Quellen:
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● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 18.3.2023
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● NYT - New York Times (19.10.2022): Russia Shrinks Forces in Syria, a Factor in Israeli Strategy There, https://web.archive.org/web/20221020021316/https://www.nytimes.com/2022/10/19/world/middleeast/russia-syria-israel-ukraine.html, Zugriff 4.7.2023
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● Standard - Standard, Der (2.5.2023): Islamist nach Hungerstreik in Haft gestorben – Raketen auf Israel abgefeuert, https://www.derstandard.at/story/2000146033728/islamist-nach-hungerstreik-gestorben-raketen-auf-israel-abgefeuert, Zugriff 2.5.2023
● Standard - Standard, Der (7.3.2023): Flughafen in Aleppo nach israelischem Luftangriff außer Betrieb, https://www.derstandard.at/story/2000144215351/flughafen-in-aleppo-nach-israelischem-luftangriff-ausser-betrieb, Zugriff 7.3.2023
● SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2020): Iran’s Multi-Faceted Strategy in Deir ez-Zor. From Fighting Terrorism to Creating a Zone of Influence, https://www.swp-berlin.org/publications/products/comments/2020C15_DeirEzZor.pdf, Zugriff 4.7.2023
● TAZ - Die Tageszeitung (24.3.2023): Mindestens elf Tote bei US-Angriff, https://taz.de/US-Angriffe-in-Syrien/!5924183/, Zugriff 28.3.2023
● TSO - The Syrian Observer (10.3.2020): The Damascus Bombings: Settling Scores or Creative Chaos?, https://syrianobserver.com/EN/features/56592/the-damascus-bombings-settling-scores-or-creative-chaos.html, Zugriff 4.7.2023
● TWI - The Washington Institute for Near East Policy (27.11.2023): Putin's Alignment in Middle East Should Signal to Israel It's Time for a Change of Allegiance, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/putins-alignment-middle-east-should-signal-israel-its-time-change-allegiance, Zugriff 23.2.2024
● Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall
● USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom (11.2022): Factsheet: Religious Freedom in Syria, https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2022-11/2022%20Factsheet%20-%20HTS-Syria.pdf, Zugriff 4.7.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
● WI - Washington Institute (10.2.2021): The Assad Regime Has Failed to Restore Full Sovereignty Over Syria, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/assad-regime-has-failed-restore-full-sovereignty-over-syria, Zugriff 4.7.2023
● Zenith (24.2.2023): zenith-Newsletter für Insider: Live-Premiere mit Netflix-Star / Israel, Iran und Syrien / falsche Scheichs beim Karneval, per E-Mail
1.3.2.7. Gouvernment Lattakia
Letzte Änderung 08.03.2024
Provinzweite Sicherheitsvorfälle und -entwicklungen
Lattakia (ein Kerneinflussgebiet des Assad-Regimes) blieb auch weiterhin von aktiven Kampfhandlungen vergleichsweise verschont. Unverändert kam es hier vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Lattakia und Idlib (AA 2.2.2024). Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.-30.6.2023 im Gouvernement Lattakia die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen und Todesopfern, welche in der nachstehenden Tabelle mit Angaben zur Gebietskontrolle auf Ebene der Sub-Distrikte (Nahiya) von Liveuamap kombiniert wurde (Darstellung der Staatendokumentation auf Basis von Daten von ACLED und Liveuamap; ACLED o.D., Liveuamap):
Sub-Distrikte | Vorfälle gesamt | Vorfälle (mind. 1 Todesopfer) | Anzahl der Todesopfer | Gebietskontrolle |
Al Qardaha | 3 | 3 | 12 | Volle Regierungskontrolle |
Ein Shaqaq | 1 | 1 | 1 | Volle Regierungskontrolle |
Jablah | 1 | 0 | 0 | Volle Regierungskontrolle |
Kansaba | 61 | 21 | 61 | Geteilte Kontrolle, Frontlinie |
Lattakia | 3 | 1 | 1 | Volle Regierungskontrolle |
Qastal Maaf | 21 | 3 | 5 | Volle Regierungskontrolle |
Rabeea | 32 | 14 | 61 | Geteilte Kontrolle, Frontlinie |
Salanfa | 1 | 0 | 0 | Volle Regierungskontrolle |
Summe | 124 | 43 | 141 |
|
Quelle: ACLED o.D.
Für das 2. Quartal 2023 erhob ACCORD unter Nutzung von ACLED-Daten folgende Zahlen an Konfliktvorfällen für Syrien, darunter Lattakia:
Quelle: ACCORD 6.9.2023
Im Juni 2023 tötete ein Drohnenangriff auf die Stadt Qardaha, aus der die al-Assad-Familie stammt, einen Menschen und verletzte einen zweiten leicht. Am Tag zuvor waren in der 35 Kilometer entfernten Stadt Salhab eine Frau und ein Kind von einer Drohne getötet worden. Als Hintergrund wird das Wiederaufflammen der Kampfhandlungen an manchen Frontabschnitten zwischen Regierungskräften und Rebellen in Nordwest-Syrien genannt (Reuters 23.6.2023) [Anm.: siehe dazu Liveuamap 3.7.2023 im Unterkapitel Nordwest-Syrien].
Die Sicherheitslage in und um Lattakia Stadt sowie sicherheitsrelevante Entwicklungen
Ein massiver Luftangriff Ende August 2022 auf eine mutmaßliche Waffenfabrik nahe der westsyrischen Stadt Masyaf sowie Ende Dezember 2021 auf den Hafen in Lattakia wurde von der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte der israelischen Luftwaffe zugerechnet (AA 29.3.2023). Die beiden Luftschläge auf den Hafen von Lattakia hatten mutmaßlich Warenlager von Iran-nahen Milizen zum Ziel und verursachten erhebliche Sachschäden (TOI28.12.2021; vergleiche MEE 7.12.2021). Der Hafen von Lattakia ist der wichtigste Hafen der syrischen Regierung (MEE 7.12.2021). Über ihn wird ein Großteil der syrischen Importe in das vom Krieg zerrüttete Land gebracht (TOI 28.12.2021).
Die Nachrichtenagentur Reuters deckte auf, dass iranische humanitäre Hilfslieferungen für die Erdbebengebiete, die an den (zivilen) Flughäfen von Lattakia, Damaskus und Aleppo eintrafen, auch als Deckmantel für den Import militärischer Güter dienten (SNHR 5.5.2023, vergleiche Reuters 12.4.2023). In diesem Zeitraum fanden auch israelische Luftschläge u.a. auf den Flughafen Aleppo statt (Standard 7.3.2023; vergleiche Reuters 12.4.2023). Mittlerweile soll die Beunruhigung der syrischen Bevölkerung wachsen, weil sie immer mehr bei israelischen Angriffen in Syrien in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach Russland sollen zunehmend auch syrische Kräfte sich weigern, mit iranischen Verbänden gemeinsam zu patrouillieren (Zenith 24.2.2023).
Zudem wurden Verhaftungen durch die lokale Abteilung der Preventive Security publik, welche sich gegen ZivilistInnen und MedienmitarbeiterInnen richteten, die Kritik an der Korruption und die schlechten Lebensbedingungen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten geäußert hatten. Die MedienmitarbeiterInnen werden unter dem Gesetz gegen Cyberkriminalität angeklagt, was bei Kritik der Zustände in den Regimegebieten zur Rechtfertigung von Verhaftungen von Staatsangestellten und anderen BürgerInnen herangezogen wird (SNHR 2.6.2023). Ein Blogger und Aktivist aus Lattakia Stadt wurde im März 2023 im Zuge einer Vorladung verhaftet, weil er auf Facebook die Anwendung des (neuen) Gesetzes gegen Folter in den Regimegebieten gefordert hatte. Anklagepunkte umfassen unter anderem 'das Unterminieren des Geists der Nation' sowie diverse Anklagepunkte auf Basis des Gesetzes gegen Cyberkriminalität (SNHR 3.5.2023). Das Gesetz gegen Cyberkriminalität kam auch 2023 weiter zur Anwendung. Mitarbeitende von zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen (NRO) seien verhaftet, die NROs selbst streng reguliert oder ohne ordentliches Verfahren aufgelöst und ihre Ressourcen eingefroren worden (AA 2.2.2024).
Im Mai 2023 wurden 24 Gefangene freigelassen, von denen die meisten aus Lattakia und Homs stammen. Alle waren einige Tage bis hin zu einigen Monaten lang ausschließlich von den Geheimdiensten festgehalten worden (SNHR 2.6.2023).
Für weitere Informationen zu Lattakia bezüglich der Folgen des Erdbebens siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft sowie besonders zu Erreichbarkeit, Sicherheits- und Wirtschaftslage siehe ACCORD-Anfragebeantwortungen:
o ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (9.6.2023: Anfragebeantwortung zu Syrien: Sicherheitslage (sicherheitsrelevante Vorfälle, Akteure), insbesondere Damaskus und Umland, Latakia, Tartous [a-12124-2], https://www.ecoi.net/de/dokument/2094287.html, Zugriff 6.7.2023
o ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (9.6.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Checkpoints in und um Damaskus, Latakia und Tartous (Anzahl, Kontrolle); Erreichbarkeit von der libanesischen Grenze aus, Erreichbarkeit von Aleppo; Verhaftungen, Verschwindenlassen [a-12124-3], https://www.ecoi.net/de/dokument/2094288.html, Zugriff 6.7.2023
o ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (9.6.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Wiederansiedlung von Personen, die im Ausland waren, und Binnenvertriebenen (besondere Erfordernisse und Hürden, Profile von Rückkehrenden und solchen, die gescheitert sind), insbesondere Damaskus und Umland, Latakia, Tartous [a-12124-4], https://www.ecoi.net/de/dokument/2094290.html, Zugriff 6.7.2023
o ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (9.6.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Kontrollen durch Sicherheitsbehörden bei Einreise, Auswirkungen von negativem Asylbescheid [a-12124-5], https://www.ecoi.net/de/dokument/2094294.html, Zugriff 6.7.2023
o ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (9.6.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Sozioökonomische Lage in Damaskus und Umland, Latakia und Tartous (Auswirkungen des Erdbebens auf die Infrastruktur) [a-12124-1] , https://www.ecoi.net/en/file/local/2094295/a-12124-1.pdf, Zugriff 6.7.2023
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.9.2023): Syrien, 2. Quartal 2023: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2097286/2023q2Syria_de.pdf, Zugriff 23.2.2024
● ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Data, https://acleddata.com/data-export-tool/, Zugriff 6.7.2023
● Standard, Der (7.3.2023): Flughafen in Aleppo nach israelischem Luftangriff außer Betrieb, https://www.derstandard.at/story/2000144215351/flughafen-in-aleppo-nach-israelischem-luftangriff-ausser-betrieb, Zugriff 7.3.2023
● Liveuamap (16.6.2023): Map of Syrian Revolution, Civil war in Syria, Russian war on Syria, ISIS war on Syria, https://syria.liveuamap.com/, Zugriff 16.6.2023
● MEE - Middle East Eye (7.12.2021): Syria: Latakia port hit by 'Israeli air strikes' for first time since 2011, https://www.middleeasteye.net/news/syria-israel-iran-weapons-shipment-latakia-port, Zugriff 3.7.2023
● Reuters (23.6.2023): Drone strike hits Syrian president's ancestral town, https://www.reuters.com/world/middle-east/drone-strike-hits-syrian-presidents-ancestral-town-2023-06-23/, Zugriff 3.7.2023
● Reuters (12.4.2023): Exclusive: Iran exploits earthquake relief mission to fly weapons to Syria, https://www.reuters.com/world/middle-east/iran-exploits-quake-relief-mission-fly-weapons-syria-sources-2023-04-12/?fbclid=IwAR2udvRDp5-Eq_xVJ-kT5p8-CbuUap2SLtKHlrMLPKH02tkqYRyFwJCNtW8&utm_medium=Social&utm_source=Facebook, Zugriff 3.7.2023
● SNHR – Syrian Network for Human Rights (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (2.6.2023): At Least 226 Arbitrary Arrests/Detentions Documented in May, Including Six Children and 11 Women, https://reliefweb.int/attachments/bcaf7183-0810-4631-bdda-b40d21b55a8b/M230502ER.pdf, Zugriff 15.6.2023
● SNHR – Syrian Network for Human Rights (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (3.5.2023): On World Press Freedom Day; The Annual Report on the Most Notable Violations Against Media Workers in Syria, https://reliefweb.int/attachments/4da2f539-9a51-4f5b-8fd2-2f4a84dab9b0/R230421E.pdf, Zugriff 15.6.2023
● SNHR – Syrian Network for Human Rights(Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (5.5.2023): Most Notable Human Rights Violations in Syria in April 2023, https://reliefweb.int/attachments/2a0dff65-5c0a-4818-95e9-b4b15c71a5ef/M230503E.pdf, Zugriff 15.6.2023
● TOI - The Times of Israel (28.12.2021): Israel said to strike key Syrian port of Latakia, causing "massive" damage, https://www.timesofisrael.com/israeli-airstrikes-said-to-hit-key-syrian-port-of-latakia-causing-massive-damage/, Zugriff 3.7.2023
● Zenith (24.2.2023): zenith-Newsletter für Insider: Live-Premiere mit Netflix-Star / Israel, Iran und Syrien / falsche Scheichs beim Karneval, per E-Mail
1.3.2.8. Südsyrien
Letzte Änderung 08.03.2024
Die Lage im Süden und Südwesten Syriens, in den Gouvernements Quneitra, Dara‘a und Suweida, die nominell unter Kontrolle des syrischen Regimes und seiner Verbündeten stehen, blieb volatil (AA 2.2.2024). Trotz des im September 2021 von Russland vermittelten Waffenstillstands zählt die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) für den Zeitraum Januar bis Juni 2022, mit einem Höhepunkt im April 2022, mehr als 100 durch Gewalt getötete Personen. Darunter befinden sich zahlreiche Zivilistinnen und Zivilisten. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Seit August 2023 kommt es im Gouvernement Suweida sowie vereinzelt im Gouvernement Dara’a zu täglichen regimekritischen Protesten mit Schwerpunkt in Suweida (Stadt), in deren Verlauf auch Straßenblockaden errichtet und Gebäude des syrischen Regimes zeitweise besetzt wurden. Die Sicherheitskräfte des Regimes haben bislang keinen Zugang zu den Protesten. Nur in Dara’a gingen sie gewaltsam gegen Demonstrierende vor (AA 2.2.2024). Enab Baladi, eine arabischsprachige, regimekritische Zeitung wiederum schreibt, dass in Suweida auf DemonstrantInnen geschossen wurde (Enab 14.9.2023).
Bereits in den Jahren 2020 und 2021 verschlechterte sich die Sicherheitslage. Es kam zu einer Reihe von Zwischenfällen bewaffneter Gewalt zwischen der Vielzahl miteinander konkurrierender bewaffneter Akteure (UNCOI 14.8.2020; vergleiche ORSAM 16.8.2021). De facto sind die Regimetruppen vor Ort mit Ausnahme von Eliteeinheiten personell und technisch unzureichend aufgestellt, sodass die tatsächliche Hoheit häufig bei lokal verwurzelten bewaffneten Gruppierungen liegt. Eine stabile politische und wirtschaftliche Lage ist nicht vorhanden: Mangelhafte Grundversorgung, fehlende öffentliche Gelder für medizinische Versorgung und für Bildung, eine äußerst eingeschränkte Stromversorgung und Korruption sind verbreitete Probleme (AA 29.11.2021). Im Süden/Südwesten Syriens kam es in den Jahren 2020 und 2021 aufgrund großer Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem syrischen Regime, vor allem aufgrund fehlender Grundversorgung, nicht eingehaltener Abmachungen im Rahmen von "Versöhnungsabkommen" und einer Zunahme an anhaltenden Verhaftungswellen, Gewaltausübung und gezielten Tötungen vermehrt zu Demonstrationen, Unruhen sowie bewaffneten Auseinandersetzungen, Anschlägen und gezielten Tötungen (AA 4.12.2020; vergleiche UNCOI 14.8.2020, ORSAM 3.2021). Auch im Zeitraum August bis September 2022 meldete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in den Gouvernements Quneitra, Dara‘a und Suweida anhaltende Sicherheitsbedrohungen, darunter Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen, gezielte Tötungen, Entführungen, Schusswechsel und kleinere Zusammenstöße (UNSC 19.10.2022). Die Sicherheitsbedrohungen führen zu anhaltender Gewalt und Belagerungen von Städten durch die Streitkräfte der syrischen Regierung, insbesondere im Gouvernement Dara'a (CC 3.11.2022). Ein Grund für die steigende Gewalt im südlichen Syrien ist der Drogenschmuggel, der zugenommen hat. Auch ist der sogenannte Islamische Staat (IS) nicht völlig aus Syrien verschwunden und operiert in verstreuten Gebieten wie z. B. Dara'a und in der syrischen Wüste (TSO 4.7.2023). Zu Jahresende 2022 litt der Süden Syriens außerdem unter der schlimmsten Treibstoffknappheit seit Langem, nachdem das Regime die Treibstoffzuteilungen für die Gemeinden im Süden gekürzt hatte. Die sich verschärfenden Engpässe brachten den Verkehr in der Provinz praktisch zum Erliegen (Etana 2.12.2022) [Anm.: für allgemeine Informationen zur Versorgungslage siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Die Unzufriedenheit über diese Zustände mündete im August 2023 in einer großen Protestwelle in Suweida und Dara'a, die auch in anderen Landesteilen Nachahmer fand (CC 13.12.2023). Die Forderungen der Demonstranten reichen von der Verbesserung der Lebensbedingungen bis zum Sturz Assads und dem Abzug der ausländischen Truppen in Syrien (Enab 20.8.2023). Die syrische Regierung reagierte nicht auf die Proteste (SD 29.8.2023; vergleiche AA 2.2.2024), nur in der Provinz Suweida schossen Sicherheitsbeamte der Baath-Partei auf Demonstranten. Mehrere Personen wurden dabei verletzt. Die Demonstranten schlossen die Parteizentrale daraufhin (Enab 14.9.2023). Das Auswärtige Amt hingegen gibt an, dass die syrische Regierung nur in Dara'a gewaltsam gegen die Demonstrierenden vorging (AA 2.2.2024).
Die Provinz Dara'a
Das Gouvernement Dara'a, wo 2011 die ersten Proteste gegen die Assad-Regierung begannen, spielte als Hochburg der Opposition eine wichtige Rolle in dem Konflikt (EUAA 9.2022). Im Juli 2017 wurde dort eine Deeskalationszone eingerichtet, dennoch startete die syrische Regierung im Juni 2018 eine Offensive zur Rückeroberung der Provinzen Quneitra und Dara'a (DS 5.7.2018). Im Rahmen dieser Offensive erlaubten die Regierungen Syriens und Russlands einigen Oppositionskämpfern sogenannte 'Versöhnungsabkommen' zu schließen (CC 3.11.2022; vergleiche HRW 10.2021). Diese Abkommen erlaubten es den meisten regierungsfeindlichen Kämpfern, ihre leichten Waffen zu behalten, sahen einen Überprüfungsprozess vor, um Personen von Anschuldigungen durch die Geheimdienste freizusprechen, und setzten die Wehrpflicht für diejenigen, die noch zum Militärdienst verpflichtet waren, um sechs Monate aus (HRW 10.2021). Tausende von Kämpfern, die früher mit der bewaffneten Opposition in Verbindung standen, durften daher aktiv bleiben, mussten aber theoretisch die Herrschaft der Regierung über das Gouvernement akzeptieren (CC 3.11.2022). Anderen Kämpfern und Zivilisten wurde die Möglichkeit gegeben, in von oppositionellen Gruppen kontrollierte Gebiete im Norden Syriens zu ziehen (TG 31.7.2018). Die Regelung des Status ist zwar eine nominelle Begnadigung, garantiert aber in der Praxis nicht die Sicherheit der Betroffenen vor dem Regime. Trotz dieser Regelungen sind die Menschen in Dara'a willkürlichen Verhaftungen und Entführungen ausgesetzt. Durch die Einberufung von sogenannten 'versöhnten' Personen kann das Regime unerwünschte ehemalige Oppositionelle aus Dara'a entfernen, und so die künftige Opposition schwächen. In der Vergangenheit wurden 'versöhnte' Personen oft auf die gefährlichsten Posten an die Front in Syrien geschickt (TNA 24.9.2021).
Die Bevölkerung im Gouvernement Dara'a lehnte das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom Mai 2021 ab (HRW 13.1.2022). In der Zeit vor den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es vermehrt zu Attentaten und Mordversuchen. Die allgemeine Zunahme der Gewalt ging mit der Weigerung mehrerer Gemeinschaften einher, an den Wahlen teilzunehmen. In Tafas, Dara'a al-Balad und Busra ash-Sham wurde nicht gewählt, um gegen die Regierung zu protestieren und den Wunsch nach Halbautonomie im Gouvernement zu unterstreichen (EUAA 9.2022). Die Regierung schränkte daraufhin die Mobilität in der Stadt Dara'a ein, reduzierte die Stromversorgung in den Gebieten, in denen Versöhnungsabkommen geschlossen wurden, und widerrief die Reisegenehmigung für 'versöhnte' Kämpfer (COAR 7.6.2021). In Folge kam es in und um die Provinzhauptstadt Dara’a im Juli und August 2021 zu den schwersten Auseinandersetzungen seit 2018 zwischen Regimetruppen sowie Iran-nahen Milizen einerseits und lokalen bewaffneten Gruppierungen (sogenannte versöhnte Rebellen) andererseits (AA 29.11.2021). Zwischen Juni und September 2021 führten die syrischen Streitkräfte und mit ihnen verbündete Milizen Dutzende willkürliche Angriffe auf bewohnte Gebiete in Dara'a aus, während die gegnerischen Kämpfer Gebiete unter Regimekontrolle angriffen, was dort zivile Opfer verursachte. Bei den Kämpfen wurde ein Gebiet mit 55.000 Einwohnern belagert und mehr als 38.000 Menschen vertrieben (HRW 13.1.2022). Vom 24.6.2021 bis zum 9.9.2021 wurde Dara'a al-Balad von der syrischen Regierung und russischen Streitkräften belagert, die den Zugang zu Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern blockierten und zeitweise Strom und Wasser abschalteten (COAR 5.7.2021; vergleiche AJ 29.7.2021, NMFA 5.2022). Am 29.7.2021 begann das syrische Regime eine Bodenoffensive gegen Dara'a al-Balad und versuchte, das Viertel durch Aushungern und Beschuss zu unterwerfen. In den folgenden Wochen kam es zu schweren Kämpfen zwischen den beiden Seiten (TNA 24.9.2021; vergleiche NFMA 5.2022). Die Belagerung führte zu Engpässen bei Lebensmitteln, Treibstoff und Medikamenten (AM 13.8.2021; vergleiche Enab 11.7.2021). Am 8.9.2021 wurde ein 'Versöhnungsabkommen' in Dara'a erzielt (NFMA 5.2022; vergleiche HRW 13.1.2022). Dutzende Syrer, welche dies verweigerten, wurden nach Idlib transferiert. Die Garantien in den 'Versöhnungsabkommen' bieten nicht den nötigen Schutz für die Betroffenen (HRW 13.1.2022). Nach dem Versöhnungsabkommen wurden die Regierungstruppen und die Kontrollpunkte verstärkt, die Meinungsfreiheit weiter eingeschränkt, und mehrere ehemalige Oppositionskämpfer und Zivilisten verhaftet. In den Monaten nach der Versöhnungsvereinbarung gab es mehrere Berichte über Repressalien gegen Zivilisten und andere Personen, einschließlich derer, die sich geweigert hatten, sich an der Versöhnungsvereinbarung zu beteiligen. Diese Repressalien bestanden aus Drohungen, Verhaftungen und Mord (NMFA 5.2022).
Im Juli 2022 kam es im Gouvernement Dara’a erneut zum Beschuss von zivilen Gebieten durch Regimetruppen, darunter die Orte Tafas und al-Yadouda. Laut Berichten lokaler Organisationen forderte dies Todesopfer in zweistelliger Höhe (AA 29.3.2023). Der Ort Tafas wurde Ziel des Einsatzes schwerer Waffen durch Regimetruppen, was einen Exodus aus der Stadt zur Folge hatte. Nach einem Waffenstillstandsabkommen zog sich zwar das Regime aus Tafas zurück, aber initiierte weiterhin militärische Eskalationen gegen vormals oppositionelle Ortschaften im Westen des Gouvernements und belegte die Stadt Jasim mit einer Blockade. Im August drohte das Regime auch mit einer Militäroperation, falls gesuchte Personen in der Stadt Dara'a ihm nicht innerhalb von 48 Stunden übergeben würden. Nach gescheiterten Verhandlungen brachen Kämpfe aus (USDOS 20.3.2023).
Seit Anfang 2022 kommt es in Dara'a vermehrt zu Ermordungen im Zusammenhang mit Drogenhandel. Die Täter bleiben meist unbekannt. Die lokale Bevölkerung ist zunehmend entschlossener, dem Drogenhandel in der Provinz ein Ende zu setzen und die Sache in die eigene Hand zu nehmen. Einige der im Zusammenhang mit dem Drogenhandel von Unbekannten getöteten Personen, hatten eine Verbindung zum Syrischen Regime, beispielsweise zu Geheimdienst- und Militäreinheiten (MEI 9.1.2024).
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) beobachtete im Oktober 2022 eine Verschlechterung der Sicherheitslage in der Provinz Dara'a, weil es dort zu einer Eskalation von Ausschreitungen kam. In diesem Zusammenhang haben Aktivisten der SOHR zwischen dem 1.10.2022 und dem 31.10.2022 55 Angriffe in verschiedenen Gebieten der Provinz Dara'a dokumentiert (SOHR 6.11.2022). Mitte Oktober 2022 kam es zu einem Gefecht in dem südlichen Dorf Jasim in Dara'a, bei dem syrische "versöhnte" Rebellen eine Gruppe von IS-Kämpfern töteten (AP 30.11.2022; vergleiche MEI 5.12.2022). Bei diesem Einsatz wurde auch der ehemalige IS-Anführer Abu al-Hassan al-Hashimi al-Quraishi getötet (MEI 5.12.2022). Der IS unterhält weiterhin geschätzt mehrere Hundert Kämpfer in Dara'a. Im Juni 2023 sollen auch Führungspersönlichkeiten aus Nordwestsyrien nach Dara'a verlegt worden sein (UNSC 25.7.2023).
Die Spannungen zwischen der ehemaligen Opposition und den Streitkräften der Regierung halten an, was zu einer Vielzahl von Morden durch nicht identifizierte Akteure geführt hat (CC 3.11.2022; vergleiche HRW 10.2021). Befragte aus Dara'a berichteten Human Rights Watch, dass Mitglieder der syrischen Sicherheitskräfte, regierungsnahe Milizen und Oppositionsgruppen an gezielten Tötungen und Entführungen beteiligt waren (HRW 10.2021). Obwohl die Täter nicht bekannt sind, beschuldigen sich die Regierungstruppen und die ehemaligen Oppositionsvertreter gegenseitig der Anschläge (CC 3.11.2022). Während des Zeitraums von Juli bis September 2022 kam es zu einer starken Zunahme von mindestens 119 Angriffen auf ehemalige Oppositionskämpfer und Soldaten der Regierung im Süden Syriens durch nicht identifizierte Täter. 103 Angriffe (86 Prozent) fanden im Gouvernement Dara'a statt (CC 3.11.2022).
Attentate auf Mitglieder der syrischen Streitkräfte und gegen ehemalige Kämpfer der Opposition werden in der Statistik des Carter Center im Mai 2023 vor allem in Dara'a verortet:
Quelle: CC 1.5.2023 (Daten von Carter Center und ACLED)
Die Provinz Suweida
Obwohl die Provinz Suweida im Allgemeinen von den schlimmsten Auswirkungen des Krieges verschont geblieben ist, gab es in den letzten Jahren immer wieder Spannungen zwischen den Bewohnern und dem Assad-Regime sowie Proteste gegen Korruption (AJ 4.12.2022). Die große Armut der Bevölkerung durch den jahrelangen Bürgerkrieg in Syrien und die westlichen Sanktionen wird durch die akute Lebensmittel- und Energiekrise noch verschärft (DW 4.12.2022; vergleiche AJ 4.12.2022).
Während des Konflikts blieb das Gouvernement Suweida offiziell unter der Kontrolle der syrischen Regierung. In der Vergangenheit hat die syrische Regierung ihre Macht in Suweida nicht direkt ausgeübt, sondern sich hauptsächlich auf lokale bewaffnete Gruppen gestützt, die von Geheimdiensten und Sicherheitsdiensten unterstützt wurden (EUAA 9.2022; vergleiche SD 15.6.2022, Enab 3.10.2021). Im Verlauf der Ereignisse in der Region verwandelten sich diese Gruppen in Banden, die Entführungen, Raubüberfälle und Attentate verüben. Außerdem besitzen ihre Mitglieder Sicherheitsausweise, mit denen sie sich innerhalb des Gouvernements frei bewegen können. Parallel dazu wurden andere bewaffnete Gruppen mit dem Ziel der Bekämpfung dieser Banden gebildet, um die Sicherheit von Suweida und seiner Zivilbevölkerung zu gewährleisten (Enab 3.10.2021; vergleiche AM 18.7.2021). Nach einem Angriff des IS auf Suweida im Jahr 2018 griffen mehr Bewohner zu den Waffen, um ihre Viertel zu schützen. Lokale Aktivisten berichteten von Zusammenstößen im Sommer 2022 zwischen bewaffneten Einwohnern und bewaffneten Gruppen, die mit der syrischen Regierung und den Sicherheitsbehörden verbündet sind (TG 4.12.2022). Im Juli 2022 kam es zu bewaffneten Kämpfen zwischen lokalen Gruppierungen und dem Regime bzw. mit ihm verbündeten Milizen im Gouvernement Suweida. Laut Berichten lokaler Organisationen forderten diese Todesopfer in zweistelliger Höhe (AA 29.3.2023).
Seit ihrer Gründung im Juli 2021 stieß die Liwa Partei und ihr bewaffneter Arm The Counter Terrorism Force (CTF) mit bewaffneten Kräften der Regierung, insbesondere den NDF (National Defence Forces), zusammen, und zwar speziell in ar-Raha und al-Harisa in der Provinz Suweida. Die CTF entstand Berichten zufolge aus einer Allianz der von den USA unterstützten Maghawir ath-Thawra und der Global Coalition Against ISIS in at-Tanf, Provinz Homs. Am 8.6.2022 griffen die syrischen Streitkräfte zusammen mit pro-Regime-Milizen und von Iran unterstützten Gruppen gegen die Liwa Partei und die CTF durch und belagerten Khazema in der Provinz Suweida. Die Schlacht mit anschließenden weiteren Zusammenstößen und Verhaftungen schwächten die CTF und die Liwa Partei - möglicherweise unter Beendigung ihrer Rolle in Suweida. Auch wenn das Regime damit eine der wenigen Oppositionsgruppen in Suweida zerschlug, so ändert dies nichts an der politischen Unzufriedenheit in der Provinz und der Kriminalität (CC 5.8.2022).
Als Reaktion auf die Entführung mehrerer Studenten durch die von den syrischen Sicherheitskräften unterstützte Miliz, die Falhout-Gruppe, griffen prominente Suweida-Milizen von Falhout gehaltene Kontrollpunkte in der Shabha an und belagerten deren Hauptquartier in Attil (CC 3.11.2022; vergleiche TSO 29.7.2022). Bei diesen Zusammenstößen wurden die meisten Kämpfer der Falhout-Gruppe getötet und mehrere entführte Opfer freigelassen (CC 3.11.2022). Die Angriffe auf die Milizen der syrischen Streitkräfte gehen allerdings weiter: So griffen lokale Suweida-Milizen zwischen dem 11.8.2022 und 12.8.2022 die Fahd Forces in Qanawat an. Die Belagerung von Qanawat endete mit der Flucht des Anführers der Fahd Forces und der Auflösung der Miliz. Suweida-Milizen haben weiteren Berichten zufolge auch von den syrischen Streitkräften unterstützte Gruppen in den Städten Mazra'ah und Salkhad gewaltsam aufgelöst (CC 3.11.2022; vergleiche Suwayda 24 13.8.2022). Russische Regierungsvertreter trafen mit Vertretern aus Suweida zusammen, um die Spannungen abzubauen, wobei die Vertreter von Suwaida die Ausweisung der von Iran unterstützten Gruppen, die Beendigung der Wehrpflicht, die Freilassung von Gefangenen und verschiedene andere Forderungen stellten (CC 3.11.2022).
Die Einwohner von Suweida beschweren sich seit Langem darüber, dass die Sicherheitskräfte das Gebiet im Stich lassen und die Bewohner kriminellen Banden und Milizen ausliefern, während Proteste von den Behörden oft schnell und rücksichtslos niedergeschlagen werden. Die Ausbreitung dieser Banden ist zu einem großen Teil den schlechten wirtschaftlichen Bedingungen in Suweida geschuldet, die es in gewisser Weise zu einem der am schlimmsten betroffenen Teile der vom Regime kontrollierten Gebiete gemacht haben (TSO 14.2.2022). Vor allem in der jüngeren Zeit gab es mehrfach Proteste in der mehrheitlich von Drusen bewohnten Stadt Suweida. Bei einem Protest am 4.12.2022 haben einige Hundert Menschen gegen die schlechten Lebensbedingungen in dem Bürgerkriegsland demonstriert und den Rücktritt von Staatschef Bashar al-Assad gefordert. Demonstranten schleuderten Steine auf das Gebäude, in dem der Gouverneur seinen Sitz hat, und setzten ein Fahrzeug der Sicherheitskräfte in Brand. Polizisten feuerten mit scharfer Munition in die Menge (DW 4.12.2022; vergleiche TG 4.12.2022). Das aktivistische Medienkollektiv 24 und die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichten von zwei Todesfällen sowie von vier Menschen mit Schussverletzungen (AJ 4.12.2022; vergleiche TSO 5.12.2022). In der Nähe des Gouverneursgebäudes und des Polizeipräsidiums im Stadtzentrum kam es zu Schusswechseln, bei denen Regimeangehörige auf den Dächern der Gebäude stationiert waren (TSO 5.12.2022). Seit August 2023 kommt es im Gouvernement Suweida sowie vereinzelt im Gouvernement Dara’a zu täglichen regimekritischen Protesten mit Schwerpunkt in Suweida (Stadt), in deren Verlauf auch Straßenblockaden errichtet und Gebäude des syrischen Regimes zeitweise besetzt wurden. Die Sicherheitskräfte des Regimes haben bislang keinen Zugang zu den Protesten. Nur in Dara’a gingen sie laut Auswärtigem Amt gewaltsam gegen DemonstrantInnen vor (AA 2.2.2024). Enab Baladi, eine arabischsprachige, regimekritische Zeitung wiederum schreibt, dass in Suweida auf DemonstrantInnen geschossen wurde (Enab 14.9.2023).
SOHR berichtete im Mai 2023 von einem Luftangriff der jordanischen Streitkräfte auf einen Drogenschmuggler im Ostsen Suweidas im syrisch-jordanischen Grenzgebiet, bei dem der Drogenschmuggler und seine Familie mit sechs Kindern ums Leben gekommen seien (SOHR 8.5.2023). Das jordanische Militär flog noch weitere Luftangriffe gegen Drogenschmuggler im Dezember 2023 (Rudaw 19.12.2023) und Jänner 2024 (K24 9.1.2024). Im Jänner 2024 sollen dabei auch Zivilisten getötet worden sein, darunter Frauen und Kinder (AJ 18.1.2024).
Quellen:
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1.3.3 Rechtsschutz / Justizwesen
Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes
Letzte Änderung 08.03.2024
Die syrische Verfassung sieht Demokratie (Artikel eins,, 8, 10, 12), Achtung der Grund- und Bürgerrechte (Artikel 33 -, 49,), Rechtsstaatlichkeit (Artikel 50 -, 53,), Gewaltenteilung sowie freie, allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament (Artikel 57,) vor. Faktisch haben diese Prinzipien in Syrien jedoch nie ihre Wirkung entfaltet, da die Ba'ath-Partei durch einen von 1963 bis 2011 geltenden, extensiv angewandten Ausnahmezustand wichtige Verfassungsregeln außer Kraft setzte. Zwar wurde der Ausnahmezustand 2011 beendet, aber mit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien umgehend im Jahr 2012 durch eine genauso umfassende und einschneidende „Anti-Terror-Gesetzgebung“ ersetzt. Sie führte zu einem Machtzuwachs der Sicherheitsdienste und massiver Repression, mit der das Regime auf die anfänglichen Demonstrationen und Proteste sowie den späteren bewaffneten Aufstand großer Teile der Bevölkerung antwortete. Justiz und Gerichtswesen sind von grassierender Korruption und Politisierung durch das Regime geprägt. Laut geltender Verfassung ist der Präsident auch Vorsitzender des Obersten Justizrates (AA 29.3.2023).
Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten regeln das Familienrecht (SLJ 5.9.2016). Der Konflikt in Syrien hat das bereits zuvor schwache Justizsystem weiter ausgehöhlt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die Unabhängigkeit syrischer Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte ist unverändert nicht gewährleistet, diese werden im Gegenteil vom Regime für politische Zwecke missbraucht. Vor allem vor Strafgerichten ist eine effektive Verteidigung in Fällen mit politischem Hintergrund praktisch nicht möglich. Immer wieder werden falsche Geständnisse durch Folter und Drohungen durch die Anklage erpresst und seitens der Gerichte weitestgehend vorbehaltlos akzeptiert (AA 2.2.2024). In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Umsetzung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weitverbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB Damaskus 1.10.2021). Richter und Staatsanwälte müssen im Grunde genommen der Ba'ath-Partei angehören und sind in der Praxis der politischen Führung verpflichtet (FH 9.3.2023).
Tausende von Gefangenen wurden monatelang oder jahrelang ohne Kontakt zur Außenwelt ("incommunicado") festgehalten, bevor sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren freigelassen wurden, während viele andere im Gefängnis starben (USDOS 20.3.2023).
Anti-Terror-Gerichte (CTC)
2012 wurde in Syrien ein Anti-Terror-Gericht (Counter Terrorism Court - CTC) eingerichtet. Dieses soll Verhandlungen aufgrund "terroristischer Taten" gegen Zivilisten und Militärpersonal führen, wobei die Definition von Terrorismus im entsprechenden Gesetz sehr weit gefasst ist (SJAC 9.2018). Die „Terrorismus-Gerichte“ sind außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens tätig (ÖB Damaskus 1.10.2021). Anklagen gegen Personen, die vor das CTC gebracht werden, beinhalten: das Finanzieren, Fördern und Unterstützen von Terrorismus; die Teilnahme an Demonstrationen; das Schreiben von Stellungnahmen auf Facebook; die Kontaktierung von Oppositionellen im Ausland; den Waffenschmuggel an bewaffnete Oppositionelle; das Liefern von Nahrungsmitteln, Hilfsgütern und Medizin in von der Opposition kontrollierte Gebiete (NMFA 5.2020).
Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) und andere Quellen betonen, dass sowohl der Gerichtsprozess im CTC als auch die Gesetzgebung, auf deren Basis dieser Gerichtshof agiert offenkundig internationales Menschenrecht und fundamentale rechtliche Standards verletzen. Diese Verletzungen beinhalten: willkürliche Verhaftungen, unter Folter erzwungene Geständnisse als Beweismittel, geschlossene Gerichtssitzungen unter Ausschluss der Medien, das Urteilen des Gerichts über Zivilisten, Minderjährige und Militärangehörige gleichermaßen, die Ernennung der Richter durch den Präsidenten, die Nicht-Zulässigkeit von ZeugInnen der/des Angeklagten, usw. (NMFA 6.2021). Das normale juristische Prozedere gilt bei keinem der Fälle vor den CTCs. Eine Berufung gegen Urteile ist nicht möglich (BS 23.2.2022).
Mangels Definition von "Terrorismus" und mit "Terrorismus" als Generalvorwurf gegen jede Form von abweichender Meinung werden die Anti-Terrorismus-Gerichte als "politisch" kategorisiert (BS 23.3.2022), und vor allem auch viele Oppositionelle werden dabei als "Terroristen" angeführt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die Anti-Terror-Gerichte dienen insbesondere dem Zweck, politische Gegner und Personen, die sich für politischen Wandel und Menschenrechte einsetzen, auszuschalten. Demnach sollen seit Errichtung dieser Gerichte bis Oktober 2020 schätzungsweise mindestens 90.560 Fälle vor diesen Gerichten verhandelt worden sein. Dabei sollen mindestens 20.641 Gefängnisstrafen und mehr als 2.147 Todesurteile verhängt worden sein, davon der Großteil in Abwesenheit der Angeklagten. Vor diesen Gerichten sei Angeklagten in Verfahren, die oftmals nur wenige Minuten dauern, ein Rechtsbeistand verwehrt; sie würden nach glaubhaften Aussagen ehemaliger Häftlinge oftmals gezwungen, Geständnisse ohne Kenntnis des Textes blind zu unterschreiben. Viele der von diesen Gerichten Verurteilten erhielten laut SNHR Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren, politische Dissidenten häufig bis zu 30 Jahre. In letzteren Fällen sei es wiederholt auch zu außergerichtlichen Hinrichtungen gekommen (AA 2.2.2024).
Undeklarierte Internierungslager, in denen unmenschliche Bedingungen vorherrschen, sind weit verbreitet. Auch Kinder und Frauen werden in diesen Internierungszentren festgehalten. Im Mai 2018 veröffentlichte die syrische Regierung Listen mit Tausenden Namen von in Internierungslagern verstorbenen Bürgern. Eine Aufklärung dieser Todesfälle steht aus (ÖB Damaskus 1.10.2021). Neben Gefängnisstrafen, Zwangsarbeit und der Todesstrafe sieht das Dekret 6372 auch vor, dass das Gericht, jeglichen beweglichen und unbeweglichen Besitz beschlagnahmen kann (SJAC 9.2018). Umfasst ist auch das Eigentum der Familien der Verurteilten und in einigen Fällen sogar ihrer Freunde (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Militärgerichte und Feldgerichte
Militäroffiziere können ZivilistInnen sowohl vor Militärgerichte wie auch Feldgerichte stellen, in welchen es den Angeklagten an Prozessrechten fehlt. ZivilistInnen können zwar Berufung gegen die Entscheidungen von Militärgerichten einlegen, aber die Richter der Militärkammer des Kassationsgerichts sind letztlich dem Militär untergeordnet (FH 9.3.2023).
Militär-Feldgerichte sind geheime Gerichte, deren Richter Militärangehörige sind, die keinerlei Ausbildung oder juristischen Hintergrund haben müssen. Inhaftierte haben hierbei nicht die Möglichkeit, einen Anwalt zu beauftragen, und Anwälte können den Sitzungen nicht beiwohnen. Es gibt keine Möglichkeit zum Einspruch, und es fehlt an den Bedingungen für ein faires Gerichtsverfahren (NMFA 6.2021).
Ein befragter Experte beschrieb die Arbeit der Feldgerichte während aktiver Kämpfe in Kriegsgebieten folgendermaßen: "Feldtribunal" bedeutet nicht, dass es in einem großen Gebäude abseits der Front stattfindet, sondern es ist im Grunde ein Tisch mit drei Offizieren. Sie prüfen die Anschuldigungen, und es gibt eine sehr kurze Verhandlung, in der sie die Version der Geschichte des Angeklagten hören. Sie hören auch die Versionen der Offiziere und der Mitsoldaten, und wenn der Angeklagte beispielsweise des Hochverrats für schuldig befunden wird, kann er im Schnellverfahren hingerichtet werden, was bedeutet, dass er an die Wand gestellt und erschossen wird. Während des Konflikts ist es zu derartigen Fällen gekommen. Die Hinrichtungen werden üblicherweise von der Militärpolizei (ash-Shurta al-Askariya) oder dem Militärgeheimdienst durchgeführt (Üngör 15.12.2021).
Andere Gerichte
Die Verwaltung in den von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeitet in Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in Personenstandsangelegenheiten (AA 2.2.2024). Die religiösen Gerichte behandeln das Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Erb- und Sorgerecht (IA 7.2017). Hierbei sind Scharia-Gerichte für sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene Berufungsgerichte (SLJ 5.9.2016). Manche Personenstandsgesetze wenden die Scharia unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten an (USDOS 20.3.2023).
Die anhaltende Regierungskampagne zur Konfiszierung von Land und Häusern oder Beschlagnahmung ohne adäquate Entschädigung macht Land- und Immobilienbesitzrechte zu einem sensiblen Thema, bei dem die Justiz nicht unabhängig ist. In diesen Fällen dienen die Gerichte dazu, die Einziehung des Besitzes im Namen des Kampfes gegen "Terrorismus" zu legitimieren. BürgerInnen im Ausland riskieren, dass ihr Besitz beschlagnahmt wird, wenn sie vom Regime mit der Opposition in Verbindung gebracht werden und haben kaum Einspruchsmöglichkeiten. Die Verfügungen zur Durchführung der Konfiszierung werden nur in lokalen Zeitungen bekannt gegeben und sind so vom Ausland nicht zugänglich. Die Kläger müssten persönlich (bei Einsprüchen) in solchen Fällen zugegen sein (BS 23.3.2022).
Siehe hierzu auch Kapitel Korruption und das Unterkapitel Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge im Kapitel Rechtsschutz / Justizwesen.
Quellen:
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● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/06/14/country-of-origin-information-report-syria-june-2021/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 11.3.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2020): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038451/2020_05_MinBZ_NLMFA_COI_Report_Syria_Algemeen_ambtsbericht_Syrie.pdf, Zugriff 11.3.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 23.11.2022
● SJAC - The Syria Justice and Accountability Centre (9.2018): Return is a Dream - Options for Post-Conflict Property Restitution in Syria, https://syriaaccountability.org/content/files/2022/04/Property-Restitution-Report-Final-Web-1--4-.pdf, Zugriff 23.11.2022
● SLJ - Syrian Law Journal (5.9.2016): An Overview of the Syrian Court System, https://www.syria.law/index.php/overview-syrian-court-system/, Zugriff 10.3.2023
● Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall
● USDOS - USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes unter HTS- oder SNA-Dominanz
Letzte Änderung 08.03.2024
In Gebieten außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes ist die Lage von Justiz und Verwaltung von Region zu Region und je nach den örtlichen Herrschaftsverhältnissen unterschiedlich (AA 2.2.2024). In von oppositionellen Gruppen kontrollierten Gebieten wurden unterschiedlich konstituierte Gerichte und Haftanstalten aufgebaut, mit starken Unterschieden bei der Organisationsstruktur und bei der Beachtung juristischer Normen. Manche Gruppen folgen dem (syrischen) Strafgesetzbuch, andere folgen dem Entwurf eines Strafgesetzbuches auf Grundlage der Scharia, der von der Arabischen Liga aus dem Jahr 1996 stammt, während wiederum andere eine Mischung aus Gewohnheitsrecht und Scharia anwenden. Erfahrung, Expertise und Qualifikation der Richter in diesen Gebieten sind oft sehr unterschiedlich und häufig sind diese dem Einfluss der dominanten bewaffneten Gruppierungen unterworfen (USDOS 11.3.2020). Auch die Härte des angewandten islamischen Rechts unterscheidet sich, sodass keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Doch werden insbesondere jene religiösen Gerichte, welche in (vormals) vom Islamischen Staat (IS) und von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: HTS wird von den Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Verbindungen zu Al Qa'ida als ausländische Terrororganisation eingestuft (CRS 8.11.2022)] kontrollierten Gebieten Recht sprechen, als nicht mit internationalen Standards im Einklang stehend charakterisiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die Gerichte extremistischer Gruppen verhängen in ihren religiösen Gerichten harte Strafen wegen in ihrer Wahrnehmung religiösen Verfehlungen (FH 9.3.2023). Urteile von Scharia-Räten der Opposition resultieren manchmal in öffentlichen Hinrichtungen, ohne dass Angeklagte Berufung einlegen oder Besuch von ihren Familien erhalten können (USDOS 20.3.2023).
Das Gebiet unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten syrischen Oppositionsgruppen wird von der "Syrischen Interimsregierung" (Syrian Interim Government - SIG) verwaltet. Das Justizsystem ist hauptsächlich mit erfahrenem Personal als Richter, Staatsanwälte und Anwälte besetzt, aber die Justiz gilt als direkt und indirekt unter Einfluss der türkischen Streitkräfte und ihrer lokalen syrischen Verbündeten stehend. Implizit werden Korruption und Schikanen durch diese von der Justiz toleriert. Gleichzeitig wird gegen jegliche Opposition zur SIG oder der türkischen Präsenz strikt vorgegangen. Neben einem zivilen Justizsystem gibt es auch eine Militärjustiz, welche für militärische Strafverfahren und für das Militärpersonal zuständig ist (NMFA 5.2022).
In Idlib übernehmen quasi-staatliche Strukturen der sogenannten „Errettungs-Regierung“ der HTS Verwaltungsaufgaben (AA 2.2.2024) und verfügen auch über eine Justizbehörde. Die Gruppe unterhält auch geheime Gefängnisse. Die HTS unterwirft ihre Gefangenen geheimen Verfahren, den sogenannten "Scharia-Sitzungen". In diesen werden die Entscheidungen von den Scharia- und Sicherheitsbeamten (Geistliche in Führungspositionen der HTS, die befugt sind, Fatwas [Rechtsgutachten] und Urteile zu erlassen) getroffen. Die Gefangenen können keinen Anwalt zu ihrer Verteidigung hinzuziehen und sehen ihre Familien während ihrer Haft nicht (NMFA 6.2021). Die COI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) stellt in ihrem Bericht vom Februar 2022 fest, dass durch HTS und andere bewaffnete Gruppierungen eingesetzte, rechtlich nicht legitimierte Gerichte Urteile bis hin zur Todesstrafe aussprechen. Dies sei als Mord einzustufen und stelle insofern ein Kriegsverbrechen dar (AA 2.2.2024).
Für ganz Syrien gilt, dass nicht gewährleistet ist, dass justizielle und administrative Dienstleistungen allen Bewohnern und Bewohnerinnen in gleichem Umfang und ohne Diskriminierung zugutekommen (AA 2.2.2024). Willkürliche Verhaftungen, summarische Gerichtsverfahren und extralegale Strafen finden durch alle Kriegsparteien statt (FH 9.3.2023).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● CRS - Congressional Research Service [USA] (8.11.2022): Armed Conflict in Syria: Overview and U.S. Response, https://sgp.fas.org/crs/mideast/RL33487.pdf, Zugriff 11.3.2023
● FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, https://freedomhouse.org/country/syria/freedom-world/2023, Zugriff 10.3.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022)): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 11.3.2023
● NMFA - Netherland Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, file, https://www.ecoi.net/en/document/2058351.html, Zugriff 11.3.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 11.3.2023
● USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2026345.html, Zugriff 11.3.2023
Nordost-Syrien
Letzte Änderung 08.03.2024
In Gebieten unter Kontrolle der sogenannten „Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ übernimmt diese quasi-staatliche Aufgaben wie Verwaltung und Personenstandswesen (AA 2.2.2024). Es wurde eine von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst (AI 12.7.2017). Das Justizsystem in den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und Ermittlungsbehörden (USDOS 20.3.2023). Juristen, welche unter diesem Justizsystem agieren, werden von der syrischen Regierung beschuldigt, eine illegale Justiz geschaffen zu haben. Richter und Justizmitarbeiter sehen sich mit Haftbefehlen der syrischen Regierung konfrontiert, verfügen über keine Pässe und sind häufig Morddrohungen ausgesetzt (JS 28.10.2019).
In den Gebieten unter der Kontrolle der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (engl. Abk.: AANES) - auch kurd. "Rojava" genannt, setzten die Behörden einen Rechtskodex basierend auf einem "Gesellschaftsvertrag" ("social contract") durch. Dieser besteht aus einer Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht und Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und Steuerhinterziehung an EU-Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt (USDOS 20.3.2023). Zudem mangelt es an der Durchsetzung der Rechte für einen fairen Prozess (NMFA 6.2021).
Leute, die im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren gesucht werden, erhalten keine Vorladung, sondern werden einfach verhaftet. In Pressekonferenzen der Asayish werden nur Verhaftungen von Verdächtigen in Strafverfahren vermeldet - nicht die Verhaftungen von Personen, welche wegen ihrer Meinungsäußerungen festgenommen oder die entführt wurden (NMFA 6.2021). Die SDF (Syrian Democratic Forces) führen willkürliche Verhaftungen von ZivilistInnen, einschließlich JournalistInnen durch (HRW 11.1.2024).
Verfahren gegen politische Gefangene werden in der Regel vor Strafgerichten oder vor einem Gericht für Terrorismusbekämpfung verhandelt. In Strafgerichten können Inhaftierte einen Anwalt beauftragen, in Gerichten für Terrorismusbekämpfung geht dies laut International Center for Transitional Justice (ICTJ) nicht und auch eine Berufung ist nicht möglich. Die meisten Inhaftierten werden nicht vor Gericht gestellt, sondern entweder freigelassen - oft unter Bedingungen, die mit Stammesführern ausgehandelt wurden - oder die Betroffenen verschwinden unter Gewaltanwendung (NMFA 6.2021).
Im März 2021 einigten sich Repräsentanten von kurdischen, jesidischen, arabischen und assyrischen Stämmen im Nordosten Syriens auf die Einrichtung eines Stammesgerichtssystems, bekannt als "Madbata", für die Klärung von intertribalen Streitigkeiten, Raubüberfällen, Rache und Plünderungen in der Jazira-Region in der Provinz Hassakah. Es besteht aus einer Reihe von Gesetzen und Bräuchen, die als Verfassung dienen, welche die Stammesbeziehungen regeln und die Anwendung dieser Gesetze überwachen, auf die sich eine Gruppe von Stammesältesten geeinigt hat. Aufgrund von schlechten Sicherheitsbedingungen und dem Fehlen einer effektiven und unparteiischen Justiz wurde wieder auf dieses traditionelle Rechtssystem zurückgegriffen (AM 4.4.2021).
Umgang mit ehemaligen in- und ausländischen IS-Kämpfern, -Mitgliedern, und -Familienangehörigen
Das sogenannte Volksverteidigungsgericht (People's Defense Court) als Spezialgericht für Terrorismusstraftaten weist Verletzungen der Bedingungen für faire Gerichtsprozesse auf (NMFA 5.2022, Haaretz 8.5.2018). Zum Beispiel wird bei einer erstmaligen Anklage oft eher eine Hilfe oder Anleitung für die DeliquentInnen statt einer Strafe beschlossen (NMFA 5.2022). Durch den Fokus auf Konfliktlösung und milde Strafurteile versucht die AANES Brücken zur ihnen misstrauenden arabischen Bevölkerungsmehrheit in Ostsyrien zu bauen, ihre Regierungskompetenz gegenüber der lokalen Bevölkerung hervorzuheben und internationale Legitimität zu gewinnen. Die Todesstrafe wurde abgeschafft. Die Höchststrafe ist eine lebenslange Freiheitsstrafe, de facto eine zwanzigjährige Haftstrafe. Gerichtsurteile werden bei guter Führung, oder wenn sich der Angeklagte selbst den kurdischen Behörden gestellt hat, gemildert. 2017 gab es Versöhnungs- und Vermittlungsversuche mit großen arabischen Stämmen. Über 80 IS-Kämpfer erhielten eine Amnestie, um gute Beziehungen zu schaffen, und andere dazu zu bringen, sich zu stellen. Das Gericht ist auch weder von den syrischen Behörden noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt (Ha'aretz 8.5.2018).
Viele europäische Länder sind weiterhin zurückhaltend, was die Rückholung ihrer StaatsbürgerInnen betrifft. Gleichzeitig wird die Verurteilung vor syrischen und irakischen Gerichten nicht als den Standards der internationalen Menschenrechte entsprechend angesehen, und die Chancen, ein internationales Tribunal vor Ort zu etablieren sind gering. So stellt die Autonome Administration ehemalige IS-Kämpfer vor provisorische Tribunale. Bis März 2021 kam es zu 8.000 Verurteilungen von Syrern in Zusammenhang mit dem IS, Jabhat an-Nusra Anmerkung, an-Nusra Front) und Fraktionen der Syrian National Army, wie der Hamza Division und der Suleyman Shah Brigade (ICCT 16.3.2021).
53.000 Personen, darunter etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige aus rund 60 verschiedenen Ländern, darunter auch Österreich, werden im Lager al-Hol festgehalten (Standard 7.11.2022). 80 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder von Mitgliedern des Islamischen Staats (SHRC 1.2023). SNHR geht von "Zehntausenden syrischen BürgerInnen" und "Tausenden anderen" in al-Hol aus, die ohne gesetzliche Basis und ohne Haftbefehl festgehalten werden. Die meisten befinden sich seit Jahren in dem Lager. Die Lebensbedingungen, einschließlich der Mangel an Lebensmitteln und medizinischer Versorgung, werden z. B. von SNHR (SNHR 17.1.2023) wie auch von Ärzte ohne Grenzen schärfstens kritisiert. Aktuell sind 64 Prozent der Menschen in al-Hol Kinder. Für sie ist das Leben in dem Camp besonders gefährlich, so Ärzte ohne Grenzen. Im Jahr 2021 kamen 79 Kinder zu Tode - mehr als ein Drittel aller im Jahr 2021 Verstorbenen waren Kinder unter 16 Jahren. Die häufigste Todesursache (38 Prozent) in Al-Hol ist der Tod infolge von Verbrechen. Zusätzlich zu den 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen wurden in dem Lager 2021 auch 30 Mordversuche gemeldet (Standard 7.11.2022).
Zum aktuellen Gebietsumfang der Gebiete unter obiger Selbstverwaltung siehe die Karten im Kapitel Sicherheitslage und besonders auch das Unterkapitel Nordost-Syrien.
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AI - Amnesty International (12.7.2017): Zwei von drei Aktivisten wieder frei, https://www.amnesty.de/mitmachen/urgent-action/zwei-von-drei-aktivisten-wieder-frei, Zugriff 11.3.2023
● AM - Al-Monitor (4.4.2021): Tribes in east Syria resort to their own judiciary over lack of trust in official courts, https://www.al-monitor.com/originals/2021/04/tribes-east-syria-resort-their-own-judiciary-over-lack-trust-official-courts, Zugriff 11.3.2023
● Ha'aretz (8.5.2018): Syria’s Kurds Put ISIS on Trial With Focus on Reconciliation, https://www.haaretz.com/middle-east-news/syria/syria-s-kurds-put-isis-on-trial-with-focus-on-reconciliation-1.6071212, Zugriff 11.3.2023
● HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103131.html, Zugriff 22.1.2024
● ICCT - International Centre for Counter-Terrorism (16.3.2021): New Kid on the Block: prosecution of ISIS fighters by the Autonomous Administration of North and East Syria, https://www.icct.nl/index.php/publication/new-kid-block-prosecution-isis-fighters-autonomous-administration-north-and-east-syria, Zugriff 11.3.2023
● JS - Just Security (28.10.2019): Northeastern Syria: Complex Criminal Law in a Complicated Battlespace, https://www.justsecurity.org/66725/northeastern-syria-complex-criminal-law-in-a-complicated-battlespace/, Zugriff 11.3.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022)): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 11.3.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 11.3.2023
● SHRC - Syrian Human Rights Committee (1.2023): The 21st Annual Report On Human Rights in Syria 2022, https://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2023/01/21st-report_En.pdf, Zugriff 11.3.2023
● SNHR - Syrian Network for Human Rights (17.2.2023): SNHR’s 12th Annual Report: Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2022; Normalizing Relationships with the Syrian Regime is a Blatant Violation of the Rights of Millions of Syrians, https://snhr.org/wp-content/uploads/2023/01/R221213E.pdf, Zugriff 11.3.2023
● Standard - Der Standard (7.11.2022): Ärzte ohne Grenzen: Unmenschliche Zustände in syrischem Lager al-Hol, https://www.derstandard.at/story/2000140592349/aerzte-ohne-grenzen-unmenschliche-zustaende-in-syrischem-lager-al-hol, Zugriff 11.3.2023
● USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
1.3.4 Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 11.03.2024
Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 11.1.2024). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie "verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 2.2.2024). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 2.2.2024). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 2.2.2024). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 2.2.2024).
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren (AA 2.2.2024).
Eine realistische Möglichkeit zur Einforderung einer strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte besteht nicht. Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 2.2.2024).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten (darunter laut SNHR drei Todesfälle durch Folter im Jahr 2022), Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die Berichte dazu betreffen u. a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Folteropfer der SDF starben im Zeitraum Januar 2014 bis Juni 2022 SNHR zufolge mindestens 83 Menschen durch Folter, darunter ein Kind und zwei Frauen (SNHR 26.6.2022).
Anmerkung: Für weitere Informationen zu den Arten und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen siehe auch das Kapitel zur Sicherheitslage sowie besonders die Kapitel zur Menschenrechtslage und zur Todesstrafe sowie das Kapitel Haftbedingungen. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst.
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AI - Amnesty International (31.3.2022): Syria: New anti-torture law "whitewashes" decades of human rights violations, https://www.ecoi.net/en/document/2070690.html, Zugriff 10.3.2023
● FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, https://freedomhouse.org/country/syria/freedom-world/2023, Zugriff 9.3.2023
● HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103131.html, Zugriff 22.1.2024
● HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 9.3.2023
● OSS - Omran Center for Strategic Studies (18.1.2023b): The Syrian Regime Signals Legal and Military Shifts to the World, https://omranstudies.org/index.php/publications/papers/the-syrian-regime-signals-legal-and-military-shifts-to-the-world.html, Zugriff 13.2.2023
● OSS - Omran Center for Strategic Studies (1.10.2017): Changing the Security Sector in Syria, https://omranstudies.org/publications/papers/book-changing-the-security-sector-in-syria.html, Zugriff 13.2.2023
● SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 10.3.2023
● SNHR - Syrian Network for Human Rights (26.6.2022): The 11th Annual Report on Torture in Syria on the International Day in Support of Victims of Torture, https://snhr.org/wp-content/uploads/2022/06/R220610E.pdf, Zugriff 9.3.2023
● STJ - Syrians for Truth & Justice (12.7.2022): Syria: Anti-Torture Law Issued 35 Years After the Convention against Torture Went Effective, https://stj-sy.org/en/syria-anti-torture-law-issued-35-years-after-the-convention-against-torture-went-effective/, Zugriff 10.3.2023
● Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall
● USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 17.4.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 10.3.2023
1.3.5 Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 14.07.2023
Anmerkungen:
In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.
Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.
Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".
Zu den Themen Wehrdienst und Desertion darf auch auf die folgenden Anfragebeantwortungen verwiesen werden (abrufbar auf ecoi.net sowie dem Koordinationsboard (KoBo) der Staatendokumentation:
In Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung:
• SYRI_SM_Wehrdienst_2022_01_27_KE
• SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Wehrdienstgesetze_2022_09_16_KE
• SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Bestrafung+Wehrdienstverweigerung,+Desertion_2022_09_16_KE
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951] (ACCORD)
• SYRI_SM_MIL_Einberufung_über_syrische_Botschaft_2023_03_21_K
• SYRI_RF_MLD_Kommunalbediensteten Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_29_K
• SYRI_RF_MLD_Zivile Angestellte des öffentlichen Diensts Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_28_K
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Genehmigung der Ausreise eines Staatsangestellten durch den Vorgesetzten; Kontrolle bei Ausreise; Folgen illegaler Ausreise und zuständige Behörde; Folgen bei unerlaubtem Fernbleiben vom Arbeitsplatz; Ausreisegenehmigung für männliche Staatsangestellte im wehrdienstpflichtigen Alter [a-12103-1] (ACCORD)
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Reisepässe der syrischen Regierung für Männer im wehrdienstfähigen Alter; mögliches Sicherheitsrisiko für diese Personengruppe, im Ausland (insbesondere in der Türkei) einen Reisepass zu beantragen [a-12067-1] (ACCORD)
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Unterliegen Palästinenser, die den Wehrdienst absolviert haben, auch einer Pflicht zum Reservedienst? (ACCORD)
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Tauglichkeitskriterien der syrischen Armee; Einsatz von Wehrpflichtigen mit starker Sehschwäche [a-11869] (ACCORD)
• SYRI_RF_MLD_Staatenlosigkeit_2022_12_15_KE
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Restriktionen bei der Beschaffung von Dokumenten für Syrer im Ausland im Wehrpflichtsalter, die der Wehrpflicht nicht nachgekommen sind und keine Ersatzzahlungen geleistet haben [a-11903] (ACCORD)
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Möglichkeit eines Familienbesuchs ohne Sanktionen trotz nicht abgeleisteten Militärdienst [a-11857-1] (ACCORD)
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Abgabe des Wehrdienstbuches und des Personalausweises zu Beginn des Wehrdienstes und Einbehaltung der Dokumente bis zur Ausmusterung von der Militärbehörde [a 11840] (ACCORD)
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Zöllner als Teil des Sicherheitsapparats, Desertion, militärische und polizeiliche Aufgaben von Zöllnern im Krieg [a-11786] (ACCORD)
In Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung:
• SYRI_SM_MIL_ergänzende+AFB+zu+Wehrdienstpflicht+in+Gebieten+außerhalb+Regierungskontrolle+2022_10_14_KE
• SYRI_SM_MIL_Zwangsrekrutierung,+Kontrolle+Idlib_2022_03_17_KE
• SYRI_MIL_Zwangsrekrutierung+von+Frauen+für+YBJ+bzw.+SDF_2022_09_22_KE
• SYRI_SM_Rekrutierungspraxis YPG_2023_03_02_KE
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Höchstalter für die „Wehrpflicht“ im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet; unterlagen Altersvorgaben für „Wehrpflicht“ seit ihrer Einführung Schwankungen/Änderungen? [a-11932] (ACCORD)
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Stadt Ar-Raqqa: Bedrohung von Kommunalbediensteten bzw. insbesondere von Fahrern für die staatliche/städtische Müllentsorgung oder Angestellten in der Wasserversorgung durch die kurdische Selbstverwaltung (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) [a-12103-2] (ACCORD)
• Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen; Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnung im Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101] (ACCORD)
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung: 11.03.2024
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Die Dauer des Wehrdienstes beträgt 18 Monate bzw. 21 Monate für jene, die die fünfte Klasse der Grundschule nicht abgeschlossen haben (PAR 1.6.2011). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 2.2.2024). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022). Einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge sollen Männer auch unabhängig ihres Gesundheitszustandes eingezogen und in der Verwaltung eingesetzt worden sein (NMFA 8.2023).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 2.2.2024). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 2.2.2024; vergleiche ICWA 24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vergleiche Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vergleiche ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vergleiche BAMF 2.2023).
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022). Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten (STDOK 8.2017; vergleiche DIS 7.2023). Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vergleiche AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer „Verkürzung“ des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 2.2.2024).
Rekrutierungspraxis
Es gibt, dem Auswärtigen Amt zufolge, zahlreiche glaubhafte Berichte, laut denen wehrpflichtige Männer, die auf den Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (AA 2.2.2024). Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 2.2.2024; vergleiche NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vergleiche NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara’a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gibt es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 2.2.2024).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vergleiche ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Hausdurchsuchungen finden dabei v.a. eher in urbanen Gebieten statt, wo die SAA stärkere Kontrolle hat, als in ruralen Gebieten (DIS 1.2024). Mehrere Quellen berichteten im Jahr 2023 wieder vermehrt, dass Wehr- und Reservedienstpflichtige aus ehemaligen Oppositionsgebieten von der syrischen Regierung zur Wehrpflicht herangezogen wurden, um mehr Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen bzw. um potenzielle Oppositionskämpfer aus diesen Gebieten abzuziehen (NMFA 8.2023; vergleiche DIS 7.2023). Eine Quelle des Danish Immigration Service geht davon aus, dass Hausdurchsuchungen oft weniger die Rekrutierung als vielmehr eine Erpressung zum Ziel haben (DIS 1.2024).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vergleiche FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara’as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als „Kanonenfutter“ im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. DerKrieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 2.2.2024).
Staatenlose Palästinenser werden meistens in die Palestinian Liberation Army (PLA) rekrutiert, seltener auch in die reguläre SAA. Sie sind ebenfalls reservepflichtig. Allerdings dauert ihre Pflicht zum Reservedienst weniger lange, nämlich nur viereinhalb Jahre. Den meisten Quellen des Danish Immigration Service waren keine Fälle bekannt, wonach staatenlose Palästinenser in Syrien zum Reservedienst in der PLA einberufen wurden. Die PLA wurde auch an die Front geschickt (DIS 1.2024).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des „Wehrdiensts“ gemäß der „Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung „Sicherheitsquadrate“ (al-Morabat al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. „Sicherheitsquadraten“ auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im „Sicherheitsquadrat“ im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Dies wird auch von SNHR bestätigt, die ebenfalls angeben, dass die Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist (ACCORD 7.9.2023). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o. Ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vergleiche Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022; vergleiche NMFA 8.2023; vergleiche DIS 1.2024). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). römisch fünf.a. weil die SAA derzeit nicht mehr so viele Männer braucht, werden über 42-Jährige derzeit eher selten einberufen. Das syrische Regime verlässt sich vor allem auf Milizen, in deren Dienste sich 42-Jährige einschreiben lassen können (DIS 1.2024).
Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022). Manchen Quellen des Danish Immigration Service zufolge werden Reservisten unabhängig ihrer Qualifikationen einberufen, andere Quellen wiederum geben an, dass das syrische Regime Reservisten je nach ihrer militärischen Spezialisierung einzieht. Eine Quelle glaubt, dass Reservisten oft qualifikationsunabhängig eingezogen werden, aber immer öfter auf die Spezialisierung geachtet wird. Eine besondere Stellung bei der Einberufung zum Reservedienst nehmen Angestellte des öffentlichen Sektors ein. Manche Quellen sprechen davon, dass diese seltener einberufen werden, andere Quellen geben an, dass diese eher entsprechend ihrer Tätigkeiten (z.B. im medizinischen Bereich) im Rahmen ihres Reservedienstes an Orte geschickt werden, wo ihre Funktion gerade dringender gebraucht wird (DIS 1.2024).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches „Hochfahren“ dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). MitteOktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International CrisisGroup schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Der syrische Präsident erließ einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vergleiche SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vergleiche NMFA 5.2022). Ein weiterer Beschluss wurde im Dezember 2023 erlassen, wonach Reserveoffiziere, die mit 31.01.2024 ein Jahr oder mehr aktiv ihren Wehrdienst abgeleistet haben, ab 1.2.2024 nicht mehr einberufen werden. Dieser Beschluss beendet ebenfalls die Einberufung von Unteroffizieren und Reservisten, die mit 31.1.2024 sechs Jahre oder mehr aktiven Wehrdienst geleistet haben (SANA 4.12.2023).
Die Rekruten werden während des Wehrdienstes im Allgemeinen nicht gut behandelt. Der Umgang mit ihnen ist harsch. Nur wer gute Verbindungen zu höheren Offizieren oder Militärbehörden hat oder wer seine Vorgesetzten besticht, kann mit einer besseren Behandlung rechnen. Außerdem ist die Bezahlung sehr niedrig und oft ist es den Rekruten während des Wehrdienstes nicht gestattet, ihre Familien zu sehen (DIS 1.2024).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022), wie in der Badia-Wüste, wo es noch zu Konfrontationen mit dem IS kommt (DIS 7.2023). Alle Eingezogenen können laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. (EUAA 2.2023; vergleiche DIS 7.2023). Ihr Einsatz hängt laut EUAA vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab (EUAA 2.2023). Andere Quellen hingegen geben an, dass die militärische Qualifikation oder die Kampferfahrung keine Rolle spielt, beim Einsatz von Wehrpflichtigen an der Front (DIS 7.2023). Eingezogene Männer aus „versöhnten“ Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023; vergleiche NMFA 8.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus den Berichten nicht hervor.]
Quellen:
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● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 12.5.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2042795.html, Zugriff 19.5.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/1451486.html, Zugriff 19.5.2023
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● ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (20.3.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen; Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnungim Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101], https://www.ecoi.net/en/document/2091203.html, Zugriff 24.5.2023
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● ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (1.12.2022): The State of Syria: Q2 2022 – Q3 2022, https://acleddata.com/2022/12/01/the- state- of- syria- q2- 2022- q3- 2022/, Zugriff 19.5.2023
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Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts
Letzte Änderung: 11.03.2024
Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".
Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vergleiche FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Auch für Wehrpflichtige, die ins Ausland reisen möchten, ist ein Aufschub von bis zu 6 Monaten möglich und wird von Oppositionsangehörigen genützt, nachdem sie im Rahmen von Versöhnungsabkommen ihren „Status geregelt“ haben (DIS 1.2024). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vergleiche DRC/DIS 8.2017).
Als einziger Sohn der Familie kann man sich vom Wehrdienst befreien lassen. Mehrere Quellen des Danish Immigration Service haben angegeben, dass es keine Fälle gibt, in denen die einzigen Söhne einer Familie trotzdem zur Wehrpflicht herangezogen worden sind (DIS 1.2024).
Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Wehrpflichtbefreiungen erlassen für Personen mit Erkrankungen, die es ihnen verunmöglichen, militärische Pflichten zu erfüllen, wie beispielsweise Herzerkrankungen oder Sehschwächen. Teilweise werden aber anstatt einer Befreiung, diese Personen auf Positionen ohne Gefechtsbereitschaft bzw. auf denen sie keiner physischen Belastung ausgesetzt sind, wie in der Administration, verpflichtet (EUAA 10.2023; vergleiche DIS 01.2024). Zur Entscheidung, ob und welcher Art eine Person wehrpflichtig ist, errechnen die Behörden einen Prozentgrad der Behinderung bzw. der gesundheitlichen Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der medizinischen Untersuchung (DIS 1.2024). Wobei eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums angibt, dass sechs Monate Grundausbildung unabhängig des Gesundheitszustandes komplett zu durchlaufen sind (NMFA 8.2023). Welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen
zur Untauglichkeit bzw. zum eingeschränkten Wehrdienst führen ist unklar, wobei es bestimmte, offensichtliche Behinderungen gibt, die eine Untauglichkeit bedingen, wie Blindheit oder Lähmungen. Oft werden auch Männer, die an Fettleibigkeit, Sehbehinderungen, Krebs, psychischen Krankheiten leiden oder denen eine Gliedmaße fehlt, vom Wehrdienst befreit. Gewisse gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie Diabetes, Sehschwächen bis zu einem bestimmten Grad, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Hörbeeinträchtigungen, Deformierungen an Händen oder Füßen, Asthma oder andere chronische Erkrankungen gelten meist als Gründe, um den Wehrdienst nicht im Feld ausüben zu müssen (DIS 1.2024). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020; vergleiche DIS 1.2024). Der Prozess nimmt manchmal auch viel Zeit in Anspruch, sogar bei offensichtlichen Beeinträchtigungen, wie dem Downsyndrom (DIS 1.2024). Wer aus medizinischen Gründen befreit werden will oder in einer administrativen Position seinen Wehrdienst versehen möchte, hat mit Hürden zu rechnen und Erpressungen sowie das Bezahlen von Bestechungsgeldern ist weit verbreitet (EUAA 10.2023; vergleiche NMFA 8.2023). So zahlen laut einem Experten, der vom Danish Immigration Service befragt wurde, manche Wehrpflichtige 3.000-4.000 USD, um ihren Wehrdienst in einem Büro statt am Gefechtsfeld zu leisten oder höhere Summen, um als gänzlich untauglich klassifiziert zu werden (DIS 7.2023). Manchmal müssen auch Personen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung Bestechungsgelder bezahlen, um als untauglich eingestuft zu werden (DIS 1.2024). Wer für den Gefechtsdienst untauglich erklärt wurde, kann sich durch eine Zahlung von 3.000 USD gänzlich von der Wehrpflicht befreien. Weswegen viele Männer Bestechungsgelder bezahlen, um sich für den Gefechtsdienst untauglich schreiben zu lassen, um anschließend Gebrauch von dieser Ausnahmeregelung machen zu können (DIS 1.2024). Wenn die Behörden erkennen, dass medizinische Ausnahmen ungerechtfertigt, beispielsweise durch Bestechung, gewährt wurden, müssen sich die betroffenen Wehrpflichtigen einer erneuten medizinischen Untersuchung unterziehen (EUAA 10.2023). Demgegenüber berichten mehrere Quellen des Danish Immigration Service, dass die Zahlung eines Betrags von 3.000 USD für die Befreiung vom Wehrdienst für den Gefechtsdienst untaugliche Personen, von der Syrischen Regierung meist akzeptiert wird. Allerdings können sich nur wenige Personen diese hohen Geldbeträge überhaupt leisten (DIS 1.2024).
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022).
Am 1.12.2023 trat das neue Gesetzesdekret Nr.37 in Kraft, wonach sich Rekruten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und noch nicht in den Reservedienst eingetreten sind, sich von ebendiesem freikaufen können durch eine Zahlung von 4.800 USD. Für jeden Monat, in dem derjenige den Reservedienst bereits geleistet hat, werden 200 USD abgezogen (SANA 1.12.2023).
Polizeidienst als Befreiung vom Wehrdienst
Gemäß Abschnitt 12 des Wehrpflichtgesetzes war eine Person vom Wehrdienst befreit, wenn sie mindestens zehn Jahre in den Diensten der inneren Sicherheit stand, einschließlich der Polizei. Diese Frist wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 1 von 2012 auf fünf Jahre verkürzt. Hat eine Person nicht die vollen fünf Jahre gedient, muss sie dennoch ihren Militärdienst ableisten. Wer bei der Polizei akzeptiert wird, unterschreibt jedoch einen Zehnjahresvertrag. Es ist auch möglich, dass ein Rekrut der Polizei beitritt und dort seinen Militärdienst ableistet, da die internen Sicherheitsdienste gemäß Artikel 10 des Wehrpflichtgesetzes zu den syrischen Streitkräften gezählt werden. Wenn eine Person der Polizei beitritt, wird das Rekrutierungsbüro, dem sie untersteht, angewiesen, sie nicht zum Militärdienst einzuberufen (NMFA 5.2022). Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums gibt zudem an, dass Polizisten keinen Reservedienst leisten müssen, wenn sie ihre Wehrpflicht erfüllt haben, unabhängig davon, ob sie Polizeidienst geleistet haben oder nicht (NMFA 8.2023).
Rechtlich gesehen ist es möglich, aus dem Polizeidienst auszutreten. Die Kündigung muss samt einer Erklärung über die Gründe eingereicht werden. Alle Rücktrittsgesuche werden auf der Grundlage einer Sicherheitsanalyse geprüft. In der Praxis werden die meisten Anträge aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Polizeibeamte können während der ersten zehn Jahre ihres Vertrags de facto nicht kündigen. Eine Laufbahn innerhalb des erweiterten Sicherheitsapparats ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt und es ist nicht üblich, eine solche Position vorzeitig
zu verlassen. Bei einer Laufbahn in einer Sicherheitsbehörde ist es laut einer Quelle praktisch unmöglich, die Erlaubnis zur Kündigung zu erhalten. Das unerlaubte Verlassen eines Polizeidienstpostens wird als eine Form der Desertion angesehen, die mit Strafe bedroht werden kann. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, welches Gesetz in diesem Fall gilt (NMFA 5.2022). Zollbeamte gelten im Rahmen ihrer Zuständigkeit als allgemeine Sicherheitskräfte undbKriminalbeamte (ACCORD 17.1.2022).
Anmerkung, Zur Rolle des Sicherheitsapparats im Laufe des Kriegs und bei Menschenrechtsverletzungen siehe die Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage, Folter und unmenschliche Behandlung, Hinrichtungen und außergerichtliche Tötungen sowie das Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen.
Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland
Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr („badal an-naqdi“) zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 USD zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vergleiche SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr.31 (Rechtsexperte 14.09.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre) ISPI 5.6.2023; vergleiche AA 2.2.2024). Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 2.2.2024; vergleiche ISPI 5.6.2023). Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen (Ausreisestempel) oder die Vorlage eines Personalausweises (AA 2.2.2024). Die Syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten, die vom Danish Immigration Service befragt wurden, zufolge und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Die Behörden geben normalerweise keine Auskunft darüber, ob man von den Sicherheitsbehörden gesucht wird. Mehrere Quellen gehen aber von Erpressungen gegenüber Wehrpflichtigen an Checkpoints durch Streit- und Sicherheitskräfte an Checkpoints aus, insbesondere gegenüber Personen aus Europa bzw. Geschäftsleuten. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (DIS 1.2024). Auch das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw. Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden (AA 2.2.2024).
Ein Freikauf vom Reservedienst ist gemäß Quellen des niederländischen Außenministeriums nicht möglich, wobei mit Stand August 2023 aufgrund der aktuellen geringen Intensität der Kampfhandlungen es nur selten zur Einberufung von Reservisten gekommen ist (NMFA 8.2023).
Das Italian Institute for International Political Studies (ISPI) hingegen schreibt, dass seit der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 auch Reservisten sich durch eine Gebühr von 5.000 USD nach einem Auslandsaufenthalt von mindesten einem Jahr freikaufen können (ISPI 5.6.2023). Auch die staatliche Nachrichtenagentur SANA schrieb im Dezember 2023 vom Legislaturdekret Nr. 37, wonach Reservisten, die das 40. Lebensjahr erreicht haben und noch nicht im Dienst waren, sich durch eine Befreiungsgebühr von 4.800 USD vom Reservedienst freikaufen können (SANA 1.12.2023; vergleiche EB 3.12.2023). Das Auswärtige Amt schreibt, dass es zahlreiche Berichte, darüber gäbe, dass auch Reservisten zum Militärdienst eingezogen werden (AA 2.2.2024).
Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022; NMFA 8.2023). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen „Versöhnungsprozess“ bereinigen (NMFA 5.2022). Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u. a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird („bayan harakat“). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche13.12.2021).
Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdienstes
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird wie ein ganzes Jahr gerechnet (SANA 8.11.2017; vergleiche PAR 15.11.2017).
Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.9.2022; vergleiche DIS 1.2024). Laut einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums kann auch die Erbschaft solange zurückgehalten werden, bis der erbberechtigte Sohn den Wehrdienst geleistet oder eine Wehrpflichtbefreiung erhalten hat (NMFA 8.2023). Mehrere von EUAA befragte Quellen geben an, dass ihnen bisher keine Fälle bekannt wären, in denen dieses Gesetz gegriffen hätte und tatsächlich Eigentum beschlagnahmt worden wäre, aber zumindest ein Experte geht davon aus, dass das Gesetz in Zukunft entsprechend in die Praxis umgesetzt werden wird (EUAA 10.2023).
Unter anderem wurde auch berichtet, dass Palästinensern, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, der Zugang zum Camp Yarmouk verweigert wurde, um sich dort ihren Besitz zurückzuholen (Action PAL 3.1.2023).
Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten
Christliche und muslimische religiöse Führer sind weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit, wobei muslimische Geistliche dafür eine Abgabe bezahlen müssen (USDOS 15.5.2023). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen, anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht, und Mitglieder von Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen (FIS 14.12.2018).
Anders als in vielen Gebieten unter Regierungskontrolle konnten sich Männer im Gouvernement Suweida der gesetzlich festgelegten allgemeinen Wehrpflicht in den syrischen nationalen Streitkräften weitgehend entziehen (Syria Untold 9.1.2020; vergleiche COAR 30.9.2020), viele Gemeindevorsteher und hochrangige drusische Religionsführer haben sich geweigert, die Einberufung in die Armee zu genehmigen (AW 5.12.2022). Stattdessen hat die drusische Gemeinschaft gut organisierte Nachbarschaftsschutzgruppen und Einheiten der Nationalen Verteidigungskräfte (NDF) unterhalten. Die syrische Regierung hält jedoch offiziell weiterhin an der verfassungsmäßig verankerten „heiligen Pflicht“ des allgemeinen Wehrdienstes - auch für die in Suweida heimische drusische Gemeinschaft - fest (COAR 30.9.2020). Das Regime behandelt diese Menschen als Wehrdienstverweigerer und zwingt sie von Zeit zu Zeit, an so genannten „Sicherheitsregelungen“ teilzunehmen. Eine dieser Maßnahmen fand am 5.10.2022 statt. Sie beinhaltete einerseits einen administrativen Aufschub für einen Zeitraum von sechs Monaten vor dem Eintritt in die im Süden Syriens stationierten Armeeeinheiten und andererseits die Einstellung der Verfolgung von Personen, die von den Sicherheitsapparaten gesucht werden. Allerdings nehmen viele Drusen diese Sicherheitsregelungen nicht ernst, da sie sich nicht als Rechtsbrecher betrachten. Im Oktober 2022 nahmen nur 2.500 junge Männer von 30.000 Wehrdienstverweigerern und Überläufern in Suweida an der Sicherheitsregelung teil. Für diejenigen, die einen Vergleich abschließen, besteht das Hauptmotiv darin, eine „Schlichtungskarte“ zu erwerben, die ihnen Freizügigkeit gewährt und es ihnen ermöglicht, Transaktionen bei staatlichen Einrichtungen, wie z. B. die Beantragung von Reisedokumenten, ohne Angst vor Verhaftung und Inhaftierung durchzuführen (MED Blog 12.12.2022). Die Grauzone bezüglich der Umsetzung der Wehrpflicht hat zur Folge, dass die derzeit rund 30.000 zum Wehrdienst gesuchten Personen Suweida nicht verlassen bzw. nicht in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete reisen können (Alaraby 11.2.2022).
Quellen:
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● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 12.5.2023
● ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (17.1.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Zöllner als Teil des Sicherheitsapparats, Desertion, militärische und polizeiliche Aufgaben von Zöllnern im Krieg [a-11786], https://www.ecoi.net/de/dokument/2067698.html, Zugriff 19.5.2023
● Action PAL - Action Group for Palestinians of Syria (3.1.2023): Syrian Regime Deprives Military Service Evaders of Their Property in Yarmouk Camp, https://www.actionpal.org.uk/en/post/13782/news-and-reports/syrian-regime-deprives-military-service-evaders-of-their-property-in-yarmouk-camp, Zugriff 12.5.2023
● Alaraby - New Arab, the (11.2.2022): Why protests in Suweida are deeply troubling for the Syrian regime, https://www.newarab.com/analysis/why-protests-suweida-are-troubling-syrian-regime, Zugriff 19.5.2023
● AW - Arab Weekly, the (5.12.2022): Syrian regime cracks down on protests in Druze-majority Sweida, https://thearabweekly.com/syrian-regime-cracks-down-protests-druze-majority-sweida, Zugriff 19.5.2023
● Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
● COAR - Center for Operational Analysis and Research (30.9.2020): The Syrian Economy at War, https://coar-global.org/2020/09/30/the-economy-of-war-in-syria-armed-group-mobilization-as-livelihood-and-protection-strategy/, Zugriff 19.5.2023
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● MED Blog - Middle East Directions Blog (12.12.2022): What’s New About the Sweida Protests in Southern Syria? https://blogs.eui.eu/medirections/whats-new-about-the-sweida-protests-in-southern-syria/, Zugriff 19.5.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022, Antwortschreiben per E-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
● PAR – Website of the Parliament [Syria] ( القانون رقم / 35 / لعام 2017 القاضي بتعديل قانون خدمة:( 15.11.2017 العلم الصادر بالمرسوم التشريعي رقم / 30 / لعام/ 2007 / [Gesetz Nr. 35 von 2017 zur Änderung des Militärdienstgesetzes, das durch das Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 verkündet wurde], http://parliament.gov.sy/arabic/index.php?node=201&nid=18681&RID=-1&Last=10262&First=0&CurrentPage=0&Vld=-1&Mode=&Service=-1&Loc1=&Key1=&SDate=&EDate=&Year=&Country=&Num=&Dep=-1&, Zugriff 19.5.2023
● Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
● SANA - Syrian Arab News Agency ( الرئيسالأسد يصدر مرسوما تًشريعيا بًتعديل المادة 26 من قانون خدمة :( 1.12.2023 العلم [Präsident al-Assad erlässt ein Gesetzesdekret zur Änderung des Artikel 26 des Wehrdienstgesetzes], https://www.sana.sy/?p=2009474, Zugriff 11.1.2024
● SANA – Syrian Arab News Agency ( مجلس الشعب يقر مشروع قانون يتعلق بمن تجاوز سن التكليف للخدمة :( 8.11.2017 ربط الإلزامية وآخر حول السجل العام للعاملين في الدولة بوزارة التنمية الإدار ية [Die Volksversammlung verabschiedet einen Gesetzesentwurf zu Personen, die das Mindestalter für den Pflichtdienst überschritten haben, und einen weiteren Gesetzentwurf zum allgemeinen Register der Arbeitnehmer im Staat beim Ministerium für Verwaltungsentwicklung], http://www.sana.sy/?p=656572, Zugriff 19.5.2023
● SB Berlin - Botschaft der Syrischen Arabischen Republik Berlin [Syrien] (o.D.): شؤون التجنيد [Rekrutierungsangelegenheiten], http://mofaex.gov.sy/berlin-embassy/ar/pages738/%D8%B4%D8%A4%D9%88%D9%86-%D8%A7%D9%84%D8%AA%D8%AC%D9%86%D9%8A%D8%AF, Zugriff 19.5.2023
● STDOK – Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien – mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 19.5.2023
● Syria Untold (9.1.2020): Men evading military service in southern Syria’s Suwayda feel ‘trapped’, https://syriauntold.com/2020/01/09/men-evading-military-service-in-southern-syrias-suwayda-feel-trapped/, Zugriff 19.5.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091896.html, Zugriff 19.5.2023
Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst
Letzte Änderung 11.03.2024
Rechtssicherheit
In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist eine Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB Damaskus 12.2022).
Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien verringern ausgesprochene Todesurteile zum Teil auf lebenslange harte Strafarbeit oder stellen eine Freilassung in Aussicht. In der Rechtspraxis kommen die Amnestien aufgrund großzügig ausgelegter Ausnahmetatbestände und prozeduralen Hindernissen jedoch nur in Einzelfällen zur Anwendung (AA 2.2.2024), dabei oftmals infolge der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Amtsträger im Justiz- und Sicherheitswesen (AA 2.2.2024; vergleiche EB 9.6.2022).
Amnestien allgemein
Seit März 2011 [Anm.: bis Oktober 2022] hat der syrische Präsident 21 Amnestiedekrete erlassen [Ende Dezember 2022 und im November 2023 folgten weitere Amnestiedekrete, s. weiter unten], wobei in den meisten dieser Dekrete die Strafen der Begnadigten für die verschiedenen Verbrechen und Vergehen ganz oder teilweise aufgehoben wurden (SNHR 16.11.2022, vergleiche SNHR 12.9.2023). Der syrische Präsident hat dabei für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden (STDOK 8.2017; vergleiche SNHR 16.11.2022, MED 10.2021). Über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und Deserteure ist nur sehr wenig bekannt (DIS 5.2020; vergleiche SNHR 16.11.2022; vergleiche DIS 7.2023). Aber zumindest im Zusammenhang mit der Amnestie des Legislativdekrets 24/2022 wurde von der Menschenrechtsorganisation Syrian Network for Human Rights (SNHR) die Freilassung von 14 Personen aus Haftanstalten der Regierung dokumentiert, die anschließend zum Wehrdienst verpflichtet wurden, sowie 24 Personen, die sich beim Rekrutierungsbüro meldeten und ebenfalls zum Pflichtwehrdienst eingeschrieben wurden, registriert (EUAA 10.2023). Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben die Amnestien wiederholt als intransparent sowie unzureichend kritisiert (STDOK 8.2017; vergleiche EB 3.4.2020, MED 10.2021) und als ein Propagandainstrument der Regierung bezeichnet (DIS 5.2020; vergleiche MED 10.2021). Das Auswärtige Amt schreibt, dass die vergangenen Dekrete in der Umsetzung nahezu wirkungslos waren (AA 2.2.2024). Eine Quelle von EUAA gab an, dass die Amnestien nicht für Personen, die den Reservedienst verweigert haben, gelten (EUAA 10.2023). Zwei Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichten, dass die Amnestien auch Männer umfassen, die aus dem Reservedienst desertierten (DIS 1.2024).
Die Amnestiedekrete resultierten im Allgemeinen nur in der Entlassung einer begrenzten Anzahl von gewöhnlichen Kriminellen, und nicht von jenen, deren Verhaftung politisch motiviert ist (USDOS 20.3.2023). Der Ausschluss von politischen Gefangenen von den Amnestien ist der Haft- und Gerichtspraxis in Syrien teilweise inhärent. Willkürlich Verhaftete werden in der Regel ohne Anklage für längere Zeit festgehalten, und die Inhaftierten werden oft nicht über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert (MED 10.2021; vergleiche USDOS 20.3.2023). Die Amnestien schlossen Gefangene aus, die nicht eines Verbrechens angeklagt wurden (USDOS 20.3.2023).
Erhebungen von SNHR ergaben, dass im Zeitraum März 2011 bis Oktober 2022 rund 7.350 Personen im Rahmen von 21 Amnestiedekreten aus diversen Zivil- und Militärgefängnissen der syrischen Regierung sowie aus Haftanstalten unterschiedlicher Zweigstellen des Sicherheitsapparats entlassen wurden. Darunter befanden sich rund 6.100 Zivilisten und 1.250 Militärangehörige. Dem stellt SNHR eine Anzahl von rund 123.300 Personen gegenüber, die in zeitlicher Nähe zu den Amnestien verhaftet wurden oder gewaltsam verschwanden (SNHR 16.11.2022).
Eine begrenzte Anzahl von Gefangenen kam im Zuge lokaler Beilegungsabkommen mit dem Regime frei. Während des Jahres 2022 verstießen Regimekräfte gegen frühere Amnestieabkommen, indem sie Razzien und Verhaftungskampagnen gegen Zivilisten und frühere Mitglieder der bewaffneten Oppositionsgruppen in Gebieten durchführten, in denen zuvor Beilegungsabkommen mit dem Regime unterzeichnet worden waren (USDOS 20.3.2023).
Einer Quelle zufolge respektiert die syrische Regierung Amnestien und belangt durch Amnestien begnadigte Wehrdienstverweigerer und Deserteure nicht, es sei denn, sie waren in Kampfhandlungen gegen die Regierung involviert (DIS 1.2024). Durch verschiedene Amnestien für Deserteure und Wehrdienstverweigerer werden Strafen zwar zumindest stellenweise erlassen, der zwangsweise Einzug in den Militärdienst wurde durch die Amnestien jedoch nicht beendet und wird unverändert fortgesetzt (AA 2.2.2024; vergleiche USDOS 20.3.2023, NMFA 5.2022, MED 10.2021, EUAA 10.2023, DIS 1.2024) bzw. wird als Strafe der Wehrdienst einer Quelle zufolge um sechs Monate verlängert (DIS 1.2024). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen (AA 2.2.2024). Das Narrativ der Amnestie oder der milden Behandlung ist höchst zweifelhaft: Es spielt nicht nur eine Rolle, ob zum Beispiel Familienmitglieder für die FSA (Freie Syrische Armee) oder unter den Rebellen gekämpft haben, sondern das Regime hegt auch ein tiefes Misstrauen bezüglich des Herkunftsgebiets. Es spielt eine große Rolle, woher man kommt, ob man aus Gebieten mit vielen Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten geflohen ist, zum Beispiel Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs (Üngör 15.12.2021). Unklar ist auch, wie mit Personen verfahren wird, die sich politisch gegen die Syrische Regierung betätigt haben (DIS 1.2024). Ein Syrien-Experte merkte in diesem Zusammenhang auch an, dass die Durchsetzungsfähigkeit des Präsidenten bei den Amnestiedekreten vor Ort angezweifelt werden kann, und Vergeltung ein weitverbreitetes Phänomen ist (Balanche 13.12.2021). Omran Center for Strategic Studies wiederum berichtet von Fällen, in denen Deserteure sich auf die Amenstien verlassen hatten und dennoch inhaftiert wurden, einige sollen in staatlichen Haftanstalten nach ihrer auf den Amnestien basierenden Rückkehr ums Leben gekommen sein (DIS 1.2024).
Kürzlich erlassene Amnestien
Am 16.11.2023 wurde ein Amnestiedekret für Verbrechen, die vor dem 16.11.2023 begangen wurden, erlassen. Betroffen sind vor allem Inhaftierte im Alter von über 70 Jahren oder unheilbar Kranke. Lebenslange Haftstrafen wurden in 20 Jahre Haft umgewandelt. Ausgenommen von der Amnestie sind Verbrechen, die zum Tode führten und in Zusammenhang mit Waffenschmuggel (AP 16.11.2023; vergleiche Reuters 16.11.2023). Anfang September 2023 verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden. Dieses stellt allerdings keine wesentliche Verbesserung der Rechtslage dar. Die Beschuldigten müssen weiterhin die Verfolgung vor ordentlichen Militärgerichtshöfen fürchten, in denen grundsätzliche Prinzipien des Rechtsstaats systematisch missachtet werden. Ferner enthält das Dekret keine Durchführungsbestimmungen, um den Zugang zu Dokumentation der vor Feldtribunalen gesprochenen Urteile und dem Schicksal der Verurteilten verbessern würden (AA 2.2.2024).
Präsident Assad erließ am 21.12.2022 mit dem Legislativdekret Nr. 24 eine Generalamnestie, die unter anderem für die Tatbestände "interne und externe Desertion" gilt, so diese vor dem Inkrafttreten des Erlasses begangen wurden (SANA 21.12.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syriens leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (MEMO 22.12.2022).
Im Mai 2022 hat Präsident Assad mit dem Gesetzesdekret Nr. 7/2022 eine Generalamnestie für "terroristische Verbrechen" erlassen, welche von Syrern vor dem 30.4.2022 begangen wurden, mit Ausnahme derjenigen Straftaten, die zum Tod eines Menschen geführt haben und die im Antiterrorismusgesetz Nr. 19 von 2012 und im Strafgesetzbuch, das durch das Gesetzesdekret Nr. 148 von 1949 und dessen Änderungen erlassen wurde, festgelegt sind (SO 3.5.2022). "Terrorismus" ist ein Begriff, mit dem die Regierung die Aktivitäten von Rebellen und oppositionellen Aktivisten beschreibt (MEE 2.5.2021). Nach dem Militärstrafgesetzbuch geahndete Vergehen fallen nicht unter diese Amnestie. Laut SNHR wurden mindestens 586 Personen im Zusammenhang mit dem Amnestiedekret aus der Haft entlassen (SNHR 16.11.2022). Das Amnestiedekret wurde laut Human Rights Watch (HRW) allerdings willkürlich und ohne Transparenz umgesetzt und führte nur zur dokumentierten Freilassung einer kleinen Zahl von Inhaftierten, gemessen an den Tausenden von Personen, die nach wie vor verschwunden sind, viele davon seit 2011, ohne dass es Informationen über ihren Verbleib gibt (HRW 12.1.2023). Laut Auswärtigem Amt bietet diese Amnestie Spielraum, die Freilassung unliebsamer Personen effektiv zu verhindern. So wurden Inhaftierte etwa nachträglich für den Tod von Personen verantwortlich gemacht. Als Nachweis reicht bereits die behauptete örtliche Nähe zu einem Ereignis mit Todesfolge, etwa über Mobilfunkortung, aus (AA 2.2.2024).
Am 25.1.2022 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 3/2022 eine Generalamnestie für "interne" und "externe Desertion", die vor diesem Datum begangen wurde (SANA 25.1.2022). Die Amnestie umfasst Straftaten nach Artikel 100 ("interne Desertion") und 101 ("externe Desertion") des Militärstrafgesetzbuchs (Gesetzesdekret Nr. 61 von 1950) (SO 27.1.2022; vergleiche SNHR 16.11.2022), schließt jedoch die Artikel 102 ("Flucht zum Feind, Flucht vor dem Feind") und 103 ("Flucht durch Verschwörung und Flucht in Kriegszeiten") aus (SO 27.1.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syrien leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (SNHR 16.11.2022).
Es ist nicht bekannt, inwieweit sich die syrischen Behörden an die jüngste Amnestieregelung gehalten haben. Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bei früheren Amnestien Fälle gegeben habe, in denen sich die syrischen Behörden nicht an die Bedingungen der Amnestien gehalten hätten. Männer, die sich gemeldet hatten, waren dennoch im Gefängnis gelandet, weil auch das Gesetz sehr weit ausgelegt werden könnte (NMFA 8.2023).
Amnestien in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung
Am 10.10.2020 erließ die sog. "Selbstverwaltung" in Nordost-Syrien eine "Generalamnestie" für Strafgefangene (AA 4.12.2020; vergleiche NPA 10.10.2020). Bereits am 15.10.2020 sollen 631 Häftlinge auf Grundlage des Dekrets entlassen worden sein, darunter auch mutmaßliche IS-Sympathisanten. Strafen für bestimmte Vergehen sollen zudem halbiert werden (AA 4.12.2020). Das Amnestiedekret Nr. 7 des syrischen Präsidenten vom 30.4.2022 fand beispielsweise keine Anwendung in Raqqa, das unter der Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) steht (EB 9.6.2022).
Am 2.4.2022 erließ die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) nahestehende "Syrische Heilsregierung" im Gouvernement Idlib ein Dekret, mit dem sie Berichten zufolge eine "Amnestie" für Urteile gewährte, die sie aus Gründen des öffentlichen Rechts verhängt hatte, und die Hälfte der Strafe von Gefangenen "umwandelte", die ein Urteil oder eine ähnliche Strafe erhalten hatten. Nach Angaben von SNHR bezog sich die Amnestie nicht auf Gefangene, die wegen Kritik an der HTS inhaftiert worden waren (USDOS 20.3.2023).
Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) erließen Anfang September 2023 eine Amnestie für arabische Stammeskämpfer in Deir ez-Zour, die sich gewaltvoll gegen die SDF erhoben hatten. Mehrere Stammeskämpfer wurden freigelassen (Reuters 7.9.2023; vergleiche MEE 7.9.2023). Kämpfern in den von den SDF kontrollierten Gebieten wurde eine Frist von 15 Tagen eingeräumt, ihre Waffen abzugeben und einen Versöhnungsprozess zu beginnen, um aus den von der Regierung kontrollierten Gebieten zurück in die von den SDF kontrollierten Gebiete kommen zu können (K24 28.9.2023).
Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".
Quellen:
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● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2042795.html, Zugriff 19.5.2023
● AP - Associated Press (16.11.2023): Syria’s president grants amnesty, reduced sentences on anniversary of coup that put father in power, https://apnews.com/article/assad-amnety-syria-pardon-b4a0c2b992abe1bbecb488a50bf61f8b, Zugriff 14.12.2023
● Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
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● DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (7.2023): Syria - Military service: recruitment procedure, conscripts’ duties and military service for naturalised Ajanibs, https://www.ecoi.net/en/file/local/2094617/coi-brief-report-on-syria-military-service-2023.pdf, Zugriff 13.12.2023
● DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria - Military Service, Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf, Zugriff 22.5.2023
● EB - Enab Baladi (9.6.2022): Raqqa: Detainees’ families endure blackmail since the amnesty issued, https://english.enabbaladi.net/archives/2022/06/raqqa-detainees-families-endure-blackmail-since-the-amnesty-issued/, Zugriff 22.5.2023
● EB - Enab Baladi (3.4.2020): Decrees for detainees .. without including them Syrian detainees off legislators’ table, https://english.enabbaladi.net/archives/2020/04/decrees-for-detainees-without-including-them-syrian-detainees-off-legislators-table/, Zugriff 22.5.2023
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● K24 - Kurdistan24 (28.9.2023): SDF offers amnesty to Deir ez-Zor gunmen, https://www.kurdistan24.net/en/story/32704-SDF-offers-amnesty-to-Deir-ez-Zor-gunmen, Zugriff 18.12.2023
● MED - Middle East Directions (10.2021): Manipulating National Trauma: The Assad Regime’s Wartime Instrumentalisation of Presidential Amnesties, https://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/72798/QM-AX-21-047-EN-N%5b1%5d.pdf?sequence=5&isAllowed=y, Zugriff 22.5.2023
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● MEE - Middle East Eye (2.5.2021): Syria: Amnesty announced ahead of presidential elections, https://www.middleeasteye.net/news/syria-amnesty-offered-ahead-presidential-elections, Zugriff 22.5.2023
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● SANA - Syrian Arab News Agency (25.1.2022): President al-Assad gives general amnesty to internal and external desertion crimes, http://www.sana.sy/en/?p=261557, Zugriff 22.5.2023
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● STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 22.5.2023
● Üngör, Uğur Ümit - Geschichtsprofessor, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 17.5.2023
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung: 12.03.2024
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Rechtsexperten der Free Syrian Lawyers Association (FSLA) mit Sitz in der Türkei beurteilen, dass das syrische Regime die Verweigerung des Militärdienstes als schweres Verbrechen betrachtet und die Verweigerer als Gegner des Staates und der Nation behandelt. Dies spiegelt die Sichtweise des Regimes auf die Opposition wie auch jede Person wider, die versucht, sich seiner Politik zu widersetzen oder ihr zu entkommen (STDOK 25.10.2023). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt „ihr Land zu verteidigen“. Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit „gerettet“ haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021). Ein für eine internationale Forschungsorganisation mit Schwerpunkt auf den Nahen Osten tätiger Syrienexperte, der allerdings angibt, dazu nicht eigens Forschungen durchgeführt zu haben, geht davon aus, dass das syrische Regime möglicherweise am Anfang des Konflikts, zwischen 2012 und 2014, Wehrdienstverweigerer durchwegs als oppositionell einstufte, inzwischen allerdings nicht mehr jeden Wehrdienstverweigerer als oppositionell ansieht (STDOK 25.10.2023). Gemäß Auswärtigem Amt legen einige Berichte nahe, dass Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ebenfalls Verhören und Repressionen der Geheimdienste ausgesetzt sein könnten (AA 2.2.2024).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 2.2.2024; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen „interner Desertion“ (farar dakhelee) und „externer Desertion“ (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vergleiche AA 2.2.2024). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Artikel 102, bei Überlaufen zum Feind und gemäß Artikel 105, bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 2.2.2024).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vergleiche DIS 5.2020).
Freikauf vom Wehrdienst
Nach dem Wehrpflichtgesetz ist es syrischen Männern im wehrpflichtigen Alter möglich, sich durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freizukaufen, sofern sie mindestens ein Jahr ohne Wiedereinreise nach Syrien ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatten (AA 2.2.2024). Drei vertrauliche Quellen, die vom niederländischen Außenministerium im März 2023 und November 2022 befragt wurden, gehen davon aus, dass jemand, der sich vom Militärdienst freigekauft hat, auch nicht mehr zum Militärdienst einberufen wird. Der zu zahlende Betrag hängt dabei davon ab, wie lange die Männer im Ausland waren und variiert zwischen 7.000 und 10.000 Dollar. Auch Wehrdienstpflichtige, die das Land illegal verlassen haben, können sich durch eine solche Zahlung von der Wehrpflicht freikaufen. Möglich ist dies in einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat unter Vorlage eines Nachweises, dass man im Ausland lebt. Es besteht die Möglichkeit, dass die Botschaft die Namen derer veröffentlicht, die sich auf diese Art von der Wehrpflicht befreit haben. Andererseits kann die Person sich auch durch einen Verwandten in Syrien an ein lokales Rekrutierungsbüro wenden, um sich von der Liste der Wehrdienstverweigerer streichen zu lassen (NMFA 8.2023). Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen (Ausreisestempel) oder die Vorlage eines Personalausweises (AA 2.2.2024). Die Person bekommt einen Beleg für den Freikauf, den sie bei der Einreise am Flughafen vorweisen kann. Um auch möglichst problemlos Checkpoints passieren zu können, muss die Person zusätzlich zum Beleg einen Eintrag in sein Militärbuch machen lassen (DIS 7.2023). Die syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten, die vom Danish Immigration Service befragt wurden, zufolge und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (DIS 1.2024). Auch das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw. Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden (AA 2.2.2024).
Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 2.2.2024 vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022; vergleiche NMFA 8.2023).
Ein Freikauf vom Reservedienst ist gemäß Quellen des niederländischen Außenministeriums nicht möglich, wobei mit Stand August 2023 aufgrund der aktuellen geringen Intensität der Kampfhandlungen es nur selten zur Einberufung von Reservisten gekommen ist (NMFA 8.2023). Das Italian Institute for International Political Studies (ISPI) hingegen schreibt, dass seit der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 auch Reservisten sich durch eine Gebühr von 5.000 USD nach einem Auslandsaufenthalt von mindesten einem Jahr freikaufen können (ISPI 5.6.2023). Auch die staatliche Nachrichtenagentur SANA schrieb im Dezember 2023 vom Legislaturdekret Nr. 37, wonach Reservisten, die das 40. Lebensjahr erreicht haben und noch nicht im Dienst waren, sich durch eine Befreiungsgebühr von 4.800 USD vom Reservedienst freikaufen können (SANA 1.12.2023; vergleiche EB 3.12.2023). Das Auswärtige Amt schreibt, dass es zahlreiche Berichte darüber gäbe, dass auch Reservisten zum Militärdienst eingezogen werden (AA 2.2.2024).
Männern, die sich in Syrien aufhalten, ist ein Freikauf von der Wehrpflicht grundsätzlich nicht möglich. Eine Ausnahme hierfür ist nur durch die Möglichkeit, sich vom Reservedienst freizukaufen, für Männer im Alter von mindestens 40 Jahren geboten (DIS 1.2024).
Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel „Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts“.
Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel „Grundversorgung und Wirtschaft“.
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vergleiche Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen)
eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder „verschwindengelassen“ werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für Wehrdienstentzug ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als „Kanonenfutter“), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter) (Üngör 15.12.2021). Dem hingegegn gibt ein von EUAA interviewter Experte an, dass Wehrdienstverweigerer, die von der syrischen Regierung gefasst werden, der Militärpolizei übergeben werden und schließlich in Trainingslager zur Ausbildung und Stationierung gesendet werden (EUAA 10.2023). Bis zum Beginn einer Wehrdienstausbildung, die normalerweise im April und September geplant sind, bleibt der Wehrdienstverweigerer bei der Militärpolizei (NMFA 8.2023). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021). Auch einige Quellen des Danish Immigration Service geben an, dass Wehrdienstverweigerer mit einer Haftstrafe von bis zu neun Monaten rechnen müssen. Andere Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichteten, dass Wehrdienstverweigerer direkt zum Wehrdienst eingezogen, ohne vorher inhaftiert zu werden. Wer an einem Checkpoint als Wehrdienstverweigerer erwischt wird, wird dem Geheimdienst übergeben. Ein Wehrdienstverweigerer, der nicht aus anderen Gründen gesucht wird, wird dem Militär zur Ableistung des Wehrdienstes übergeben. Wehrdienstverweigerer werden meist direkt an die Front geschickt (DIS 1.2024). Wehrdienstverweigerer aus den Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, werden dabei mit größerem Misstrauen betrachtet und mit größerer Wahrscheinlichkeit inhaftiert oder verhaftet (NMFA 8.2023).
Bei militärischer Desertion gibt es Fälle, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Mehrere Quellen berichten, dass Deserteure verfolgt und mit einer Haftstrafe bestraft werden und dann ihren Wehrdienst ableisten müssen (DIS 1.2024). Eine Quelle berichtet im Jahr 2020, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Dem gegenüber berichtet ein vom Danish Immigraton Service 2023 interviewter Experte, dass Deserteure aus ehemaligen Oppositionsgebieten, sowie Überläufer, die sich an Handlungen gegen das Regime beteiligt haben, zum Tode verurteilt werden könnten. SNHR berichtet, dass Deserteure ein bestimmtes Zeitlimit, wie beispielsweise ein Jahr haben, um sich freiwillig den Behörden stellen und straffrei davonkommen zu können.
Wer sich innerhalb der Frist nicht meldet, wird in Abwesenheit verurteilt (DIS 1.2024). Überläufer, die sich freiwillig stellen, würden vor ein Militärgericht gestellt und müssen entweder nach Ableistung einer Haftstrafe oder, wenn eine Amnestie erlassen wurde, sofort den verbleibenden Wehrdienst in der Einheit, aus der sie desertierten, absolvieren (EUAA 10.2023). Das Omran Center for Strategic Studies wiederum gibt an, dass kein Unterschied zwischen Deserteuren und Überläufern gemacht wird. Die Haftstrafe für Wehrpflichtige und Reservisten, die desertiert sind, beträgt bis zu neun Monate. Wer ein zweites Mal desertiert wird bis zu zwei Jahre inhaftiert, wer ein drittes Mal desertiert für fünf Jahre (DIS 1.2024). Ein Syrienexperte, der von EUAA interviewt wurde, gibt an, dass die Behandlung von Deserteuren und Überläufern abhängig ist von einerseits der Art ihrer Flucht und andererseits den Strafen, die vorgesehen sind in den Artikeln 100 und 104 im Strafgesetzbuch (EUAA 10.2023). Anfang September verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden (AA 2.2.2024).
Manche Quellen berichten, dass Wehrdienstverweigerung und Desertion für sich genommen momentan nicht zu Repressalien für die Familienmitglieder der Betroffenen führen. Hingegen berichten mehrere andere Quellen von Repressalien gegenüber Familienmitgliedern von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, wie Belästigung, Erpressung, Drohungen, Einvernahmen und Haft. Eine Quelle berichtete sogar von Folter. Betroffen sind vor allem Angehörige ersten Grades (DIS 1.2024). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von „high profile“-Deserteuren der Fall sein, also z. B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vergleiche DIS 1.2024). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020; vergleiche DIS 1.2024). Insbesondere die politische oder militärische Haltung gegenüber der Syrischen Regierung wirkt sich auf die Art der Behandlung der Familie des Deserteurs bzw. Wehrdienstverweigerer aus. Familien von Deserteuren sind dabei einem höheren Risiko ausgesetzt als jene von Wehrdienstverweigerern (DIS 1.2024).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung „ausgesöhnt“ hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der „internen und externen Desertion vom Militärdienst“ aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
"Versöhnungsabkommen" und Rückkehr von Wehrpflichtigen
Versöhnungsabkommen dienen der Regierung auch zur Rekrutierung von Wehrpflichtigen, die entweder direkt in die SAA integriert werden oder in eine der mit der Regierung zusammenarbeitenden Milizen (EUAA 10.2023). Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert (AA 2.2.2024). Deserteure bekommen eine einmonatige Frist, um zu ihrer Einheit zurückzukehren (SD 9.6.2023). Zumindest Erstere wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten (AA 2.2.2024). Als Anreiz können Wehrpflichtige im Rahmen dieser Abkommen in Dara‘a eine Reiseerlaubnis sowie einen Reisepass bekommen, um außer Landes zu reisen (SD 9.6.2023; vergleiche EB 14.6.2023). Einer Quelle von EUAA zufolge ist ein „Versöhnungsprozess“ auch die Voraussetzung, um sich für die immer wieder ausgesprochenen Amnestien zu qualifizieren (EUAA 10.2023). Dem Bericht der Commission of Inquiry (CoI), der Vereinten Nationen vom Augsut 2023 zufolge, waren Personen im Gouvernement Dara’a von Repressionen betroffen, obwohl sie den offiziellen „Versöhnungsprozess“ durchlaufen hatten (AA 2.2.2024).
Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 2.2.2024). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am „Versöhnungsprozess“ einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Auch SNHR berichtet von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren, die den Versöhnungsprozess durchlaufen haben und im Zuge dessen von den syrischen Behörden aufgrund anderer Sicherheitsbedenken einvernommen und sogar zum Tode gefoltert wurden, weil sie Verbindungen zur Opposition hatten (DIS 1.2024). Zudem sind in den „versöhnten Gebieten“ Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).
In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die „Versöhnungsabkommen“ Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter „Versöhnungsabkommen“ zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 2.2.2024).
Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber „wahnsinnig“, als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine „Befreiungsgebühr“ bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021).
Zu den „Versöhnungsabkommen“ siehe auch Abschnitt „Versöhnungsabkommen“ im Kapitel „Sicherheitslage“, zu Rückkehrern s. auch Kapitel „Rückkehr“.
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2042795.html, Zugriff 19.5.2023
● Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
● DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2024): Syria - Military service, https://us.dk/media/10661/coi-report_syria_military-service_jan-2024.pdf, Zugriff 30.1.2024
● DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (7.2023): Syria - Military service: recruitment procedure, conscripts’ duties and military service for naturalised Ajanibs, https://www.ecoi.net/en/file/local/2094617/coi-brief-report-on-syria-military-service-2023.pdf, Zugriff 12.12.2023
● DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria - Treatment Upon Return, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 23.5.2023
● DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria – Military Service, Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf, Zugriff 23.5.2023
● EB - Enab Baladi (3.12.2023): Assad issues decree allowing exemption fees for reserve service, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/12/assad-issues-decree-allowing-exemption-fees-for-reserve-service/, Zugriff 25.1.2024
● EB - Enab Baladi (14.6.2023): New Security settlement to enhance regime grip on Daraa: acitivists, displaced, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/06/new-security-settlement-to-enhance-regime-grip-on-daraa-activists-displaced/, Zugriff 11.12.2023
● EUAA – European Union Agency for Asylum (10.2023): Syria Country Focus, https://www.ecoi.net/en/file/local/2098437/2023_10_EUAA_COI_Report_Syria_Country_focus.pdf, Zugriff 7.12.2023
● FIS – Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 23.5.2023
● ICG - International Crisis Group (9.5.2022): Syria: Ruling over Aleppo’s Ruins, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072598/234-syria-aleppos-ruins_0.pdf, Zugriff 23.5.2023
● ICWA - Institute of Current World Affairs (24.5.2022): Syria’s young draft-dodgers migrate to Iraq, https://www.icwa.org/syria-draft-dodgers-migrate/, Zugriff 23.5.2023
● Khaddour, Kheder - Gast-Wissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
● ISPI - Italian Institute for International Political Studies (5.6.2023): Fight or Flight: The Syrian Conscription Nightmare, https://www.ispionline.it/en/publication/fight-or-flight-the-syrian-conscription-nightmare-130593, Zugriff 11.01.2024
● Landinfo [Norwegen] (3.1.2018): Syria: Reactions against deserters and draft evaders, https://www.ecoi.net/en/file/local/1441219/1226_1534943446_landinfo-report-syria-reactions-against-deserters-and-draft-evaders.pdf, Zugriff 23.5.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs (8.2023): Algemeen ambtsbericht Syrië, https://open.overheid.nl/documenten/ronl-e07a04cd19e3da2dac1adebf7a36701e6aee7e7d/pdf, Zugriff 7.12.2023
● Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
● SANA - Syrian Arab News Agency ( الرئيسالاسد يصدر مرسوما تشريعيا بتعديل المادة 26 من قانون خدمة :( 1.12.2023 العلم , [Präsident al-Assad erlässt ein Gesetzesdekret zur Änderung von Artikel 26 des Wehrpflichtgesetzes], https://www.sana.sy/?p=2009474, Zugriff 25.1.2024
● SD - Syria Direct (9.6.2023): Wave of new settlements amid Arab normalization efforts, https://syriadirect.org/wave- of- new- daraa- settlements- amid- arab- normalization- efforts/, Zugriff 11.12.2023
● STDOK - BFA Staatendokumentation (25.10.2023): Themenbericht der Staatendokumentation; Syrien - Grenzübergänge, https://www.ecoi.net/en/file/local/2100231/2023-10-25_COI_CMS_Themenberichte_Syrien_-_Grenz%C3%BCberg%C3%A4nge%2C_Version_1-00c9.pdf, Zugriff 5.3.2024
● Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
● UNHRC - United Nations Human Rights Council (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic*, **, https://www.ecoi.net/en/file/local/2088857/G2301021.pdf, Zugriff 23.5.2023
1.3.6 Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 12.03.2024
Neben der Gefährdung durch militärische Entwicklungen, Landminen und explosive Munitionsreste, welche immer wieder zivile Opfer fordern, bleibt auch die allgemeine Menschenrechtslage in Syrien äußerst besorgniserregend (AA 2.2.2024). Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2022). Die im August 2011 vom UN-Menschenrechtsrat eingerichtete internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien (Commission of Inquiry, CoI) benennt in ihrem am 13.9.2023 veröffentlichten Bericht (Berichtszeitraum Januar bis Juni 2023) zum wiederholten Male teils schwerste Menschenrechtsverletzungen, identifiziert Trends und belegt diese durch die Dokumentation von Einzelfällen. Nach Einschätzung der CoI dürfte es im Berichtszeitraum in Syrien weiterhin zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen sein. Dazu gehörten u. a. gezielte und wahllose Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele (z. B. durch Artilleriebeschuss und Luftschläge) sowie Folter. Darüber hinaus seien willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen, „Verschwindenlassen“, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten, dokumentiert. Obwohl die UN-Kommission die Verantwortung in absoluten Zahlen betrachtet für die große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten sieht, wurden erneut für alle Konfliktparteien und alle Regionen des Landes Menschenrechtsverstöße dokumentiert (AA 2.2.2024).
Regierungsgebiete
Die CoI geht davon, dass die syrische Regierung weiterhin Morde, Folter und Misshandlungen begeht, die sich gegen Personen in Haft richten, darunter auch Praktiken, welche zum Tod in der Haft führen. Hinzukommen willkürliche Haft und Verschwindenlassen. Die UN-Kommission sieht hierin ein Muster von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Im Berichtszeitraum wurden auch Fälle umfassender Verletzungen von Prozessrechten und des Rechts auf ein faires Verfahren im syrischen Justizstrafsystem dokumentiert (UNCOI 7.2.2023). Nach Einschätzung der UN-Kommission liegt die Verantwortung für die - in absoluten Zahlen betrachtet - große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften des syrischen Regimes und seinen Verbündeten. Darüber hinaus verweist die CoI auf massive Behinderungen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, sowohl durch die Verweigerung des Zugangs nach Syrien als auch durch erhebliche Sicherheitsbedenken für die zu Befragenden. In ihrem Bericht von September 2022 vermerkte die CoI eine Verschärfung des staatlichen Vorgehens gegen die Zivilgesellschaft. Herauszuheben sind ein im April 2022 verabschiedetes Gesetz gegen Cyberkriminalität, welches für regierungs- und verfassungskritische Äußerungen im Internet Haftstrafen von sieben bis 15 Jahren vorsieht und welches laut dem jüngsten Bericht der CoI vom August 2023 weiter zur Anwendung kommt (AA 2.2.2024). Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führen etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töten (USDOS 20.3.2023).
Personen, welche glaubwürdig in Gewaltverbrechen involviert sind, Organisationen innerhalb oder verbunden mit der syrischen Regierung sowie auch der sogenannte Islamische Staat unterliegen weiterhin Sanktionen durch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Großbritannien (HRW 11.1.2024). Die syrische Regierung nutzt die Erdbebenkatastrophe unterdessen, um für ein Ende westlicher Sanktionen zu werben (BAMF 13.2.2023). Die umfassenden Sanktionen gegen Syriens Machthaber, Unternehmer und Institutionen haben bislang nicht dazu geführt, dass Verhaltensänderungen eingetreten, politische Zugeständnisse erfolgt oder Menschenrechtsverletzungen abgestellt worden wären (SWP 4.2020). [Zu den Aus- und Nebenwirkungen der breiter gefassten Sanktionen auf die syrische Wirtschaft siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 wurden international nicht anerkannt und inmitten einer repressiven Ausgangslage und von Anschuldigungen von Wahlbetrug weder als fair noch frei eingestuft. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien - auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 20.3.2023). - Siehe auch Kapitel Politische Lage und zur Muslimbruderschaft siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen).
Die systematische Verfolgung von Oppositionsgruppen und anderen regimekritischen/-feindlichen Akteuren dauert unverändert an. Der Einsatz für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes und die Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien werden vom Regime regelmäßig als „terroristische Aktivitäten“, „Verschwörung gegen den Staat“, „Hochverrat“ oder ähnlich gravierende Verbrechen behandelt und entsprechend geahndet. In der Anwendungspraxis der regimekontrollierten syrischen Justiz reicht der Verdacht hierauf aus, um willkürlich vor Militärgerichtshöfen oder gesonderten Gerichtshöfen der Anti-Terror-Gesetzgebung von 2012 verfolgt zu werden, in denen im Grunde keinerlei Rahmenbedingungen eines fairen Rechtsverfahrens bestehen. Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu missbraucht, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Personen mit Verbindungen zu lokalen Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 20.3.2023). Gemäß dem Bericht der CoI von September 2022 sollen Mitarbeitende von zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen (NRO) verhaftet, die NROs selbst streng reguliert oder ohne ordentliches Verfahren aufgelöst und ihre Ressourcen eingefroren worden sein. Es bleibt dabei, dass sich die Risiken politischer Oppositionstätigkeit nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung beschränken. Die seit Beginn des Konflikts dokumentierten zahllosen Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, sexualisierter Gewalt, Folter und Tötung im Gewahrsam der Sicherheitskräfte sowie Mordanschlägen, stehen immer wieder in offensichtlichen Zusammenhängen zu regimekritischen Tätigkeiten der Betroffenen. Gewaltsame Unterdrückung jeglichen Widerspruchs bleibt das Mittel der Wahl für den Machterhalt des Regimes (AA 2.2.2024).
Weiterhin besteht laut deutschem Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert (AA 2.2.2024). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren, oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024). Außerdem sind Fälle von verhafteten Personen wegen ihres Kontakts zu Verwandten oder Freunden in von der Opposition kontrollierten Gebieten bekannt, bzw. wegen des Reisens zwischen den Gebieten der Regierung und anderer Organisationen. Es gibt auch Beispiele für Verhaftungen zwecks Rekrutierung (SNHR 17.1.2023).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Ungeachtet des in der syrischen Verfassung verankerten Verbots von Folter wenden Polizei, Justizvollzugsorgane und vor allem Sicherheits- und Geheimdienste systematisch Folterpraktiken an. Der bei Weitem größte Teil dokumentierter Anwendung von Folter wurde in Einrichtungen des Regimes begangen. Besonders hoch ist dabei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung, inklusive sexualisierter Gewalt, in den Verhöreinrichtungen der Sicherheitsdienste. Die CoI und das SNHR dokumentierten indes Fälle von Folter für den gesamten Konfliktzeitraum einschließlich des Berichtszeitraums auch durch oppositionelle bewaffnete Gruppierungen und terroristische Organisationen. Laut dem jüngsten Bericht von SNHR zu Folter von Juni 2022 und daran anschließenden Erhebungen sind seit Beginn des Konflikts mindestens 15.301 Menschen unter Folter zu Tode gekommen (AA 2.2.2024).
Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie (HRW 11.1.2024). Willkürliche Verhaftungen mit häufig daran anschließender Isolationshaft und sogenanntes „Verschwindenlassen“ von Personen bleiben im Syrienkonflikt ein allgegenwärtiges Phänomen. Ungefähr 87 Prozent dieser Fälle werden dem syrischen Regime zugeschrieben. Bei den Fällen von „Verschwindenlassen“, deren Zahl seit Beginn des Konflikts auf über 110.000 geschätzt wird, handelt es sich um Personen, deren Spuren sich bereits vor einer - nie erfolgten - offiziellen Bestätigung der Inhaftierung verliert. In aller Regel erhalten Angehörige jedoch nur in Ausnahmefällen Gewissheit, häufig erst nach Entlassung aus der Haft oder durch plötzlich erteilte Todesmeldungen, die jedoch nicht in jedem Fall belastbar sind. Wiederholt kam es nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen zu Fällen, in denen für tot erklärte Personen aus der Haft entlassen wurden (AA 2.2.2024). Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Dieses macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021). Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu verwendet, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Auch die genannten Amnestiedekrete führten nicht zu einem Rückgang willkürlicher Verhaftungen. Für die erste Jahreshälfte 2023 dokumentierte das SNHR bereits 1.047 solche Fälle. Einige dieser Verhaftungen seien durch Regimekräfte an der syrisch-libanesischen Grenze erfolgt, nachdem die Betroffenen durch libanesische Sicherheitskräfte dorthin verbracht worden waren. Willkürliche Verhaftungen gehen dabei von einer Vielzahl von Akteuren aus, insbesondere der Polizei, einer Vielzahl von konkurrierenden Geheimdiensten sowie von staatlich organisierten Milizen. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt auch, dass es auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung zu Verhaftungen kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen auch nach Ablauf der verhängten Strafmaße verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Die VN und das Rote Kreuz haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (AA 2.2.2024).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 20.3.2023). Es kommt auch weiterhin zu Beschlagnahmungen von Eigentum und Einschränkungen des Zugangs für Rückkehrende in ihre Herkunftsgebiete (HRW 11.1.2024).
Für das Jahr 2021 (USDOS 12.4.2022) und 2022 lagen keine bestätigten Berichte über den Einsatz von verbotenen Chemiewaffen vor, wobei Syrien weiterhin über reichlich Chemiewaffen sowie über das Knowhow zu deren Produktion und Einsatz verfügt (USDOS 20.3.2023). Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z. B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017, kurz vor dem tödlicheren Einsatz von Sarin in Khan Shaykhun (USDOS 12.4.2022).
Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus und der Cholera sowie über Menschenrechtsverletzungen seitens des Regimes aus. Es verbietet die Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Spannungen und Probleme, mit denen religiöse und ethnische Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 20.3.2023).
Im April 2022 aktualisierte das syrische Regime sein Cyberkriminalität-Gesetz, Gesetz Nr. 20 (2022), welches nun alle online getätigten Äußerungen unter schwere Strafen stellt, die verschiedene vage Strafbestände wie z. B. die Untergrabung 'des Ansehens des Staates' oder 'der nationalen Einheit' betreffen (FH 9.3.2023). Es bleibt zwar vage, welche Tatbestände genau unter das Gesetz fallen, doch die möglichen Strafen wurden drastisch erhöht: Nach Angaben der staatlich-syrischen Nachrichtenagentur Sana können Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren oder Geldstrafen von bis zu 15 Millionen syrischen Pfund verhängt werden. Menschenrechtsgruppen vermuten, dass der einzige Zweck dieses Gesetzes darin besteht, abweichende Meinungen zu verbieten (Qantara 28.6.2022). Die syrischen Behörden überwachen Online-Aussagen z. B. in Blogs und sozialen Medien sowohl von SyrerInnen im Land als auch außerhalb Syriens. Das Ausmaß der Überwachung der 'normalen BürgerInnen' soll im Jahr 2021 im Vergleich zu Beginn der Krise abgenommen haben, weil die Behörden sich aufgrund ihres (wiedererlangten) Einflusses weniger vor deren Aussagen fürchten. Kritik im Internet über die Wirtschaftskrise verbreitete sich so (NMFA 5.2022) - besonders auch in eigentlich loyalen Kreisen (FH 9.3.2023). Aber dies kann später trotzdem für die Betreffenden zum Problem werden. Gefangene werden teilweise nach ihren Konten in den Sozialen Medien befragt oder sogar zur Erlangung der Zugangsdaten gefoltert (NMFA 5.2022). Die Bestrafung abweichender Aussagen ist auch bei variierendem Einsatz des Überwachungsinstrumentariums hart (FH 9.3.2023).
Die Regierung weitete im Jahr 2022 die Manipulation von Internet-Diensten und -Inhalten wie auch Textnachrichten aus, einschließlich Falschnachrichten zur Unterminierung der Glaubwürdigkeit von Menschenrechtsgruppen und anderen humanitären Organisationen. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z. B. von E-Mails und Sozialen Medien von Gefangenen, AktivistInnen und anderen ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßigen Cyberattacken auf Websites, Hackangriffe und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein. Verhaftungen schüren die Sorge, dass die Behörden InternetbenutzerInnen jederzeit für Online-Aktivitäten, die als Bedrohung der Regimekontrolle wahrgenommen werden, verhaften könnten (USDOS 20.3.2023). Meta, der Firma zu der Facebook und WhatsApp gehören, z. B. entdeckte und entfernte im Oktober 2021 drei Hackergruppen der Syrian Electronic Army. Diese hatten Zugangsdaten zu Facebook-Konten und weitere sensible Informationen (z. B. Fotos, Kontaktlisten, Informationen über die verwendeten Geräte) gesucht (NMFA 5.2022)
Am 28.3.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem den Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die angebliche falsche oder übertriebene Nachrichten im Ausland verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist nun jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder anderweitig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das die Verbreitung von Nachrichten bestraft, die als Imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.4.2022). Das Gesetz verbietet überdies die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Die syrische Regierung hat auch die Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.5.2020).
Die Verfassung garantiert nominell die Pressefreiheit, aber in der Praxis werden die Medien stark eingeschränkt, und JournalistInnen, die kritisch über den Staat berichten, sind Ziele der Zensur sowie von Verhaftungen, Folter und Tod in Gefangenschaft. Alle Medien benötigen eine Erlaubnis des Innenministeriums. Private Medien im Regierungsgebiet gehören generell Personen mit Verbindungen zum Regime (FH 9.3.2023).
Schwerste Repressionen gegen Medienschaffende blieben in Syrien alltäglich. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (RSF) steht Syrien 2022 auf Rang 171 von 180. JournalistInnen sind in Syrien allgemein gefährdet, besonders durch Regimekräfte und extremistische Gruppen (AA 2.2.2024). Laut dem Committee to Protect Journalists (CPJ) wurden zwischen 2011 und 2022 142 MedienmitarbeiterInnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Weitere fünf wurden verhaftet und acht Personen gelten mit Stand Dezember 2022 als vermisst (FH 9.3.2023).
Die akademische Freiheit ist stark eingeschränkt. UniversitätsprofessorInnen im Regierungsgebiet werden wegen abweichender Meinungen entlassen oder inhaftiert und einige wurden aufgrund ihrer Unterstützung von Oppositionellen getötet (FH 9.3.2023).
Staatliche und nicht-staatliche Akteure begehen Akte sexueller Gewalt gegen Männer, Buben, Transgender-Frauen und non-binäre Menschen. Gemäß Artikel 520 des syrischen Strafrechts ist 'unnatürlicher Geschlechtsverkehr' mit bis zu drei Jahren Gefängnis strafbar (HRW 11.1.2024; vergleiche FH 9.3.2023).
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
Die Zahl der Übergriffe und Repressionen durch nichtstaatliche Akteure einschließlich der de-facto-Autoritäten im Nordwesten und Nordosten Syriens bleibt unverändert hoch. Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend. In den Gebieten, die durch regimefeindliche bewaffnete Gruppen kontrolliert werden, kommt es auch durch einige dieser Gruppierungen regelmäßig zu Übergriffen und Repressionen (AA 2.2.2024). In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UNCOI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlastet. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u. a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Im Fall von Free Syrian Army, HTS, bzw. Jabhat an-Nusra, sowie besonders vom IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNCOI 11.3.2021)
Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten und Rekrutierungen von Kindersoldaten (USDOS 20.3.2023). Personen, welche in Verdacht geraten, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu haben, sind in Gebieten extremistischer Gruppen der Gefahr von Exekutionen ausgesetzt (FH 9.3.2023).
HTS ging teils brutal gegen politische Gegner vor, denen z. B. Verbindungen zum Regime, Terrorismus oder die „Gefährdung der syrischen Revolution“ vorgeworfen würden. Weiterhin legen die Berichte nahe, dass Inhaftierten Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen und Rechtsbeiständen vorenthalten werden. Auch sei HTS, laut Berichten des SNHR, für weitere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, vor allem in den Gefängnissen unter seiner Kontrolle (AA 2.2.2024).
In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Berichtet wurden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten, wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der CoI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab as-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden. Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der UNCOI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch HTS-Mitglieder (AA 29.11.2021), auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021; vergleiche AA 2.2.2024). Zusätzlich verhaftete HTS eine Anzahl von IDPs unter dem Vorwand, dass diese sich weigerten, in Lager für IDPs zu ziehen, und HTS verhaftete auch BürgerInnen für die Kontaktierung von Familienangehörigen, die im Regierungsgebiet lebten (SNHR 3.1.2023).
Auch in den von der Türkei bzw. von Türkei-nahen SNA kontrollierten Gebieten im Norden Syriens kam es laut CoI vielfach zu Übergriffen und Verhaftungen sowie Folter, die insbesondere die kurdische Zivilbevölkerung beträfen. Auch sei es zu sexuellen Übergriffen durch Angehörige der SNA gekommen (AA 2.2.2024). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut CoI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021). In vielen Fällen befänden sich Kurdinnen und Kurden laut der UN-Kommission in einer doppelten Opferrolle: Nach einer früheren Zwangsrekrutierung durch die kurdischen SDF in vorherigen Phasen des Konflikts mit der Türkei würden sie nun für eben diesen unfreiwilligen Einsatz von der SNA verfolgt und inhaftiert. Auch darüber hinaus sind in SNA-Gebieten Fälle von willkürlichen Verhaftungen, Isolationshaft ohne Kontakt zur Außenwelt sowie Fälle von Folter in Haft von der UN-Kommission verzeichnet. Der grundsätzlich bestehende Rechtsweg, um sich gegen ungerechtfertigte Inhaftierungen rechtlich zur Wehr zu setzen, ist laut UN-Einschätzung aufgrund langer Verfahrensdauern nicht effektiv (AA 29.3.2023).
Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter Angriffe auf Wohngebiete, willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Versammlungs- und Redefreiheit wie auch die willkürliche Zerstörung von Häusern. Die SDF untersuchen die meisten gegen sie vorgebrachten Klagen, und einige SDF-Mitglieder werden wegen Misshandlungen angeklagt, wozu aber keine Statistiken vorliegen (USDOS 20.3.2023). Die SDF führten im Jahr 2023 willkürliche Verhaftungen von Zivilisten, darunter Journalisten durch (HRW 11.1.2024). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023). Im Nordosten Syriens dokumentierte die CoI im Berichtszeitraum mehrere Todesfälle in den Zentralgefängnissen von Hasakeh und Raqqa und stellt fest, dass diese möglicherweise auf schlechte Behandlung oder Folter zurückzuführen sein könnten. Laut SNHR seien im Gewahrsam der SDF / Partei der Demokratischen Union (PYD) seit März 2011 insgesamt 96 Menschen durch Folter zu Tode gekommen. Kontakte der Botschaft berichteten zudem von Repressionen durch die kurdische sogenannte „Selbstverwaltung“ (AANES) gegen politische Gegner, wie z.B. Angehörige von Oppositionsparteien. Daneben kritisiert die CoI in ihrem jüngsten Bericht auch die, ihrer Einschätzung nach, menschenrechtswidrige Inhaftierung und Behandlung zehntausender IS-Affiliierter in nordostsyrischen Haftanstalten und lagerähnlichen Camps (AA 2.2.2024). Obwohl der Spielraum der Redefreiheit etwas größer ist, als in Gebieten unter Kontrolle der Regierung oder extremistischer Gruppierungen, schränkt die PYD und einige andere Oppositionsfraktionen Berichten zufolge auch die Redefreiheit ein. So suspendierte die PYD-geführte Verwaltung im Februar 2022 die Lizenz der im Nordirak ansässigen Rudaw-Mediengruppe unter dem Vorwurf der Falschinformation und Aufhetzung. Mitte März 2022 verlangte dieselbe Verwaltung von JournalistInnen den Beitritt zur Union of Free Media, welche sich unter ihrem Einfluss befindet (FH 9.3.2023).
Quellen:
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● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 18.3.2023
● BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (13.2.2023): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw07-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=2, Zugriff 18.3.2023
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● HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103131.html, Zugriff 22.1.2024
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 11.3.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2066258/SYRI_%C3%96B-Bericht_2021_09.pdf, Zugriff 25.4.2023
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● SNHR – Syrian Network for Human Rights (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (3.1.2023): At Least 2,221 Arbitrary Arrests/Detentions Documented in Syria in 2022, Including 148 Children and 457 Women (Adult Female), with 213 Cases Documented in December, https://reliefweb.int/attachments/3c04e970-9bb3-454b-be71-01d014c3d6d8/M230102E.pdf, Zugriff 21.4.2023
● SNHR – Syrian Network for Human Rights (28.4.2022): Laws 15 and 16 of 2022 Issued by the Syrian Regime: Textually Flawed and Impossible to Implement, https://snhr.org/wp-content/uploads/2022/04/R220417E.pdf, Zugriff 25.4.2023
● SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2020): Wiederaufbau in Syrien. Herausforderungen und Handlungsoptionen für die EU und ihre Mitgliedstaaten, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2020S07_Syrien.pdf, Zugriff 18.3.2023
● UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://undocs.org/en/A/HRC/52/69, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023
● UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (11.3.2021): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/HRC/46/55&Lang=E, Zugriff 7.7.2023
● USDOS - USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 25.4.2023
1.3.7 Haftbedingungen
Letzte Änderung 13.03.2024
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.3.2023). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind überdies stark überfüllt. Es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind (USDOS 20.3.2023). Diese Lage geht mit grassierenden Krankheiten (AA 2.2.2024), und mit einer entsprechend hohen Sterberate einher (USDOS 20.3.2023). Die hygienischen Zustände sind laut Auswärtigem Amt "katastrophal". Dies gilt generell, jedoch in besonderem Maße für diejenigen Gefängnisse, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind (AA 2.2.2024), und laut US-Außenministerium insbesondere in Hafteinrichtungen der Sicherheits- und Nachrichtendienste (USDOS 20.3.2023).
Besondere Bedürfnisse von Frauen werden kaum oder gar nicht berücksichtigt. Berichten zufolge müssen Frauen in Gefängnissen ohne jegliche Unterstützung entbinden und für ihre Kinder sorgen. Eine Versorgung mit Milch oder Hygieneartikeln erfolgt allenfalls durch Besucher, sofern sie in der entsprechenden Haftanstalt erlaubt sind (AA 2.2.2024).
Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen [Anm.: zu Hinrichtungen und Tod durch Folter - siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtlichen Tötungen sowie Folter und unmenschliche Behandlung] von Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt. Neben gewaltsamen Todesursachen ist eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auch auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 2.2.2024). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren (AA 2.2.2024).
Anmerkung: Weitere Informationen zu den Hafteinrichtungen (z. B. Saydnaya Gefängnis) sowie dortigen Zuständen und Menschenrechtsverletzungen befinden sich besonders in den Kapiteln je zu Folter und Todesstrafe. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst. Mehr zu Art und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen durch die jeweiligen bewaffneten Gruppen ist auch im Kapitel zur Sicherheitslage zu ihren jeweiligen Gebieten nachlesbar.
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 17.4.2023
● SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 10.3.2023
● SNHR - Syrian Network for Human Rights (26.6.2022): The 11th Annual Report on Torture in Syria on the International Day in Support of Victims of Torture, https://snhr.org/wp-content/uploads/2022/06/R220610E.pdf, Zugriff 9.3.2023
● STJ - Syrians for Truth & Justice (12.7.2022): Syria: Anti-Torture Law Issued 35 Years After the Convention against Torture Went Effective, https://stj-sy.org/en/syria-anti-torture-law-issued-35-years-after-the-convention-against-torture-went-effective/, Zugriff 10.3.2023
● USDOS – United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 17.4.2023
1.3.8 Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen
Letzte Änderung 13.03.2024
Todesfälle in der Haft und standrechtliche Hinrichtungen wurden in Hafteinrichtungen aller Parteien dokumentiert (UNHRC 17.11.2021). Keine der Konfliktparteien in Syrien veröffentlicht Informationen über den Verbleib von Gefangenen und die Gründe für ihre Verhaftung, noch stellen sie Dokumentationen zu den Urteilen zur Verfügung - auch nicht bei Verhängung der Todesstrafe. Daher ist der Großteil der Familien nicht über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert, zumal die große Mehrheit der Gefangenen "verschwunden" wird (SNHR 2.2.2023).
Gebiete unter Regimekontrolle
Die syrische Strafgesetzgebung sieht für Mord, schwere Drogendelikte, Terrorismus, Hochverrat und weitere Delikte (AA 2.2.2024), wie auch zum Beispiel die Zerstörung öffentlicher Gebäude und Transport- sowie Kommunikationswege, die Todesstrafe vor (UNHRC 17.11.2021). In der juristischen Praxis wird der Begriff Hochverrat sehr weit gefasst und kann schon bei wahrgenommener Dissidenz erfüllt sein. Dies dient nicht zuletzt politischen Zwecken: Politische Gegner, bewaffnete Rebellen oder die humanitär tätigen syrischen „Weißhelme“ werden weitgehend unterschiedslos als „Terroristen“ eingestuft und sind damit von der Todesstrafe bedroht. Nach Definition des Regimes können bereits die Belieferung von Gebieten unter Kontrolle der Opposition mit humanitären Gütern oder die medizinische Behandlung von Oppositionellen mit der Todesstrafe geahndet werden. Urteile wegen Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft, auf welche ebenfalls die Todesstrafe steht, werden seit einigen Jahren in der Regel in zwölfjährige Freiheitsstrafen umgewandelt (AA 2.2.2024). Seit dem Beschluss eines Gesetzes gegen Folter am 30.3.2022 steht auch auf Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit Vergewaltigung die Todesstrafe. Allerdings ist laut der United Nations Independent International Commission of Inquiry Folter und Misshandlung in Haft in Syrien systematisch - auch im Saydnaya-Gefängnis und mehreren anderen Haftanstalten der syrischen Nachrichtendienste (HRW 12.1.2023).
Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien (so zuletzt Legislativdekret 7/2022) verringern ausgesprochene Todesurteile zum Teil auf lebenslange harte Strafarbeit oder stellen eine Freilassung in Aussicht. In der Rechtspraxis kommen die Amnestien aufgrund großzügig ausgelegter Ausnahmetatbestände und prozeduralen Hindernissen jedoch nur in Einzelfällen zur Anwendung, dabei oftmals infolge der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Amtsträger im Justiz- und Sicherheitswesen (AA 2.2.2024).
Eine quantitative Bewertung von verhängten Todesurteilen bzw. deren Vollstreckung ist auch im Berichtszeitraum nicht möglich, da seit Beginn des bewaffneten Konflikts keine offiziellen Zahlen zu vollstreckten Todesurteilen mehr veröffentlicht werden. Erschwert wird die Erfassung von vollstreckten Todesurteilen durch Tötungen und Hinrichtungen von Inhaftierten ohne Anklage oder Urteil. Die United Nations Independent International Commission of Inquiry (CoI) dokumentierte auch im Sonderbericht zur Haftsituation in Syrien sowie in späteren Berichten eine hohe Zahl von Fällen solcher außergerichtlichen Hinrichtungen in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 2.2.2024). Die Todesstrafe wird oftmals ohne vorangegangenes faires Verfahren und im Geheimen vollstreckt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Ein Überprüfungsausschuss, dessen Mitglieder von Präsident Assad eingesetzt werden, ist befugt, die von syrischen Strafgerichten verhängten Todesstrafen zu überprüfen, nicht aber die der Sondergerichte wie Anti-Terrorismus-, Militär- und Feldgerichte (STJ 7.6.2022)
Es gibt zahlreiche Berichte über Todesfälle in Regierungsgewahrsam durch Hinrichtungen ohne fairen Prozess, durch Folter oder durch andere Formen der Misshandlung, wie etwa Mangelernährung und fehlende medizinische Versorgung, namentlich z. B. in der Haftanstalt des Mezzeh Flughafens, in den Abteilungen 215 und 235 des Militärnachrichtendiensts und im Saydnaya Gefängnis (USDOS 20.3.2023).
- Das Gefängnis von Saydnaya/Sednaya
Besonders viele Hinrichtungen entfallen nach zahlreichen Berichten auf das Zentralgefängnis von Saydnaya nahe Damaskus, in dem vornehmlich politische Gefangene festgehalten werden (AA 2.2.2024). Amnesty International schätzte 2017 allein die Zahl der zwischen 2011 und 2015 in Saydnaya hingerichteten Personen auf mindestens 13.000 Menschen (AI 22.10.2021). Im Jahr 2017 äußerte die US-Regierung öffentlich die Vermutung, dass syrische Behörden in Saydnaya jeden Freitag eine zwei- bis dreistellige Anzahl Häftlinge hinrichteten und hierfür eigens ein Krematorium angelegt hätten, um die Leichen von Gefangenen ohne Spuren zu beseitigen, was in den Jahren 2018 und 2019 durch Medienrecherchen untermauert wurde (AA 2.2.2024). Auch im Jahr 2021 gab es weitere Berichte über Hunderte Tote im Saydnaya-Gefängnis und den Einrichtungen der Sicherheitsdienste sowie über Dutzende Tote nach einem Gefangenentransfer in das Tishrin Militärhospital. Ehemalige Insassen von Saydnaya berichteten auch über anhaltende Todesfälle durch Folter und unmenschliche Behandlung vor dem Hintergrund von weitverbreitetem Hunger und Tuberkulose (UNCOI 13.8.2021).
- Hinrichtungen und Attentate, die mit dem Beilegungsabkommen von Dara'a in Zusammenhang gebracht werden
Der NGO Global Voices zufolge hielt sich das Regime nie an die Bedingungen des Abkommens und ging weiterhin gegen Mitglieder der Opposition vor. Das Dara'a Martyrs' Documentation Office meldete im Jänner 2021 die Hinrichtung von 83 militärischen Gegnern des Regimes, welche ein Beilegungsabkommen unter Vermittlung der russischen Militärpolizei angenommen hatten, sowie von 31 weiteren Personen, welche das Abkommen nicht angenommen hatten (USDOS 12.4.2022). Im ersten Halbjahr 2022 wurden über 100 Personen in Dara'a getötet, was ein Muster von Attentaten durch Unbekannte auf ehemalige Mitglieder aufständischer und regierungstreuer Einheiten fortsetzte. Das Dara'a Martyrs' Documentation Office meldete 90 Attentatsversuche, welche mit dem Tod von 51 Personen endete - darunter 31 Zivilisten sowie frühere Oppositionskämpfer, welche Beilegungsabkommen mit dem Regime unterzeichnet hatten. Letztere gehören zu den Profilen, welche besonders als Ziel für derartige Attentate gestuft werden (USDOS 20.3.2023).
Landesteile außerhalb der Regierungskontrolle
In den oppositionellen Gebieten variieren gesetzliche und gerichtliche Abläufe je nach Ort und dominierender bewaffneter Gruppe. Lokalverwaltungen übernehmen diese Zuständigkeiten teils unter Anwendung von Gewohnheitsrecht, aus der Scharia abgeleitet, teils unter Heranziehung nationaler Gesetze. Urteile in Scharia-Räten führen manchmal zu Hinrichtungen ohne Berufungsprozess oder Besuch von Familienmitgliedern (USDOS 29.3.2023). Im Laufe des bewaffneten Konflikts wurden wiederholt auch Hinrichtungen von gefangenen Angehörigen der syrischen Sicherheitskräfte durch bewaffnete, zumeist radikalislamische Oppositionsgruppen und terroristische Gruppierungen von der UNO dokumentiert (AA 2.2.2024).
Der sogenannte Islamische Staat (IS) führte Hinrichtungen in der Öffentlichkeit durch und zwang die Bewohner - auch Kinder - zuzusehen (UNHRC 17.11.2021). Bis zu seiner territorialen Niederlage im April 2019 tötete der IS Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder durch öffentliche Hinrichtungen, wie Kreuzigungen und Enthauptungen unter dem Vorwurf des Glaubensabfalls, der Blasphemie und der Homosexualität (USDOS 10.6.2020). Im Lager al-Hol wurden von Jänner bis November 2022 mindestens 42 Personen ermordet, darunter vier Kinder (USDOS 20.3.2023; Anmerkung, zum al-Hol Lager siehe auch Unterkapitel über Sicherheitslage in Nordostsyrien sowie zum Rechtsschutz in Nordost-Syrien).
Im Jahre 2020 führten türkische Truppen und die Syrian National Army (SNA) mindestens sieben standrechtliche Hinrichtungen in den von ihnen besetzten Gebieten im Nordosten Syriens durch (HRW 13.1.2021). Im Jahr 2022 führten von der Türkei unterstützte syrische Oppositionsgruppen Berichten zufolge ebenfalls außergerichtliche Hinrichtungen durch. Laut SNHR tötete die SNA 24 Zivilisen, darunter sechs Frauen und sieben Kinder. Laut der "Syrischen Interimsregierung" untersuchten Militärgerichte im Jahr 2021 mindestens 169 Fälle von Verbrechen von Kleindiebstahl bis hin zu Mord, aber für 2022 legte sie keine Zahlen vor. Die Angeklagten gehörten zu verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen, und ihre Prozesse fanden in vielen Fällen in absentia statt. Menschenrechtsaktivisten kritisierten die Reformen als nicht glaubwürdig, und dass keine Täter zur Verantwortung gezogen würden (USDOS 20.3.2023).
Auch Hay'at Tahrir ash-Sham, die überwiegend mehrere Regionen in Idlib kontrolliert, hat Berichten zufolge standrechtliche Hinrichtungen durchgeführt (HRW 13.1.2021) - so auch der CoI zufolge. Den Hingerichteten - darunter auch Frauen - wurden Verbrechen von Mord über Ehebruch bis zu Vergewaltigung vorgeworfen. Mindestens zwei Kinder wurden Berichten zufolge zum Tod verurteilt (UNCOI 13.3.2023).
Das selbst ernannte Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) hat die Todesstrafe im Jahr 2016 abgeschafft (NMFA 5.2022).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AI - Amnesty International (22.10.2021): Syria: Chilling execution spree with 24 people put to death over last year’s wildfires, https://www.ecoi.net/de/dokument/2062813.html, Zugriff 18.3.2023
● HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 16.3.2023
● HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043510.html, Zugriff 18.3.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 18.3.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 18.3.2023
● SHRC – Syrian Human Rights Committee (1.2023): The 21st Annual Report On Human Rights in Syria 2022, https://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2023/01/21st-report_En.pdf, Zugriff 18.3.2023
● SNHR – Syrian Network for Human Rights (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (2.2.2023): At Least 178 Arbitrary Arrests/Detentions Documented in Syria in January 2023, Including 14 Children and Seven Women, https://reliefweb.int/attachments/c88bd5e3-89c6-47f7-82ed-5a0e63970653/M230202E.pdf, Zugriff 16.3.2023
● STJ - Syrians for Truth & Justice (7.6.2022): Syria: The President Enforces Death Sentences through a Formal Pardon Committee, https://stj-sy.org/en/syria-the-president-enforces-death-sentences-through-a-formal-pardon-committee/, Zugriff 18.3.2023
● UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (13.3.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G23/010/21/PDF/G2301021.pdf?OpenElement, Zugriff 18.3.2023
● UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (13.8.2021): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G21/223/82/PDF/G2122382.pdf?OpenElement, Zugriff 18.3.2023
● UNHRC - United Nations Human Rights Council (17.11.2021): Compilation on the Syrian Arab Republic, Report of the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, https://www.ecoi.net/en/file/local/2065950/A_HRC_WG.6_40_SYR_2_E.pdf, Zugriff 18.3.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 18.4.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 18.3.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (11.6.2020): 2019 Report on International Religious Freedom - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2031230.html, Zugriff 18.3.2023
1.3.9 Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Letzte Änderung 13.03.2024
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).
Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 Prozent der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).
Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 8.12.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).
Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 8.12.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 2.2.2024). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).
Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (FP 1.2.2023).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte 'Versöhnungskarte' vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019).
Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).
Ausländischen DiplomatInnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) - wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (USDOS 20.3.2023).
Anmerkung, Zum dahinschwindenden öffentlichen Verkehrssystem und seinen gestiegenen Fahrpreisen siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Betreten und Verlassen des Regimegebiets
Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).
Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).
Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung Anmerkung, mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung Anmerkung, mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022).
Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen - landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (NMFA 5.2022).
Anmerkung, Bezüglich der Frage, welche Personen unter welchen Bedingungen dauerhaft in ihre Heimatorte im Selbstverwaltungsgebiet zurückkehren können, wird auf die folgende AFB verwiesen: ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.5.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak [a-11859-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2073007.html, Zugriff 15.5.2023
Die Bewegungsfreiheit von Frauen sowie ihre Einschätzung von Gefahren im öffentlichen Raum
Die vorherrschende Gewalt und starke kulturelle Zwänge schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten stark ein. In Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen und terroristischen Gruppen wie der islamistischen Miliz Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert werden, schränken diese ebenfalls die Bewegungsfreiheit ein. HTS schreibt Frauen unter anderem vor, dass sie nicht alleine leben dürfen, und dass sie sich nur in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds (mahram) in die Öffentlichkeit begeben dürfen (USDOS 20.3.2023). In der Umfrage von UNFPA (UN Population Fund) veröffentlichten Umfrage sehen 55 Prozent der befragten Haushalte demnach Kontrollpunkte in ihrer Umgebung als Orte, an denen sich Frauen und Mädchen Gefahren ausgesetzt fühlen. 59 Prozent schätzt öffentliche Verkehrsmittel als für Frauen und Mädchen unsicher ein sowie 56 Prozent in Bezug auf Märkte (UNFPA 28.3.2023):
UNFPA 28.3.2023
Anmerkung, Informationen zu Zugangsbeschränkungen zu Herkunftsgebieten siehe Kapitel "Rückkehr".
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff: 15.2.2024
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.12.2023): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung Stand - 5.3.2024 (Unverändert gültig seit: 8.12.2023), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278, Zugriff 5.3.2024
● DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (9.2019): Syria - Access to Damascus Province for Individuals from Former Rebel-held Areas, https://www.ecoi.net/en/file/local/2017468/COI_report_Syria_Access+to+Damascus+Province_sept_2019.pdf, Zugriff 15.5.2023
● DIS/DRC - Danish Immigration Service [Dänemark] / Danish Refugee Council (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/Syrien_FFM_rapport_2019_Final_31012019.pdf?la=da&hash=A4D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC, Zugriff 15.5.2023
● FP - Foreign Policy (Lister, Charles) (1.2.2023): Something Has to Give in Postwar Syria, https://foreignpolicy.com/2023/02/01/something-has-to-give-in-postwar-syria/, Zugriff 15.5.2023
● HRW - HRW – Human Rights Watch (20.10.2021): 'Our Lives Are Like Death'; Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2062564/syria1021_web.pdf, Zugriff 15.5.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria May 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 29.4.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria June 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 29.4.2023
● UNFPA – United Nations Population Fund, GPC – Global Protection Cluster (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (28.3.2023): Whole of Syria; Gender-Based Violence Area of Responsibility; Voices from Syria 2023; Assessment Findings of the Humanitarian Needs Overview, https://reliefweb.int/attachments/338b5a3e-2c43-405b-8298-86612ec88e09/Voices%20from%20Syria%202023_FINAL_online%20version_En.pdf, Zugriff 29.4.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Letzte Änderung 13.03.2024
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern (USDOS 20.3.2023). Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).
In Syrien betragen die Kosten für einen Reisepass aktuell 7 USD im regulären Verfahren und 56 USD im sogenannten „Expressverfahren“, welches dennoch mehrere Wochen dauern kann. Im Ausland liegen die Kosten bei 300 USD für das Regel- und 800 USD für das Expressverfahren. Die Gültigkeit beträgt in der Regel nur zwei Jahre. Damit ist der syrische Pass einer der teuersten der Welt. Seit Ende 2022 lässt sich beobachten, dass Ämter in Aleppo und Hama wieder Reisepässe für vertriebene syrische Staatsangehörige aus Oppositionsgebieten ausstellen, bei denen als Ausstellungsort „Idlib Center“ angegeben wird. Eine (nicht-repräsentative) Preisermittlung durch Forschungspartner des Auswärtigen Amts hat ergeben, dass etwa die Gebühren für Reisepässe für syrische Staatsangehörige in den Oppositionsgebieten nahe an den im Ausland erhobenen Preisen liegen (Idlib: 700 USD, Azaz 600 USD) und selbst einfache Auszüge um ein Vielfaches teurer sind als in den Regimegebieten (Idlib 60 USD, Azaz 50 USD). Eine Ausnahme bildet al-Qamishli im Nordosten, wo das Regime in Abstimmung mit den sogenannten Selbstverwaltungsbehörden ein Sicherheits- und Verwaltungszentrum unterhält, in dem entsprechende Dienstleistungen günstiger ausfallen (Reisepass: 300 USD, Registerauszug 6 USD). Die Selbstbeschaffung durch Passieren informeller Checkpoints an der Front ist sowohl lebensgefährlich als auch teuer (1.000 USD/Strecke) (AA 2.2.2024).
Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023) Anmerkung, Bzgl. der Schließung von zivilen Flughäfen wegen israelischer Luftangriffe siehe auch Kapitel Sicherheitslage). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise eingestellt werden (AA 2.2.2024).
Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022) Anmerkung, bzgl. Personenverkehr zwischen Türkei und Syrien seit 6.2.2023 siehe auch Kapitel Rückkehr).
Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen per Antrag an das Innenministerium die Ausreise aus Syrien zu verbieten, auch wenn Frauen, die älter als 18 Jahre sind, eigentlich das Recht haben, ohne die Zustimmung männlicher Angehöriger zu verreisen (USDOS 20.3.2023).
Einige in Syrien aufhältige PalästinenserInnen brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).
Anmerkung, Für weitere Informationen zu Einreisemöglichkeiten in Nachbarländer siehe Abschnitt „Bewegungsfreiheit“ und die jeweiligen Länderinformationsblätter zum Libanon und Jordanien, den einzigen Nachstaaten, welche ebenfalls Mandatsgebiet von UNRWA sind. Dort finden sich auch Informationen, aus denen hervorgeht, dass eine legale Umsiedlung von staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien nicht vorgesehen ist, und auch eine etwaige UNRWA-Registrierung nicht zu einer Legalisierung des Aufenthalts oder etwa zu einem gesicherten, dauerhaften Aufenthaltsrecht führt, wie das seit Oktober 2012 geltende Einreiseverbot Jordaniens für Palästinenser illustriert.
Rückkehr
Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).
Anmerkung, Zur Sammlung nachrichtendienstlicher Informationen im Zuge von Dokumentenanträgen an syrischen Botschaften inklusive Bedingung der Offenlegung des Aufenthaltstitels siehe AFBs zu den jeweiligen Dokumenten. Für grundsätzliche Informationen siehe: BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Syrien: SYRI_SM_Sammlung von Personendaten für nachrichtendienstliche Zwecke 2019_11_04_KE
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 Prozent (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen an Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus (AA 2.2.2024).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022) Anmerkung, bzgl. Abfrage derartiger Daten bei Verhören siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).
Anmerkung, für weitere Informationen siehe Kapitel "Rückkehr".
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.5.2023): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung Stand - 15.5.2023 (Unverändert gültig seit: 31.03.2022), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278, Zugriff 16.5.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 11.3.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand Ende Dezember 2022) [Der Bericht ist in der Staatendokumentation archiviert.]
● STDOK – Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 16.5.2023
● UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://undocs.org/en/A/HRC/52/69, Zugriff 18.3.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
Binnenvertriebene (IDPs) und Flüchtlinge
Letzte Änderung 13.03.2024
Binnenvertriebene (IDPs)
Ende 2022 waren 12,4 Millionen SyrerInnen weiterhin entweder Flüchtlinge außerhalb des Landes oder Binnenvertriebene (IDPs - internally displaced persons) in Syrien. Es kam zu keinen bedeutenden Rückkehrbewegungen, und so betrug die Zahl der syrischen Flüchtlinge 5,5 Millionen Menschen. Die Anzahl der IDPs stieg auf 6,9 Millionen Menschen - ein Drittel der Bevölkerung und ein Anstieg um 100.000 Personen seit Ende 2021 (WFP 8.4.2023). UNOCHA weist darauf hin, dass es sich um die höchste Zahl an Binnenvertriebenen weltweit handelt. Bereits vor dem Erdbeben (am 6.2.2023) waren fast 80 Prozent der IDP-Haushalte mindestens fünf Jahre vertrieben, und viele durchlebten mehrere Vertreibungen (UNOCHA 14.2.2023) [Anm.: die genauen Zahlen an Flüchtlingen und IDPs variieren je nach Quelle und Berichtszeitpunkt]. Umfassende und landesweite Informationen über Binnenvertreibung fehlen (UNOCHA 14.2.2023).
Während einige SyrerInnen begannen, in ihre Heime in Gebiete zurückzukehren, wo die Kampfhandlungen nachgelassen haben, kam es im Laufe von 2022 auch zu neuer Gewalt und neuen Fluchtbewegungen (FH 9.3.2023). Bei den intern Vertriebenen (IDPs) blieb mit 356.000 RückkehrerInnen die Zahl gegenüber 2019 (1,2 Mio.) weit zurück, wobei der Großteil der Bewegungen innerhalb der Gouvernements erfolgte. Bis August 2020 kehrten rund 300.000 Menschen zurück, der Großteil davon innerhalb/nach Idlib und Aleppo. Die Zahlen der neu Vertriebenen sind erneut weit höher; es gab 2020 wie im Jahr zuvor 1,8 Mio. IDP-Bewegungen insgesamt. Im Zuge der Eskalation des Konfliktes in Idlib wurden von Dezember 2019 bis März 2020 knapp 1 Mio. Menschen vertrieben (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonder vulnerabel bezüglich sexueller Ausbeutung oder durch Arbeit sowie bezüglich Menschenhandel. Dies trifft auch auf die relativ stabilen Gebiete unter Regierungskontrolle zu, denn dort ist der Zugang zu Arbeit und Investitionen oft von persönlichen oder politischen Beziehungen bzw. Beziehungen auf Basis der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, abhängig (FH 9.3.2023).
Im Zeitraum 6. bis 8.2.2023 [Anm.: zum Erdbeben vom 6.2.2023 siehe auch Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft] wurden mehr als 30.000 Fluchtbewegungen in Nordwest-Syrien verzeichnet. Es ist wahrscheinlich, dass viele IDPs nochmals vertrieben werden. Berichte dazu gibt es bereits aus Deir-ez-Zor, Aleppo, Hama, Lattakia und Tartus. Das Erdbeben hat nicht nur weitere Fluchtbewegungen aufgrund beschädigter/unsicherer Unterkünfte verursacht, sondern auch die Aussichten für eine sichere Rückkehr von denjenigen bereits binnenvertriebenen Personen verringert, die ursprünglich aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten stammen (UNOCHA 14.2.2023).
Sicheres Obdach ist eines der Hauptbedürfnisse nach dem Erdbeben (UNOCHA 14.2.2023). Im Dezember 2022 [Anm.: also noch vor dem Erdbeben vom 6.2.2023] lebten in Syrien bereits 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien – in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des Humanitarian Needs Assessment Programme der UNO von 2020 wohnten 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023). Im August 2022 lebten 30 Prozent der IDPs außerhalb von Lagern, und 43 Prozent der zurückgekehrten, ehemals binnenvertriebenen Haushalte in Nordwest-Syrien lebten in risikoanfälligen Unterkünften, z. B. bezüglich Wetterereignissen und Naturkatastrophen (UNOCHA 14.2.2023).
Einen Durchbruch gab es im Berichtszeitraum laut dem jüngsten Bericht der CoI (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen) im Vertriebenenlager in Rukban innerhalb der von den USA garantierten sogenannten „deconflicting zone“ an der Grenze zu Jordanien. Schätzungen zufolge leben dort noch rund 7.500 Menschen (rund 80 Prozent davon Frauen und Kinder) unter prekären Bedingungen, ohne zuverlässige Versorgung und hinreichenden Zugang zu medizinischen Einrichtungen. Im Juni 2023 erreichte erstmals seit 2019 wieder ein humanitärer Konvoi mit landwirtschaftlichen Gütern, Ausrüstung und Schulmaterial das Lager Rukban. Von den VN unterstützte Versuche einer Evakuierung des Lagers in dafür vorgesehene Aufnahmelager im durch das Regime kontrollierten Homs waren 2019 gescheitert, vermutlich in erster Linie aus Sicherheitserwägungen (AA 2.2.2024).
Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut dieser Berichte haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Die Regierung verwendete weiterhin Gesetz Nr. 10 bezüglich Zonen für einen Wiederaufbau, um regierungstreue Personen zu belohnen und Flüchtlinge und IDPs daran zu hindern, ihr Eigentum einzufordern oder in ihre Heimat zurückzukehren (USDOS 2.6.2022). Als Gründe für die Rückkehr/Nichtrückkehr wird von den Betroffenen neben der Sicherheitslage zunehmend die schlechte wirtschaftliche Situation ins Treffen geführt. Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom sogenannten Islamischen Staat gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir-Ez-Zor). Laut Mitteilung von UNMAS (United Nations Mine Action Service) vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen - also rund 50 Prozent der Bevölkerung - dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs. Ein Drittel aller Opfer von Explosionen ist gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden, und mehr als 20 Prozent haben Gehör- oder Sehvermögen verloren. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: zu Gefahren von Explosivstoffen besonders für Kinder siehe auch das Unterkapitel Kinder im Kapitel Relevante Bevölkerungsgruppen].
Anmerkung, Für weitere Informationen zur Lage von Binnenvertriebenen siehe Kapitel 'Grundversorgung und Wirtschaft' sowie zur Rückkehr, bzw. Rückkehrhindernissen, von Binnenvertriebenen siehe Kapitel Rückkehr.
Flüchtlinge unter UNHCR-Mandat
Laut UNHCR-Schätzung halten sich zusätzlich zu den palästinensischen Flüchtlingen ungefähr 22.800 Flüchtlinge oder Asylsuchende in Syrien auf, die mit Stande Ende September 2022 bei UNHCR registriert waren. Flüchtlinge und Asylsuchende waren Risiken, mehrfacher Vertreibung, verstärkten Sicherheitsmaßnahmen an Checkpoints und Schwierigkeiten beim Erhalt der Aufenthaltsgenehmigung ausgesetzt, was ihre Bewegungsfreiheit beeinträchtigte (USDOS 20.3.2023).
Das syrische Gesetz bietet die Möglichkeit, den Flüchtlingsstatus zu gewähren. UNHCR bietet Hilfsleistungen für Flüchtlinge, wobei Gewalt den Zugang zu vulnerablen Personen verhindern kann. Das Gesetz garantiert Flüchtlingen nicht explizit das Recht auf Arbeit, außer Palästinensern mit einem bestimmten rechtlichen Status. Die Regierung gewährt Nicht-Palästinensern selten Arbeitsgenehmigungen, und viele Geflüchtete finden im informellen Sektor Arbeit, z. B. als Wachpersonal, Bauarbeiter, Straßenhändler oder in anderen manuellen Berufen (USDOS 20.3.2023).
Die Regierung gewährt irakischen Flüchtlingen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, doch Aufenthaltsgenehmigungen sind nur für jene erhältlich, die legal einreisten, und über einen gültigen Pass verfügten. Diese Kriterien erfüllen nicht alle Flüchtlinge. Sie sind dadurch den Risiken von Schikanen und Ausbeutung ausgesetzt und die fehlende Aufenthaltsgenehmigung hatte schwere Auswirkungen auf ihren Zugang zu öffentlichen Leistungen (USDOS 20.3.2023).
Anmerkung, Für Informationen zu palästinensischen Flüchtlingen in Syrien siehe Kapitel Palästinensische Flüchtlinge.
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2088564.html, Zugriff 10.7.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand Ende Dezember 2022) [Der Bericht ist bei der Staatendokumentation einsehbar.]
● UNOCHA - - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.2.2023): Flash Appeal: Syrian Arab Republic Earthquake (February - May 2023) [EN/AR], https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/flash-appeal-syrian-arab-republic-earthquake-february-may-2023-enar, Zugriff 10.5.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2073954.html, Zugriff 17.5.2023
● WFP – World Food Programme (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (8.4.2023): Syrian Arab Republic Annual Country Report 2022 - Country Strategic Plan 2022 - 2023, https://reliefweb.int/attachments/bb3f5122-1518-4232-8d8b-ba6d194be7c0/WFP-0000147991.pdf, Zugriff 2.5.2023
Palästinensische Flüchtlinge
Letzte Änderung 13.07.2023
Rechtlicher Status der palästinensischen Flüchtlinge in Syrien und das Mandat der UNRWA
Die United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) ist entsprechend der Resolution 302 römisch IV (1949) der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit einem Mandat zur Förderung der menschlichen Entwicklung palästinensischer Flüchtlinge ausgestattet. Per definitionem sind palästinensische Flüchtlinge Personen, deren gewöhnlicher Aufenthaltsort zwischen 1.6.1946 und 15.5.1948 Palästina war, und die sowohl ihr Zuhause wie auch ihre Mittel zur Lebenshaltung aufgrund des Konflikts von 1948 verloren haben. Dienste von UNRWA stehen all jenen Personen offen, die im Einsatzgebiet der Organisation leben, von der Definition umfasst und bei UNRWA registriert sind, sowie Bedarf an Unterstützung haben. Nachkommen männlicher palästinensischer Flüchtlinge können sich ebenfalls bei UNRWA registrieren. Darüber hinaus bietet UNRWA ihre Dienste auch palästinensischen Flüchtlingen und Vertriebenen des Arabisch-Israelischen Konflikts von 1967 und nachfolgender Feindseligkeiten an (STDOK 8.2017). Im Dezember 2022 beschloss die UN-Generalversammlung eine Verlängerung des UNRWA-Mandats bis 30.6.2026 (UN 14.12.2022).
Laut UNO befanden sich mit Stand Juli 2022 noch ungefähr 438.000 palästinensische Flüchtlinge von vormals 575.234 Personen im Land. Mehr als die Hälfte der von den verbliebenen PalästinenserInnen ist mindestens einmal intern vertrieben worden und 95 % benötigten humanitäre Hilfe (USDOS 20.3.2023).
In Syrien lebende Palästinenser werden in Abhängigkeit vom Zeitpunkt ihrer Ankunft in Syrien in verschiedene Kategorien eingeteilt, von denen jeweils auch ihre rechtliche Stellung abhängt. Zu unterscheiden ist zwischen jenen Palästinensern, die als Flüchtlinge in Syrien anerkannt sind, und jenen, die in Syrien keinen Flüchtlingsstatus genießen. Da Syrien nicht Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist, richtet sich der Flüchtlingsstatus nach syrischem Recht. Die Unterteilung in verschiedene Kategorien hat Auswirkungen auf die Art des Reisedokumentes, im Besitz dessen Palästinenser in Syrien sind (ÖB Damaskus 12.2022):
1) Die größte Gruppe (rund 85 % der Palästinenser vor Ausbruch der Krise) bilden Palästinenser, die bis zum oder im Jahr 1956 nach Syrien gekommen waren sowie deren Nachkommen. Diese Palästinenser fallen unter die Anwendung des Gesetzes Nr. 260 aus 1956, welches Palästinenser, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes einen Wohnsitz in Syrien hatten, im Hinblick auf Arbeit, Handel, Militärdienst und Zugang zum öffentlichen Dienst syrischen Staatsbürgern gleichstellt. Ausgeschlossen ist diese Gruppe jedoch vom Wahlrecht, dem Innehaben öffentlicher Ämter sowie vom Erwerb landwirtschaftlicher Nutzflächen. Sie erhalten auch nicht die syrische Staatsbürgerschaft. Unter diese Kategorie fallende Personen sind bei der GAPAR (General Authority for Palestinian Arab Refugees) registriert (ÖB Damaskus 12.2022).
2) Für jene Palästinenser, die sich nach Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 260 noch im Jahr 1956 in Syrien niedergelassen haben, gelten bestimmte Modifikationen und Einschränkungen (v. a. Anstellung im öffentlichen Dienst nur auf Grundlage zeitlich befristeter Verträge; keine Ableistung von Militärdienst). Berichtet wurde, dass Angehörige dieser Gruppe von der PLO rekrutiert werden und sich sonstigen regimetreuen bewaffneten Gruppierungen anschließen. Sie sind aber ebenfalls bei GAPAR registriert (ÖB Damaskus 12.2022).
Diese unter 1) genannten Gruppen von Palästinensern und ihre Nachkommen sind somit als Flüchtlinge in Syrien anerkannt (ÖB Damaskus 12.2022). Die Identitätskarte für staatenlose PalästinenserInnen in Syrien heißt übersetzt 'Temporäre Aufenthaltskarte für PalästinenserInnen', hat aber kein Ablaufdatum. Voraussetzung für den Erhalt dieser Karte ist die Registrierung bei GAPAR - eine Registrierung bei UNRWA reicht nicht (NMFA 5.2022). Diese Identitätskarte ist nötig, um Zugang zu Basisleistungen wie syrische StaatsbürgerInnen zu erhalten (USDOS 20.3.2023). Zu einem Großteil verfügen Personen, die bei GAPAR registriert sind, auch über eine UNRWA-Registrierung und haben dadurch in der Regel Anspruch auf UNRWA-Leistungen. Da UNRWA eine enger gefasste Definition für Registrierungsberechtigte ('Palästina-Flüchtlinge') zugrunde legt, sowie in bestimmten Zeiträumen keine Neuregistrierungen akzeptierte, kann es sich - trotz späterer Möglichkeiten, sich nachträglich zu registrieren sich nachträglich zu registrieren - ergeben, dass palästinensische Flüchtlinge in Syrien zwar bei GAPAR, nicht aber bei UNRWA registriert sind. GAPAR veröffentlicht daher höhere Zahlen der erfassten palästinensischen Flüchtlinge als UNRWA (BAMF 2.2023).
2) Die nach 1956, insbesondere ab 1967 nach Syrien gekommenen Palästinenser und deren Nachkommen umfassen ihrerseits eine Reihe weiterer Untergruppen. Unter anderem fallen darunter Personen, die nach 1970 aus Jordanien, nach 1982 aus dem Libanon und während der letzten beiden Dekaden aus dem Irak gekommen waren. Ihnen ist gemeinsam, dass sie nicht bei GAPAR registriert und nicht von Syrien als palästinensische Flüchtlinge anerkannt sind. In Syrien gelten sie als „Arabs in Syria“ und werden wie Staatsbürger arabischer Staaten (unterschieden wird in Syrien in vielen Bereichen zwischen syrischen Staatsbürgern, Staatsbürgern arabischer Staaten und sonstigen ausländischen Staatsbürgern) behandelt. Sie können ihren Aufenthalt in Syrien alle zehn Jahre beim Innenministerium erneuern lassen und müssen Arbeitsgenehmigungen erhalten (ÖB Damaskus 12.2022). Diese PalästinenserInnen ohne GAPAR-Identitätskarte müssen mit ihrer UNRWA-Registrierung oder anderen Dokumenten das Auslangen finden. PalästinenserInnen ohne gültige Identitätsdokumente können mit einer Reihe von Problemen konfrontiert sein, z. B. bzgl. Bewegungsfreiheit und Zugang zur Gesundheitsversorgung (NMFA 5.2022). Doch auch zwischen einzelnen Profilen in dieser Personengruppe ohne GAPAR-Registrierung finden sich Unterschiede, je nach Zeitpunkt ihrer Migration nach Syrien. Einige, aber nicht alle verfügen über eine Registrierung bei UNRWA. Einige fallen hingegen unter das Mandat des UNHCR, darunter bspw. einige palästinensische Geflüchtete, welche zunächst in den Irak, nach Ägypten, Libyen oder in andere Staaten flohen, die nicht zum UNRWA-Mandatsgebiet zählen (BAMF 2.2023) Anmerkung, für nähere Informationen zu weiteren, komplexen Aspekten der verschiedenen Profile in dieser Kategorie siehe BAMF 2.2023).
Einige Kategorien von PalästinenserInnen erfüllen zwar nicht die Kriterien für eine Registrierung als palästinensische Flüchtlinge bei UNRWA, können sich aber für UNRWA-Leistungen registrieren lassen (UNRWA 5.2022).
Syrien kooperiert in gewissem Maß mit UNRWA (USDOS 20.3.2023).
Weiterhin kommt es zu Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für palästinensische Flüchtling, die in Flüchtlingslagern leben (USDOS 20.3.2023). Obwohl die syrische Verfassung die Bewegungsfreiheit für syrische Bürger und GAPAR-registrierte PalästinenserInnen garantiert, hat die Regierung seit Beginn des Konflikts Gebiete, darunter auch die Palästinenserlager in der Umgebung von Damaskus, durch die Einrichtung bemannter und unbemannter Kontrollpunkte voneinander getrennt. Die syrische Regierung hat außerdem Militärpersonal und physische Begrenzungen eingesetzt, um die Abgrenzung der Gebiete zu verstärken. Die Zahl der Kontrollpunkte in Damaskus wurde seit 2018 reduziert; es gibt jedoch immer noch Kontrollpunkte in Damaskus und an den Hauptstraßen, die verschiedene Gebiete miteinander verbinden, auch in der Nähe der Lager, sowie an den Hauptstraßen nach Damaskus. Palästinenser müssen viele Kontrollpunkte passieren, wenn sie sich in Gebieten zwischen den dortigen Lagern bewegen. Einige Palästinenser, die nicht bei der GAPAR registriert sind, müssen mit weiteren Bewegungseinschränkungen rechnen, weil die Dokumente in ihrem Besitz nicht an allen Kontrollpunkten akzeptiert werden. Nach Einschätzung einer internationalen Organisation laufen sie Gefahr, inhaftiert zu werden, weil ihr Aufenthalt in Syrien als illegal angesehen werden könnte (DIS 10.2021).
Berichten zufolge müssen PalästinenserInnen z. B. in Damaskus eine Genehmigung der Geheimdienste (Mukhabarat) und der Sicherheitskräfte erhalten, um ihren Wohnsitz verlegen zu können. Diese Registrierungsvorschrift führt dazu, dass manche Personen nicht an palästinensische Flüchtlinge vermieten wollen (STDOK 8.2017).
Bei GAPAR registrierte palästinensische Flüchtlinge unterliegen der Wehrpflicht, Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee (Palestinian Liberation Army, PLA) trägt. Es liegen keine Informationen darüber vor, die besagen, dass wehrdienstpflichtige Palästinenser von Regelungen zum Reservedienst ausgenommen wären (BAMF 2.2023).
Frauen können die syrische Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder weitergeben. Politiker argumentieren hierbei auch, dass Kinder einer syrischen Mutter und eines palästinensischen Vaters keine Syrer werden, sondern Palästinenser bleiben sollen, um das Recht auf Rückkehr in einen palästinensischen Staat zu behalten (STDOK 8.2017).
Die Sicherheitslage in den palästinensischen Flüchtlingslagern und Wohngebieten
Laut UN-Schätzung aus dem Jahr 2019 wurden seit 2011 mindestens 120.000 PalästinenserInnen aus Syrien vertrieben (USDOS 20.3.2023). Vor Ausbruch des Bürgerkrieges lebten geschätzte 560.000 palästinensische Flüchtlinge in Syrien und davon mehr als 80 % in und um Damaskus (USAID 8.2.2019). Schon vor dem Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 waren diese Personen eine vulnerable Bevölkerungsgruppe (STDOK 8.2017).
Zu Beginn des Konfliktes versuchten die BewohnerInnen der meisten palästinensischen Flüchtlingslager neutral zu bleiben (NOREF 24.1.2017). Mittlerweile sind die PalästinenserInnen zwischen den Konfliktparteien gespalten. Die PalästinenserInnen sind hauptsächlich SunnitInnen und werden vonseiten des Regimes und dessen Verbündeten auch wie solche behandelt - also mit Misstrauen, wobei es Ausnahmen hierzu gibt. Was die Vulnerabilität betrifft, scheint jedoch die Herkunft einer Person aus einem bestimmten Gebiet wichtiger zu sein, als ihre Konfession, und ob sie der palästinensischen Minderheit angehört oder nicht. Dabei determinierten die Anfangsjahre des Konflikts 2011-2013, welche Gebiete zu welchen Konfliktparteien zugeordnet werden (STDOK 8.2017).
Die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien waren von schweren Kämpfen in und um manche palästinensischen Flüchtlingslager und Stadtteile erheblich betroffen (USAID 8.2.2019). Sowohl Regime- als auch Oppositionskräfte belagerten, beschossen oder machten auf eine andere Art einige palästinensischen Flüchtlingslager oder Stadtteile unzugänglich. Das führte zu schwerer Mangelernährung, fehlendem Zugang zu Gesundheitsversorgung und zu humanitärer Hilfe sowie zu zivilen Todesfällen. Laut Action Group of Palestinians of Syria wurden zwischen März 2011 und Oktober 2022 638 PalästinenserInnen, einschließlich Kindern, von Regimekräften gefoltert. 77 der Opfer wurden durch die 'Caesar'-Fotos [Anm.: durch den Fotografen mit Decknamen Caeser hinausgeschmuggelte Fotos von in Haft Getöteten/Verstorbenen] identifiziert (USDOS 20.3.2023). Die palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk, Ain el-Tel und Dara'a wurden im Zuge von Militäroperationen großteils zerstört. Mitte 2021 führten Kampfhandlungen in Dara'a zur Flucht von ungefähr 3.000 PalästinenserInnen. (NMFA 5.2022) Im Lager Yarmouk kam es auch zu groß angelegten Plünderungen durch regierungsnahe Milizen und syrische Regierungstruppen, während es in den anderen Lagern keine Plünderungen in ähnlichem Ausmaß gab. Es gibt Berichte darüber, dass Palästinenser während des gesamten Konflikts in ganz Syrien, auch in den beiden Gouvernements Damaskus und Rif Dimashq, ins Visier der syrischen Behörden geraten sind. Palästinenser, die beispielsweise in Gebieten südlich von Damaskus leben, wurden an Kontrollpunkten kontrolliert und erpresst. Es kam zu Verhaftungen von Einzelpersonen ohne bekannten Grund sowie zu Verhaftungen von Palästinensern, die zum Militärdienst eingezogen werden sollten und auch von mehr als 50 Kindern. Es wurde auch von nicht-explodierten Kampfmittelrückständen (unexploded ordnances, UXOs) in manchen palästinensischen Flüchtlingslagern berichtet (DIS 10.2021).
Die Leistungen der UNRWA im Rahmen ihrer Zugangsmöglichkeiten
Anmerkung, Da die Leistungen von der aktuellen finanziellen Lage von UNRWA und der Lage vor Ort (Stichwort zusätzlicher humanitärer Bedarf durch Erdbeben) abhängen, kann es relativ kurzfristig zu Änderungen kommen - es handelt sich somit eine Skizzierung der Ausgangslage.
PalästinenserInnen, die bereits vor dem Konflikt deutlich ärmer als SyrerInnen waren, sind nun eine der am meisten vom Konflikt betroffenen Bevölkerungsgruppen in Syrien. Sie sind außerdem häufig von mehrfachen Vertreibungen betroffen: Der Konflikt breitete sich bereits früh auch entlang der Siedlungsgebiete von Palästinensern in Syrien aus, wodurch diese vertrieben wurden und, auch weil Jordanien und der Libanon ihre Grenzen geschlossen haben, Schutz in anderen UNRWA-Lagern und Siedlungen suchten. Wenn dann diese Regionen vom Krieg eingeholt waren, wurden sie erneut vertrieben. Allgemein gesprochen, sind die PalästinenserInnen vulnerabler als der Durchschnitt der SyrerInnen, was auch mit fehlenden Identitätsdokumenten in Verbindung steht (STDOK 8.2017). So kehrten internvertriebene PalästinenserInnen in die drei zerstörten Lager zurück, weil sie sich die Miete andernorts nicht leisten konnten (NMFA 5.2022).
Laut UNRWA-Schätzung benötigen 90 % der 62.000 PalästinenserInnen in den Lagern in Lattakia, Neirab, Ein el-Tel und Hama aufgrund des Erdbebens Hilfe (UNRWA 7.2.2023). 1.076 Unterkünfte von palästinensischen Flüchtlingen in den Provinzen Aleppo. Lattakia und Hama waren von dem Erdbeben betroffen: 166 wurden schwer und 309 teilweise beschädigt. 601 Unterkünfte wiesen geringe Schäden auf. 75 % der beschädigten Gebäude befinden sich in der Provinz Aleppo, 23 % in Lattakia und 2 % in Hama. Hinzukommen Schäden an elf UNRWA-Gebäuden, darunter Schulen und Gesundheitseinrichtungen. Mit Berichtsstand 13.4.2023 waren nur 6 % des Spendenaufrufs der UNRWA zur Bewältigung der Erdbebenfolgen eingelangt (UNRWA 14.4.2023).
Die palästinensischen Flüchtlingslager in Syrien sind nicht durch physische Begrenzungen wie z. B. Mauern eingefriedet, sondern sie sind Teil der Städte und gleichen eher Wohnvierteln. In Syrien leben Teile der palästinensischen Bevölkerung innerhalb und andere außerhalb der Lager. Das Land, auf welchem sich die UNRWA-Lager befinden, ist Eigentum des Gaststaates. Den palästinensischen Familien wurden in der Vergangenheit Grundstücke zugeteilt, worauf Häuser gebaut wurden. Rechtlich gehört den palästinensischen BewohnerInnen das Land, auf dem die Häuser stehen, nicht. Dennoch werden die dort errichteten Wohnungen und Häuser mittlerweile auch vermietet und verkauft. Der Zugang zu UNRWA-Lagern ist rechtlich nicht eingeschränkt, es kann jedoch faktische Probleme geben, die den Zugang einschränken. Für PalästinenserInnen ist es zudem schwierig, sich durch Checkpoints zu bewegen, z.B. wenn sie keine gültigen syrischen Dokumente vorweisen können. Ihre Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens ist aufgrund der Notwendigkeit, die Genehmigung für einen Wohnortwechsel einzuholen, und aufgrund der Registrierungspflicht eingeschränkt (STDOK 8.2017).
UNRWA ist auf den Einsatz in staatlich kontrollierten Gebieten beschränkt, auch angesichts wachsender Budgetknappheit. UNRWA hat keine Präsenz in von der Opposition gehaltenen Gebieten im Nordwesten Syriens (Syria Direct 4.3.2019) Die Durchführung ihrer Aufgaben ist von der jeweiligen Sicherheitslage und den jeweils vor Ort dominanten Organisationen abhängig (STDOK 8.2017). UNRWA bietet Unterstützungsleistungen in zwölf Flüchtlingslagern in Syrien an (neun offizielle und drei inoffizielle Lager), gibt aber gleichzeitig an, nur Zugang zu zehn der zwölf Lager zu haben (UNRWA 8.2022). Die offiziellen UNRWA-Flüchtlingslager sind Gebiete, die UNRWA von der Regierung des jeweiligen Gastlandes zur Errichtung eines Lagers und der notwendigen Infrastruktur überlassen werden. Die Aktivitäten von UNRWA erstrecken sich jedoch auch auf nicht offiziell diesem Zweck zugewiesene Gebiete Anmerkung, sog. 'inoffizielle Lager') wie z. B. Yarmouk. Die (offiziellen und inoffiziellen) Lager werden von UNRWA jedoch nicht verwaltet, und UNRWA ist nicht für die Sicherheit in den Lagern zuständig. Diese liegt in der Verantwortung der Behörden des Gaststaates. Die meisten Einrichtungen von UNRWA befinden sich in den Flüchtlingslagern. UNRWA unterhält jedoch teils auch Schulen, Gesundheitszentren und Verteilungszentren in Gebieten außerhalb der offiziellen Lager. Alle Dienstleistungen von UNRWA stehen allen registrierten palästinensischen Flüchtlingen zur Verfügung - auch denen, die nicht in den Lagern leben (UNRWA o.D. A). Laut Experteneinschätzung sind die UNRWA-Leistungen zurückgegangen und reichen nicht aus, um den hohen Bedarf durch den Konflikt zu decken (DIS 10.2021).
Die meisten UNRWA-Schulen befinden sich in den palästinensischen Flüchtlingslagern selbst. Die Schulen haben unter dem Konflikt gelitten, viele wurden geschlossen. Im Schuljahr 2021/2022 stellte UNRWA in 102 Schulen Unterricht für ungefähr 50.000 SchülerInnen zur Verfügung. Die Schulen befinden sich in Damaskus, Rif Damaskus, Aleppo, Hama, Homs, Lattakia und Dara’a. Die syrische Regierung lieh zudem UNRWA 39 Schulen für das Schuljahr 2021/ 2022 (UNRWA o.D. B). Laut Expertenauskunft geht die Hälfte der palästinensischen Kinder im Grundschulalter aus Gründen wie hohe Transportkosten und einem Niedergang der Bildungsqualität nicht mehr zur Schule (DIS 10.2021).
Die Zukunft von UNRWA gilt als ungewiss (CMI 9.2022). Aufgrund ihrer eigenen Finanzkrise musste UNRWA (2019 z. B.) das Programm für Geldhilfen um die Hälfte reduzieren (MEE 20.2.2020). Es ist daher wichtig, zwischen allgemeinen Leistungen und solchen für bestimmte Zielgruppen zu unterscheiden, für welche die Erfüllung von Kriterien zum Bezug einer Leistung nötig ist. Die tatsächliche Inanspruchnahme hängt so vom sozioökonomischen Status (Leistbarkeit von Alternativen), Bedürfnissen bei der Gesundheitsversorgung (UNRWA deckt nicht alle Bedarfskategorien ab), Ort der Leistungen in Relation zum Wohnort (Reiseentfernung, -kosten) und der wahrgenommenen Qualität ab (CMI 9.2022). Mit Stand Mai 2021 lebten einer UNRWA-Studie zufolge 82 % der Personen in den befragten 503 Haushalten von weniger als 1,9 USD am Tag - inklusive allfälliger UNRWA-Finanzunterstützung - um 8 % mehr Personen als bei der letzten Studie 2017/18. 48 %t der Haushaltsausgaben entfielen auf Lebensmittel, was auf die Schwere der Lage der Familien hinweist. Etwa 96 % der in Syrien verbliebenen palästinensischen Flüchtlingsbevölkerung von ungefähr 420.000 Menschen hängt von humanitärer Hilfe ab, um ihre Grundbedürfnisse zu stillen. 145.000 von ihnen - das sind 35 % - gelten als am meisten vulnerabel: Haushalte mit weiblichen Vorständen, Familien mit Mitgliedern mit Behinderungen, Familien mit älteren Familienoberhäuptern sowie unbegleitete Minderjährige und Waisen (UNOCHA 22.2.2022). Bei der Vergabe von Nothilfe haben diese Priorität, weshalb 28.622 Personen z. B. zwecks Hilfe bei der Deckung ihrer Grundbedürfnisse wie Lebensmittel, Obdach oder Heizung 14 USD (11,86 EUR) pro Monat über einen Zeitraum von fünf Monaten erhalten (ReliefWeb 7.3.2022). Mit Stand März 2022 erhielten circa 145.000 palästinensische Flüchtlinge, die in die vulnerabelsten Kategorien fallen, eine finanzielle Unterstützung (UNRWA 25.3.2022). Im August 2022 verlautbarte UNRWA Anmerkung, ohne nähere Angaben über Höhe und Bezugskriterien), dass 417.000 eine Geldhilfe erhalten würden, und betonte, dass laut einer Studie von 2021 82 % der palästinensischen Flüchtlinge in absoluter Armut (mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag) leben. 347.246 palästinensische Flüchtlinge erhielten zudem im Juni 2022 Lebensmittelkörbe, die ein Drittel des täglichen Kalorienbedarfs decken. Es gibt außerdem ein Mikrofinanzierungsprogramm (UNRWA 8.2022). Die Lebensmittel- und Geldhilfen decken in den meisten Fällen nicht die Grundbedürfnisse, und aufgrund der Finanzierungsstrukturen ist viel von der Hilfe schwer vorhersehbar (CMI 9.2022).
UNRWA unterhält zudem in den ihr zugänglichen Lager Wasser- und Sanitärleistungen. UNRWA verfügt über 3.000 Angestellte in Syrien in ungefähr 177 Einrichtungen, darunter ÄrztInnen, LehrerInnen und IngenieurInnen. Allerdings sind die Leistungen vom Konflikt betroffen, und viele Einrichtungen unzugänglich oder schwer beschädigt. So können aktuell ein Viertel der Gesundheitszentren nicht verwendet werden, was UNRWA durch 'health points' Anmerkung, improvisierte Arzt-, Behandlungspraxen statt Kliniken) zu kompensieren versucht. Mit Stand August 2022 hat UNRWA 18 Todesfälle unter den UNRWA-Angestellten zu verzeichnen (UNRWA 8.2022).
Reisedokumente und Ausreiseregelungen für Palästinenser
Je nach Kategorie unterscheidet sich auch die Art der Reisedokumente der in Syrien lebenden PalästinenserInnen. Nur jene PalästinenserInnen, die als palästinensische Flüchtlinge von Syrien anerkannt sind, d.h. nur jene, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien gekommen sind, (bzw. deren Nachkommen) erhalten ein von syrischen Behörden ausgestelltes Reisedokument (siehe Liste der EK über visierfähige Dokumente „Syria – Travel Document for Palestinian Refugees“, Anfangsbuchstabe der Dokumentennummer „P“) (ÖB Damaskus 12.2022).
Alle anderen Palästinenser, d. h. jene, die ab 1957 nach Syrien gekommen sind, (bzw. deren Nachkommen) hatten/haben in Abhängigkeit nach deren Herkunft (Westbank, Gaza) in der Regel von anderen Staaten ausgestellte Dokumente, meistens von Jordanien oder Ägypten. So hatten beispielsweise die nach dem Schwarzen September 1970 aus Jordanien exilierten PalästinenserInnen bei ihrer Ankunft in Syrien jordanische Reisedokumente, die seither nicht mehr erneuert werden konnten. Ähnlich war die Situation für nach 1991 aus dem Irak nach Syrien eingereiste PalästinenserInnen, die zum Teil noch (alte) ägyptische Reisedokumente und IDs hatten, deren Erneuerung jedoch ebenso mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. PalästinenserInnen, die unter die in 2) genannten – mannigfaltigen – Personengruppen fallen, erhalten daher kein durch syrische Behörden ausgestelltes Reisedokument. Viele leben daher bis heute mit abgelaufenen jordanischen oder ägyptischen Dokumenten. In Einzelfällen anerkennt Syrien zwar auch nach 1956 eingereiste PalästinenserInnen als Flüchtlinge und stattet sie mit dem Status gemäß dem Gesetz 260 aus 1956 aus; dies erfolgt jedoch nur im Ermessen des Staates und einzelfallorientiert (ÖB Damaskus 12.2022).
Nach der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens 1993 erhielt die Palästinensische Autonomiebehörde das Recht, Reisedokumente auszustellen (erfolgt in der Praxis seit 1995). Seit 2009 werden biometrische Reisedokumente ausgestellt. Diese von der Palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellten Reisedokumente werden laut der Liste der visafähigen Dokumente (Stand: 28.09.2016) in ARGUS von allen EU-Mitgliedstaaten anerkannt (siehe Beilage). Ausstellungsort dieser durch die Palästinensische Autonomiebehörde ausgestellten Reisedokumente ist stets Ramallah, auch dann, wenn die Antragstellung an einer palästinensischen Vertretung im Ausland erfolgt. Eine persönliche Vorsprache in Ramallah ist für die Ausstellung dieses Reisedokuments nicht erforderlich (ÖB Damaskus 12.2022).
Zusammenfassend ergibt sich somit folgendes Bild hinsichtlich der unterschiedlichen Reisedokumente, die Palästinenser aus Syrien vorweisen (ÖB Damaskus 12.2022):
PalästinenserInnen, die als Flüchtlinge in Syrien anerkannt sind: Dies betrifft Palästinenser, die bis 1956 nach Syrien gekommen sind. Diese Personen sind mit von syrischen Behörden ausgestellten Reisedokumenten ausgestattet: blaue Reisedokumente mit der Bezeichnung 'Travel Document for Palestinian Refugees' (Nummer beginnend mit „P“) (ÖB Damaskus 12.2022).
PalästinenserInnen, die von Syrien nicht als Flüchtlinge anerkannt sind, weil sie nach 1956 nach Syrien gekommen waren: Diese Personen haben in Syrien den Status als 'Arabs in Syria' und erhalten keine Reisedokumente von Syrien. Mangels anderer gültiger Reisedokumente beantragen Personen aus dieser Kategorie bei der Vertretung der Palästinensischen Behörde (Botschaft Palästinas in Syrien) in Damaskus die Ausstellung eines Reisedokuments durch die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah: schwarze Reisedokumente, ausgestellt von der 'Palestinian Authority' mit der Bezeichnung 'Passport – Travel Document'; Ausstellungsort Ramallah (ÖB Damaskus 12.2022).
Diesen palästinensischen Reisepass können Palästinenserinnen und Palästinenser in Syrien und anderen Ländern über die Auslandsvertretung der Autonomiebehörde ausgehändigt bekommen. Er dient in der Praxis als Nachweis einer palästinensischen (Volks-)Identität und als internationales Reisedokument für staatenlose Palästinenserinnen und Palästinenser. Anders aber als „vollwertige“ Reisepässe der Palästinensischen Autonomiebehörde für dort registrierte (das heißt dort wohnhafte bzw. gemeldete) Personen erhalten Palästinenserinnen und Palästinenser im Ausland den Reisepass ohne gültige Identifikationsnummer. Im Feld für die Identifikationsnummer steht dann eine 'fiktive' Nummer, welche üblicherweise mit mehreren Nullen beginnt (BAMF 2.2023).
Einige in Syrien aufhältige Palästinenser brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen, dies hängt jedoch wieder von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab. Für Palästinenser ist es nicht nur schwieriger als für syrische Flüchtlinge in Nachbarländer einzureisen, sondern auch dort zu verbleiben und einen legalen Aufenthaltsstatus aufrechtzuhalten sowie folglich Leistungen zu bekommen (STDOK 8.2017).
Ein Palästinenser, der in Syrien bei UNRWA registriert ist, und sich dann in ein anderes Land begibt, das auch im Mandatsgebiet der UNRWA liegt (wie z. B. der Libanon), bleibt in Syrien registriert („registered“), wird aber z. B. im Libanon erfasst („recorded“) und hat dort Zugang zu UNRWA-Leistungen. UNRWA schränkt den Zugang zu UNRWA-Leistungen für Palästinenser aus anderen Staaten nicht ein, jedoch können die Staaten die Einreise von Palästinensern und somit deren Zugang zu UNRWA Leistungen in Nachbarstaaten einschränken (STDOK 8.2017).
Anmerkung: Für weitere Informationen zu Einreisemöglichkeiten in Nachbarländer siehe Abschnitt „Bewegungsfreiheit“ sowie die jeweiligen Länderinformationsblätter (LIB) zum Libanon und Jordanien, den einzigen Nachbarstaaten, welche ebenfalls Mandatsgebiet von UNRWA sind [Dort finden sich auch Informationen, wonach eine legale Umsiedlung staatenloser palästinensischer Flüchtlingen aus Syrien seit Längerem nicht vorgesehen ist und auch eine etwaige UNRWA-Registrierung nicht zu einer Legalisierung des Aufenthalts oder etwa zu einem gesicherten, dauerhaften Aufenthaltsrecht führt, wie das seit Oktober 2012 geltende Einreiseverbot Jordaniens für PalästinenserInnen aus Syrien illustriert].
Quellen:
● BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (2.2023): Status palästinensischer Geflüchteter in Syrien, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684464/684546/24088313/-/Deutschland%2E_Bundesamt_f%C3%BCr_Migration_und_Fl%C3%BCchtlinge%2C_Status_pal%C3%A4stinensischer_Gefl%C3%BCchteter_in_Syrien%2C_01%2E02%2E2023._%28Kurzinformation_%2D_%C3%B6ffentlich%29.pdf?nodeid=24088418&vernum=-2, Zugriff 11.5.2023
● CMI - Chr. Michelsen Institute (9.2022): UNRWA, funding crisis and the way forward, CMI Report Number 4, https://www.cmi.no/publications/8574-unrwa-funding-crisis-and-the-way-forward, Zugriff 12.5.2023
● DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (10.2021): Syria Palestinians in Damascus and Rural Damascus governorates, https://www.ecoi.net/en/file/local/2063240/coi_report_prs_october_2021.pdf, Zugriff 11.5.2023
● MEE - Middle East Eye (20.2.2020): 'Poverty everywhere': Palestinians in Syria living in desperate conditions, https://www.middleeasteye.net/news/more-90-percent-palestinians-syria-living-absolute-poverty-says-unrwa, Zugriff 12.5.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 11.3.2023
● NOREF - Norwegian Centre for Conflict Resolution (24.1.2017): Syrian voices on the Syrian conflict: The plight of Palestinain refugees in Syria in the camps of south Damascus, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/d610abfb75fa0d03434f54b470799b32.pdf, Zugriff 11.5.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022 (Stand Ende 2022) (in der Staatendokumentation aufliegend)
● ReliefWeb (7.3.2022): UNRWA and EU help Palestine refugees in Syria with emergency cash assistance, Source: UNRWA, 5.3.2022, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/unrwa-and-eu-help-palestine-refugees-syria-emergency-cash-assistance, Zugriff 12.5.2023
● STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 10.5.2023
● Syria Direct (4.3.2019): Displaced months ago, ‘undocumented’ Palestinians in Syria’s rebel-held northwest hope for end to civil status limbo, https://syriadirect.org/displaced-months-ago-undocumented-palestinians-in-syrias-rebel-held-northwest-hope-for-end-to-civil-status-limbo/, Zugriff 11.5.2023
● UN - United Nations (14.12.2022): UN General Assembly Renews UNRWA Mandate – Press Release, https://www.un.org/unispal/document/un-general-assembly-renews-unrwa-mandate-press-release/, Zugriff 10.5.2023
● UNOCHA – UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (22.2.2022): 2022 Humanitarian Needs Overview: Syrian Arab Republic, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068524/hno_2022_final_version_210222.pdf, Zugriff 12.5.2023
● UNRWA - United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (14.4.2023): UNRWA Syria earthquake response Situation report #24 - 13 April 2023, https://www.unrwa.org/resources/reports/unrwa-syria-earthquake-response-situation-report-24-13-april-2023, Zugriff 11.5.2023
● UNRWA - United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (7.2.2023):United Nations Geneva Palais Briefing: UNRWA response to Türkiye/Syria earthquake, https://www.unrwa.org/newsroom/notes/united-nations-geneva-palais-briefing-unrwa-response-t%C3%BCrkiyesyria-earthquake, Zugriff 11.5.2023
● UNRWA - United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (Stand: 8.2022): Where We Work - Syria, https://www.unrwa.org/where-we-work/syria, Zugriff 10.5.2023
● UNRWA - United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (25.3.2022): UNRWA Cash Assistance: Vital Assistance for Palestine Refugees in Syria, https://www.unrwa.org/newsroom/features/unrwa-cash-assistance-vital-assistance-palestine-refugees-syria, Zugriff 12.5.2023
● UNRWA - United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (o.D. A): Palestine Refugees, https://www.unrwa.org/palestine-refugees, Zugriff 11.5.2023
● UNRWA - United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (o.D. B): Education in Syria, https://www.unrwa.org/activity/education-syria, Zugriff 12.5.2023
● USAID - United States Agency for International Development [USA] (8.2.2019): Syria. Complex Emergency. Fact Sheet #3, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458398/1788_1551288520_0802.pdf, Zugriff 11.5.2023
● USDOS - USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
1.3.10 Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung 12.07.2023
Erdbeben vom 6. Februar 2023
Am 6.2.2023 ereignete sich ein Erdbeben in der Türkei der Stärke 7,8, gefolgt von einem starken Nachbeben der Stärke 7,5 auf der Richter-Skala. Das erste Beben betraf, zumindest moderat, auch fast ganz Syrien. Am schwersten betroffenen waren die Gebiete im Nordwesten des Landes bzw. entlang der türkisch-syrischen Grenze. Das Nachbeben beschränkte sich auf die nördliche Landeshälfte, wieder mit besonders schwer betroffenen Gebieten entlang der Grenze (TNYT 6.2.2023):
Quelle: TNYT 6.2.2023
Mehr als 7.000 SyrerInnen wurden getötet und geschätzte 5,3 Millionen wurden obdachlos (USIP 14.3.2023). 350.000 Menschen in dem Land wurden durch die Katastrophe vertrieben (Zeit 15.2.2023). So waren laut UN-Koordinator für Syrien 10,9 Millionen Menschen in Syrien von den Erdbebenfolgen in den Gouvernements Hama, Lattakia, Idlib, Aleppo und Tartus betroffen (UN News 8.2.2023). Nachbeben führten dazu, dass Menschen immer wieder ins Freie flüchteten (UN News 12.2.2023). Die Erdbeben verstärkten die humanitäre Krise, und der Cholera-Ausbruch [seit August 2022 - Anmerkung, siehe auch Kapitel Medizinische Versorgung] unterstreicht die Fragilität des Gesundheitssystems sowie der Wasser- und Abwassersysteme (USIP 14.3.2023).
Die Weltbank beurteilte die Lage in den Gouvernements Aleppo, Hama, Idlib, Lattakia, Raqqah und Tartus mit einer tiefer gehenden Prüfung der Städte Aleppo, Harem, Jableh, Afrin, Ad-Dana, Jandairis, Azaz, Sarmada und Lattakia. Demnach trat der größte Schaden bei Unterkünften auf - 24 %, gefolgt vom Transportbereich, der Umwelt (Kosten für die Räumung des Schutts) und der Landwirtschaft, welche gemessen am Ausfall der Lebensmittel den größten Schaden aufweist. Die meisten Schäden werden im Gouvernement Aleppo mit 44 % aller Schäden verzeichnet - besonders in den Bereichen Obdach und Landwirtschaft, gefolgt von Idlib mit 21 %. Die Stadt Aleppo steht mit 60 % der Gesamtschäden an der Spitze der am meisten betroffenen Städte, gefolgt von Lattakia mit 12 % und Azaz mit 10 % (Weltbank 17.3.2023).
Insgesamt kritisierten z. B. die USAID-Chefin Samantha Power die Langsamkeit der Hilfe in Syrien. Zu den am schwersten betroffenen Gebieten in Syrien zählt die Provinz Lattakia, die vom Assad-Regime kontrolliert wird. Dort kommt vor allem humanitäre Hilfe der UN-Organisationen und des Welternährungsprogramms an (Zeit 15.2.2023). UNHCR konzentrierte sich z. B. auf Hilfe für Obdach und Hilfsgüter in den Sammelzentren für die Vertriebenen in Form von Zelten, Plastikplanen, Thermodecken etc. vor dem Hintergrund einer 'Krise in der Krise', in welcher noch Schneestürme in manchen Gegenden und durch die Erdbeben beschädigte Straßen hinzukamen. Bereits vor dem Erdbeben gab es laut UNHCR 6,8 Millionen Binnenvertriebene in Syrien (UNHCR 10.2.2023). Die Weltgesundheitsorganisation arbeitete in allen Teilen des Erdbebengebiets und verstärkte ihren Einsatz einschließlich im besonders betroffenen Nordwesten des Landes. Bereits vor dem Erdbeben waren nur gerade die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen in Betrieb. Nationale und internationale Organisationen, ebenso wie Nachbarn, Moscheen, Kirchen und Gruppen beeilten sich, mit Lebensmitteln, sauberem Wasser, medizinischer Versorgung und sicheren Schlafplätzen zu helfen (UN News 12.2.2023). Nach dem Erdbeben lockerte die EU vorübergehend ihre Sanktionen gegenüber dem Regime. Hilfsflüge aus Deutschland, Dänemark und Norwegen landeten direkt in Damaskus (Qantara 28.2.2023). Als Folge der Erdbeben eröffnen sich für den Iran in vielen Sektoren neue Einflussmöglichkeiten in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Unterkünfte und Transport in Gebieten, wo die syrische Regierung nicht ausreichend den Erdbebenopfern humanitäre Hilfe leisten kann. In der Küstenregion Baniyas, Jableh and Lattakia setzt Iran bereits humanitäre Hilfe als 'soft power' ein, denn neben dem militärischen Einfluss sucht Iran auch wirtschaftlichen Einfluss in Syrien (L'Orient 16.2.2023). Gleichzeitig gibt es Berichte, dass unter der Deckung humanitärer Hilfe Waffen ins Land gebracht wurden (L'Orient 12.4.2023) und UN-Hilfsgüter von Regierungsangestellten abgezweigt oder sonst in einer Form Einfluss genommen wurde (FDD 15.3.2023). Berichten zufolge fließt die aktuelle Nothilfe zu 90 % an das Regime(gebiet), obwohl 88 % der syrischen Erdbebenopfer in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (Qantara 28.2.2023).
In einer Geberkonferenz wurden mittlerweile 911 Millionen Euro für Erdbebenhilfe für Syrien zugesagt, welche von den UN-Organisationen und international anerkannten NGOs verwaltet werden. Faktoren bei der Vergabe der Verwaltung an die UNO (und nicht an die syrische Regierung) sowie Herausforderungen für die Umsetzung sind: das Ausmaß der Zerstörung, viele politische Einschränkungen, das als 'bankrott und korrupt' bezeichnete Regime sowie die Anzahl an politischen Akteuren in Nordsyrien. Dazukommt die Notwendigkeit von Wachsamkeit, dass es nicht zu demographischen Manipulationen entlang der türkischen Grenze kommt (CMEC 3.4.2023).
In das Oppositionsgebiet gelangten zuerst 80 LKW-Ladungen der International Organization for Migration (IOM) über die beiden neu für humanitäre Hilfe geöffneten Grenzübergänge Bab al-Salam und Al Ra'ee (IOM 21.2.2023). Hintergrund ist, dass die syrische Regierung weiterhin Hilfslieferungen in Gebieten außerhalb ihrer Kontrolle einschränkt oder verhindert. Allein im Nordwesten leben in solchen Gebieten mindestens vier Millionen Menschen in schlechten Bedingungen, die völlig auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Auch bewaffnete Oppositionsgruppen verhinderten Hilfslieferungen aus dem Regimegebiet. Darüber hinaus verhinderte die syrische Regierung Hilfslieferungen an die hauptsächlich kurdischen Stadtteile in Aleppo Stadt, die vom 'kurdischen Zivilrat' kontrolliert werden, und welche stark vom Erdbeben betroffen waren. Die kurdische Selbstverwaltung wurde von der Regierung bei Hilfslieferungen in Regierungsgebieten und den Nordwesten eingeschränkt, bzw. die Lieferungen verzögert. Im nördlichen Teil des Gouvernements schränkten pro-türkische Oppositionsgruppen die Lieferung von Hilfe an KurdInnen ein und behinderten Rettungsbemühungen (AI 2.2023).
Aufgrund der Erdbeben vom 6.2.2023 und (dem besonders starken Nachbeben) vom 20.2.2023 wird von der Weltbank ein Schrumpfen der Wirtschaft um 5,5 % prognostiziert. Wenn der Wiederaufbau vor dem Hintergrund beschränkter öffentlicher Ressourcen, schwacher privater Investitionen und beschränkt einlangender Hilfe langsamer als erwartet stattfinden sollte, könnte die Schrumpfung größer ausfallen (Weltbank 17.3.2023). Laut Einschätzung von Ärzte ohne Grenzen werden die Folgen des Erdbebens noch monate- und jahrelang in Nordsyrien spürbar sein. Menschen, deren Häuser nicht wiederaufgebaut werden können, werden in Lagern verbleiben (Standard 3.3.2023).
Die allgemeine sozioökonomische Lage
Die wirtschaftliche und die humanitäre Lage in Syrien bleibt laut deutschem Auswärtigem Amt desolat und hat sich durch das Erdbeben am 6.2.2023 noch einmal deutlich verschärft (AA 29.3.2023). Die UN Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic kam bereits in ihrem Bericht von September 2022 zu dem Schluss, dass sich Syrien in der schwersten wirtschaftlichen und humanitären Krise seit Ausbruch des Konflikts befindet (UNCOI 17.8.2022). Mehr als 90 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Aktuell sind mit steigender Tendenz 15,3 Mio. Menschen von humanitärer Hilfe abhängig (5 % bzw. 0,7 Mio. mehr als 2022), die jedoch laut Vereinten Nationen nicht in benötigtem Maße zur Verfügung gestellt werden kann. In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage weiterhin besonders angespannt. Die ohnehin schlechte Wirtschaftslage hat 2022 durch die rasant fortschreitende Devisen- und Währungskrise (Einbruch des BIP um 60 % zwischen 2010 und 2020, Währungsverfall des syrischen Pfunds um 51,7 % im Vergleich zum Vorjahresmonat (Februar 2022) und um 99,4 % gegenüber dem US-Dollar auf dem Schwarzmarkt seit Konfliktbeginn 2011) sowie durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und die Wirtschaftskrise im Libanon einen neuen Tiefpunkt erreicht (AA 29.3.2023). Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, weil die Situation regional unterschiedlich ist und davon abhängt, unter wessen Kontrolle das jeweilige Gebiet steht (BS 29.4.2020). Auch basiert das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken, die regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019). Die syrische Regierung kontrolliert auch die Sammlung von Daten (EIP 7.2019).
Aufgrund deutlich gestiegener Lebensmittel- und Kraftstoffpreise hat sich in den letzten zwölf Monaten die Versorgungslage nochmals deutlich verschlechtert. Insgesamt sind 12,1 Mio. Menschen von Hunger bedroht (68 % der Bevölkerung), ein Anstieg von etwa 55 % seit 2019. Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 (2022) auf 609.979 (2023). Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zw. sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Die Kosten für Lebensmittel haben sich seit 2020 um über 800 % erhöht. Die Kosten für einen Lebensmittelkorb des Welternährungsprogramms haben sich um 91 % im Vergleich zum Vorjahr erhöht (AA 29.3.2023). Das Welternährungsprogramm führt Syrien noch vor dem Jemen als Land mit der weitesten Verbreitung von ungenügender Ernährung im Nahen Osten und Nordafrika an: 10,4 Millionen Menschen können nur ungenügend Nahrung zu sich nehmen. Das sind 58 % der Bevölkerung in den Gebieten Syriens, zu denen das Welternährungsprogramm Erhebungen durchführen konnte (WFP 10.5.2023). Der UN-Koordinator für Syrien warnte nach dem Erdbeben, dass die Zahlen für humanitären Bedarf nach oben revidiert werden müssen (UN News 8.2.2023).
Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, aber steigen tendenziell landesweit an. Der Mangel an Treibstoff und Elektrizität birgt laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) Risiken für ca. sechs Mio. Menschen, die sich nicht angemessen vor Winterbedingungen schützen können, und dies betrifft nun 33 % mehr Haushalte als im zurückliegenden Jahr. Etwa 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 % der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023).
Die Wintersaison 2023 war besonders herausfordernd für bereits fragile Gemeinschaften und Menschen mit bereits bestehenden gesundheitlichen und sozialen Schwächen. Die Wintermaßnahmen sollten ursprünglich zwei Mio. Menschen unterstützen, die überwiegend in Lagern leben und als am verletzlichsten eingestuft werden. Dazu gehören Binnenvertriebene (IDP), die bereits das zwölfte Jahr in Zelten oder provisorischen Unterkünften bei Minustemperaturen, Schnee und Regen verbracht haben. Hinzu kamen nach dem Erdbeben am 6.2.2023 laut UN-Angaben weitere 11.000 Familien aus verschiedenen Teilen Syriens, deren Häuser eingestürzt sind bzw. schwer beschädigt wurden. 5,37 Mio. brauchen Hilfe bei der Unterbringung. Die geplante humanitäre Reaktion ist in allen Bereichen erheblich unterfinanziert. Laut Humanitarian Response Plan (HRP) 2022-23, herausgegeben von UNOCHA, waren mit Stand Dezember 2022 lediglich 47,4 % der Bedarfe finanziert (AA 29.3.2023). Einer anderen Aussage vom 6.5.2023 zufolge waren trotz der Erdbeben nur sieben % des benötigten Betrags bisher für das ohnedies unterfinanzierte Hilfsprogramm eingelangt (Al-Jazeera 6.5.2023).
Aufgrund der Unterfinanzierung erreichten die humanitären Hilfen in den Bereichen Unterkunft und Non-Food-Items (NFI) mindestens 1,2 Mio. der angestrebten 2,2 Mio. Menschen nicht. 2023 gab es 5,3 Mio. NFI-Bedürftige, ein Zuwachs um 15 % zum Vorjahr. 85 % der Bevölkerung gaben an, dass ihr monatliches Einkommen nicht zur Deckung der notwendigen Ausgaben reiche. Ein Großteil der Bevölkerung verfügt nach zwölf Jahren Konflikt über keine Ersparnisse mehr, 69 % der Haushalte haben sich folglich seit 2021 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Subventionierte Basisgüter sind nur in begrenztem Umfang und in Regime-kontrollierten Gebieten über eine elektronische Karte zu beziehen. Im Februar 2022 entzog Syriens Regierung über 600.000 Haushalten mit 2,5 Mio. Personen die Berechtigung zum Bezug subventionierter Güter (AA 29.3.2023).
Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 12.2022).
- Nordwest-Syrien (Oppositionsgebiete):
Prekär blieb die humanitäre Lage auch im Nordwesten Syriens. Ca. 2,9 Mio. der aktuell ca. 4,6 Mio. dort lebenden Menschen sind nach Schätzungen von UNOCHA Binnenvertriebene, die infolge von Kampfhandlungen nach oder innerhalb Idlibs geflohen sind oder durch vom Regime betriebene 'Evakuierungen' aus zuvor belagerten Gebieten dorthin verbracht wurden. Die hohe Bevölkerungsdichte stellt eine besondere Herausforderung dar, wenn auch die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs aufgrund der Nähe zur Türkei teilweise besser als in Regimegebieten ist. Mittlerweile leben 1,8 Mio. Binnenvertriebene in Lagern, 2022 waren es 1,7 Mio. Die Vereinten Nationen gehen von einem Anstieg auf zwei Mio. bis Jahresende aus (AA 29.3.2023).
Fast jeder und jede in Nordwest-Syrien war vom Erdbeben betroffen. Mehr als 4.500 Menschen starben. Mehr als 10.500 Personen wurden verletzt, und mehr als 100.000 wurden laut UN-Angaben durch das Erdbeben vertrieben. Durch die Erdbeben kollabierten fast 2.000 Gebäude und mehr als 4.000 Gebäude wurden als unsicher oder unbewohnbar eingestuft. Viele können ohne externe Hilfe nicht ihre Unterkünfte wiederaufbauen, und Nachbeben bleiben eine Sorge. Hinzukommt der Verlust von Einkommensmöglichkeiten als Folge des Erdbebens (Al Jazeera 6.5.2023). Die hohen Raten an Lebensmittelunsicherheit in der Region wurden durch die Erdbeben verschärft ebenso wie die Dürre. Die am stärksten von den Erdbeben betroffenen Gebiete in Syrien haben bedeutenden Wassermangel erlebt und viel Ackerland wird nun zur Unterbringung von Menschen genutzt, welche durch die Erdbeben ihr Obdach verloren (TNH 6.6.2023).
Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Lage weiter zugespitzt. 97 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze (Stand 2022); etwa 90 % der Menschen in der Region sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mangelernährung stellt ein wachsendes Problem in der Region dar. 3,3 Mio. Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Laut OCHA hat weniger als eins von zehn Kindern Zugang zu adäquater und ausreichender Ernährung. Die grenzüberschreitende humanitäre Versorgung von 4,1 Mio. Menschen in Nordwestsyrien bleibt daher weiterhin essenziell. Im November 2022 erreichten die Hilfsmaßnahmen der UNO 2,47 Mio. Menschen. Nach Auslaufen der Resolution 2585 konnte die notwendige Hilfe der Vereinten Nationen über den Grenzübergang Bab al-Hawa bisher jeweils immer um sechs Monate verlängert werden. Der UN-Sicherheitsrat verlängerte die Öffnung des Grenzübergangs erneut am 9. Januar 2023 bis zum 10. Juli 2023 (AA 29.3.2023). So kann jeweils für die Dauer von sechs Monaten humanitäre Hilfe ohne Zustimmung der syrischen Regierung in das Gebiet gebracht werden (Al Jazeera 6.5.2023).
- Der Nordosten
Auch im Nordosten Syriens bleibt die humanitäre Lage angespannt. In Nordostsyrien leben 2,7 Mio. Menschen, von denen rund 1,8 Mio. auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Prekär bleibt die Situation besonders für die etwa 630.000 Binnenvertriebenen in der Region, von denen 89 % bereits seit mindestens vier Jahren vertrieben sind. Nur vier % dieser Personen planen, innerhalb des nächsten Jahres in ihre Heimatorte zurückzukehren (AA 29.3.2023).
Mitte 2020 führten die türkisch-kontrollierten Gebiete in Nordsyrien die türkische Lira als Währung ein, um das volatile syrische Pfund zu umgehen (AA 4.12.2020). Die türkische Lira hat jedoch im Jahr 2022 ungefähr 30 % ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren und 44 % bereits im Jahr davor (Reuters 9.3.2023). Da die türkische Lira im Nordwesten Syriens mittlerweile eine weitverbreitete Währung ist, hat ihre Abwertung negative Auswirkungen auf die Menschen und die humanitäre Hilfe (UNOCHA 16.12.2021). Im Dezember 2021 wurde von Panikkäufen aufgrund des Währungsverfalls der türkischen Lira berichtet (The National 8.12.2021). Die selbst ernannte 'syrische Errettungsregierung' hat daraufhin beschlossen, die Preise für Ölprodukte, die in den von Hay'at Tahrir ash-Sham kontrollierten Teilen des Gouvernements Idlib verkauft werden, in US-Dollar statt in türkischen Lira anzugeben (TSR 14.12.2021).
Die allgemeine Wirtschaftslage
Mit 2021 belief sich der wirtschaftliche Schaden des Kriegs auf 1,2 Billionen US-Dollar, hauptsächlich durch die Zerstörung von Infrastruktur und die massiven Vertreibungen durch Einsatz verbotener Kriegstaktiken primär durch die syrischen und russischen Streitkräfte (HRW 13.1.2022). Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die sich weiter verschlechternde katastrophale wirtschaftliche Lage und infolgedessen die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch teils seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen. Die Wirtschaftskrise im Libanon, dem vor allem auch im Hinblick auf die Sanktionen eine zentrale Rolle als Umschlags-und Finanzplatz für die syrische Wirtschaft zukommt, und COVID-19 verschärften die Situation ab 2019 weiter. Es kommt immer wieder zu Verknappungen von Benzin und Diesel, der für Heizzwecke und angesichts der völlig unzureichenden öffentlichen Stromversorgung auch für Generatoren benötigt wird. Auch bei dem Grundnahrungsmittel Brot gibt es Engpässe. Die Preise für beide Güter wurden stark erhöht und die Subventionen zurückgefahren. Mit derzeit mehr als 15 Mio. von Nahrungsmittelunsicherheit betroffenen Menschen ist diese Zahl höher als am Höhepunkt des Konfliktes. Der Preis für den Nahrungsmittelkorb erhöhte sich seit 2019 um 800 %. Der Konflikt hat die soziale Ungleichheit verschärft. Die Gehälter bewegen sich zwischen 70.000 und 120.000 syrische Pfund (SYP), dies entspricht umgerechnet zum Marktkurs rund 20 bzw. 35 US-Dollar. 90 % der Menschen leben in Armut. Im Land begegnet überall der Eindruck des Fehlens jeglicher Hoffnung auf Besserung (ÖB Damaskus 12.2022), und die Wirtschaft taumelt am Rande des Kollaps (MEE 3.4.2023). Die Arbeitslosenrate wird auf 57 % geschätzt. Andererseits gibt es einen Mangel an qualifiziertem Personal in bestimmten Sektoren und Gebieten, u.a. bedingt durch die Vertreibung, Flucht und Abwanderung. Ein Drittel des Wohnungsbestandes wurde ganz oder teilweise zerstört (ÖB Damaskus 12.2022).
Nach zwei Jahren Wachstum brach die Wirtschaft 2020 um 8 % ein. Die Inflation betrug 2022 geschätzt 121,5 %. Der Verfall des syrischen Pfunds hat sich weiter beschleunigt. Einem offiziellen Kurs von 3.000 SYP/USD steht ein inoffizieller Kurs von 6.100 SYP/USD gegenüber, der Unterschied beträgt demnach bereits über 50 % und steigt weiter. Die Überweisungen der im Ausland lebenden Syrer bilden einen wesentlichen Plusposten. Die Währungsreserven sind von 21 Mrd. USD (2010) dem Vernehmen nach heuer zeitweise auf nur 100.000 USD gesunken. Der Verfall der Währung führt zur Verstärkung der wirtschaftlichen Zentrifugalkräfte in den Regionen. – Im Nordwesten wird verstärkt die türkische Lira im Zahlungsverkehr genützt. Das BIP schrumpfte auf ein Fünftel gegenüber 2010, das Budget beträgt real 2022 rund zehn des Budgets von 2010. Die Ölproduktion fiel von 380.000 auf 25.000 Barrel pro Tag. Der Konflikt verursachte auch erhebliche Schäden an der physischen Infrastruktur (ÖB Damaskus 12.2022).
Sieht man von Russland und Iran (v. a. im Grundstoffbereich) sowie in geringerem Ausmaß von China ab, sind keine größeren Auslandsinvestitionen zu erwarten; auch die syrische Diaspora zeigt sich sehr zurückhaltend. Die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sind derzeit nicht gegeben; die Perspektiven haben sich vielmehr verschlechtert. Mit dem Iran sieht sich ein wichtiger Kreditgeber und Erdöllieferant aufgrund der US-Sanktionen und aktuell aufgrund massiver Proteste im Land und weiterer Sanktionsschritte des Westens selbst massiv unter wirtschaftlichem Druck (ÖB Damaskus 12.2022).
Während die Staatsinstitutionen und -funktionen in Instrumente des Regimes transformiert wurden, wurden unter der Regimeführung illegale Wirtschaftsaktivitäten massiv ausgeweitet. Diese stellen nun eine immer wichtigere Einnahmequelle dar. Dazu gehören die Drogenproduktion (Captagon) im großen Stil, Schmuggel, Schutzgelderpressungen, informelle Besteuerung von Warenhandel über die Frontlinien hinweg, Erpressung etc. Hochrangige Militärs wie Maher al-Assad und die Vierte Division sind dabei zentral in dieser 'Parallelwirtschaft' (Brookings 27.1.2023).
Laut Economist stellen Produktion und Schmuggel von Drogen - besonders von Captagon - mittlerweile die Hauptquelle Syriens für Devisen dar (USDOS 20.3.2023), es stellt das wichtigste Exportgut des Landes dar (Spiegel 17.6.2022). Die Produktion und der Schmuggel erfolgen durch Elemente mit Verbindungen zu Regimefunktionären und der Hizbollah: Die Vierte Gepanzerte Division der Syrischen Armee und Maher al-Assad dominieren auch hierbei (USDOS 20.3.2023), bzw. verdienen mit (Spiegel 17.6.2022).
Größere Produktionsstätten liegen der folgenden Karte gemäß in und um Damaskus sowie in Lattakia sowie weiteren Regionen vor allem im Westen, Südwesten und Nordwesten des Landes. Im Gebietsstreifen zwischen Homs und Damaskus entlang der libanesischen Grenze ballen sich zahlreiche kleinere Produktionsstätten (Spiegel 17.6.2022).
Quelle: Spiegel 17.6.2022
In Europa und dem Nahen Osten erfolgen große Beschlagnahmungen von Captagon, die aus regimekontrollierten Gebieten in Syrien stammten (USDOS 20.3.2023) [Zur Funktion von Captagon als Einnahmequelle siehe auch Kapitel Politische Lage]. Allerdings gibt es keinen Hinweis, dass die Captagon-Produktion der syrischen Bevölkerung in irgendeiner Weise wirtschaftlich helfen würde. Stattdessen scheint Captagon Syrien in einen 'Narco-Staat' mit einer Abhängigkeit vom Drogenhandel zu verwandeln, in welchem die Staatsführung - auch privat - finanziell profitiert. Durch die Einnahmen in US-Dollar ist der Captagon von besonderer Bedeutung, weil die Sanktionen gegen Syrien den Zugang zu Dollars unterbinden sollen. So helfen die Profite von Captagon bei der Bezahlung von Assad-Unterstützern, Milizen und Leibwächtern, und schützen so die Assad-Loyalisten vor ihren heimischen Gegnern (Soufan 13.4.2023). Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden dabei nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität eingesetzt, sondern auch zum Schutz der wirtschaftlichen Privilegien (Brookings 27.1.2023). Währenddessen erlebt die syrische Bevölkerung nach UN-Einschätzung vom März 2023 eines der schwersten Jahre, verschlechtert durch die Zerstörungen durch das Erdbeben und durch verschiedene kumulierende Entwicklungen davor, einschließlich der anhaltenden Cholera-Epidemie (UNFPA 28.3.2023).
Die Rolle der al-Muwafaqa al-Amniyeh (Sicherheitsgenehmigung) bei Wirtschaftstransaktionen im Regierungsgebiet
Sicherheitsgenehmigungen sind von Immobilientransaktionen bis hin zu kommerziellen oder industriellen Aktivitäten sowie Dienstleistungen - oder sogar für Künstler für ein Konzert nötig - ebenso für verschiedene Personenstandsangelegenheiten wie Registrierungen von Geburten und Todesfällen. Die Liste genehmigungspflichtiger Aktivitäten wurde stetig länger - wie z.B. das Mieten eines Hauses. Die Vollmachten für einige Personenstandsangelegenheiten wie Geburtenregistrierungen und Eheschließungen sowie Reisepässe und Freikäufe vom Wehrdienst (von Syrern im Ausland) wurden im Jahr 2018 wieder von der Regelung ausgenommen. So kann die syrische Regierung bezüglich Personenstandsangelegenheiten im Ausland am Laufenden bleiben, bzw. durch die Reisepass- und Befreiungsgebühren US-Dollars einnehmen. Vollmachten für vermisste und abwesende Personen bedürfen jedoch laut einem späteren Erlass weiterhin einer Sicherheitsgenehmigung, was für die Familien und besonders für weibliche Familienmitglieder von Vermissten nachteilige Folgen hat. Der Erlass bricht laut Beurteilung der NGO STJ (Syrians for Truth and Justice) syrisches Gesetz und die Verfassung. Die beiden Erlässe zu den Sicherheitsgenehmigungen dienen in Augen von STJ zur demografischen Umgestaltung von Gebieten, die zuvor von bewaffneten Oppositionsgruppen gehalten wurden. Auch verwenden Mitarbeiter des Sicherheitsapparats die Genehmigung zur Erpressung von BürgerInnen, verweigern diese auf Basis böswilliger Berichte oder profitieren durch Bestechungsgelder für die Erteilung der Genehmigung oder deren Beschleunigung (STJ 1.2023).
- Oppositionsgebiete
Auch Gebieten außerhalb staatlicher Kontrolle etablierten oder übernahmen die an der Macht befindlichen Bündnisse Institutionen, um ihre Autorität zu legitimieren. Neben rudimentären Sozialleistungen regulieren sie die lokalen Märkte und den Handel über Grenzen und Frontlinien hinweg. Sie verwalten die Verteilungen essenzieller Waren und humanitärer Hilfe und heben Steuern ein. Dies ermöglicht auch kriminelle Praktiken und Ausübung von Zwang, was das wirtschaftliche Überleben der bewaffneten Gruppen sichert, und ihre Anführer bereichert. Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität der Gruppen eingesetzt, sondern auch zum Schutz ihrer wirtschaftlichen Vorteile. Während im Regimegebiet Organisierte Kriminalität staatliche Strukturen ausbeutet und durchdringt, kann in den Rebellengebieten eine Art 'Staatsaufbau' durch Organisierte Kriminalität wahrnehmen (Brookings 27.1.2023).
Quellen:
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● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf, Zugriff 2.6.2023
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Zugang zu Einkommen und Arbeit
Letzte Änderung 12.03.2023
Allgemeines zum Arbeitsmarkt
Im Verlauf des Konflikts hat sich eine Kriegsökonomie herausgebildet, von der die syrische Regierung und ihr nahestehende Individuen und Gruppen profitieren (AA 29.11.2021). Durch den Bürgerkrieg haben sich bestehende Einkommens- und Vermögensungleichheiten verschärft, indem gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben, und die Konsolidierung einer wohlhabenden Wirtschaftselite in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ermöglicht wurde. Die Mittelschicht ist landesweit verschwunden (BS 29.4.2020). 90 % der syrischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze (Omran 23.1.2023). Es zeichnet sich ein Muster der Ungleichheit innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete ab: Ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind anfälliger für die Verletzung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten (durch Plünderungen und Einschüchterungen) und haben weniger Chancen, von Wiederaufbaugeldern zu profitieren. Die Entwicklungsungleichheit folgt zunehmend der historischen Loyalität einer Region gegenüber dem Regime Assads und nicht mehr dem ethnischen oder religiösen Status (BS 29.4.2020). Insbesondere in Gebieten, in denen lokal Ansässige mit (rückkehrenden) Binnenvertriebenen um Ressourcen konkurrieren – wie im Norden und Nordosten des Landes – bestehen kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Es gibt zudem erhebliche Unterschiede zwischen den Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung, der kurdischen Selbstverwaltung und der Syrian Salvation Government im Nordwesten: In Regierungsgebieten haben 49 % der Haushalte mehr als einen Versorger. Im Nordosten sind es 33 %, im Nordwesten nur 21 %. Laut Medienberichten liegt die Arbeitslosenquote in Nordsyrien (West und Ost) bei etwa 85 % (AA 29.3.2023).
Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die katastrophale wirtschaftliche Lage und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen (ÖB Damaskus 1.10.2021). Wirtschaftliche Verluste führten zum Verlust von Arbeitsplätzen. Bereits im Jahr 2020 gingen laut GIZ drei von vier Erwachsenen keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach (GIZ 9.2020). Das deutsche Auswärtige Amt berichtete im selben Jahr hingegen, dass 50 % der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos waren (AA 4.12.2020). Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonders vulnerabel bezüglich Ausbeutung in der Arbeit - auch in relativ stabilen Gebieten unter Regierungskontrolle, weil der Zugang zu Arbeit und Investitionskapital oft von persönlichen, politischen oder gemeinschaftsbasierten Zugehörigkeiten abhängt (FH 9.3.2023).
Der Think Tank Middle East Institute berichtete schon 2018, dass es in Damaskus immer schwieriger wurde, ohne Beziehungen (wasta) eine Arbeitsmöglichkeit zu finden (MEI 6.11.2018). Das Operations and Policy Center (OPC) veröffentlichte Daten, die darauf hindeuten, dass obwohl Menschen in Damaskus eine der längsten Arbeitswochen der Welt haben, ihre Ausgaben unter die globale Armutsgrenze fallen. Ein großer Teil der Menschen in Damaskus (und de facto ganz Syriens) sind auf externe Einkommensquellen angewiesen, um sich zu versorgen. Ein Viertel der im Rahmen des OPC-Berichts Befragten gaben an, dass Überweisungen aus dem Ausland eine Haupteinkommensquelle sind, während 41 % auf Bargeldzahlungen von Hilfsorganisationen angewiesen sind (OPC 22.6.2021).
Aufgrund von Treibstoffknappheit verteuern sich auch viele Grundprodukte, und die Preise öffentlicher Verkehrsmittel erhöhten sich teilweise um bis zu 200 % (AA 4.12.2020). Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021). Von Jänner bis Mai 2022 stieg der Preis von Treibstoff um weitere 40 % (AM 29.6.2022).
Der öffentliche Sektor als richtungsweisender Teil des Arbeitsmarkts Syriens
Die syrische Regierung verwendet einen Großteil des bereits limitierten Staatshaushalts für die Instandhaltung der Armee und der Sicherheitsbehörden sowie für laufende Militäroperationen (AA 29.11.2021). Trotz der geringen Gehälter sind Stellen im Staatsdienst aufgrund weniger Alternativen, der Aussicht auf Bestechungsgelder und günstiger Kredite gefragt (New Lines 4.6.2021).
Der starke Wettbewerb um Stellen stellt sicher, dass nur diejenigen einen Posten bekommen, die am besten vernetzt sind und als loyal angesehen werden (New Lines 4.6.2021). Im Allgemeinen haben AlawitInnen, falls sie gute Beziehungen (auf Arabisch 'wasta') haben, viel bessere Chancen auf eine Arbeit im öffentlichen Sektor als andere Gruppen wie ChristInnen, sunnitische AraberInnen oder KurdInnen. Hinzukommt, dass diese Bevölkerungsgruppen von den Geheimdiensten angesprochen werden können, für sie als InformantInnen zu arbeiten, um ihre Arbeit ausüben zu dürfen (DIS 6.2019) [Anm.: weitere Informationen zum Informantenwesen siehe auch besonders Kapitel Rückkehr, Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen]. Offiziell wird unmittelbaren Angehörigen von gefallenen Soldaten und Soldaten, die ihren gewöhnlich mehr als acht Jahre dauernden Dienst abgeleistet haben, Vorrang eingeräumt. Allerdings ist auch in dieser Gruppe mit Vorrang die Arbeitslosigkeit hoch (New Lines 4.6.2021). Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies gilt der Eintritt in die Streitkräfte als 'die einzige vielversprechende Karriereoption für junge Syrer' im Regierungsgebiet (Omran 23.1.2023).
Vor 2011 betrug das durchschnittliche Gehalt für Staatsangestellte 20.000 syrische Lira, umgerechnet etwa 400 US-Dollar. Trotz wiederholter Gehaltserhöhungen konnten die Löhne nicht mit der Inflation Schritt halten: Ein Durchschnittsgehalt von 55.000 Lira ist ungefähr 15 US-Dollar wert und reicht aufgrund der Lebensmittelteuerung für ungefähr drei Tage, um eine fünfköpfige Familie mit Basisgütern zu versorgen. Daher bessern die Staatsangestellten ihre Einkommen mit Zusatzjobs [Anm.: im Privatsektor, siehe Omran 23.1.2023] und Bestechungsgeldern auf (New Lines 4.6.2021) oder sie sind von Überweisungen aus dem Ausland abhängig. Im Fall der Militärs verfügen sie über Einkommensquellen, die allesamt illegal sind: Plündern, Erpressung, Schutzgelderpressung und Checkpoint-Steuern. Dazukommt auch noch Korruption bei Einkäufen und Verträgen des Verteidigungsministeriums, von der nur bestimmte Offiziere und Unteroffiziere profitieren (Omran 23.1.2023) [Anm.: zur Korruption zwischen Offizieren und ihren Untergebenen in Form von 'Tafyeesh' siehe Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen, Unterkapitel Streitkräfte].
Im Zuge des Kriegs fand gleichzeitig eine Aufwertung der Militärgehälter im Vergleich zu den Löhnen der Zivilangestellten des öffentlichen Diensts statt: So ist mittlerweile das Netto-Einstiegsgehalt eines einfachen Soldaten mit Gundschulabschluss (auch aufgrund der Steuerbefreiung) höher als das Einstiegsgehalt von AkademikerInnen mit Doktorat. Insgesamt fördert diese Bevorzugung des Militärapparats die Militarisierung der Gesellschaft, und vermittelt laut Omran for Strategic Studies die Botschaft an junge Leute, dass der Eintritt ins Militär einer (höheren) Schulbildung vorzuziehen ist. Diese Gehaltspolitik hat auch zur Verstärkung der Auswanderung besonders gebildeter Schichten geführt, wobei die Auswanderung junger Leute ebenfalls Teil dieser Politik ist, damit die AuslandssyrerInnen später Geld an ihre Familien überweisen. Das Regime profitiert dabei nicht nur von diesen Devisen, sondern auch von den sehr hohen Summen für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst (Omran 23.1.2023).
Das US-Außenministerium zieht weiterhin einen Bericht des Danish Immigration Service (DIS) heran, wonach das Regime das unerlaubte Verlassen, bzw. Fernbleiben von der Arbeit im öffentlichen Dienst als politische oder regierungsfeindliche Aktion ansieht (USDOS 20.3.2023): Von 2011 bis 2017 wurden ungefähr 138.000 derartige Fälle vor syrische Gerichte gebracht. Ein Urteil erfolgte in 50.000 Fällen, und die meisten Betroffenen wurden in absentia verurteilt. Im Fall einer Rückkehr riskieren die Verurteilten eine Verhaftung. Hochrangige ehemalige MitarbeiterInnen laufen Gefahr, unter dem Anti-Terror-Gesetz von 2012 angeklagt zu werden, weil ihr Verlassen des Diensts als politischer bzw. oppositioneller Akt ausgelegt wird. Fälschungen von Gerichtsurteilen werden eher von außerhalb Syriens als in Syrien berichtet. Die Amnestien von September 2019 und März 2020 decken auch Verurteilungen und offene Verfahren von ehemaligen Angestellten des öffentlichen Diensts, wenn das Verlassen des öffentlichen Diensts nicht als politisch motiviert eingestuft wird. Im Fall einer Rückkehr nach Syrien würde trotzdem erst eine Verhaftung bis zum Entscheid über eine etwaige Anwendung der Amnestie erfolgen (DIS 4.2021).
Auch ist der öffentliche Sektor von Treibstoffknappheiten betroffen, welche zu Verspätungen der MitarbeiterInnen oder in einigen Fällen zum Einstellen des Erscheinens bei der Arbeit aufgrund der hohen Transportkosten führten. So kam es im Jahr 2021 im April wegen der Treibstoffknappheit auch zu angeordneten Arbeitszeitreduzierungen für viele Angestellte um 60 % und zu einer ursprünglich für zwei Wochen angekündigten Schließung von Schulen und Universitäten, die jedoch Anfang Juni 2021 noch anhielt (New Lines 4.6.2021).
Quellen
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● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf, Zugriff 31.5.2023
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● DIS – Danish Immigration Service (6.2019): Syria - Consequences of illegal exit, consequences of leaving a civil servant position without notice and the situation of Kurds in Damascus, Juni 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011587/Report_syria_june_2019.pdf, Zugriff 27.4.2023E
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Ergänzende Informationen zum Zugang zu Lebensmitteln und humanitärer Hilfe
Letzte Änderung 13.03.2024
Ergänzende Informationen zur Lebensmittelversorgung
Mitte 2023 lebten mehr als 90 Prozent der SyrerInnen unter der Armutsgrenze, und mindestens zwölf Millionen SyrerInnen hatten keinen ausreichenden Zugang zu Lebensmittel oder konnten sich diese nicht ausreichend leisten. Mindestens 15 Millionnen SyrerInnen waren auf eine Form von Humanitärer Hilfe angewiesen, um zu überleben. Mehr als 600.000 Kinder waren chronisch unterernährt (HRW 11.1.2024). Die Kosten für Grundnahrungsmittel für eine Familie haben sich seit Kriegsbeginn mit Stand 2021 verdreißigfacht. 90 Prozent aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel aus, in drei Viertel der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei. Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, steigen tendenziell aber landesweit weiter an. 87 Prozent der Bevölkerung haben keinerlei Ersparnisse mehr, 71 Prozent der Haushalte haben sich seit 2019 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 Prozent der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch, z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten. Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich: Mittlerweile sind subventionierte Basisgüter nur in begrenztem Umfang über eine elektronische Karte zu beziehen. Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021).
Im Jahresverlauf 2020 stieg die Zahl der Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist, dramatisch an. Zu den Gebieten mit der größten Ernährungsunsicherheit gehörten Lattakia, Raqqa und Aleppo (FAO 13.8.2020). Anfang 2021 waren 12,4 Mio. Menschen in Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen (WFP 3.2021), eine Steigerung um 56 Prozent von 7,9 Millionen 2019 (UNOCHA 3.2021a). Mit Stand Januar 2023 benötigen 15,3 Millionen SyrerInnen humanitäre Hilfe und von diesen verfügen vier Fünftel nicht über genug Nahrung (BBC 31.1.2023). In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage besonders angespannt. Die kritische Versorgungslage hat in Regionen mit einem besonders hohen Anteil Binnenvertriebener (z. B. Provinz Idlib, aber auch Zufluchtsorte in den Provinzen Homs, Damaskus, Lattakia und Tartus) darüber hinaus vereinzelt zu Ablehnung und Abweisung von Neuankömmlingen geführt, die als Konkurrenten in Bezug auf die ohnehin sehr knappen Ressourcen gesehen werden (UNOCHA 3.2021b).
Im Februar 2022 wurde der Ausschluss von ungefähr 600.000 Familien vom Subventionsprogramm bekannt gegeben, das Gas und Heiztreibstoffe, Brot und andere Basisgüter wie Mehl und Zucker beinhaltet. Das löste Proteste in Suwaida sowie online aus (HRW 12.1.2023). Der Zugang zu Sozialleistungen wird auch häufig durch die geografische Lage und die politische Kontrolle bestimmt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten waren bestimmte Sozialleistungen eine wichtige Stütze für die 'Leistungsfähigkeit des Staates', vor allem der fortgesetzte Zugang zu subventioniertem Brot [Anm.: zu der Rangordnung beim Zugang siehe Unterkapitel Lebensmittelversorgung und Zugang zu humanitärer Hilfe]. Das Regime versucht jedoch auch, den Zugang zu Sozialleistungen in Rebellengebieten zu verhindern. Dies geschieht häufig durch die Ausbeutung von Hilfslieferungen an Checkpoints durch Regimekräfte sowie durch andere bewaffnete Gruppen. Mangelnde Überwachung bedingt außerdem, dass die Hilfe, selbst wenn sie die betroffenen Gebiete erreicht, oft nach politischen Loyalitäten oder familiären Verbindungen verteilt wird. Die Regierung verlässt sich zunehmend auf Wohltätigkeitsverbände bei der Vergabe von Sozialleistungen und Unterstützungen (BS 29.4.2020).
Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, da es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.2.2022).
In Damaskus und den Gouvernements Lattakia und Tartus ist der Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung und gesundheitlicher Versorgung grundlegend gewährleistet, während sich die Versorgungslage aufgrund der Wirtschaftskrise wieder deutlich verschlechtert hat (AA 4.12.2020). Einer von Mitte August bis Anfang September 2023 durchgeführten Befragung hauptsächlich im Bevölkerungssegment von 16 bis 35 Jahren zufolge geben in Damaskus 17 Prozent, in Aleppo 28 Prozent und in Homs 2 Prozent der Befragten an, nicht ausreichend Lebensmittel für ihre Familien zur Verfügung zu haben. In Damaskus kommen 32 Prozent gerade noch bei der Lebensmittelversorgung über die Runden. In Aleppo sind es 28 Prozent und in Homs 15 Prozent (SL/ STDOK 13.12.2023).
Trotz der Brotkrise weigerte sich das Regime oft, private Bäcker in Gebieten, die zuvor von der Opposition kontrolliert wurden, zuzulassen. Seit Kriegsbeginn zerstörten das Regime- und Pro-Regime-Kräfte systematisch Bäckereien und Öfen, was die Produktion und Verteilung von Brot in umstrittenen Gebieten einschränkte. Auch der Wiederaufbau von Bäckereien durch die Regierung erfolgt nach politischer Ausrichtung eines Viertels statt nach dem Bedarf. Human Rights Watch (HRW) berichtete, dass Regierungskräfte den Bäckereien Brot wegnahmen, um es am Schwarzmarkt zu verkaufen. Bäckereien mit Regierungsunterstützung haben separate Warteschlangen für Einwohner, IDPs, Militärs und Angehörige der Geheimdienste, wobei Kunden mit Regierungszugehörigkeit Vorrang haben (USDOS 20.3.2023). Wobei bereits im September 2020 berichtet wurde, dass die Benzin- und Brotknappheit typisch für Regierungsgebiete ist. Die Lebensmittelpreise sind erheblich gestiegen, wobei urbane Regionen stärker betroffen sind - auch Damaskus (UNHCR 3.2021).
Einschränkungen beim Zugang zu humanitärer Hilfe im Regierungsgebiet
Die Lebensmittelpreise stiegen in den beiden letzten Jahren um mehr als 500 Prozent, was die Deckung der Grundbedürfnisse für die zwölf Millionen SyrerInnen, welche unter Lebensmittelunsicherheit leiden, unerreichbar macht (WFP 19.10.2022). Der Anteil an Menschen mit Bedarf an humanitärer Hilfe stieg im Jahr 2021 um 21 Prozent und erreichte eine Gesamtzahl von 13,4 Millionen Menschen, von denen sich laut UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) 1,48 Millionen in schwerster Not befanden (HRW 13.1.2022). Im Jahr 2022 wurde der bisherige Höchststand an humanitären Bedarf erreicht, und im Jahr 2023 benötigen 15,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe - eine Steigerung um 700.000 Personen im Vergleich zu 2022. Unter den von Lebensmittelunsicherheit Betroffenen befinden sich 3,75 Millionen Kinder (UNPFA 28.3.2023).
Der Syria Humanitarian Response Plan (HRP) erhält immer weniger Geld, möglicherweise wegen anderer Krisen wie jener in der Ukraine (UNPFA 28.3.2023). Laut UN-Aussage sind nur 11 Prozent der von der UNO budgetierten Hilfe für 2023 abseits der Erdbebennothilfe finanziert. Das Welternährungsprogramm (World Food Programme - WFP) der UNO hat seine Hilfe in Syrien reduziert - trotz ihres vorhergehend publizierten Hinweises einen Monat vor den Erdbeben, dass der Hunger in Syrien den Höchststand in den zwölf Jahren Krieg erreicht hat. Eine Verschlechterung der Lage seit den Erdbeben ist offensichtlich. Mit Juli 2023 musste die Hilfe für 40 Prozent der RezipientInnen des WFP eingestellt werden. Im Dezember 2023 schrieb WFP, dass auch die gekürzten Rationen bald nicht mehr zur Verfügung stehen würden (WFP 19.12.2023).
Die syrische Regierung hält weiterhin strenge Restriktionen bei der Lieferung humanitärer Hilfe in den Regimegebieten Syriens und darüber hinaus im Land aufrecht. Hilfe wird zur Bestrafung oppositioneller Meinung umgeleitet. Fehlende Sicherungsmaßnahmen der Beschaffungspraxis von UN-Organisationen bergen ein ernstes Risiko, Missbräuchlichkeiten durch syrische Organisationen zu unterstützen (HRW 11.1.2024) [Anm.: siehe dazu auch Kapitel Medizinische Versorgung]. Die UNO-Organisationen müssen den Regierungsvorgaben gemäß Partnerschaften mit syrischen Organisationen unter Regimekontrolle wie dem Syria Trust und dem Syrian Arab Red Crescent eingehen. Als Maßnahme, um diese Kooperation sicherzustellen, verweigert das syrische Außenministerium Personen Visa, von denen sie eine mangelnde Zusammenarbeit erwartet (FDD 15.3.2023). Quasi-NGOs, besonders der von Präsidentengattin Asma al-Assad geführte Syria Trust, sind immer einflussreicher geworden, seit internationale NGOs gezwungen sind, ihre Hilfe über diese zu verteilen. Unterabteilungen des Syria Trusts wurden zwecks Profit von dieser Hilfe eingerichtet. Es gibt zudem den Trend, neue Quasi-NGOs zu gründen oder alte umzubenennen, sodass die Überwachung der Geber über deren Hintergrund verkompliziert wird (BS 23.2.2022). Selbst wenn das UN-Personal alle diese Herausforderungen meistert, so können syrische Sicherheitskräfte dennoch aus den Konvois Güter für sich entwenden. Zudem konnte sich Bashar al-Assad mehr als 100 Millionen US-Dollar von Hilfe in den Jahren 2019 bis 2020 durch die Manipulation der Wechselkurse aneignen (FDD 15.3.2023)
Mit der fortgesetzt steigenden Zahl an Syrern und Syrerinnen in Not wird die Regierung al-Assad immer versierter darin, humanitäre Unterstützung als politisches Instrument zu verwenden, weshalb Hilfe, die dem syrischen Volk helfen soll, in wachsendem Maß die Regierung politisch und finanziell stärkt. Sie schöpft Hilfe ab, zweckentfremdet sie und leitet sie für eigenen Zwecke um - sowohl in den Gebieten unter seiner Kontrolle wie auch in anderen Landesteilen, indem es den internationalen Zugang lenkt (CSIS 14.2.2022). Die syrische Regierung hat immer wieder auch humanitäre Hilfe als strategische Waffe eingesetzt, um ihre Konfliktziele zu erreichen, wie zum Beispiel während der Belagerung von Dara’a Stadt zwischen 24.6. und 26.7.2021 (COAR 19.7.2021). Auch wird z. B. die UNO daran gehindert, den Hilfsbedarf der Bevölkerung zu ermitteln (FDD 15.3.2023).
- Die Lage im oppositionellen Nordwesten vor dem Hintergrund der Erdbeben
Die Erdbeben verschlechterten die Lage in der Region, wo 4,1 Millionen Menschen - 90 Prozent der Bevölkerung - irgendeine Art humanitärer Hilfe benötigen, aber nicht unbedingt erhalten. Nach den Erdbeben benötigten noch mehr Leute Hilfe, während gleichzeitig die Lebensmittelpreise in die Höhe schossen, weil Straßen, Supermärkte und Bäckereien beschädigt waren. Noch im Juni 2023 waren die Preise weiterhin am Steigen, allerdings hauptsächlich wegen der anhaltenden Inflation der türkischen Lira, die ungefähr 77 Prozent ihres Werts gegen den US-Dollar über fünf Jahre hin verloren hat. Teile des Nordwestens unter Kontrolle der Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) führten die Türkische Lira im Jahr 2020 als Alternative zum fallenden Syrischen Pfund ein. Dazukommen neben den Erdbebenfolgen auch noch die Klimaschocks für die Landwirtschaft in Form der Dürre. Auf vielen Feldern stehen zudem nun die Behausungen für die durch die Erdbeben obdachlos gewordenen Menschen (TNH 6.6.2023).
Außerdem gelangen weniger Hilfsgüter in die Region - im Zeitraum Jänner bis Mai 2023 insgesamt 2.496 LKW-Ladungen über die seit dem Erdbeben drei vom Regime erlaubten Grenzübergänge zur Türkei. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 3.506 LKW-Ladungen (damals nur via Grenzübergang Bab al-Hawa). Hintergrund ist seit Längerem die Unterfinanzierung der Hilfsoperation für Nordwest-Syrien. Die von der UNO initiierte Erdbebennothilfe für Syrien von 398 Millionen US-Dollar ist allerdings voll finanziert, und die Hilfslieferungen über die syrisch-türkische Grenze wurden hochgefahren. Laut UN-Angaben erhielten auch mehr als eine halbe Million Menschen im Nordwesten nach den Erdbeben eine Geldhilfe, eine entscheidende Hilfe, welche nicht auf LKWs verladen werden muss (TNH 6.6.2023).
- Landwirtschaftliche Produktion
Die lange andauernden kriegerischen Handlungen führten auch zu einer Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur. Die COVID-19-Krise hat dies noch weiter verschärft (FAO 13.8.2020). Der Agrarsektor, der vor dem Krieg zu rund einem Fünftel zum BIP beitrug, ist nach Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) seit 2011 um 90 Prozent eingebrochen. Damit ist Syrien als vormaliger Agrarexporteur mittlerweile auf Nahrungsmittelimporte angewiesen, insbesondere auch aus Russland. Ein wesentlicher Teil der syrischen Agrarprodukte (Weizen, Oliven(-öl), Gemüse) wird teils in oppositionellen Gebieten produziert (Idlib, al-Hassakah). Für die Nahrungsversorgung der syrischen Bevölkerung spielt Weizen eine tragende Rolle. Der Bedarf an Weizen für Syrien wird laut FAO auf ca. 3,5 Mio. Tonnen pro Jahr geschätzt. Während die Produktion 2007 noch 4 Mio. Tonnen betrug, lag sie 2022 laut FAO bei nur noch 1,05 Mio. Tonnen. Der Ertrag des Gerstenanbaus ist ebenfalls stark zurückgegangen, er fiel im Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent. Anfang 2023 waren etwa 15 Mio. SyrerInnen auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Die starke Dürre 2020/2021 im Nordosten, wo 80 Prozent der jährlichen Getreideproduktion Syriens erwirtschaftet wird, hatte fatale Auswirkungen auf die Ernteerträge. 40 Prozent der Ackerflächen liegen brach, in al-Hassakah sogar die Hälfte. Die VN sprachen von der schlimmsten Trockenheit seit 70 Jahren. Die Situation hat sich seither nicht verbessert, die VN rechnen aufgrund hoher Temperaturen und Trockenheit mit schweren Ernteausfällen auch für 2023. Laut einer OPC-Studie (Juni 2022) sind womöglich noch weniger Anbauflächen nutzbar als 2021 (AA 29.3.2023).
Neben der Dürre sind viele Anbaugebiete durch Kampfmittel schwer kontaminiert, was ihre Nutzung teilweise unmöglich macht. Die Transportwege in Regimegebiete sind teils blockiert oder aufgrund zahlreicher Straßensperren, an denen Milizen Wegzoll verlangen, sehr teuer. Das syrische Regime hat nach glaubhaften Berichten gezielt die Zerstörung von Anbaugebieten, Lebensmittelvorräten und Saatgut in von der Opposition gehaltenen Gebieten als Mittel der Kriegsführung eingesetzt und versucht, gleichzeitig so viel der Weizenernte im Nordosten wie möglich aufzukaufen – aufgrund der knappen Devisen mit nur mäßigem Erfolg (AA 29.3.2023). Auch im Nordosten sorgen rasant steigende Lebensmittelpreise, wachsende Sicherheitsprobleme und eine Verdopplung der Bevölkerung durch IDPs für eine vergrößerte Armutsrate. Viele Menschen sind nun auf humanitäre Hilfe für ihr Überleben angewiesen, aber Budgetknappheiten (der Hilfsorganisationen) und logistische Einschränkungen bedeuten, dass nicht alle Hilfsbedürftigen erreicht werden. Die UNO hat Schwierigkeiten, Hilfe in das Gebiet zu bekommen seit Russland und China im Jahr 2020 die Resolution über die Fortsetzung von Hilfslieferungen über einen irakischen Grenzübergang blockierten. Seither sind die Menschen im Nordosten auf Hilfslieferungen via Regimegebiet angewiesen. Was davon dann im Nordosten ankommt, geht meist in IDP-Lager und die am meisten vom Krieg getroffenen Gebiete wie Raqqa und Deir ez-Zor, während die ländlichen Gebiete dazwischen quasi übersehen werden (BBC 31.1.2023).
Quellen:
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● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1, Zugriff 3.3.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf, Zugriff 2.6.2023
● BBC - British Broadcasting Corporation (31.1.2023): 'They call us garbage people': The Syrians surviving off US army waste, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-64400345, Zugriff 1.2.2023
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 21.4.2023
● BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report – Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf, Zugriff 2.6.2023
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● CSIS - Center for Strategic & International Studies (14.2.2022): Rescuing Aid in Syria, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/220214_Hall_Rescuing_Aid_Syria.pdf?VersionId=L_U.TWZsv4VvgD7jVGcDhLsDSt4l7_HM, Zugriff 20.6.2023
● FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (13.8.2020): Syrian Arab Republic – Revised humanitarian response (May–December 2020), http://www.fao.org/3/cb0197en/CB0197EN.pdf, Zugriff 20.6.2023
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● HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103131.html, Zugriff 25.1.2024
● HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 16.3.2023
● HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066477.html, Zugriff 2.6.2023
● SL/ STDOK - Statistics Lebanon (Autor), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber) (13.12.2023): Dossier - Syria - Socio-Economic Survey 2023, Zugriff 23.1.2024 [Das Dossier ist bei der Staatendokumentation des BFA abrufbar.]
● TNH -The New Humanitarian (6.6.2023): Hunger crisis in northwest Syria compounded by quakes, inflation, and aid cuts, https://www.thenewhumanitarian.org/news-feature/2023/06/06/hunger-syria-inflation-quake-aid-cuts?utm_source=The+New+Humanitarian&utm_campaign=763ae934ae-EMAIL_CAMPAIGN_2023_06_06&utm_medium=email&utm_term=0_d842d98289-763ae934ae-15680949, Zugriff 6.6.2023
● UNHCR – United Nations High Commissioner for Refugees (3.2021): UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen; 6. aktualisierte Fassung, März 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060156/opendocpdf.pdf, Zugriff 20.6.2023
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● WFP - World Food Programme (19.10.2022): WFP Syria – Country Brief, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/wfp-syria-country-brief-august-2022, Zugriff 20.6.2023
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Wohnsituation und Infrastruktur
Letzte Änderung 13.03.2024
Wohnsituation sowie Enteignungen
Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Seit 2011 bis 2021 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, welche die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen (AA 29.11.2021). Einer Untersuchung der Weltbank (2017) zufolge ist ein Drittel des gesamten Bestandes an Häusern und Wohnungen in Syrien im Rahmen des Konfliktes in Mitleidenschaft gezogen worden, wobei sieben Prozent zerstört und 20 Prozent beschädigt sind. Aufgrund der Kämpfe in den sog. Deeskalationszonen (Ost-Ghouta, Dara’a, Homs, Idlib), v. a. 2018, dürfte der Schaden an Infrastruktur heute noch höher sein (AA 29.3.2023). In Gebieten, welche von der Regierung zurückerobert wurden, berichtete die Mehrheit der von Human Rights Watch interviewten Personen über komplett oder teilweise zerstörte Häuser, deren Wiederaufbau oder Renovierung sie sich nicht leisten konnten. Die syrische Regierung stellt keine Wiederaufbauhilfe zur Verfügung - auch nicht Jahre nach der Rückeroberung. Daher leben viele BewohnerInnen in behelfsmäßigen Zelten, weil sie es sich nicht leisten können, anderswo etwas zu mieten (HRW 13.1.2022). Mindestens 5,7 Mio. Menschen lebten vor dem Erdbeben im Februar 2023 in von UNHCR als 'unzulänglich' kategorisierten Unterkünften, vielfach ohne Heizung und entsprechende Isolierung gegen Kälte und Regen. Aufgrund der Erdbebenkatastrophe sind laut UNHCR weitere 5,37 Mio. Menschen in Syrien auf Hilfe bei der Unterbringung (Shelter Assistance) angewiesen. Laut einer Studie der NGO Norwegian Refugee Council von Mai 2022 kann nur einer von zehn Syrern die monatlichen Ausgaben, wie etwa für Miete, Strom und Lebensmittel, bezahlen. Im Dezember 2022 lebten in Syrien 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften, außerhalb der Lager sind es zwei Prozent. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien – in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des Humanitarian Needs Assessment Programme der Vereinten Nationen (VN) von 2020 wohnen 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023). Bei einer Mitte August bis Anfang September 2023 durchgeführten Befragung hauptsächlich im Bevölkerungssegment von 16 bis 35 Jahren gaben 50 Prozent der in Homs Befragten an, sich die Wohnkosten, wie Miete, Strom, Wasser, Heizung, kaum leisten zu können. In Damaskus und Aleppo waren es je 27 Prozent. In Aleppo konnten 24 Prozent der Befragten das Geld für die Wohnkosten nicht aufbringen, in Damaskus 13 Prozent und in Homs vier Prozent (SL/ STDOK 13.12.2023) [Anm.: bzgl. des Einflusses der Erdbeben auf den Zugang zu Obdach siehe auch Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
In Damaskus haben sich fast eine Million Binnenvertriebene vorübergehend oder dauerhaft niedergelassen, während ein großer Teil der Wohnhäuser am ehemals von den Rebellen gehaltenen östlichen und südlichen Stadtrand zerstört ist (Wind/Ibrahim 2.2020). Die Nachfrage nach Wohnraum ist enorm, während das Angebot auf dem Wohnungsmarkt begrenzt ist. Neue Stadtentwicklungsprojekte sind luxuriös und unerschwinglich für Familien, die ihr Zuhause aufgrund des Krieges verloren haben. Daher hat der informelle Wohnungsbau am südlichen und nördlichen Rand der Stadt stark zugenommen (Wind/Ibrahim 2.2020; vergleiche Syria Times 21.6.2020). Aufgrund der Abwertung des syrischen Pfunds sind die Wohnungspreise im Laufe des Jahres 2020 stark gestiegen (Syria Times 21.6.2020). Bereits im Jahr 2021 überstiegen die Preise in und um Damaskus das Durchschnittsgehalt der Angestellten im öffentlichen Dienst (DIS 10.2021). Bereits im September 2012 hat die syrische Regierung mit Präsidialdekret 66/2012 eine rechtliche Grundlage für die Ausweisung von Stadtentwicklungsgebieten in zwei informellen Siedlungen in Damaskus (Marota City im Stadtteil Basateen al-Razi und Basilia City in mehreren südlichen Stadtvierteln) geschaffen. Da viele geflohene oder vertriebene Bewohner nicht nach Syrien zurückkehren konnten, um ihre Eigentumsrechte geltend zu machen, bzw. keine Eigentumsdokumente vorweisen konnten, verloren in Marota rund 50.000 Menschen ihr Zuhause ohne angemessene Entschädigung oder Erhalt einer alternativen Unterkunft (AA 29.11.2021).
Übereinstimmenden Berichten von VN und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentiert auch die CoI (die von den VN eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) in ihrem Bericht von September 2022. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut diesen Berichten haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert. Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen. Auf der Grundlage des Dekrets 63/2012 wurde die vorsorgliche Beschlagnahme von Eigentum und Vermögen von mindestens 10.000 Personen gerechtfertigt. Diese Form der Bestrafung führt nicht nur zu Repressalien gegen die Inhaftierten, sondern dient auch als kollektive Bestrafung von deren Familien. Die Ausübung von Eigentumsrechten wird außerdem behindert, indem für die Gültigkeit von Kauf- oder Mietverträgen eine Sicherheitsüberprüfung verlangt wird, in welcher die Familienmitglieder auf angebliche terroristische Aktivitäten sowie auf die Flucht außer Landes überprüft werden und ob sich die AntragstellerInnen aus einem Oppositionsgebiet zurückkehren. Zudem erlaubt Dekret 63/2012 dem Finanzministerium den Besitz und das Vermögen aller, die unter die Anti-Terror-Gesetzgebung fallen, zu beschlagnahmen. Laut eines Berichts des Syrian Network for Human Rights (SNHR) wurden zwischen 2014 und Oktober 2020 mindestens 3.970 solcher Fälle dokumentiert. Die Konfiszierungslisten sollen neben den Daten der Betroffenen selbst, auch die Namen ihrer Familienmitglieder enthalten. Die Anwendung des Dekrets kann auch auf diese ausgedehnt werden. Das Regime konfisziert Eigentum nicht nur unter rechtlichem Vorwand, sondern beschlagnahmt auch Grundstücke von Gefangenen, Oppositionellen und Vertriebenen für militärische Zwecke und zum Verkauf an iranische Milizionäre (AA 2.2.2024).
In wiedereroberten Teilen von Idlib und Hama konfiszieren so z. B. die syrischen Behörden mittels Pro-Regime-Milizen und der staatlich kontrollierten Bauerngewerkschaft ungesetzlicherweise die Heime und das Land von SyrerInnen, welche vor den syrisch-russischen Angriffen geflüchtet waren. Der Besitz wird dann durch Auktionen versteigert (HRW 13.1.2022). Auch 2023 wurde diese Praxis laut Human Rights Watch (HRW) weiter fortgesetzt (HRW 11.1.2024). Zu Beginn 2021 beschlagnahmte das Regime mehr als 44.000 ha landwirtschaftliche Flächen in den Gouvernements Hama, Aleppo und Idlib, und gab diese öffentlich zur Versteigerung frei. Diese Flächen waren als Land in Staatseigentum ('Amiriland') zur langfristigen Nutzung im Besitz von im Konflikt vertriebenen Syrern, von denen sich die meisten außerhalb des Landes befinden und deshalb ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Bewirtschaftung des Bodens nicht nachkommen konnten (AA 29.11.2021). In Ost-Ghouta und Douma hat die Regierung viele Grundstücke beschlagnahmt, die in erster Linie Personen gehören, die nach Nordsyrien oder in die Türkei vertrieben wurden oder die vom Militär zu anderen bewaffneten Kräften übergelaufen sind. Diese Grundstücke wurden an Familien von Militärangehörigen vergeben oder werden als militärische Quartiere genutzt (AA 2.2.2024).
Während des gesamten Konflikts gab es zudem Berichte über Luftangriffe, die direkt auf Standes- und Katasterämter abzielten. Dadurch wurden in großem Umfang Personenstands- und Eigentumsdokumente zerstört, sodass es für viele Menschen schwierig ist, ihre Eigentumsansprüche nachzuweisen. Mit dem Gesetz 10/2016 hat das Regime bestimmte Gebiete - insbesondere Gebiete außerhalb der staatlichen Kontrolle - als 'Sicherheitsrisiko' eingestuft, um damit Änderungen in den Eigentumsregistern in diesen Gebieten zu verbieten. Immobilientransaktionen von SyrerInnen in Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung werden damit nicht anerkannt. Weiterhin wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern (AA 2.2.2024).
Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist. Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 2.2.2024). Im Februar 2021 veröffentlichte das Ministerium für Medien und Information ein Video des Chefs der Abteilung für die Befreiung vom Militärdienst der syrischen Armee, in dem dieser die sofortige Beschlagnahme von Vermögenswerten ohne vorherige Benachrichtigung ankündigte, sofern die Zahlung des Ersatzgeldes nicht bis spätestens drei Monate nach Vollendung des 43. Lebensjahres erfolge. Eine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, fehlt laut Human Rights Watch. Außerdem wird dadurch ein zusätzliches Rückkehrhindernis geschaffen (AA 29.11.2021).
Milizen konfiszieren in unterschiedlichem Ausmaß Privatbesitz. Das Gesetz Nr. 10 von 2018 erlaubt dem Staat, Gebiete für den Wiederaufbau zu bestimmen. Personen, welche eine Anzahl von Kriterien zum Beweis ihres Besitzes nicht erfüllen können, riskieren diesen ohne Kompensation zu verlieren (FH 9.3.2023). Die Eigentümer werden innerhalb einer einmonatigen Ankündigungsfrist verständigt und haben dann ein Jahr Zeit, ihre Eigentumsansprüche einzubringen, damit sie Anspruch auf Kompensation (auch Eigentumsansprüche auf neu errichtete Wohneinheiten auf ihren Grundstücken) erheben können. Anvisierte Bezirke oder Gebiete waren zuvor mehrheitlich in der Hand der Rebellen. De facto stellt dies auch eine Enteignung jener Flüchtlinge dar, die aus Angst vor politischer Verfolgung oder aus anderen Gründen nicht nach Syrien zurückkehren können, um ihre Ansprüche anzumelden (WKO 10.2019). Die in Dekret 10/2018 festgelegte Vorgehensweise bei der Berechnung des Entschädigungswerts bei Neubebauung kommt laut UN-Experten einer „marktbasierten Enteignung“ gleich. Die meisten Binnenvertriebenen oder Flüchtlinge haben weder ausreichend Ressourcen noch die notwendigen Urkunden, um ihren Anspruch zu registrieren (AA 29.11.2021).
Dekret 42/2018 wurde bislang nicht umgesetzt. Stattdessen findet zunehmend Dekret 23/2015 Anwendung, demzufolge Grundstücke auch in Abwesenheit der ursprünglichen Eigentümer genutzt werden können. Insbesondere informelle Viertel, die aufgrund der rapiden Urbanisierung in den 1980er und 1990er-Jahren in den meisten syrischen Städten entstanden waren, sind der Regierung ein Dorn im Auge. Eigentumsverhältnisse sind für von dort geflohene Bewohner nur schwer nachweisbar. Zahlreiche syrische Staatsangehörige scheuen zudem den Kontakt mit offiziellen staatlichen Stellen, weil sie Befragungen durch die Sicherheitsbehörden befürchten. Menschen aus ehemals belagerten Gebieten trauen sich oftmals aus Angst vor Repressionen nicht, persönlich die Ausstellung eigener Personenstandsdokumente zu beantragen. Bei Anwendung von Gesetz 10/2018 könnten daher zahlreiche Rückkehrerinnen und Rückkehrer kurz- bis mittelfristig enteignet werden. Es gibt außerdem immer wieder Berichte über Rückkehrende, die verhaftet wurden, als sie ihre Besitzansprüche gegenüber syrischen Behörden geltend machen wollten (AA 29.11.2021).
Frauen sind bezüglich Grundstückbesitzes mit gesellschaftlichen Normen konfrontiert, welche Frauen bzgl. Immobilienbesitz entmutigen, zusätzlich zu Personenstandsgesetzen, die Frauen bei Erbschaften diskriminieren (FH 9.3.2023).
In der selbsternannten Autonomieverwaltung AANES (Autonomous Administration of North and East Syria) wird die dortige angewachsene Zahl an Immobilienstreitfällen (auch durch gefälschte Dokumente) durch die Existenz zweier Rechtssysteme - dem nationalen und dem der AANES - für die Betroffenen erschwert, wobei die AANES-Gerichte mangels eigener Landregister auf die Unterlagen der Regierungsgerichte zurückgreifen müssen. Das Problem der Immobilienstreitigkeiten aufgrund gefälschter Dokumente ist mittlerweile in mehreren syrischen Provinzen verbreitet und führte zu mehreren Erlässen des syrischen Justizministeriums, um das Phänomen einzudämmen (Enab 31.1.2023).
Infrastruktur allgemein
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP 20.7.2020). Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren, und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa, Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 20.4.2020).
Die syrische Regierung bemüht sich, den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten dient eher der internen Propaganda, bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein politisches Signal zu senden, und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019). Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa, die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten Islamischen Staat (IS) befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzukommt die immense Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die Hafenstädte Tartus und Lattakia (AA 4.12.2020). Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche, und der Beschädigungsgrad variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen klare Spuren des Krieges auf, und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018). Vor allem im westlichen Teil des Landes ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).
Das öffentliche Verkehrssystem in Syrien funktionierte mit Stand 2021 kaum noch: Es war für die Fahrer viel profitabler, ihre subventionierten Treibstoffrationen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Das führte zu langen Wartezeiten zu Beginn und am Ende der Arbeitstage. Dies traf auch den öffentlichen Dienst in Form zu spät kommender Angestellter und in Form von Nicht-Erscheinen an vielen Arbeitstagen von Angestellten aufgrund der hohen Transportkosten (New Lines 4.6.2021). Im Februar 2023 war z. B. in Lattakia der Preis für Diesel, der in der Landwirtschaft, im Transport und zum Heizen benötigt wird, 14-mal höher als drei Jahre zuvor (WFP 14.3.2023). Im nordwestlichen Syrien, wo außerhalb der Regierungskontrolle die türkische Lira eingeführt wurde, wächst die Schere zwischen niedrigen Einkommen und steigenden Preisen für Treibstoffe und Transport weiter (The New Arab 26.5.2023).
Wasser- und Stromversorgung
13,6 Mio. Menschen benötigen im Jahr 2023 Zugang zu Trinkwasser, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen, darunter 6 Mio. Kinder - ein Anstieg um 2,6 Prozent zum Vorjahr (AA 29.3.2023).
- Zugang zu Trinkwasser
Syriens sieben größte Trinkwasseranlagen versorgen etwa 9,5 Mio. Menschen. Die maroden Systeme verfallen aufgrund von Konflikt und fehlender Wartung zunehmend. Die Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung ist infolge gezielter Zerstörung vor allem in umkämpften Gebieten eingeschränkt. Für viele SyrerInnen bedeutet der Kauf von Trinkwasser eine große finanzielle Belastung: Haushalte geben sieben Prozent ihres monatlichen Einkommens für Wasser aus. Anfang 2023 hatten 52 Prozent der syrischen Bevölkerung keinen Zugang zur regulären leitungsbasierten Wasserversorgung, im Vorjahr waren es 47 Prozent. 6,9 Mio. Menschen erhalten nur 2-7 Tage im Monat Leitungswasser, da u. a. nicht ausreichend Strom für die Pumpwerke vorhanden ist. Insbesondere der Süden (Gouvernements Dara‘a und Quneitra), der Norden (Gouvernements Idlib, Aleppo, al-Hassakah) sowie nahezu die gesamte in Zeltlagern lebende Bevölkerung ist nach wie vor in hohem Maße auf durch Lastwagen im Rahmen der humanitären Hilfe geliefertes Wasser angewiesen (AA 29.3.2023). In einer Befragung von in den drei größten Städten lebenden Syrern im Alter zwischen 16 und 35 Jahren Mitte August bis Anfang September 2023 gaben 12 Prozent der Befragten in Aleppo an, keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser zu haben, in Damaskus und Homs waren es 2 Prozent der Befragten. 28 Prozent in Homs, 15 Prozent in Aleppo und 8 Prozent in Damaskus haben selten Zugang zu sauberem Trinkwasser (SL/ STDOK 13.12.2023).
Die Krise gefährdet die Wasserversorgung von rund 5,5 Mio. Menschen, die in den an den Euphrat grenzenden Provinzen leben. Das Generaldirektorat der EU-Kommission für Zivilschutz und humanitäre Hilfsmaßnahmen (ECHO) warnte im Juli 2022 mit Verweis auf Wetterprognosen der World Meteorological Organisation (WMO) vor einer "extremen und langfristigen" Dürre in Syrien (AA 29.3.2023) [Anm.: zur Wassersituation in Relation zum Ausbruch der Cholera siehe Kapitel Medizinische Versorgung und Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Die regenarme Saison, die zu Wasserknappheit und dürftiger Ernte geführt hatte, führte bereits früher in Nordsyrien zu Spannungen. Die Wasserknappheit verschlimmert sich durch den Einsatz von Wasserversorgung als Waffe durch die Konfliktparteien, besonders durch das Regime, die Autonome Administration und die Türkei, sowie durch das Missmanagement und die Übernutzung des Grundwassers (COAR 5.7.2021). Zusätzlich dazu gefährdet der Konflitk zwischen der Türkei und der AANES den Zugang zu Wasser von fast einer Million Menschen in al-Hasakah und Umgebung (HRW 11.1.2024). Neben dem humanitären und gesundheitlichen Aspekt der Zerstörung der Wasserinfrastruktur trägt dies auch zu einem Wassermangel bei der landwirtschaftlichen Bewässerung bei (Insecurity 19.4.2023).
Im Sommer 2021 wurde der Nordosten von einer Wasserkrise heimgesucht, wie sie zuletzt 2008 stattfand (AA 29.3.2023): In al-Hassakah hatten im Jahr 2021 eine Million Menschen seit fast zwei Jahren keinen Zugang mehr zu Wasser (MSF 27.9.2021). Diese dreifache Wasserkrise bestand aus: (1) einer Dürre aufgrund geringer Niederschläge im Winter, (2) einem überdurchschnittlich niedrigen Wasserstand am Euphrat (200m³/s statt 500m³/s Durchfluss) und (3) häufigen Unterbrechungen im Wassersystem, allen voran der Alouk-Wasserstation, die knapp 460.000 Menschen in al-Hassakah inklusive der Flüchtlingslager Roj und Al-Hol versorgt (AA 29.3.2023). Neben einem Sommer mit extrem wenig Niederschlag im Jahr 2021 machten Vertreter der kurdisch geführten Verwaltung die türkische Regierung für die Verlangsamung der Wassermenge, die über den Euphrat ins Land fließt, verantwortlich (TNH 20.12.2021).
Aufgrund zerstörter Kläranlagen werden mindestens 70 Prozent des Abwassers nicht behandelt (AA 29.3.2023). Medienberichten zufolge erreicht die Verschmutzung wichtiger Gewässer ein kritisches Niveau. In vielen Gebieten ist das verschmutzte Wasser nicht mehr für den Konsum geeignet (TNH 20.12.2021) [Anm.: zum Cholera-Ausbruch seit August 2022 siehe Kapitel Medizinische Versorgung und Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
- Stromversorgung
Die Stromversorgung funktioniert u. a. aufgrund der Treibstoffknappheit, der zerstörten Energie-Infrastruktur und des niedrigen Wasserstandes an den Staudämmen in manchen Gebieten Syriens nur noch für wenige Stunden pro Tag. Insgesamt erhalten drei Viertel aller Haushalte weniger als acht Stunden Strom am Tag. In Nordostsyrien war Elektrizität im September 2021 täglich nur 5-6 Stunden verfügbar; in Nordwestsyrien täglich 7-8 Stunden (Stand 2022). Der Pro-Kopf-Konsum von staatlicher Elektrizität beträgt lediglich 15 Prozent gegenüber 2010 (AA 29.3.2023).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 31.5.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf, Zugriff 2.6.2023
● COAR - Center for Operational Analysis and Research (5.7.2021): Dar’a Siege: Russia Abouts Face, Amps up Pressure, https://coar-global.org/2021/07/05/dara-siege-russia-abouts-face-amps-up-pressure/, Zugriff 21.12.2022
● DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (10.2021): Syria Palestinians in Damascus and Rural Damascus governorates, https://www.ecoi.net/en/file/local/2063240/coi_report_prs_october_2021.pdf, Zugriff 11.5.2023
● Enab Baladi (31.1.2023): Stuck between courts of two authorities: property recovery lawsuits exhaust al-Hasakah residents, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/01/stuck-between-courts-of-two-authorities-property-recovery-lawsuits-exhaust-al-hasakah-residents/, Zugjriff 9.2.2023
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● SL/ STDOK - Statistics Lebanon (Autor), Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (Herausgeber) (13.12.2023): Dossier - Syria - Socio-Economic Survey 2023, Zugriff 23.1.2024 [Das Dossier ist bei der Staatendokumentation BFA abrufbar.]
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● TNH - The New Humanitarian (20.12.2021): Conflict and climate change collide: Why northeast Syria is running dry, https://www.thenewhumanitarian.org/news-feature/2021/12/20/conflict-climate-change-why-northeast-Syria-is-running-dry, Zugriff 19.6.2023
● WFP - World Food Program (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (14.3.2023): Syria markets update (18 - 25 February 2023): Fuel price increase provide further scope for higher food prices, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/syria-markets-update-18-25-february-2023-fuel-price-increase-provide-further-scope-higher-food-prices, Zugriff 19.6.2023
● Wind/Ibrahim (2.2020): The war-time urban development of Damascus: How the geography- and political economy of warfare affects housing patterns, https://reader.elsevier.com/reader/sd/pii/S0197397519309464?token=4FB011B37ACF6F0E0BB83ADE1C5188CC00BFF745373F67726E8D9734B448F398B978C10C56523EAF05D294608C7D8E5C&originRegion=eu-west-1&originCreation=20211001070801, Zugriff 19.6.2023
● WKO - Wirtschaftskammer Österreich – Außenwirtschaftscenter Amman (10.2019): Wirtschaftsbericht Syrien, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/syrien-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 7.10.2020 [Der Link ist nicht mehr zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]
● WKO - Wirtschaftskammer Österreich – Außenwirtschaftscenter Amman (11.2018): Außenwirtschaft: Update Syrien, Zugriff 1.3.2019 [Der Link ist nicht mehr zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]
1.3.11 Medizinische Versorgung
Letzte Änderung 13.03.2024
Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist stark eingeschränkt, medizinische Grund- und Notversorgung sind u. a. aufgrund von gezielten Angriffen auf das Gesundheitswesen kaum gewährleistet. Schätzungen der Vereinten Nationen (VN) zufolge sind nur rund 47 Prozent der Gesundheitseinrichtungen voll und 21 Prozent teilweise funktionstüchtig. Große Teile der Gesundheitsinfrastruktur sind infolge militärischer Auseinandersetzungen und fehlender Instandhaltung weiterhin nicht oder nur eingeschränkt nutzbar. Notfalltransporte sind durch einen Mangel an Krankenwagen stark beeinträchtigt (AA 2.2.2024). Im Zeitraum 2015-2021 wurden 159 Ambulanzfahrzeuge beschädigt oder zerstört. Trotz einer Erhöhung der Zuweisungen durch die syrische Regierung im Jahr 2022 bleibt der syrische Gesundheitssektor chronisch unterfinanziert. Die Ausgaben wurden nominal um 97,1 Prozent und real um 4,2 Prozent im Vergleich zu 2021 erhöht. Das Defizit wird durch rückläufige finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland verstärkt. Überdies meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im September 2022 eine Finanzierungslücke von 69 Prozent (179 Mio. US-Dollar) (AA 29.3.2023).
2023 benötigen in Syrien etwa 12,2 Mio. Menschen Pflege- bzw. Gesundheitsleistungen (AA 2.2.2024). In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen Studie, bei der SyrerInnen im Alter zwischen 16 und 35 Jahren in den drei Städten Damaskus, Aleppo und Homs befragt wurden, gaben 60 Prozent an, immer Zugang zu Medikamenten zu haben und sich diese auch leisten zu können, 31 Prozent haben Zugang, können sich die Medikamente aber nicht leisten und 9 Prozent haben keinen Zugang zu Medikamenten. In Homs gab die überwiegende Mehrheit an, Zugang zu Medikamenten zu haben und sich diese auch leisten zu können (84 Prozent), gefolgt von Damaskus (58 Prozent) und Aleppo (38 Prozent). 38 Prozent aller Befragten gaben an, dass sie Zugang zu medizinischer Primärversorgung haben und sich diese auch leisten können, weitere 38 Prozent, dass sie Zugang zu medizinischer Versorgung hätten, sich diese aber nicht leisten könnten und 23 Prozent gaben an, keinen Zugang zu medizinischer Primärversorgung zu haben, während 1 Prozent keine Angaben dazu machte. In Damaskus gaben 50 Prozent der Befragten an, dass sie immer Zugang zu medizinischer Primärversorgung hätten und sich dies auch leisten könnten, in Homs waren es 41 Prozent und in Aleppo nur 22 Prozent. In der Befragung gaben 18 Prozent an, dass sie immer Zugang zu einem Spezialisten (Zahnarzt, Ophthalmologe, Gynäkologe, Urologe, Pädiater) haben, 71 Prozent hätten Zugang, können sich die Konsultation aber nicht leisten und 10 Prozent haben keinen Zugang zu einem Spezialisten und 1 Prozent entzog sich der Antwort. In Damaskus hätten 66 Prozent Zugang zu einem Spezialisten, könnten es sich aber nicht leisten. In Aleppo sind es 60 Prozent und in Homs 85 Prozent. 20 Prozent der Befragten haben Zugang zu medizinischen Diagnosemöglichkeiten, wie Labore oder Radiologen und können sich die Konsultation leisten, 67 Prozent gaben an, zwar Zugang zu haben, es sich aber nicht leisten zu können und 12 Prozent haben keinen Zugang zu medizinischen Diagnosemöglichkeiten. 1 Prozent machte keine Angaben. Im Städtevergleich haben in Damaskus 70 Prozent Zugang zu Diagnosemöglichkeiten, können sich diese aber nicht leisten, in Aleppo sind es 67 Prozent und in Homs 63 Prozent. In Bezug auf spezielle Behandlungen, wie Operationen und Krebsbehandlung gaben nur 3 Prozent an, dass sie die Möglichkeit dafür hätten und sich die Behandlung auch leisten könnten. 47 Prozent hätten zwar die Möglichkeit einer solchen Behandlung, könnten sich diese aber nicht leisten und weitere 41 Prozent gaben an, keinen Zugang zu solchen Behandlungen zu haben. 9 Prozent gaben keine Antwort auf diese Frage. 58 Prozent der Befragten in Damaskus hätten zwar die Möglichkeit einer speziellen Behandlung, können sich diese aber nicht leisten, während 27 Prozent keinen Zugang dazu haben. In Aleppo und Homs können sich jeweils 42 Prozent der Befragten die spezielle Behandlung nicht leisten, obwohl sie Zugang dazu hätten, während in Aleppo 39 Prozent keinen Zugang zu einer solchen Behandlung haben, ist die spezielle Behandlung für 56 Prozent der Befragten in Homs nicht zugänglich (SL/ STDOK 13.12.2023).
Syrische Regierungstruppen und ihre Verbündeten waren mit Berichtszeitpunkt Juli 2021 für 90 Prozent von 600 verifizierten Angriffen auf medizinische Einrichtungen verantwortlich. Diese machten medizinische Einrichtungen sowohl für das medizinische Personal als auch für die Patienten zu tödlichen Orten und dezimierten den Gesundheitssektor im ganzen Land (PHR 7.2021). Auch werden MitarbeiterInnen von Gesundheitseinrichtungen Ziel von Verhaftungen und Folter (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung betrachtet medizinisches Personal als Staatsfeinde, wenn dieses diskriminierungsfrei medizinische Versorgung in Gebieten, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, anbietet (NMFA 5.2020), und auch sonst sind MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors spezifische Ziele wegen ihres Berufs oder ihrer tatsächlichen oder angenommenen medizinischen Versorgung von Oppositionellen: Verhaftungen betrafen so auch z. B. Gesundheitspersonal, das mit internationalen Medien über COVID-19 gesprochen hatte oder sonst dem streng kontrollierten offiziellen Narrativ über die Pandemie widersprach. Gegen diese wird Folter eingesetzt, z. B. um Informationen über Aktivitäten zur Gesundheitsversorgung oder über anderes medizinisches Personal zu erhalten oder auch um Verbrechen zu gestehen, welche die Gefolterten gar nicht begangen hatten. Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR - Syrian Network for Human Rights) sind weiterhin mindestens 3.407 Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs von Verschwindenlassen oder Haft betroffen, wobei die syrischen Regimekräfte für mehr als 3.358 Fälle verantwortlich sind (USDOS 20.3.2023). SNHR dokumentierte von 2011 bis November 2021 den von 861 MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors, PHR (Physicians for Human Rights) verzeichnete den Tod von 930 Personen aus dem medizinischen Bereich, wobei das Regime sowie die russischen Truppen für mehr als 90 Prozent der Fälle die Verantwortung trugen (USDOS 12.4.2022). Aufgrund der Kampfhandlungen in der Provinz Idlib und der Abwanderung großer Teile des Gesundheitspersonals mussten seit Dezember 2019 mindestens 83 Gesundheitseinrichtungen schließen (Stand 2021). Laut des syrischen Ärzteverbands waren bis Ende Oktober 2023 über 16.000 Pflegekräfte emigriert. Die VN schätzen, dass etwa 50 Prozent des Gesundheitspersonals ausgewandert sind. Ärzte und Pflegekräfte wurden zudem bei Angriffen getötet (AA 2.2.2024).
Gewalt macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung laut US-Außenministerium gefährlich und teuer, z. B. durch die fallweise Verweigerung des Passierens von schwangeren Frauen an Regime-Checkpoints oder durch die Bombardierung von Gesundheitseinrichtungen in Oppositionsgebieten, von denen zwei Fälle vom Jahr 2022 erwähnt werden (USDOS 20.3.2023).
Im Süden Syriens, in den Provinzen Dara’a, Quneitra und Sweida, sind fünf von sechs Krankenhäusern beschädigt und nur bedingt funktionstüchtig. Laut WHO können komplexere Operationen und spezialisierte Behandlungen für chronische Krankheiten derzeit ausschließlich in Damaskus oder den Küstenorten Tartus und Lattakia durchgeführt werden. Bei lebensrettenden Arzneimitteln, medizinischem Personal und Ausstattung sind erhebliche Engpässe ermittelt worden, insbesondere im Hinblick auf die medizinische Behandlung verletzter und chronisch kranker Personen. Dies hat auch zur Rückkehr übertragbarer Krankheiten wie Polio geführt. Aufgrund kritischer hygienischer Bedingungen sowie unzureichender vorbeugender Maßnahmen und Behandlungen mehren sich landesweit Cholera-, Diphtherie- und Leishmaniose-Fälle (AA 2.2.2024). Die verfügbaren Daten für Nicht-COVID-19-Bezogene Krankheiten zeigen, dass grippeähnliche Erkrankungen, akute Diarrhö, Leishmaniose und mutmaßlich Hepatitis in allen Altersgruppen die Hauptursachen für Sterblichkeit sind. Dies gilt insbesondere für Lager von Binnenvertriebenen, in denen die Indikatoren für den Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygienediensten durchwegs schlechter sind als außerhalb. Vertriebene sind aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, Überbevölkerung und anderen Risikofaktoren einem erhöhten Risiko von Infektionskrankheiten ausgesetzt (WHO 3.2021).
Gewalt gegen Mitarbeiter im Gesundheitsbereich und Angriffe auf medizinische Einrichtungen, verbunden mit den Folgen von COVID-19, erschweren den Zugang zu medizinischer Versorgung, auch für Personen mit konfliktbedingten Behinderungen (USDOS 12.4.2022) [Anm.: speziell zur Lage von Kindern mit Behinderungen siehe USDOS 20.3.2023]. 28 Prozent der Bevölkerung haben – mehrheitlich konfliktbedingte – Behinderungen, fast doppelt so viele wie der internationale Durchschnitt (15 Prozent). In Nordostsyrien sind es sogar 37 Prozent. Insgesamt 59 Prozent der syrischen Erwachsenen mit Behinderung sind arbeitslos und knapp 50 Prozent ohne Zugang zu medizinischer Versorgung (AA 2.2.2024). Menschen mit Behinderungen benötigen Rehabilitations- und Hilfsdienste (WHO 3.2021). 25 Prozent der Über-Zwölf-Jährigen in Syrien haben eine Beeinträchtigung und 36 Prozent der Binnenvertriebenen. Die Hälfte der Binnenvertriebenen zwischen zwölf und 23 Jahren mit Beeinträchtigung besucht die Schule im Vergleich zu 69 Prozent der Binnenvertriebenen ohne Beeinträchtigung (HNAP 7.4.2021). Frauen und Menschen mit Beeinträchtigung scheinen im Nordwesten stärker betroffen zu sein, wo mehr als die Hälfte der Frauen und mehr als 40 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung von einem Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten berichten, im Vergleich zu etwas mehr als 35 Prozent der Frauen und fast 20 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung im Nordosten (USAID 16.04.2021).
Einer Studie zufolge leiden 60 Prozent der syrischen Bevölkerung an Symptomen, die auf eine mittelschwere bis schwere psychische Störung hindeuten. Schätzungen zufolge leiden eine Million SyrerInnen an schweren psychiatrischen Störungen, wobei 2018 nur 80 Psychiater im Land tätig waren (1 pro 100.000 Einwohner) (BJPSYCH 8.2021). Syrien ist unter den Ländern mit der höchsten Traumarate weltweit. Laut Angaben der Vereinten Nationen litten im Jahr 2020 36,9 Prozent der Bevölkerung unter Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD). Die Traumata bleiben häufig unbehandelt: Eine psychosoziale Betreuung der hohen Anzahl traumatisierter Menschen wird nur punktuell und fast ausschließlich durch Maßnahmen der WHO gewährleistet. Sexualisierte Gewalt ist weit verbreitet (AA 2.2.2024).
Die Folgen des Erbebens vom 6.2.2023
Der Mangel an Sanitäreinrichtungen, abgefülltem Trinkwasser und Wasser zum Baden sowie das [Anm.: im Frühjahr noch] kalte Wetter in stark überbelegten Sammelunterkünften und Zelten stellen ein Risiko für durch Wasser übertragbare Krankheiten und schwere Risiken im Bereich reproduktiver Gesundheit, wie Infektionen dar. Es kam bereits zu Ausbrüchen von Krätze und anderen Krankheiten. Es gibt ein hohes Risiko für einen Cholera-Ausbruch in den betroffenen Gebieten. Mit Berichtszeitpunkt 3.3.2023 war bereits ein Anstieg der Cholera-Fälle von zwölf Prozent seit dem Erdbeben zu verzeichnen, darunter beinahe 1.700 Verdachtsfälle innerhalb einer Woche. Der Mangel an Laborausrüstungen und -materialien zur Überwachung der Qualität des Trinkwassers behindert die Prävention von durch Wasser übertragbare Krankheiten. Aus Lattakia, Tartus und Hama wird ein Mangel an Waschgelegenheiten gemeldet, was das Risiko von Läusen, Krätze, ansteckenden und infektiösen Krankheiten erhöht (DEEP 10.3.2023).
Gebiete außerhalb der Regierungskontrolle
Der Gesundheitssektor litt bereits vor den Erdbeben nach zwölf Jahren Krieg unter einem schweren Mangel an Ausstattung und medizinischem Personal (Al Jazeera 6.5.2023). Die Versorgung mit Medikamenten sowie die Abdeckung mit medizinischem Personal ist laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes noch schlechter als in Regimegebieten. Während es in Damaskus, Lattakia und Tartus immerhin 38-41 Pflegekräfte und Ärzte pro 10.000 Einwohner gibt, sind es in al-Hassaka, Raqqa und Dara’a lediglich 5-6 pro 10.000 Einwohner. Durch Vertreibungen aus ehemals vom Regime belagerten Gebieten, u. a. im Südwesten des Landes, wird das ohnehin extrem angespannte Gesundheitssystem im nicht vom Regime kontrollierten Nordwesten des Landes weiter belastet (AA 2.2.2024).
Die Erdbeben [Anm.: vom 6.2.2023 sowie Nachbeben] haben die Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung in Nordwest-Syrien verschärft, weil viele Gesundheitseinrichtungen beschädigt wurden, und daher nicht mehr in Betrieb sind. Weitere 42 medizinische Einrichtungen weisen eine Beschädigung von 20 bis 50 Prozent auf. Mehrere MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs starben, während bereits zuvor eine Knappheit an ausgebildeten MitarbeiterInnen herrschte (Al Jazeera 6.5.2023).
Auch die chronische Unterernährung von Kindern unter fünf Jahren ist in Nordost-Syrien doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Die Menschen im Nordwesten leiden unter Kampfhandlungen, Vertreibung und großer Armut, von den rund 4,6 Mio. Menschen dort leben knapp 1,8 Mio. notdürftig in Zelten. Aufgrund einer Finanzierungslücke über 80 Prozent sind im Winter 2023/2024 laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs etwa 2,7 Mio. Menschen vom Erfrieren bedroht (AA 2.2.2024).
Humanitäre Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Sicherstellung einer Basisgesundheitsversorgung der Menschen dort werden vom Regime gezielt behindert bzw. verhindert. Auch gezielte Angriffe des Regimes gegen zivile Gesundheitseinrichtungen dauern an. Zwischen 2016-2019 wurden im Nordwesten 337 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gezählt, von den 606 durch die WHO erfassten Gesundheitseinrichtungen in Nordwestsyrien sind 131 funktionsunfähig. Laut Aid Worker Security Database steht Syrien mit insgesamt 337 (Stand Oktober 2022) Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen auf Platz drei weltweit – hinter dem Südsudan und Afghanistan. Hauptursachen waren Luftangriffe, Beschuss sowie Detonationen von Kampfmitteln (IEDs). Hilfsprogramme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in von der bewaffneten Opposition (Idlib) oder der kurdischen sog. „Selbstverwaltung“ kontrollierten Gebieten werden vom Regime durch Androhung einer Einstellung aller WHO-Operationen regelmäßig verhindert (AA 2.2.2024). Physicians for Human Rights (PHR) berichtete, dass schwangere Frauen in steigendem Maß Kaiserschnitte als Geburtsmethode wählten, um die Zeit in Krankenhäusern zu verringern, die als Ziel für Angriffe bekannt sind. Im Lauf des Jahres 2022 kam es weiterhin zu Luftangriffen des Regimes und der russischen Luftwaffe auf zivile Ziele, darunter auch Krankenhäuser (USDOS 20.3.2023).
Die Gesundheitsversorgung in den oppositionellen Gebieten wird weitestgehend von Nichtregierungsorganisationen geleistet, die von Zuwendungen der internationalen Gebergemeinschaft abhängig sind (AA 2.2.2024). Die aktuelle internationale Hilfe deckt laut einer Quelle vor Ort nur 25 Prozent des aktuellen Bedarfs an Medikamenten und medizinischer Ausstattung (Al Jazeera 6.5.2023). Die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, haben laut Aussagen humanitärer HelferInnen nicht annähernd mit der UNO vergleichbare Kapazitäten für den Ankauf und Transport von Hilfsgütern in den Nordwesten, wobei Russland wiederholt gedroht hat, mit einem Veto den UN-Hilfslieferungen und den UN-Geldern via Türkei ein Ende zu machen. Millionen Menschen in Nordost- und Nordwest-Syrien sind auf Lebensmittel, Medikamente und andere lebensnotwendige Hilfe - einschließlich COVID-19-Impfstoffen - über die syrisch-türkische Grenze angewiesen. In Nordost-Syrien konnten die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, nicht kompensieren, dass die UNO im Jänner 2020 ihre Hilfslieferungen vom Irak aus nach Syrien einstellen musste (HRW 12.1.2023). PatientInnen in den nordwestlichen Oppositionsgebieten, die vor den Erdbeben Behandlungen gegen Krebs in türkischen Spitälern erhalten konnten, können nicht lokal versorgt werden - ebenso wie auch Herzpatienten mit Operationsbedarf (Al Jazeera 6.5.2023).
Der Cholera-Ausbruch seit August 2022
Der Cholera-Fall vom 22.8.2022 gilt als der erste bekannte Fall (WHO 18.10.2022). Der Ausbruch begann in der Provinz Aleppo und ist höchstwahrscheinlich auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen, das zur Bewässerung von Feldern eingesetzt wurde, aber auch als Trinkwasser dient (AA 2.2.2024). Seit August 2022 hat sich die Cholera in Syrien ausgebreitet, wobei vor allem die Küste (ÖB Damaskus 12.2022) sowie die Provinzen Aleppo, Raqqa, Deir ez-Zor und Al-Hassakah am schlimmsten betroffen sind (AA 2.2.2024), obgleich in allen 14 Gouvernements Cholera-Fälle verzeichnet wurden (AA 29.3.2023). 23 Prozent von 84.607 Verdachtsfällen von Cholera aus ganz Syrien betreffen das Gouvernement Aleppo (DEEP 10.3.2023). Zwischen August 2022 und Januar 2023 wurden 100 zugeschriebene Todesfälle bei einer Fallsterblichkeitsrate von 0,13 Prozent verzeichnet. Zwar hat sich die Zahl der gemeldeten Verdachtsfälle in einigen Gouvernements mittlerweile deutlich verringert, insgesamt nehmen die kumulierten Fälle aber weiter zu. Die Gesundheitsbehörden in Nordostsyrien, deren Angaben nicht vom Gesundheitsministerium in Damaskus berücksichtigt werden, meldeten bis Ende Oktober 2022 152 positive Fälle und 29 Tote. (AA 29.3.2023) Es wurde mittlerweile mit Impfungen gegen Cholera begonnen (UN Secretary General 21.2.2023).
Laut der WHO stellen das fragile Gesundheitssystem Syriens, Zugangsbeschränkungen zu Gebieten mit bewaffneter Gewalt und die mangelhafte Wasser-, Sanitäts- und Hygienesituation (Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Erschwinglichkeit von Wasser) bei hohen Preisen für sicheres Wasser die derzeit größten Herausforderungen dar (WHO 18.10.2022). Hinzu kommen Berichte, dass die Türkei keinen geregelten Wasserfluss in den Euphrat garantiert, und daher das Problem des Wassermangels zusätzlich verstärkt, während die syrische Regierung Hilfslieferungen für das Selbstverwaltungsgebiet behindert (AP News 7.11.2022; vergleiche HRW 7.11.2022).
COVID-19
Am 22.3.2020 wurde der erste Fall einer COVID-19 infizierten Person in Syrien bestätigt (ÖB Damaskus 29.9.2020). Unbestätigte Berichte deuteten damals darauf hin, dass das Virus schon früher entdeckt worden war, dies aber vertuscht wurde (Reuters 23.3.2020). Die offiziell verlautbarten Zahlen (rund 70 000 Fälle und 3300 Tote per Anfang Juli) für die von der Regierung kontrollierten Landesteile sind sehr niedrig; detto die der Testungen; die Dunkelziffer ist sehr hoch. Es folgten weitreichende Maßnahmen (u. a. Ausgangssperren, Verkehrsbeschränkungen, Schließungen von Bildungseinrichtungen und Geschäften), die zwischenzeitig weitgehend aufgehoben wurden. Die Pandemie traf ein Land mit einem Gesundheitssystem, das durch den Konflikt schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies trifft gerade auch für die humanitären Brennpunkte mit Hunderttausenden IDPs vor allem im Nordwesten zu (ÖB Damaskus 12.2022). Die vierte Welle erreichte das Land im Sommer 2021. Die WHO stufte Syrien aufgrund nicht vorhandener Kapazitäten im Gesundheitsbereich bereits zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 als Hochrisikoland ein. Impfstofflieferungen im Rahmen von COVAX verzögerten sich zu Beginn jedoch stark und die Auslieferung in Oppositionsgebiete wurde zeitweise durch das Regime zurückgehalten. Aufgrund fehlender persönlicher Schutzausrüstung, völlig unzureichender Test-, Isolations-, Kontroll- und Versorgungskapazitäten und aktiver Vertuschung der Pandemie durch das Regime gingen Nichtregierungsorganisationen mit Stand November 2021 von über einer halben Million tatsächlicher Infektionen aus (AA 29.11.2021). Die Informationen bzgl. der COVID-19 Pandemie sind landesweit weiterhin unzulänglich; laut syrischem Gesundheitsministerium gab es bis Ende Oktober 2022 57.354 Ansteckungen, 3.163 Menschen sind infolge einer Erkrankung verstorben. Bis Ende Juli 2022 erhielten 13,9 Prozent der Syrerinnen und Syrer eine COVID-19-Impfung, 9,5 Prozent sind doppelt geimpft (AA 29.3.2023).
Die Regierung erhielt mit Stand März 2021 geschätzte 120.000 Test-Sets und andere Ausrüstung von unterschiedlichen Ländern und soll diese an private Labore verkauft haben, statt sie im öffentlichen Gesundheitssystem zu verteilen. Es gibt auch Anschuldigungen, dass die Regierung Lieferungen, die für oppositionelle Gebiete bestimmt waren, für ähnliche Zwecke beschlagnahmt hat, bzw. sich bemüht, Hilfsgüter in die eigenen Gebiete zu lenken. Auch verweigerte die Regierung verschiedene kooperative Maßnahmen mit dem Selbstverwaltungsgebiet, was die dortigen Anti-Covid-Maßnahmen untergrub (COAR 10.3.2021) [Anm.: bzgl. Umgang mit Hilfsgütern siehe auch Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
Im Jahr 2020 berichteten die unterbesetzten medizinischen Fachkräfte, dass sie ihre Aufgaben unter der Aufsicht der mächtigen Sicherheitsdienste erfüllen mussten, welche die staatlichen Gesundheitseinrichtungen überwachen. Dies soll abschreckend auf Patienten wirken, die bereits zögern, sich in einem Land behandeln zu lassen, in dem die Angst vor dem Staatsapparat groß ist und jede kritische Diskussion über den Umgang mit der Pandemie als Bedrohung für eine Regierung angesehen werden könnte, die entschlossen ist, eine Botschaft der Kontrolle zu vermitteln (Al Jazeera 5.10.2020). Menschenrechtsaktivisten zufolge verhaftete das Regime MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs, die mit internationalen Medien über die COVID-19-Krise sprachen oder dem streng kontrollierten Narrativ über die Auswirkungen der Pandemie auf das Land widersprachen (USDOS 20.3.2023).
Gewalt durch MitarbeiterInnen medizinischer Berufe sowie Korruptionsberichte besonders bzgl. der Weltgesundheitsorganisation in Syrien
Im Jänner 2022 begann in Deutschland ein Gerichtsverfahren gegen den syrischen Arzt Alaa Mousa, der eines Mordes und der Folter in 18 Fällen in Militärhospitälern in Homs und Damaskus angeklagt ist. Folterungen finden Berichten zufolge in mehreren Militärkrankenhäusern statt (USDOS 20.3.2023).
Im Oktober 2022 wurden Berichte über Korruption, Betrug und Übergriffe im Syrien-Büro der WHO bekannt. So soll die Leiterin Akjemal Magtymova laut der Associated Press Hilfsgelder in Millionenhöhe veruntreut und Regierungsvertreter mit kostspieligen Geschenken beeinflusst haben. Des Weiteren beschuldigen WHO-Mitarbeiter ihre Chefin, inkompetente Verwandte von teils fragwürdigen Staatsfunktionären angestellt und während der COVID-19-Pandemie dringend benötigte Gelder, die für humanitäre Hilfeleistungen vorgesehen waren, anderweitig ausgegeben zu haben. Dadurch konnte und kann die WHO laut eigenen Mitarbeitern in Syrien das Gesundheitssystem, welches beinahe gänzlich auf internationale Hilfeleistungen angewiesen ist, nicht adäquat unterstützen, vor allem da das letztjährige Budget nur ca. 115 Millionen US-Dollar betrug. Eine interne Untersuchung der WHO der berichteten Missstände war damals bereits seit mehreren Monaten am Laufen (AP News 20.10.2022; vergleiche TG 20.10.2022). Zusätzlich zu den Fällen bei der WHO sollen die Ehefrau und ein Bruder des syrischen Außenministers Faisal Mekdad sowie Angehörige anderer Spitzen des syrischen Staatsapparats ebenfalls im Lauf der Zeit in den Genuss von Anstellungen bei UN-Organisationen in Syrien gekommen sein (FDD 15.3.2023).
Anmerkung, Bzgl. Korruption im öffentlichen Sektor Syriens siehe Kapitel Korruption.
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/AuswProzentC3ProzentA4rtiges_AmtProzent2C_Bericht_ProzentC3ProzentBCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_Prozent28Stand_MProzentC3ProzentA4rz_2023Prozent29Prozent2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/AuswProzentC3ProzentA4rtiges_AmtProzent2C_Bericht_ProzentC3ProzentBCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_SyrienProzent2C_Prozent28Stand_November_2021Prozent29Prozent2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 19.5.2023
● Al Jazeera (6.5.2023): Syrians still fear building collapses three months on from quakes, https://www.aljazeera.com/news/2023/5/6/syrians-still-fear-building-collapses-three-months-on-from-quakes, Zugriff 6.5.2023
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● WHO - World Health Organization (3.2021): WHO Emergency Appeal, March - 2021, Syrian Arab Republic, http://www.emro.who.int/images/stories/syria/2021-whole-of-syria-appeal.pdf?ua=1, Zugriff 17.5.2023
1.3.12 Rückkehr
Letzte Änderung 13.03.2024
Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 11.1.2024).
Die offizielle politische Position des Regimes hinsichtlich der Rückkehr von Geflüchteten wurde im Berichtszeitraum angepasst. In einem anlässlich des UNHCR-Exekutivkomitees am 12.10.2023 veröffentlichten Statement versicherte das syrische Regime, dass es sichere Rückkehrbedingungen schaffe. Die Versprechungen, z. B. zum Wehrdienst, bleiben jedoch vage. Nach Einschätzung vieler Beobachter könne kaum mit großangelegter Flüchtlingsrückkehr gerechnet werden (AA 2.2.2024).
Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten (CNN 10.5.2023). Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nichts geändert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine „freiwillige Rückkehr“ zu erwirken (AA 2.2.2024).
RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023; vergleiche Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Beschränkungen beim Zugang zu ihren Herkunftsgebieten (HRW 11.1.2024). Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden. Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. UNHCR, IKRK und IOM vertreten unverändert die Auffassung, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann derzeit insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden (AA 2.2.2024).
Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).
Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).
Hindernisse für die Rückkehr
Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z. B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).
Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).
Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialien wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].
Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).
Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: mehr dazu siehe in dem Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort sowie im Unterkapitel Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr].
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 6.6.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2059734.html, Zugriff 6.6.2023
● Al Jazeera (17.5.2023): Syrian refugees in fear as Lebanon steps up deportations, https://www.aljazeera.com/news/2023/5/17/syrian-refugees-in-fear-as-lebanon-steps-up-deportations, Zugriff 19.5.2023
● Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023
● CNN - Cable News Network.(10.5.2023): For Syrian refugees, Assad’s rehabilitation prompts fear of forced return, https://edition.cnn.com/2023/05/10/middleeast/syria-refugees-fear-assad-rehabilitation-mime-intl/index.html, Zugriff 6.6.2023
● HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103131.html, Zugriff 22.1.2024
● HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 24.5.2023
● NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (7.2019): Country of Origin Information Report Syria: The security situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2016076/Country+of+Origin+Information+Report+Syria+%28July+2019%29.pdf, Zugriff 6.6.2023
● ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien (Stand Ende Dezember 2022) (in der Staatendokumentation aufliegend)
● ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 6.6.2023
● The Guardian (24.4.2023): Scandal of Syria’s stolen homes: fraudsters use courts to legitimise thefts from refugees, https://www.theguardian.com/global-development/2023/apr/24/scandal-of-syrias-stolen-homes-fraudsters-use-courts-to-legitimise-thefts-from-refugees, Zugriff 6.6.2023
● UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023
● UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (6.2022): Protection Analysis Update June 2022, https://www.globalprotectioncluster.org/wp-content/uploads/GOS-and-NES-PAU-June-2022-Final.pdf, Zugriff 6.6.2023
● Weltbank (2020): The Mobility of Displaced Syrians, https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/31205/9781464814013.pdf, Zugriff 6.6.2023
Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr
Letzte Änderung 14.03.2024
Die Bedeutung von Überweisungen von SyrerInnen im Ausland und die Rolle der syrischen Lohnpolitik für Angestellte des öffentlichen Diensts dabei
Neben dem wachsenden Auswanderungsdruck auf gebildete SyrerInnen durch die Bevorzugung der Militärs bezüglich Gehälter zielt die syrische Lohnpolitik im öffentlichen Sektor laut einer Studie von Omran for Strategic Studies darauf ab, junge Leute dazu zu bewegen, ins Ausland zu gehen, damit sie später Geld an ihre Familien schicken. So profitiert Syrien von den Devisenüberweisungen in die Gebiete unter Regimekontrolle sowie von den großen Summen, welche für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst zu zahlen sind (Omran 23.1.2023). Rücküberweisungen aus dem Ausland (remittances) sind angesichts der Wirtschaftskrise eine wichtige Einnahmequelle für viele Syrerinnen und Syrer. Seit Konfliktbeginn sind sie merklich angestiegen: 2010 betrugen sie laut der syrischen Zentralbank (CBS) 906 Mio. USD. 2019 waren es 3.01 Mrd. USD (elf Prozent des BIP). Seither hat die CBS keine Zahlen mehr veröffentlicht. Laut Medienberichten lagen die Rücküberweisungen 2022 bei über drei Mrd. US-Dollar (20 Prozent des gesamten BIP 2022; laut Weltbank etwa 15,5 Mrd. US-Dollar). Sie sind weiterhin eine signifikante Einnahmequelle für die Bevölkerung. Gleichzeitig verbreiteten Syrien und Russland bei einer Konferenz Mitte Oktober 2022 den Vorwurf, 'der Westen' würde eine Rückkehr von Geflüchteten verhindern (AA 29.3.2023). Das Regime wünscht sich laut Experten-Einschätzung RückkehrerInnen mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021) oder ehemalige Flüchtlinge, zumal die Regierung, nicht die Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten hätte, für die ehemaligen Flüchtlinge zu sorgen (The Guardian 23.3.2023).
Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies werden rückkehrende Syrer mehrheitlich als Folge der obigen Lohnpolitik sich gezwungenermaßen einer militärischen Einrichtung oder einer Miliz anschließen müssen, denn diese Organisationen bieten als einzige eine berufliche Perspektive in den Regime-kontrollierten Gebieten (Omran 23.1.2023) [Anm.: zu weiteren Kriterien wie z. B. bereits vorhandenen Verbindungen zu Personen mit Einfluss im Staatsapparat sowie Loyalität der Assad-Herrschaft gegenüber siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft sowie Kapitel Korruption und speziell zu illegalen Zweitjobs von Militärs zur Aufbesserung der Gehälter siehe Unterkapitel Streitkräfte im Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen].
Wahrnehmung von RückkehrerInnnen ja nach Profil
Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert (AA 20.3.2023). Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023; vergleiche Balanche 13.12.2021). Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert (AA 2.2.2024), bzw. insgeheim als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen angesehen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024).
Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z. B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021), zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (The Guardian 23.2.2023).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen siehe Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).
Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z. B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:
Der Syrien-Experte Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Präsident Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen [Anm.: siehe hierzu das Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen und das Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage bzgl. der Gesetze zur Schädigung des Ansehens im Ausland sowie bzgl. positiver Äußerungen über Staaten, mit denen Syrien verfeindet ist] über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage].
Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein 'erweitertes Syrien', und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon-Korruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).
Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als 'Krankheitserreger' sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).
Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).
Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 2.2.2024). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).
Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die 'davongelaufen' sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vergleiche Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich 'sauber' [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch die Thematik des Immobiliendiebstahls durch Betrug, der sich oft gegen seit langem Abwesende richtet, z. B. im Überkapitel Rückkehr].
Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 6.6.2023
● AI - Amnesty International (9.2021): 'You're going to your death - Violations against Syrian Refugees returning to Syria', https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-09/Amnesty-Bericht-Syrien-Folter-Inhaftierungen-Rueckkehrende-Abschiebung-Geheimdienst-September-2021.pdf, Zugriff 6.6.2023
● Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall
● Khaddour, Kheder - Gastwissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videocall
● ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 6.6.2023
● Omran for Strategic Studies (23.1.2023): alary Increases A Syrian Regime Policy Driving the Militarization of Society, https://omranstudies.org/index.php/publications/papers/salary-increases-a-syrian-regime-policy-driving-the-militarization-of-society.html, Zugriff 22.5.2023
● Rasheed, Mohamad - Syrischer Journalist und Medienexperte (28.12.2021): Interivew, per Videocall
● The Guardian (23.3.2023): ‘It’s a kind of revenge’: Damascus suburb demolished as Assad builds a ‘new Syria’, https://www.theguardian.com/global-development/2022/mar/23/its-a-kind-of-revenge-damascus-suburb-demolished-as-assad-builds-a-new-syria, Zugriff 23.5.2023
● Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videocall
● UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (6.2022): Protection Analysis Update June 2022, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/protection-analysis-update-june-2022, Zugriff 6.6.2022
Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort
Letzte Änderung 14.03.2024
Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen
Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als 'Sicherheitsüberprüfung' (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der AntragstellerInnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten 'Statusregelungsverfahren' (arabisch: taswiyat wade) beantragen die AntragstellerInnen, wie es in einigen Quellen heißt, die 'Versöhnung', sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022). Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen (AA 2.2.2024).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, zur Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und zu gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) berichtet von Menschenrechtsverletzungen in ihrem Berichtszeitraum, darunter den Tod eines Rückkehrers in Haft, dem man lebensrettende medizinische Versorgung verweigert hatte. Er war Anfang 2022 bei seiner Rückkehr nach Syrien trotz eines erfolgten Beilegungs-, bzw. 'Versöhnungsprozesses', verhaftet worden (UNCOI 7.2.2023).
So gilt es zum Beispiel für die Rückkehr nach Homs, in die von der Regierung gehaltenen Teile von Idlib sowie ins Umland von Damaskus (Rif Dimashq) mehrere und sich überlappende Genehmigungsprozesse bei einer Reihe von Behörden zu durchlaufen. Oft beinhalten diese Prozedere eine geheimdienstliche Sicherheitsgenehmigung oder ein Beilegungsabkommen Anmerkung, auch 'Versöhnungsabkommen') oder beides, je nachdem woher die Rückkehrenden kommen, wo sie hingehen, und was ihre Profile sind. Einige mussten etwa schon vor ihrer Rückkehr ihren Status bei Zentren zur 'Statusklärung' in Regierungsgebieten 'klären', indem Verwandte oder Freunde vor Ort dies für sie durchführten. Andere gingen direkt zu diesen Zentren, nachdem sie durch Schmuggelrouten in das Gebiet zurückkehrten oder nachdem sie an einem Grenzübergang um eine 'Statusklärung' angesucht hatten. Andere wiederum mussten eine Sicherheitsgenehmigung für einen Wohnsitz, bzw. Aufenthalt ('residence') bereits vor ihrer Rückkehr einholen. Andere versuchten an kollektiven Rückkehraktionen aus dem Libanon teilzunehmen (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: siehe dazu Unterkapitel Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa].
Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024).
Sicherheitsüberprüfungen (besonders al-Muwafaqa al-Amniyeh, die Sicherheitsgenehmigung) vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzzusagen
Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht (AA 19.5.2020). Gemäß einem Rechtsexperten der ÖB Damaskus hat prinzipiell jeder syrische Staatsbürger das Recht, sich auf dem syrischen Staatsgebiet zu bewegen sowie es zu verlassen. Er darf gemäß Artikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 nicht an der Rückkehr gehindert werden. Daraus folgt, dass von syrischen StaatsbürgerInnen vor ihrer Rückkehr keine Sicherheitsgenehmigung verlangt wird, oder sie um eine solche ansuchen müssen. Der Konflikt hat die Sicherheitsgenehmigung jedoch ins Zentrum gerückt. Viele syrische StaatsbürgerInnen haben die Rückkehr nach Syrien erwägt, fürchten allerdings, von den syrischen Behörden verhaftet zu werden. Da die syrische Regierung bestrebt war, zu zeigen, dass Syrien sicher ist, und für die Rückkehr von Flüchtlingen offen steht, damit diese am Wiederaufbau des Landes teilnehmen, hat die syrische Regierung zur Erleichterung der Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien zugestimmt, in manchen Fällen bekannt zu geben, ob jemand gemäß ihrer Aufzeichnungen in Syrien gesucht wird. Dies ist bei der freiwilligen Rückkehr von Gruppen von Syrern aus dem Libanon der Fall, erleichtert durch die Kooperation des General Security Office (GSO) [Anm.: libanesischer Nachrichtendienst] im Libanon mit den syrischen Behörden. Das heißt, bei der Teilnahme an einer GSO-unterstützten Rückkehr führt das GSO akkordiert mit den syrischen Behörden eine Sicherheitsüberprüfung durch und leitet die persönlichen Daten der RückkehrerInnen an die syrischen Behörden weiter. Letztere informieren das GSO dann darüber, welche Personen eine Sicherheitsfreigabe erhalten haben. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch bei individuellen Rückkehrern aus Jordanien vermerkt: Rückkehrer müssen hierzu bei der syrischen Botschaft in Amman um eine Sicherheitsfreigabe ansuchen (VB der ÖB Damaskus 27.9.2022).
Laut einer in Syrien tätigen Menschenrechtsorganisation überprüfen die syrischen Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung Informationen über den/die AntragstellerIn, Familienmitglieder und eventuell auch seine/ihre erweiterte Familie. Das syrische Außenministerium ermöglichte im Rahmen des Amnestiegesetzes (Gesetzesdekret Nr. 7/2022 vom 30.4.2022), welches alle von syrischen StaatsbürgerInnen vor dem 30.4.2022 verübten 'terroristischen Verbrechen' ohne Todesopfer beinhaltet, dass syrische StaatsbürgerInnen im Ausland durch die diplomatischen Vertretungen überprüft werden, ob sie unter das Amnestiegesetz fallen. Die betroffenen Personen müssen bei der syrischen Botschaft ihres Wohnorts erscheinen, und einen gesonderten Antrag ausfüllen. Die syrische Botschaft leitet den Antrag dann an das Außenministerium weiter, das eine Liste mit den persönlichen Daten der AntragstellerInnen vorbereitet, und sie an das syrische Innenministerium weiterleitet. Letzteres gleicht die Namen auf der Liste mit einer zentralen Datenbank ab, um zu überprüfen, ob eine Person Verbindungen zu 'terroristischen' Gruppierungen hat (Rechtsexperte 27.9.2022). Das Auswärtige Amt weist jedoch darauf hin, dass jeder Geheimdienst auch eigene Fahndungslisten führt. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.3.2023) Anmerkung, Zu der Amnestie siehe Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst im Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen].
Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.5.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Personen, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.5.2020). Auch nach Angaben der International Crisis Group stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde auf der Grundlage von Befragungen, dass SyrerInnen, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete dem DIS hingegen, dass nur SyrerInnen im Libanon, die über eine 'organisierte Gruppenrückkehr' nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020).
Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl und keine Probleme mit dem Regime haben, auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z. B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht (Balanche 13.12.2021). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt demnach immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zu Verhaftungen kommen kann (AA 2.2.2024), zum Teil, um von den Rückkehrenden Geld zu erpressen (UNCOI 7.2.2023; vergleiche Balanche 13.12.2021).
Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. SyrerInnen aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.), stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsgenehmigung zu bekommen, und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichterstatten müssen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: zum Informantenwesen siehe auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen].
Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw. Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vergleiche Khaddour 24.12.2021, Rechtsexperte 27.9.2022). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021). Personen, die erfahren, dass sie von den Behörden gesucht werden, bezahlen große Summen an Vermittler und Mitglieder der Sicherheitskräfte, um bei der Rückkehr eine Verhaftung zu vermeiden (UNCOI 7.2.2023).
'Versöhnungsanträge', Statusregelungsverfahren
Das Regime hat einen Mechanismus zur Erleichterung der 'Versöhnung' und Rückkehr geschaffen, der als 'Regelung des Sicherheitsstatus' (taswiyat al-wadaa al-amni) bezeichnet wird. Das Verfahren beinhaltet eine formale Klärung mit jedem der vier großen Geheimdienste und eine Überprüfung, ob die betreffende Person alle vorgeschriebenen Militärdienstanforderungen erfüllt hat. Einzelne Personen in Aleppo berichteten jedoch, dass sie durch die Teilnahme am 'Versöhnungsprozess' einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden (ICG 9.5.2022). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, werden aufgefordert, ihren Status zu 'regularisieren', bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vergleiche SD 16.1.2019).
Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf 'Versöhnung' stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen über ihre Aktivitäten während ihres Auslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. SyrerInnen, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nach Angaben des Generals einen 'Versöhnungsantrag' ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen SyrerInnen, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020; vergleiche EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020). Zwei Quellen berichteten EASO Anmerkung, nun EUAA), dass, wenn ein/e RückkehrerIn durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. 'wasta') herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).
Rückkehrverweigerungen
Die Regierung verweigert gewissen BürgerInnen die Rückkehr nach Syrien, während andere SyrerInnen, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchten (USDOS 12.4.2022). Der Prozentsatz der AntragstellerInnen, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020): Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen aus den Jahren 2018 bis 2022 auf 5 Prozent (SD 16.1.2019), 10 Prozent (Reuters 25.9.2018), 20 Prozent (Qantara 2.2.2022) oder bis zu 30 Prozent (ABC 6.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integration von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.4.2022). Einige BeobachterInnen und humanitäre HelferInnen geben an, dass die Bewilligungsquote für AntragstellerInnen aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.2.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vergleiche ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019).
Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen
Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr. Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB Damaskus 12.2022).
Es muss z. B. bei Abschluss eines Immobilienkaufvertrags, bevor die Immobilie übertragen werden kann, bei den Sicherheitsbehörden um eine Freigabe Anmerkung, al-Muwafaqa al-Amniyeh - die Sicherheitsgenehmigung) angesucht werden. Bei Mietverträgen wurde diese Regelung jüngst vereinfacht, sodass die Daten erst nach Abschluss des Vertrags an die Gemeinde übermittelt werden mussten. Diese Information wird dann an die Sicherheitsbehörden weitergegeben, die im Nachhinein einen Einspruch erheben können. Diese Regelung wurde aber nach aktuellen Informationen nur in Damaskus umgesetzt, außerhalb muss die Genehmigung nach wie vor vorab eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen. Die Niederlassung ist dementsprechend – für alle Gebiete unter Regierungskontrolle – von einer Zustimmung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 12.2022). Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, welche die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).
Anmerkung, für grundsätzliche Informationen zur Sicherheitsgenehmigung siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Gefährdungslage
Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt gemäß deutschem Auswärtigem Amt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-) kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024). Einer Umfrage des Middle East Institute im Februar 2022 zufolge berichteten 27 Prozent der RückkehrerInnen, dass sie oder jemand Nahestehender aufgrund ihres Herkunftsorts, für das illegale Verlassen Syriens oder für das Stellen eines Asylantrags Repression ausgesetzt sind. Ein Rückkehrhindernis ist zudem laut Menschenrechtsberichten das Wehrdienstgesetz, das die Beschlagnahmung von Besitz von Männern ermöglicht, die den Wehrdienst vermieden haben, und nicht die Befreiungsgebühr bezahlt haben (USDOS 20.3.2023).
Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu dürfen. Die RückkehrerInnen sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019) [Anm.: siehe hierzu auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen].
Gemäß der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Unterlassen einer klaren Information über die Rückkehrverfahren und das Vorenthalten der Gründe für Rückkehrverweigerungen, bzw. einer Einspruchsmöglichkeit in solchen Fällen eine 'willkürliches Vorenthalten des Rechts auf Einreise von SyrerInnen im Ausland in ihr eigenes Land' durch die syrische Regierung darstellen. Dieses Vorgehen könnte auch als Verletzung des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts gelten (UNCOI 7.2.2023).
Rückkehr an den Herkunftsort
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen durften. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). SyrerInnen, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen (ÖB Damaskus 21.8.2019). Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 2.2.2024). Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021).
Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen (VN) und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentieren nicht zuletzt offizielle staatliche Gazetten. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut der oben angeführten Berichte hätten Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen zudem der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Das Gesetz Nr. 10 von 2018 wird weiterhin zur Belohnung von regimeloyalen Personen verwendet und schafft Hürden für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die in ihre Heime zurückkehren möchten. Laut Berichten ersetzt die Regierung so ehemalige BewohnerInnen von vormaligen Oppositionsgebieten durch ihr gegenüber loyalere Personen. Dies betrifft disproportional sunnitische Flüchtlinge und IDPs. Laut Einschätzung von SNHR (Syria Network for Human Rights) steckt die Regierungsstrategie dahinter, durch einen demografischen und gesellschaftlichen Wandel des Staats, automatisch eine Hürde für die Rückkehr von IDPs und Flüchtlingen zu schaffen (USDOS 2.6.2022).
Andere RückkehrerInnen müssen Berichten zufolge Bestechungsgelder an die Lokalverwaltung zahlen, um Zugang zu ihren Heimen zu erhalten. Anderen wird der Zugang zu ihren Heimen verwehrt. Auch gibt es Fälle, wo Immobilien von Nachbarn übernommen wurden, und die Rückkehrwilligen bedrohen, wenn sie versuchen, ihren Besitz wieder zu beanspruchen. Eine regierungstreue Miliz erlangte z. B. durch öffentliche Versteigerungen an enteignetes Land, was einer bereits dokumentierten Praxis entspricht. Gegenmaßnahme für derartige Situationen fehlen oder sind ineffektiv (UNCOI 7.2.2023).
Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können, und eine Sicherheitsfreigabe vorliegt. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten dort 160.000 PalästinenserInnen zusätzlich zu SyrerInnen) (TOI 17.11.2022). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen oder aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wohnung nicht zurück. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem 'Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur' (TOI 17.11.2022).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (Weltbank 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022), wenngleich von der UNO auch Fälle dokumentiert sind, dass Binnenvertriebene von aktuell oppositionell gehaltenen Gebieten aus nicht in ihre Heimatdörfer im Regierungsgebiet zurückkehren durften - trotz vorheriger Genehmigung (UNCOI 7.2.2023).
Laut Einschätzung der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Vorgehen der Regierung möglicherweise eine Verletzung von Unterkunfts-, Land- und Besitzrechten dar. Die Duldung der Inbesitznahme von Immobilien durch Dritte könnte eine Verletzung des Schutzes genannter Rechte darstellen. Sie haben auch mögliche Verletzungen des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts zur Folge bezüglich der Besitzrechte von Vertriebenen (UNCOI 7.2.2023).
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft im Abschnitt Wohnsituation und Enteignungen.
Quellen:
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● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 16.6.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2059734.html, Zugriff 16.6.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf, Zugriff 16.6.2023
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● Khaddour, Kheder - Gastwissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videocall
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● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 16.6.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (29.9.2020): Asylländerbericht Syrien 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038328/Asyländerbericht+2020+(Stand+29092020)+.pdf, Zugriff 16.6.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (21.8.2019): Auskunft, via E-mail (liegt in der Staatendokumentation auf)
● Qantara - Qantara.de (Scheller, Bente) (2.2.2022): Normalisierung auf Kosten der Syrer, https://de.qantara.de/inhalt/assads-rehabilitation-normalisierung-auf-kosten-der-syrer, Zugriff 16.6.2023
● Rasheed, Mohamad - Syrischer Journalist und Medienexperte (28.12.2021): Interivew, per Videocall
● Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (27.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail
● Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail (liegt in der Staatendokumentation auf)
● Reuters (25.9.2018): Fifty thousand Syrians returned to Syria from Lebanon this year: official, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-lebanon-refugees/fifty-thousand-syrians-returned-to-syria-from-lebanon-this-year-official-idUSKCN1M51OM, Zugriff 16.6.2023
● SD - Syria Direct (16.1.2019): In first ‘organized’ refugee returns from Jordan, dozens of Syrians head back to Damascus suburb, https://syriadirect.org/in-first-organized-refugee-returns-from-jordan-dozens-of-syrians-head-back-to-damascus-suburb/, Zugriff 16.6.2023
● TOI - Times of Israel (17.11.2022): Some Palestinians return to Syria’s war-battered Yarmouk camp, https://www.timesofisrael.com/some-palestinians-return-to-syrias-war-battered-yarmouk-camp/, Zugriff 16.6.2023
● TWP - The Washington Post (2.6.2019): Assad urged Syrian refugees to come home. Many are being welcomed with arrest and interrogation, https://www.washingtonpost.com/world/assad-urged-syrian-refugees-to-come-home-many-are-being-welcomed-with-arrest-and-interrogation/2019/06/02/54bd696a-7bea-11e9-b1f3-b233fe5811ef_story.html?utm_term=.e0a2c27a072f, Zugriff 16.6.2023
● Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videocall
● UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023
● UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (6.2022): Protection Analysis Update June 2022, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/protection-analysis-update-june-2022, Zugriff 16.6.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 6.7.2023
● USDOS – US Department of State [USA](2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2073954.html, Zugriff 11.7.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 16.6.2023
● VB der ÖB Damaskus - Vertrauensanwalt der Österreichischen Botschaft Damaskus (27.9.2022): Antwortschreiben per E-Mail
● Weltbank (2020): The Mobility of Displaced Syrians, https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/31205/9781464814013.pdf, Zugriff 16.6.2023
Ergänzende Informationen zur Behandlung bei und nach der Rückkehr
Letzte Änderung 14.03.2024
Am 10.5.2023 erklärten die Außenminister von Russland, Türkei, Iran und Syrien, dass erst die nötige Infrastruktur für eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien geschaffen werden müsse (SNHR 6.2023). Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang von UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB Damaskus 29.9.2020).
Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude Anmerkung, über die Rückkehr) der RückkehrerInnen (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von RückkehrerInnen (TN 10.12.2018; vergleiche TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vergleiche TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat sind immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021). BürgerInnen in von der Regierung rückeroberten Gebieten wie auch Rückehrende gehören zu den verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. RückkehrerInnen und Binnenvertriebene sind am ehesten von gesellschaftlichem Ausschluss und einem Mangel an Zugang zu öffentlichen Leistungen in der näheren Zukunft ausgesetzt (BS 23.3.2022). Enteignungen dienen der Schaffung von Hürden für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene und der Belohnung von regimeloyalen Personen mit einer daraus resultierenden demografischen Änderung in ehemaligen Hochburgen der Opposition (USDOS 15.5.2023).
Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert und sehen sich daher oft mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen. Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024). Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z. B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Die Definition des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, ist nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020). So folgten z. B. Abschiebungen aus dem Libanon im April 2023 von mindestens 130 Menschen - darunter auch unbegleitete Minderjährige - Berichte, wonach es zu Verhaftungen [Anm.: die Zahlen variieren je nach Quelle - z. B. mindestens vier dokumentierte Verhaftungen] und zwangsweisem Einzug zum Wehrdienst [Anm.: keine Zahlenangaben, nur Beispiele] kam (Reuters 1.5.2023).
Generell ist es schwer, in Erfahrung zu bringen, was der Status einer Person bezüglich der syrischen Regierung ist. Für Menschen mit Geld und guten Beziehungen zu den Behörden oder einflussreichen Personen besteht die Möglichkeit, nachzuforschen, ob ihre Namen auf Suchlisten stehen. Allerdings kann die Suche nach diesen Informationen diese auch exponieren - bzw. die Personen, welche für sie nach Informationen suchen. Es gibt keine Garantie, dass sie dabei nicht mit Schwierigkeiten konfrontiert sein werden, darunter das Risiko einer Verhaftung (DIS 9.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen, der Vereinten Nationen und von Betroffenen haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen (AA 22.2.2024).
Anhand der von der CoI (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen), Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende (AA 2.2.2024). Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 2.2.2024).
Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte beinahe 2.000 Verhaftungen von RückkehrerInnen nach Syrien von 2014 bis 2019. Ein Drittel von ihnen wurde 'verschwunden gelassen' (BS 23.3.2022). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden Berichten von 2019 zufolge nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein 'Versöhnungsabkommen' mit der Regierung unterzeichnet hatten. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vergleiche EIP 7.2019). Amnesty International legte in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vor, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des 'Terrorismus', weil sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 RückkehrerInnen, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen. Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was laut Amnesty International darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).
Eine gemeinsame Studie von Zivilgesellschaftsorganisationen im Frühjahr 2022 (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens dokumentiert schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 16.6.2023
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf, Zugriff 16.6.2023
● AI - Amnesty International (9.2021): 'You're going to your death - Violations against Syrian Refugees returning to Syria', https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-09/Amnesty-Bericht-Syrien-Folter-Inhaftierungen-Rueckkehrende-Abschiebung-Geheimdienst-September-2021.pdf, Zugriff 16.6.2023
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023
● COAR/HRW/HBS et. al. - Human Rights Watch / Heinrich Böll Stiftung (19.4.2021): Denmark: Flawed Country of Origin Reports Lead to Flawed Refugee Policies, Joint Statement, https://www.ecoi.net/de/dokument/2050054.html, Zugriff 16.6.2023
● DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria. Treatment Upon Return, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 16.6.2023
● DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (9.2019): Syria - Access to Damascus Province for Individuals from Former Rebel-held Areas, https://www.ecoi.net/en/file/local/2017468/COI_report_Syria_Access+to+Damascus+Province_sept_2019.pdf, Zugriff 16.6.2023
● EIP - European Institute of Peace (7.2019): Refugee return in Syria: Dangers, security risks and information scarcity, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018602/EIP+Report+-+Security+and+Refugee+Return+in+Syria+-+July.pdf, Zugriff 16.6.2023
● FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 16.6.2023
● FP - Foreign Policy (6.2.2019): A Deadly Welcome Awaits Syria’s Returning Refugees, https://foreignpolicy.com/2019/02/06/a-deadly-welcome-awaits-syrias-returning-refugees/, Zugriff 16.6.2023
● ICG - International Crisis Group (13.2.2020): Easing Syrian Refugees‘ Plight in Lebanon, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/eastern-mediterranean/lebanon/211-easing-syrian-refugees-plight-lebanon, Zugriff 16.6.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (29.9.2020): Asylländerbericht Syrien 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038328/Asyländerbericht+2020+(Stand+29092020)+.pdf, Zugriff 16.6.2023
● Reuters (1.5.2023): Syrian refugees deported from Lebanon face arrest, conscription, say relatives https://www.reuters.com/world/middle-east/syrian-refugees-deported-lebanon-face-arrest-conscription-say-relatives-2023-05-01/, Zugriff 16.6.2023
● SACD - Syrian Association for Citizen´s Dignity (21.7.2020): We are Syria, https://syacd.org/wp-content/uploads/2020/07/SACD_WE_ARE_SYRIA_EN.pdf, Zugriff 16.6.2023
● SD - Syria Direct (16.1.2019): In first ‘organized’ refugee returns from Jordan, dozens of Syrians head back to Damascus suburb, https://syriadirect.org/in-first-organized-refugee-returns-from-jordan-dozens-of-syrians-head-back-to-damascus-suburb/, Zugriff 16.6.2023
● SNHR – Syrian Network for Human Rights (Autor) veröffentlicht von ReliefWeb (6.2023): Most Notable Human Rights Violations in Syria in May 2023,
● https://reliefweb.int/attachments/265433ba-2bab-4bbf-a939-73b6d214142d/M230603ER.pdf, Zugriff 16.6.2023
● TN - The National (10.12.2018): Uncertainty over fate of Syrian refugees who return home, https://www.thenational.ae/world/mena/uncertainty-over-fate-of-syrian-refugees-who-return-home-1.801269, Zugriff 16.6.2023
● TWP - The Washington Post (2.6.2019): Assad urged Syrian refugees to come home. Many are being welcomed with arrest and interrogation, https://www.washingtonpost.com/world/assad-urged-syrian-refugees-to-come-home-many-are-being-welcomed-with-arrest-and-interrogation/2019/06/02/54bd696a-7bea-11e9-b1f3-b233fe5811ef_story.html?utm_term=.e0a2c27a072f, Zugriff 16.6.2023
● USDOS – United States Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091896.html, Zugriff 16.6.2023
Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa
Letzte Änderung 14.03.2024
Syrische Rückkehrende aus den Nachbarstaaten Libanon, Jordanien und der Türkei
Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen laut deutschem Auswärtigem Amt, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nicht verbessert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozio-ökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine 'freiwillige Rückkehr' zu erwirken. So hat die türkische Regierung im Juli 2022 entsprechende Programme für rund eine Million Syrerinnen und Syrer mit Infrastrukturprojekten in sog. 'sicheren Zonen' angekündigt, deren Umsetzung sich schwer unabhängig überprüfen lässt. Die libanesische Regierung hat ebenfalls versucht, das Thema Rückkehr von syrischen Geflüchteten aktiv voranzutreiben. Es fanden mehrere Gespräche zwischen libanesischen und syrischen Behörden und Delegationsreisen nach Damaskus statt, um Modalitäten einer Rückführungspolitik zu sondieren (AA 2.2.2024).
Im Mai 2023 wurde die syrische Bevölkerung mit 22.933.531 Millionen Menschen beziffert (CIA 30.5.2023). Mitte November 2022 waren 5.534.620 Personen als syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens und in Ägypten registriert. Nach Angaben des UNHCR kehrten im Jahr 2022 (Stand 30.11.2022) insgesamt rund 47.623 Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten und Ägypten nach Syrien zurück (UNHCR 30.11.2022).
Auf der folgenden Grafik sind die Provinzen ersichtlich, in welche die Flüchtlinge im Jahr 2022 (Stand 30.11.2023) zurückkehrten Anmerkung, Die fünf zahlenstärksten Rückkehrziele befinden sich ganz oder teilweise in Händen von Oppositionsgruppen - siehe Kapitel Sicherheitslage.]:
Quelle: UNHCR 30.11.2022
UNHCR hat die Rückkehrzahlen je nach Land grafisch für die Jahre 2017 bis 2023 aufbereitet. Die meisten Rückkehrbewegungen fanden demnach aus Türkei statt:
Quelle: UNHCR 11.5.2023
Hier sind für das 1. Quartal 2023 folgende Zahlen bezüglicher RückkehrerInnen dokumentiert. Auch in diesem Zeitabschnitt führen RückkehrerInnen aus der Türkei mit 4.028 Personen die Statistik an:
Quelle: UNHCR 11.5.2023
Der folgenden Trendanalyse von UNHCR zufolge liegen die Rückkehrzahlen von 2022 wie vom 1. Quartal 2023 unter denen des zahlenstärksten Jahres 2019:
Quelle: UNHCR 11.5.2023
Laut niederländischem Außenministerium kehrten im Jahr 2021 ein Tausend PalästinenserInnen aus den Nachbarländern und anderen Staaten nach Syrien zurück. Es betont aber, dass keine Informationen vorliegen, ob diese Rückkehr dauerhaft war, und verweist auf die Möglichkeit, dass diese Syrien wieder verlassen haben. Viele von diesen (etwaigen) Rückehrenden wurden zu Verhören vorgeladen. Ob sie dabei anders als zurückgekehrte SyrerInnen behandelt wurden, ist nicht bekannt (NMFA 5.2022).
Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien (AA 2.2.2024).
- Libanon
Ende Oktober 2022 begann der Libanon damit, Gruppen syrischer Geflüchteter vermeintlich freiwillig nach Syrien zurückzuführen. Trotz Kritik von Menschenrechtsorganisationen nahm die libanesische Regierung die mit Beginn der Corona-Krise ausgesetzte, von der libanesischen General Security [Anm.: ein libanesischer Geheimdienst] durchgeführte, freiwillige Rückkehr wieder auf, in deren Rahmen am 26.10.2022 324 Personen nach Syrien zurückgekehrt sein sollen. Eine zweite Gruppe von 353 Personen soll am 5.11.2022 nach Syrien zurückgekehrt sein (AA 29.3.2023). Die Rückkehraktionen werden vom General Security Directorate mit den syrischen Geheimdiensten koordiniert, welche dann über die Rückkehrerlaubnis entscheiden. In einigen Fällen wurde der Rückkehrantrag noch vor Abfahrt des Konvois aus 'Gründen der Kriminalität' oder aus 'Sicherheitsgründen' abgelehnt, ohne dass Näheres bekannt gegeben wurde. Anderen SyrerInnen wurde direkt an der Grenze die Einreise verwehrt (UNCOI 7.2.2023). Die libanesischen Statistiken weisen darauf hin, dass Syriens Sicherheitsapparat mit Berichtsdatum 2.2.2022 lediglich 20 Prozent der AntragstellerInnen für eine Rückkehr aus dem Libanon eine Heimkehrerlaubnis gewährte (Qantara 2.2.2022). Seit Beginn des Jahres 2023 wurden durch die Lebanese Armed Forces (LAF) in einem zunehmend angeheizten politischen Klima vermehrt auch zwangsweise Rückführungen nach Syrien durchgeführt. Den LAF zufolge geht es dabei um „Kriminelle und Terroristen“. Hingegen waren lt. UNHCR-Libanon v.a. syrische Geflüchtete ohne gültige Aufenthaltstitel betroffen, darunter aber auch beim UNHCR registrierte Personen (AA 2.2.2024). Dabei kam es in einigen Fällen zur Trennung von abgeschobenen Minderjährigen von ihren Familien, die nicht von einer Abschiebung betroffen waren (Al Jazeera 17.5.2023). Berichten von Human Rights Watch zufolge wurden zwischen April und Mai 2023 Tausende Syrer, inklusive unbegleiteter Kinder, nach Syrien deportiert (HRW 11.1.2024).
Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 2.2.2024). Michael Young, vom Think Tank Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Centre in Beirut bestätigte, dass RückkehrerInnen verhaftet wurden, einschließlich Fällen von Verschwindenlassen (Now 4.4.2023). Zum Beispiel im Fall von abgeschobenen SyrerInnen im April 2023 berichteten Angehörige wie auch AktivistInnen von Verhaftungen sowie zwangsweisem Einziehen zum Wehrdienst. Amnesty International dokumentierte mindestens vier Verhaftungen zusätzlich zu den Personen, die zum Wehrdienst eingezogen wurden. Einige Angehörige berichteten, dass die verhafteten Familienmitglieder von der Vierten Division festgehalten werden, die wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen unter Sanktionen steht (Reuters 1.5.2023).
Seit 2018 gibt es immer wieder Versuche im Libanon, zahlreiche syrische Staatsangehörige zur Rückkehr zu bewegen. Hierbei wird eine weite Palette von Druckmitteln eingesetzt, die internationale Beobachter an der Freiwilligkeit vieler der berichteten Rückreisen zweifeln lässt. Syrische Flüchtlinge im Libanon sind im Regelfall den Folgen des ökonomischen Zusammenbruchs des Landes stärker ausgesetzt als libanesische Staatsangehörige, weil sie zu vielen Dienstleistungen keinen Zugang haben und ihnen der Arbeitsmarkt nur sehr begrenzt legal zur Verfügung steht. Der Libanon ist kein Signatarstaat der Genfer Flüchtlingskonvention (BAMF 7.11.2022). Die Abschiebungen im April 2023 waren zum Beispiel 'von einer Welle von Hetzreden, Restriktionen durch Stadtverwaltungen gegen SyrerInnen und Kommentaren von Offiziellen begleitet, die ein Umfeld von Druck erzeugte', um syrische Flüchtlinge dazu zu bringen, den Libanon zu verlassen (Reuters 1.5.2023). Einige Flüchtlinge hatten bereits im Jahr 2019 erklärt, dass sie wegen der strikten Politik und der sich verschlechternden Bedingungen im Libanon zurückkehrten, nicht weil sie Syrien für sicher hielten. Gemeinden im Libanon hatten bereits damals Tausende von Flüchtlingen ohne Rechtsgrundlage und ohne ordnungsgemäßes Verfahren gewaltsam vertrieben (HRW 17.1.2019).
- Jordanien
Im ersten Quartal 2023 kehrten UNHCR zufolge 923 SyrerInnen aus Jordanien in ihr Heimatland zurück (UNHCR 11.5.2023). Bisher kehrte aufgrund der Sicherheits- und Wirtschaftslage in Syrien nur eine geringe Zahl von SyrerInnen zurück (SD 6.5.2020), obwohl die wirtschaftliche Lage vieler syrischer Flüchtlinge in Jordanien schwierig ist (TN 3.10.2019; vergleiche SD 6.5.2020). Im Jahr 2021 normalisierten mehrere Staaten, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate und Jordanien, trotz der Menschenrechtsverletzungen in Syrien ihre Beziehungen zum syrischen Regime. Dabei wurden Kooperationszusagen gemacht, welche bei BeobachterInnen die Frage einer verfrühten Rückkehr von Flüchtlingen und das eventuelle Ermöglichen von Menschenrechtsverletzungen aufwarfen (HRW 13.1.2022).
- Türkei
Die Türkei beherbergt mit Stand 30.11.2022 3.577.714 Millionen syrische Flüchtlinge (UNHCR 30.11.2022). Im ersten Quartal 2023 kehrten 4.028 SyrerInnen nach Syrien von der Türkei zurück (UNHCR 11.5.2023).
Im Juli 2019 änderte sich die Haltung der türkischen Regierung den syrischen Flüchtlingen gegenüber. Die türkischen Sicherheitskräfte begannen, syrische Flüchtlinge zusammenzutreiben und sie in die türkischen Provinzen zurückzuschicken, in denen sie registriert waren. Sie fingen damit an, einige von ihnen abzuschieben und andere zu ermutigen, in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, einschließlich der Konfliktzone Idlib, zu ziehen (SWP 5.2.2020). NGO-Berichten zufolge haben die türkischen Behörden immer wieder Flüchtlinge inhaftiert und sie gezwungen, 'freiwillige' Rückkehrdokumente zu unterschreiben, manchmal durch Schläge und Drohungen (SJAC 8.10.2020). Auch die Organisation Syrians for Truth and Justice erhob in ihrem Bericht vom Februar 2022 diesen Vorwurf (STJ 14.2.2022). Human Rights Watch beziffert für das Jahr 2023 die Zahl der Abschiebungen nach Nordsyrien mit 'Tausenden' (HRW 11.1.2024). Der Modus der Abschiebungen umfasst Verhaftungen in Wohnungen, an Arbeitsplätzen und auf der Straße, gefolgt von Haft unter schlechten Bindungen und physischen Schikanen, um die Unterzeichnung eines 'Formulars für eine freiwillige Rückkehr' zu erreichen. Dann werden die Syrer zu den Grenzübergängen zu Nordsyrien gebracht und 'mit vorgehaltenem Gewehr' zum Grenzübertritt gezwungen (USDOS 20.3.2023).
Für nähere Informationen siehe auch COI-CMS-Länderinformationen Türkei [Anm.: letzte Aktualisierung am 29.6.2023], Kapitel Binnenvertriebene und Flüchtlinge sowie zur völkerrechtswidrigen Verbringung von syrischen Gefangenen in die Türkei und deren dortige Verurteilung siehe Kapitel Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland.
Syrische Rückkehrende aus Europa
Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann laut deutschem Auswärtigen Amt für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und andere Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).
Die verfügbaren Informationen über SyrerInnen, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es auch aufgrund deren geringer Zahl keine Angaben (ÖB Damaskus 12.2022): Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn SyrerInnen bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 SyrerInnen mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Europäische Union selbst sowie der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), bleiben bei ihrer Einschätzung, dass Syrien nicht sicher für eine Rückkehr von Flüchtlingen ist. Im Juli 2022 entschied das Netherlands Council of State, dass syrische Asylsuchende nicht automatisch nach Dänemark transferiert werden dürften angesichts der dortigen Entscheidung, Teile Syriens für 'sicher' zu erklären (HRW 12.1.2023). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr in Würde nicht gegeben sind, auch angesichts von Fällen von Rückkehrverweigerungen, willkürlichen Verhaftungen und der Verhinderung der Rückkehr zu ihren Heimen in Regierungsgebieten (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt weist darauf hin, dass UNHCR, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die International Organization for Migration (IOM) unverändert die Auffassung vertreten, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. UNHCR bekräftigte, dass sich seine Position und Politik nicht geändert hätten. Im Einklang mit dieser Einschätzung führt laut deutschem Auswärtigem Amt weiterhin kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union Rückführungen nach Syrien durch (AA 2.2.2024). Auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht nicht die menschenrechtlichen Voraussetzungen für Abschiebungen nach Syrien gegeben (Die Presse 5.6.2023).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2024): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: Ende Oktober 2023), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/app/nodes/29884854, Zugriff 15.2.2024
● AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), 5https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
● Al Jazeera (17.5.2023): Syrian refugees in fear as Lebanon steps up deportations, https://www.aljazeera.com/news/2023/5/17/syrian-refugees-in-fear-as-lebanon-steps-up-deportations, Zugriff 19.5.2023
● BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (7.11.2022): Briefing Notes - Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw45-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=5, Zugriff 15.6.2023
● CIA - Central Intelligence Agency [USA] (30.5.2023): The World Factbook: Syria - People and Society, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/syria/#people-and-society, Zugriff 21.6.2023
● Daily Sabah (15.6.2020): At least 1,000 Syrians returned home from Germany since 2017, https://www.dailysabah.com/politics/at-least-1000-syrians-returned-home-from-germany-since-2017/news?gallery_image=undefined#big, Zugriff 21.6.2023
● Die Presse (5.6.2023): UNO-Hochkommissar warnt vor Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan, https://www.diepresse.com/6295929/uno-hochkommissar-warnt-vor-abschiebungen-nach-syrien-und-afghanistan, Zugriff 6.6.2023
● DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria. Treatment Upon Return, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 21.6.2023
● EASO - European Asylum Support Office (6.2021): Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060547/2021_06_EASO_COI_Report_Syria_Situation_returnees_from_abroad_DE.pdf, Zugriff 21.6.2023
● HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103131.html, Zugriff 22.1.2024
● HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 16.3.2023
● HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066477.html, Zugriff 21.6.2023
● HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Annual report on the human rights situation in 2018 - Syrian Arab Republic, https://www.ecoi.net/en/document/2002172.html, Zugriff 21.6.2023
● NMFA - Netherlands Ministy of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 8.3.2023
● Now (4.4.2023): Scapegoating Refugees, https://nowlebanon.com/scapegoating-refugees/, Zugriff 19.4.2023
● ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien (Stand Ende Dezember 2022) (in der Staatendokumentation aufliegend)
● Qantara - Qantara.de (Scheller, Bente) (2.2.2022): Normalisierung auf Kosten der Syrer, https://de.qantara.de/inhalt/assads-rehabilitation-normalisierung-auf-kosten-der-syrer, Zugriff 21.6.2023
● Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (27.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail
● Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail
● Reuters (1.5.2023): Syrian refugees deported from Lebanon face arrest, conscription, say relatives https://www.reuters.com/world/middle-east/syrian-refugees-deported-lebanon-face-arrest-conscription-say-relatives-2023-05-01/, Zugriff 16.6.2023
● SD - Syria Direct (6.5.2020): Ineligible for government aid, Syrians in Jordan struggle amidst COVID-19 lockdowns, https://syriadirect.org/ineligible-for-government-aid-syrians-in-jordan-struggle-amidst-covid-19-lockdowns/, Zugriff 21.6.2023
● SJAC - Syria Justice and Accountability Centre (8.10.2020): Turkey continues to deport Syrians to Idlim, violating international law, https://syriaaccountability.org/updates/2020/10/08/turkey-continues-to-deport-syrians-to-idlib-violating-international-law/, Zugriff 1.12.2022
● STJ - Syrians for Truth and Justice (14.2.2022): Turkey Continues to Forcibly Return Refugees, Ignoring International Warnings that Syria is Still Unsafe, https://stj-sy.org/en/turkey-continues-to-forcibly-return-refugees-ignoring-international-warnings-that-syria-is-still-unsafe/, Zugriff 21.6.2023
● SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (5.2.2020): Syrian Refugees in Turkey: Changing Attitudes and Fortunes, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/comments/2020C05_Kiniklioglu.pdf, Zugriff 21.6.2023
● TN - The National (3.10.2019): Syrians struggling to survive in Jordan face difficult decision, https://www.thenational.ae/world/mena/syrians-struggling-to-survive-in-jordan-face-difficult-decision-1.917568, Zugriff 21.6.2023
● UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023
● UNHCR – United Nations High Commissioner for Refugees (11.5.2023): Durable Solutions; 31 March 2023; Egypt, Iraq, Jordan, Lebanon, and Türkiye, https://data.unhcr.org/en/documents/download/100338, Zugriff 15.6.2023
● UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (30.11.2022): Durable Solutions dashboard - Egypt, Iraq, Jordan, Lebanon, and Türkiye - November 2022, https://data.unhcr.org/en/situations/syria_duable_solutions, Zugriff 21.6.2023
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen
Letzte Änderung 12.07.2023
Informationssammlung des Sicherheitsapparats und 'Berichte' von InformantInnen
Der Sicherheitssektor nutzt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um seinen historischen Einsatz lokaler InformantInnen zur Sammlung von Informationen und zur Kontrolle der Bevölkerung wieder zu verstärken und zu institutionalisieren. Die Regierung baut weiterhin eine umfangreiche Datenbank mit Informationen über alle Personen auf, die ins Land zurückkehren oder im Land bleiben. In der Vergangenheit wurde diese Art von Informationen genutzt, um Personen zu erpressen oder zu verhaften, die aus irgendeinem Grund als Bedrohung oder Problem wahrgenommen wurden (EIP 7.2019). Das Verfassen eines 'Taqrir' (eines 'Berichts', d. h., die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden) war im ba'athistischen Syrien jahrzehntelang gang und gäbe und wird laut International Crisis Group (ICG) auch unter Flüchtlingen im Libanon praktiziert. Die Motive können persönlicher Gewinn oder die Beilegung von Streitigkeiten sein, oder die Menschen schreiben 'Berichte', um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Selbst Regimevertreter geben zu, dass es aufgrund unbegründeter Denunziationen zu Verhaftungen kommt (ICG 13.2.2020). Eine Umfrage des Middle East Institute veröffentlicht im Februar 2022 ergab, dass 27 Prozent der RückkehrerInnen berichteten, dass sie oder ihnen nahestehende Personen aufgrund ihres Herkunftsorts, ihres illegalen Verlassens von Syrien oder wegen eines Asylantrags im Ausland Repressionen ausgesetzt sind (USDOS 20.3.2023).
Zur digitalen Überwachung einschließlich Hackerangriffen durch die Syrian Electronic Army siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage sowie bzgl. Abfrage von Login-Daten bei Ein- und Ausreise siehe Kapitel Bewegungsfreiheit im Unterkapitel Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen.
Überwachung von SyrerInnen im Ausland
Die Überwachung im Ausland ist ein Eckpfeiler der syrischen Außenpolitik, und wird von einem koordinierten Netzwerk von Botschaftsangestellten, nachrichtendienstlichen Quellen und Sicherheitsdiensten umgesetzt. Es sind keine Änderung diesbezüglich absehbar. Das Syria Justice and Accountability Centre sieht die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen Syriens und die Wiedereröffnung ausländischer Botschaften auch als Weg zu einer verstärkten Kontrolle der im Ausland aufhältigen SyrerInnen. Seit 2011 mehren sich die Berichte über syrische Botschaften als Ausgangspunkt für die Überwachung und Einschüchterung von Oppositionellen. Bereits vor dem SJAC-Bericht mit einer Auswertung von interner Korrespondenz der involvierten syrischen Behörden (SJAC 3.5.2023) gingen Berichte verschiedener Stellen davon aus, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, politische Aktivitäten im Exil auszuspionieren und darüber zu berichten (ÖB Damaskus 29.9.2020; vergleiche TWP 2.6.2019, EASO 6.2021). Dabei erstreckt sich die Überwachung über die Länder mit großen Zahlen an SyrerInnen hinaus rund um die Welt (SJAC 3.5.2023). Nach Angaben von Jusoor for Studies haben die syrischen Behörden Agenten und Informanten in Asylstaaten, unter anderem in die EU und der Türkei entsandt, die Syrer in der Diaspora beobachten und wöchentlich über sie berichten. Diese Agenten und Informanten arbeiten für verschiedene Abteilungen der Sicherheitsbehörden: die 4. Division des Sicherheitsbüros, die Abteilung 279 des Allgemeinen Nachrichtendienstes, die Abteilung 297 der Abteilung für militärische Aufklärung, das Direktorat für den Geheimdienst der Luftwaffe und die Abteilung 300 (EASO 6.2021). In Staaten mit etablierter syrischer diplomatischer Präsenz, wie die Türkei und der Libanon, werden besonders große Ressourcen für die Überwachung eingesetzt. In der Türkei werden auch die Kreise der politischen Exilopposition unterwandert, z. B. indem sich in einem dokumentierten Fall ein Agent als Unterstützer der Opposition ausgab, um Informationen über diese zu sammeln (SJAC 3.5.2023).
Trotz der Konkurrenz zwischen den Organisationen des syrischen Sicherheitsapparats koordinieren sich diese, wenn notwendig, zwecks Sammlung von Informationen über für sie interessante Personen. Gleichwohl ist z. B. ein Fall aus Zypern bekannt, wo ein Oppositioneller es schaffte, aufgrund seiner Rolle als vermeintlicher Informant für das Büro des syrischen Militärattachés weiterhin offen seinen regimegegnerischen Aktivitäten nachzugehen (SJAC 3.5.2023).
Syrische Sicherheitsdienste setzen auch Drohungen gegen in Syrien lebende Familienmitglieder ein, um Druck auf Verwandte im Ausland auszuüben, die z.B. in Deutschland leben (AA 13.11.2018): Seit 2011 sind in Syrien lebenden Familien von im Ausland aufhältigen oppositionellen Ziele. Dabei taucht in schriftlichen Anweisungen des Sicherheitsapparats an ihre MitarbeiterInnen der Befehl 'das Notwendige zu tun' auf. Diese Anweisung erlaubt den Mitgliedern des Sicherheitsapparats bei der Ausführung von Befehlen den Einsatz einer Bandbreite an Maßnahmen bis hin zu tödlicher Gewalt nach ihrem Ermessen (SJAC 3.5.2023). Auch Gewalt und Drohungen gegen Personen außerhalb Syriens werden berichtet, darunter Fälle, in denen SyrerInnen zur Rückkehr nach Syrien mit dem Ziel politischer Repressalien gegen sie gezwungen wurden (USDOS 20.3.2023).
Einem Syrien-Experten des Europäischen Friedensinstituts zufolge werden Syrer in der Diaspora auf zwei Arten überwacht: informell und formell. Die formelle Art der Überwachung besteht darin, dass staatliche Einrichtungen wie Botschaften und Sicherheitsdienste Informationen über im Ausland lebende Dissidenten sammeln einschließlich durch Überwachung von Social-Media-Konten und Social-Media-Gruppen im Ausland lebender Syrerinnen und Syrern. Bei der informellen Überwachung melden Einzelpersonen andere Personen an die syrischen Behörden. Diese Informanten sind nicht offiziell bei den Sicherheitsbehörden angestellt, melden aber andere Personen, um der Regierung gegenüber loyal zu erscheinen. Auf diese Weise versuchen sie, mögliche negative Aufmerksamkeit von sich abzuwenden (EASO 6.2021). Laut Syrien-Experten Prof. Uğur Ümit Üngör war ein Auslandsaufenthalt schon vor dem Krieg ein Grund für Misstrauen. SyrerInnen mit einem europäischen Pass nach der Asylantragstellung und mit einer bewiesenen regimeloyalen Haltung können seiner Erfahrung nach sehr nützlich für das Regime sein. Bei manchen Fällen stellt sich die Frage, ob das Regime ihre Flucht erlaubt hat. Z. B. gab es in den Niederlanden einen derartigen Fall, wo der Betreffende syrische Gemeinschaften ausspionierte, und sich zurück in Syrien mit diversen offiziellen Funktionären fotografieren ließ, bevor er wieder in die Niederlande zurückkehrte, wo dann ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde (Üngör 15.12.2021).
Die syrische Regierung sammelt nicht nur Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland, sondern verwendet diese auch gegen diese, was Fragen zur Sicherheit zurückkehrender SyrerInnen aufwirft (SJAC 3.5.2023). Die Informationen, welche die syrischen Botschaften sammeln, sind detailliert und genau, einschließlich Details, die eine Identifizierung von Rückkehrenden und ihrer vorhergehenden Aktivitäten im Ausland erlaubt (Enab 5.5.2023). Die Gefährdung eines Rückkehrers im Falle politischer Aktivitäten im Exil hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und vielen anderen Faktoren ab, wie dem Hintergrund der Familie und den der Regierung zur Verfügung stehenden Ressourcen (STDOK 8.2017). Politische und humanitäre Aktivisten, die erwägen, nach Syrien zurückzukehren, sind nach Ansicht von Jusoor for Studies aufgrund der Auslandsüberwachung großen Gefahren ausgesetzt (EASO 6.2021).
Es gibt nicht nur eine Unzahl weiter zurückliegender Fälle, bei denen Personen am Flughafen Damaskus aufgrund von Informantenberichten aus dem Ausland verhaftet wurden, sondern auch in der Gegenwart: So wurde bereits eine Anzahl an RückkehrerInnen in Syrien verhaftet und gezwungen, Informationen über ihre Familienmitglieder bekannt zu geben. Andere wurden auch zwecks Erhalt von Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland gefoltert (SJAC 3.5.2023).
Unterstützung von nach dem Prinzip der universellen Jurisdiktion angeklagten ehemaligen Regimemitarbeitern und das Vorgehen gegen syrische ZeugInnen
Die Wiedereröffnung von syrischen Botschaften schafft auch Hindernisse für Gerichtsverfahren im Rahmen universeller Jurisdiktion. Überwachungen sind eine zusätzliche Hürde für die Behörden und die Menschenrechtsorganisationen bei den Gerichtsverfahren in Europa, denn ZeugInnen werden eingeschüchtert und mit ihren Familien (in Syrien) erpresst: So wurden im Fall eines in Deutschland wegen Mordes, Folter und sexuellen Missbrauchs in syrischen Militärspitälern angeklagten Arztes die Angehörigen der Zeugen in Syrien bedroht. Aufgrund der Gefahr für die Angehörigen im Regimegebiet Syriens haben viele ZeugInnen die Aussage verweigert, weil der Angeklagte sonst ihre Namen erfahren hätte. Ein Syrer, der im Verdacht steht, Zeugen in diesem Gerichtsverfahren bedroht zu haben, wurde von Norwegen an Deutschland ausgeliefert. Der angeklagte Arzt erhielt zudem von einem syrischen Botschaftsmitarbeiter Angebote zur Hilfe bei der Flucht nach Syrien (SJAC 3.5.2023).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 22.6.2023
● EASO - European Asylum Support Office (6.2021): Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060547/2021_06_EASO_COI_Report_Syria_Situation_returnees_from_abroad_DE.pdf, Zugriff 7.7.2023
● Enab - Enab Baladi (5.5.2023): Syrians abroad put under systematic surveillance by regime diplomatic missions: documents, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/05/syrians-abroad-put-under-systematic-surveillance-by-regime-diplomatic-missions-documents/, Zugriff 21.6.2023
● EIP - European Institute of Peace (7.2019): Refugee return in Syria: Dangers, security risks and information scarcity, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018602/EIP+Report+-+Security+and+Refugee+Return+in+Syria+-+July.pdf, Zugriff 7.7.2023
● ICG - International Crisis Group (13.2.2020): Easing Syrian Refugees‘ Plight in Lebanon, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/eastern-mediterranean/lebanon/211-easing-syrian-refugees-plight-lebanon, Zugriff 7.7.2023
● ÖB Damaskus- Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (29.9.2020): Asylländerbericht Syrien 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038328/Asyländerbericht+2020+(Stand+29092020)+.pdf, Zugriff 7.7.2023
● SJAC - Syria Justice and Accountability Centre (3.5.2023): The Mechanics of Foreign Surveillance - Syria’s Network of Embassies Overseas, https://syriaaccountability.org/the-mechanics-of-foreign-surveillance/, Zugriff 16.3.2023
● STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 7.7.2023
● TWP - The Washington Post (2.6.2019): Assad urged Syrian refugees to come home. Many are being welcomed with arrest and interrogation, https://www.washingtonpost.com/world/assad-urged-syrian-refugees-to-come-home-many-are-being-welcomed-with-arrest-and-interrogation/2019/06/02/54bd696a-7bea-11e9-b1f3-b233fe5811ef_story.html?utm_term=.e0a2c27a072f, Zugriff 7.7.2023
● Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videocall
● USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 21.6.2023
1.3.13. Country Guidance Syria (auszugsweise und übersetzt durch BVwG), Stand April 2024
Subsidiärer Schutz
Willkürliche Gewalt
[…]
Die nachstehende Karte gibt einen Überblick über die Bewertung der willkürlichen Gewalt in den einzelnen Gouvernements in Syrien und veranschaulicht diese.
Abbildung 4. Ausmaß der willkürlichen Gewalt in Syrien, basierend auf Daten bis zum 30. November 2023.
dunkelrot: Gebiete, in denen das Ausmaß willkürlicher Gewalt ein so außergewöhnlich hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine Zivilperson, die in das betreffende Gebiet zurückkehrt, allein aufgrund ihrer Anwesenheit dort tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne von Artikel 15 Litera c, der Status-RL ausgesetzt zu sein.
rot: Gebiete, in denen die „bloße Anwesenheit“ nicht ausreichen würde, um eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens gemäß Artikel 15 Litera c, der Status-RL zu begründen, in denen aber die willkürliche Gewalt ein hohes Niveau erreicht.
Dementsprechend ist ein geringeres Maß an einzelnen Elementen erforderlich, um stichhaltige Gründe für die Annahme zu liefern, dass eine in das Gebiet zurückgekehrte Zivilperson tatsächlich der Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15 Litera c, der Status-RL ausgesetzt wäre.
hellrot: Gebiete, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, allerdings nicht auf hohem Niveau.
Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Elementen erforderlich, um stichhaltige Gründe für die Annahme zu liefern, dass eine Zivilperson, die in das Gebiet zurückkehrt, tatsächlich der Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15 Litera c, der Status-RL ausgesetzt wäre.
grau: Bereiche, in denen im Allgemeinen kein echtes Risiko besteht, dass eine Zivilperson im Sinne von Artikel 15 Litera c, der Status-RL persönlich betroffen ist.
Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass die Kriterien für einen bewaffneten Konflikt im Sinne dieser Bestimmung nicht erfüllt sind, dass keine willkürliche Gewalt stattfindet oder dass das Ausmaß der willkürlichen Gewalt so gering ist, dass im Allgemeinen kein echtes Risiko besteht, dass eine Zivilperson davon betroffen ist.
[…]
Das Umland von Damaskus
[…]
Allgemeine Informationen
Das ländliche Damaskus ist ein weitgehend landwirtschaftlich geprägtes Gouvernement, das die Stadt Damaskus umgibt. Es befindet sich im südwestlichen Teil Syriens und grenzt im Süden und Osten an Jordanien und den Irak
Irak im Süden und Osten sowie an den Libanon im Westen. Innerhalb des Landes grenzt es im Norden an das Gouvernement Homs und im Süden an die Gouvernements Quneitra, Dar'a und Sweida. Das Gouvernement besteht aus neun Verwaltungsbezirke: Das ländliche Damaskus, Douma (Duma), Al Qutayfah, An Nabk, Yabroud (Yabrud), At Tall, Az-Zabadani, Darayya, und Qatana. Im Mai 2022 schätzte das UNOCHA die Bevölkerung des Gouvernements Rural Damascus auf 3 310 012 Einwohner.
Hintergrund und an den bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligte Akteure
Die Regierung von Syrien eroberte 2018 den ländlichen Teil des Gouvernements Damaskus zurück und besiegte die bewaffnete Opposition in die bewaffnete Opposition in Ost-Ghouta in einer von Russland unterstützten Militäroffensive zwischen Februar und April 2018, bei der die Regierungstruppen chemische Waffen gegen Douma, die größte Douma, der größten Oppositionshochburg in der Nähe der Hauptstadt von 2011 bis 2018. [Security 2022, 2.11.2, p. 1] Während des gesamten Berichtszeitraums kontrollierten die Regierung von Syrien und ihr nahestehende Gruppen das gesamte Gebiet des Gouvernement mit Ausnahme einer Zone im östlichsten Teil (Al-Tanf). Auch iranische und russische Streitkräfte waren im Gouvernement präsent und an mehreren Orten stationiert. Standorten stationiert. Vom Iran unterstützte bewaffnete Gruppen waren Berichten zufolge am internationalen Flughafen von Damaskus stationiert. Berichten zufolge haben sie auch ihre Präsenz in Gebieten nahe der libanesischen Grenze durch den Kauf von Grundstücken zu verstärken. Zunehmende Zahl von Immobilienkäufen der Hisbollah in und bei Badda, nordöstlich von Damaskus, wurde ebenfalls berichtet.
Berichten zufolge befanden sich die internationalen Koalitionstruppen in Al-Tanf in der von den USA deklarierten 55-km Entflechtungsgebiet, das seit 2016 als Basis für Anti-ISIL-Operationen und für die Ausbildung von Anti-ISIL Fraktionen seit 2016 ist. Die Garnison befindet sich in der Nähe iranischer und vom Iran unterstützter Kräfte und besetzt einen strategisch wichtigen Punkt an der Autobahn Bagdad-Damaskus. Berichten zufolge arbeiteten sie „mit überprüften lokalen Partnerkräften“ zusammen, die Außenposten um die Al-Tanf-Garnison kontrollierten und Schutz gegen regimetreue und mit Iran verbündete Kräfte in der Umgebung der Konfliktzone.
Art der Gewalt und Beispiele von Vorfällen
Während des Berichtszeitraums wurden israelische Luftangriffe auf den internationalen Flughafen von Damaskus Damaskus und andere spezifische Ziele (hauptsächlich Hisbollah und iranische Milizen), die zumeist zur Tötung von Soldaten, aber auch von einigen Zivilisten.
Angehörige der Vierten Division, des Militärischen Nachrichtendienstes und der NDF starben bei während des Berichtszeitraums bei verschiedenen Angriffen ums Leben, und es gab Berichte über Angriffe auf GoS Kontrollpunkte.
Zusammenstöße zwischen einer Gruppe, die dem militärischen Nachrichtendienst angehört, und einer anderen Gruppe und einer anderen Gruppe, die mit der Vierten Division in Bait Jinn verbunden ist, wurden im Februar 2023 gemeldet. Im April und Juni 2023 wurden mehrere Zivilisten bei Zusammenstößen getötet, bei denen verschiedene Familien, die der Vierten Division Familien, die der Vierten Division oder dem Militärischen Nachrichtendienst angehören, und Anwohner beteiligt waren.
Im Berichtszeitraum wurden mehrere Zivilisten von Angehörigen der Vierten Division getötet. Außerdem wurden Zivilisten von Angehörigen des militärischen Geheimdienstes verletzt. Leichen von Zivilisten die von unbekannten Tätern getötet wurden, gefunden. Im Juli 2023 wurden Berichten zufolge mehrere Menschen bei zwei Explosionen vor dem Sayeda Zeinab-Schrein getötet, für die sich angeblich der ISIL verantwortlich zeigte.
Vorfälle: Daten
ACLED registrierte 211 Sicherheitsvorfälle (durchschnittlich 4,1 Sicherheitsvorfälle pro Woche) im ländlichen Damaskus im Zeitraum vom 1. August 2022 bis zum 28. Juli 2023. Von den gemeldeten Vorfällen wurden 79 als „Kämpfe“, 88 als „Gewalt gegen Zivilisten“ und 44 als „Explosionen/entfernte Gewalt“ kodiert. Im Zeitraum vom 1. August bis zum 30. November 2023 wurden 80 sicherheitsrelevante Vorfälle im ländlichen Raum von Damaskus registriert, was einem Durchschnitt von 4,6 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Woche entspricht.
Geografischer Geltungsbereich
Sicherheitsvorfälle wurden in allen Bezirken des Gouvernements verzeichnet, wobei die höchste Zahl in den Bezirken At Tall und Rural Damascus dokumentiert wurde.
Zivile Todesopfer: Daten
Zwischen August 2022 und Juli 2023 dokumentierte das SNHR 18 zivile Todesopfer. Von August bis November 2023 verzeichnete das SNHR 10 zivile Todesopfer in Rural Damascus. Darunter waren auch Zivilisten, die im August 2023 auf den Migrationsrouten nach Europa ertranken, ohne ihre tatsächliche Zahl zu nennen. Verglichen mit den Zahlen für die Bevölkerung vom Mai 2022, entsprach dies einem zivilen Todesopfer pro 100 000 Einwohner für den gesamten Bezugszeitraum.
Vertreibung
Im Mai 2022 gab es 1 083 062 Binnenvertriebene im ländlichen Raum von Damaskus.
Nach Angaben von UNOCHA wurden zwischen Januar und Dezember 2022 etwa 8 000 Personen aus dem ländlichen Damaskus sowie 3 000 innerhalb des Gouvernements vertrieben. Im selben Zeitraum wurden keine Vertriebenenbewegungen aus anderen Gouvernoraten in den ländlichen Raum von Damaskus verzeichnet. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 verließen etwa 8 Binnenvertriebene das ländliche Damaskus und 277 Binnenvertriebene kamen in das Gouvernorat.
Was die Rückkehr von Binnenvertriebenen betrifft, so verzeichnete UNOCHA im Jahr 2022 rund 6 000 Rückkehrer in das ländliche Damaskus und 7 000 Rückkehrer aus dem ländlichen Damaskus in andere Gouvernements. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 wurden 19 Rückführungen von Binnenvertriebenen in das ländliche Damaskus und etwa 109 Rückführungen aus dem ländlichen Damaskus in andere Gouvernorate verzeichnet.
Weitere Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung
UN Habitat schätzt, dass rund 48 % der Wohnhäuser in Duma im ländlichen Damaskus infolge des Konflikts unbewohnbar sind. Das Vorhandensein von Sprengkörpern in Wohngebäuden in Darayya (im ländlichen Damaskus) wurde auch von UNMAS in ihrem Jahresbericht für 2022 gemeldet. In Darayya untersuchten die Teams eine Fläche von rund 2 Millionen Quadratmetern landwirtschaftlicher Nutzfläche, von denen 71 % als gefährlich eingestuft wurden.
In seinem Bericht vom Februar 2023 stellte der UN-Generalsekretär fest, dass etwa ein Drittel der syrischen Gemeinden von explosiver Kontamination betroffen waren, wobei der ländliche Teil von Damaskus einen der den höchsten Prozentsatz aller Gouvernements aufweist. Das SOHR berichtete über die Explosion von Kriegs Kriegsresten in Städten des Gouvernements, die Tote und Verletzte forderten.
[…]
Quelle:
● https://euaa.europa.eu/publications/country-guidance-syria-april-2024, Zugriff am 14.10.2024
1.3.14. Anfragebeantwortung zu Syrien: Provinz Rif Dimashq, Ort Madaya: Abkommen zum Ende der Belagerung, Gefangenenaustausch; Rolle der Hisbollah bei einer Rückkehr aus dem Libanon [a-11832-2] vom 16.02.2022 (auszugsweise)
Abkommen zum Ende der Belagerung, Gefangenenaustausch
UNHCR beschreibt im November 2015 Madaya als Hochburg der Opposition (UNHCR, November 2015, Sitzung 4, Fußnote 12, siehe auch Al Jazeera, 21. September 2015 und The Seattle Times, 2. Mai 2017). Die britische Zeitung The Independent erklärt in einem Artikel vom März 2021, dass bei Ausbruch des Bürgerkriegs die staatlichen Sicherheitskräfte zunächst aus Madaya abgezogen worden seien und daher Madaya zu einem Zufluchtsort für Aktivist·innen und Kämpfern der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA) geworden sei (The Independent, 14. März 2021).
Im März 2017 sei eine Vereinbarung zwischen der Regierung und den Rebellen bezüglich zwei von der Regierung belagerten Städten (Madaya und Zabadani) und zwei von Rebellen belagerten Städten (Foah und Kafraya) geschlossen worden, auch genannt „Four Towns Agreement“ (UN OCHA, 20. April 2017; BBC, 12. April 2017).
Bewohner·innen von Madaya hätten laut France 24 damals die Option gehabt, zu bleiben und sich mit den Regierungsbehörden "auszusöhnen" („reconciliation“). Dafür hätten sie der Regierung von Präsident Assad die Treue schwören und jegliche Form von Dissens ablehnen müssen. Militärische Überläufer, Wehrdienstverweigerer und Reservisten seien zum Militärdienst einberufen worden und es sei ihnen eine Frist zwischen sechs Monaten und einem Jahr gegeben worden, innerhalb derer sie zu den Streitkräften zurückkehren oder um eine Ausnahme ansuchen müssten. Es werde erwartet, dass die Mehrheit der 40.000 Bewohner·innen die Bedingungen akzeptieren und bleiben würden. Etwa 2.000 würden den Ort als Teil der Vereinbarung verlassen. Darunter seien ehemalige Kämpfer, Aktivist·innen und medizinisches Personal, die sich vor der Behandlung durch die berüchtigten Sicherheitsdienste der Regierung fürchten würden (France 24, 14. April 2017).
Infolge dieser Vereinbarung zwischen der Regierung und den Rebellen seien mehr als 2.350 Personen aus Madaya und dem benachbarten Zabadani evakuiert worden und Madaya sei somit wieder unter Regierungskontrolle gekommen (France 24, 14. April 2017). Die Rebellen seien in von Rebellen kontrollierte Gebiete in Idlib und in den Ort Jarablus (Ort im Nordosten der Provinz Aleppo, der im Einflussgebiet der Türkei liegt, Anmerkung ACCORD) gebracht worden (BBC, 12. April 2017).
Das Abkommen habe auch eine Vereinbarung zum Austausch von Gefangenen enthalten und so hätten laut Angaben staatlicher Medien die Rebellen zwölf Frauen und Kinder sowie sieben Leichen ausgehändigt und die Regierung habe im Gegenzug 19 Rebellen freigelassen (BBC, 12. April 2017). Laut UN OCHA seien aus der Regierungsenklave Foah 19 Gefangene freigelassen worden (UN OCHA, 20. April 2017, siehe auch DW, 12. April 2017). AP zufolge habe das Abkommen den Austausch von insgesamt 750 Gefangenen vorgesehen (AP, 20. April 2017).
Lage von Personen, die aus ehemaligen Gebieten unter Oppositionskontrolle kommen, nach Einreise, mögliche Einreiseverbote; Rolle der Hisbollah bei einer Rückkehr aus dem Libanon
Die Asylagentur der Europäischen Union (European Union Agency for Asylum, EUAA) erwähnt in einem Bericht vom Jänner 2020, dass Personen, die eine Aussöhnung („reconciliation“) mit der syrischen Regierung ablehnen würden, evakuiert und in Gebiete unter Kontrolle der bewaffneten Opposition in Idlib und im Norden der Provinz Aleppo gebracht würden (EUAA, Jänner 2020, Sitzung 19). EUAA zitiert weiters einen Bericht des European Institute of Peace (EIP) vom Juli 2019. EIP habe Flüchtlinge interviewt, die angegeben hätten, dass zwischen Juli und September 2018 etwa 350 Personen aus dem Libanon nach Zabadani (den Nachbarort von Madaya) zurückgekehrt seien. Es sei in der Folge zu Festnahmen durch Regierungskräfte von Personen gekommen, die versucht hätten, einen Aussöhnungsprozess zu durchlaufen, der notwendig sei, um in den Ort zurückzukehren. Die meisten festgenommenen Personen seien inzwischen wieder freigelassen worden, andere würden weiterhin vermisst. Es habe auch Berichte von Festnahmen von Personen gegeben, die versucht hätten, Kontakt mit Verwandten in Idlib aufzunehmen (EUAA, Jänner 2020, Sitzung 27).
Der von EUAA zitierte Bericht des EIP ist unter folgendem Link abrufbar:
· EIP - European Institute of Peace: Refugee Return in Syria: Dangers, Security Risks and Information Scarcity, Juli 2019
https://www.eip.org/wp-content/uploads/2020/06/EIP-Report-Security-and-Refugee-Return-in-Syria-July.pdf
EUAA schreibt in einem weiteren Bericht vom März 2020, dass es im Zuge der Gebietsgewinne der Regierung im Laufe des Syrienkonflikts zu willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen gekommen sei. Wie die unabhängige internationale Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien berichtet habe, seien insbesondere Personen, die als Anhänger·innen der Opposition angesehen würden, von den Regierungstruppen und den mit ihnen verbündeten Milizen willkürlich festgenommen worden. Willkürliche Verhaftungen und das gewaltsame Verschwindenlassen von mutmaßlichen Oppositionsanhängern hätten in zurückeroberten Gebieten wie den Provinzen Dar'a und Rif Dimashq stattgefunden (EUAA, März 2020, Sitzung 21).
Für den Zeitraum von Jänner bis Juli 2019 habe die Kommission weiterhin Berichte über willkürliche Verhaftungen und gewaltsames Verschwindenlassen in allen Gebieten unter der Kontrolle der Regierungstruppen, einschließlich der Provinzen Rif Dimashq und Dar'a, erhalten. Im Mai 2019 habe Human Rights Watch berichtet, dass syrische Geheimdienste in zurückeroberten Gebieten Menschen willkürlich inhaftieren, verschwindenlassen und schikanieren würden, insbesondere ehemalige bewaffnete und politische Oppositionsführer, Medienaktivist·innen, Mitarbeiter·innen von Hilfsorganisationen, Überläufer und Familienangehörige von Aktivist·innen sowie ehemalige Kämpfer gegen die Regierung, selbst wenn die Regierung Aussöhnungsabkommen mit ihnen unterzeichnet habe. Einem Bericht des UNO-Sicherheitsrats vom August 2019 zufolge hätten die Sicherheitskräfte der syrischen Regierung seit Juni 2019 Hunderte von Personen willkürlich festgenommen und inhaftiert, wobei die meisten Verhaftungen in den Provinzen Dar'a, Rif Dimashq, Damaskus und Homs erfolgt seien (EUAA, März 2020, Sitzung 22).
Die International Crisis Group (ICG) merkt im Februar 2020 an, dass die Auffassung der syrischen Regierung darüber, wer ein Gegner sei, nicht immer eindeutig sei oder - was noch gefährlicher sei - sich im Laufe der Zeit ändern könne. Daher gebe es keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher sei. Während vor dem Aufstand von 2011 die "roten Linien" des politisch Erlaubten für die meisten Syrer·innen erkennbar gewesen seien, könne acht Jahre nach dem Ausbruch des Konflikts nur noch wenig als selbstverständlich angesehen werden (ICG, Februar 2020).
In seinen im März 2021 veröffentlichten Erwägungen zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Syrien hält UNHCR fest, dass in den von der Regierung kontrollierten Gebieten Rückkehrer·innen Berichten zufolge unter anderem Schikanen, willkürlichen Verhaftungen, gewaltsamem Verschwindenlassen, Folter und anderen Formen der Misshandlung sowie der Beschlagnahme von Eigentum ausgesetzt seien, unter anderem aufgrund einer vermeintlich regierungsfeindlichen Meinung. (UNHCR, März 2021, Sitzung 113)
Weitere Berichte zur Lage von Rückkehrer·innen finden sich in folgenden Berichten:
· EUAA – European Union Agency for Asylum (ehemals: European Asylum Support Office, EASO): Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, Juni 2021
https://www.ecoi.net/en/file/local/2060547/2021_06_EASO_COI_Report_Syria_Situation_returnees_from_abroad_DE.pdf
· HRW – Human Rights Watch: “Our Lives Are Like Death”; Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, 20. Oktober 2021
https://www.ecoi.net/en/file/local/2062564/syria1021_web.pdf
Es konnten keine Informationen zu Einreiseverboten für rückkehrende Syrer·innen gefunden werden. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass solche Verbote nicht bestehen. Gesucht wurde mittels ecoi.net, Factiva, und Google nach einer Kombination aus folgenden Suchbegriffen: syria, activist, opposition, rebel, return, returnee, Four Towns Agreement, entry ban, travel ban
ICG schreibt im oben bereits angeführten Bericht vom Februar 2020, dass der libanesische Geheimdienst (General Security) in Zusammenarbeit mit den syrischen Behörden bereits seit Mitte 2017 mehrfach freiwillige Flüchtlingsrückführungen organisiert habe. Mehrere libanesische Parteien, darunter die Hisbollah, hätten ebenfalls Rückkehrkomitees eingerichtet, die die Namen potenzieller Rückkehrer·innen sammeln und an den libanesischen Geheimdienst weiterleiten würden. Der entscheidende Mehrwert dieses Prozesses sei für Flüchtlinge der formale Abfertigungsmechanismus mit den syrischen Behörden. Die Namen derjenigen, die sich melden würden, würden nach Damaskus weitergeleitet, wo das Nationale Sicherheitsbüro, die höchste Sicherheitsbehörde in Syrien, Hintergrundprüfungen durchführe und die Listen nach Beirut zurückschicke, und dabei angebe, wer ungehindert zurückkehren könne und wer möglicherweise „Probleme“ bekomme oder mit Ermittlungen rechnen müsse (ICG, 13. Februar 2020, Sitzung 17-18). Die syrische, der Opposition nahestehende Nachrichtenwebseite Enab Baladi berichtet im Juli 2017 in ähnlicher Weise, dass die libanesische Hisbollah Büros bereitgestellt und Kontaktnummern ausgegeben habe, an die Syrer·innen im Libanon sich wenden könnten, die zurückkehren wollten. Der libanesische Geheimdienst habe Namen potentieller Rückkerer·innen aufgenommen und koordiniere sich mit den Aussöhnungskomitees in Syrien, um eine Rückkehr zu organisieren (Enab Baladi, 4. Juli 2018).
Al Jazeera geht in einem Artikel vom November 2018 ebenfalls auf die Rolle der Hisbollah bei der Rückkehr syrischer Flüchtlinge ein. Die Hisbollah habe sich bereiterklärt, ihre ausgezeichneten Kontakte zur syrischen Regierung dazu zu nutzen, die Rückkehr von Syrer·innen aus dem Libanon zu ermöglichen. Mit Zustimmung der libanesischen Regierung habe sie in Zusammenarbeit mit dem libanesischen Geheimdienst und der syrischen Regierung Zentren eingerichtet, um den Prozess der Rückkehr von Flüchtlingen zu verwalten. Dabei verfolge Hisbollah auch die politischen Ziele ihrer Verbündeten Syrien und Iran, indem sie zwar die Rückkehr einiger Flüchtlinge nach Syrien ermöglicht habe, allerdings nicht in deren Herkunftsgebiete, sondern nach Idlib und Aleppo. Somit werde verhindert, dass diese Flüchtlinge, die vornehmlich sunnitisch seien, wieder sunnitische Enklaven in Gebieten bilden könnten, die die Hisbollah und Verbündete gerne in rein schiitische Gebiete umwandeln würden. (Al Jazeera, 23. November 2018)
Die der syrischen Opposition nahestehende Nachrichtenplattform Shaam Network berichtet im Oktober 2018, dass ein Abgeordneter der Hisbollah eine Bedingung für die Rückkehr syrischer Flüchtlinge genannte habe, nämlich dass sie eine „reine Weste“ haben müssten. Es könne durchaus sein, dass manche Anträge auf Rückkehr nicht angenommen würden. Er könne die genaue Anzahl der Anträge nicht nennen, aber beispielsweise würden von einer Liste mit 1.000 Namen potentieller Rückkehrer·innen, die sie an den Geheimdienst weitergegeben hätten, etwa nur 800 die Erlaubnis zur Rückkehr bekommen. (Shaam Network, 28. Oktober 2018)
[…]
Quelle:
● https://www.ecoi.net/de/dokument/2069890.html, Zugriff am 14.10.2024
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz sowie in die zitierten Länderberichte zu Syrien. Auskünfte aus dem zentralen Melderegister, dem Informationsverbund zentrales Fremdenregister, dem Betreuungsinformationssystem, dem Strafregister sowie ein Sozialversicherungsdatenauszug wurden ergänzend zum vorgelegten Verwaltungsakt eingeholt.
Daneben fand am 14.10.2024 eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertretung und eines Dolmetschers für die arabische Sprache einvernommen und zu seinen Fluchtgründen befragt wurde. Eine Vertreterin bzw. ein Vertreter blieb der belangten Behörde entschuldigt fern.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zur Volljährigkeit, zur Volksgruppen- und zur Glaubenszugehörigkeit des Beschwerdeführers basieren auf den stringenten Angaben im Verfahren (Erstbefragung am 29.04.2022, AS 1 ff; niederschriftliche Einvernahme am 19.02.2024, AS 107; Beschwerde vom 12.04.2024, AS 677 f). Hinsichtlich seiner Verehelichung mach islamischen Recht brachte er die entsprechende Urkunde, ausgestellt vom deutschsprachigen Muslimkreis in römisch 40 in Vorlage (AS 163 ff). Zumal der Beschwerdeführer keine identitätsbekundenden Dokumente in Vorlage gebracht hat, steht seine Identität nicht fest.
Übereinstimmend schilderte der Beschwerdeführer, aus römisch 40 im Gouvernement Damaskus Umgebung zu stammen (Protokoll vom 29.04.2022, AS 5; Protokoll vom 19.02.2024, AS 107; Beschwerde vom 12.04.2024, AS 678). Vor dem BFA konkretisierte er dazu, in der Eigentumswohnung seiner Eltern aufgewachsen zu sein, die Schule in römisch 40 bis 2011 besucht und den AHS-Abschluss erworben zu haben sowie Englische Literatur in Latakia und Damaskus studiert zu haben (Protokoll vom 19.02.2024, AS 109 f; Beschwerde vom 12.04.2024, AS 678). Bereits vor dem BFA nahm er auf seinen zwölfjährigen Schul- und anschließenden Universitätsbesuch Bezug (Protokoll vom 29.04.2022, AS 3). Zumal die Angaben des Beschwerdeführers zur Ausreise zwischen August 2013 (Protokoll vom 29.04.2022, AS 7 und AS 9), Juni 2013 (Protokoll vom 19.02.2024, AS 110) und Juli 2013 (Protokoll vom 19.02.2024, AS 111) divergierten, konnte lediglich festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Syrien im Sommer 2013 Syrien verlassen hat. Hinsichtlich seiner Ausreise über den Libanon in die Vereinigten Arabischen Emirate, seines Aufenthalts 2019 und seiner dortigen Tätigkeit als Koch sind seine Angaben stringent (Protokoll vom 29.04.2022, AS 3 und AS 9); Protokoll vom 19.02.2024, AS 109 f). In Anbetracht der mehrjährigen Schulbildung und seinen Berufserfahrungen ist unter Mitberücksichtigung seiner Gesundheit und seines Alters davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Syrien hinkünftig am syrischen Arbeitsmarkt wird unterkommen können. Seine Angaben zum Aufenthalt in der Türkei von 2019 bis 2022 sind gleichlautend (Protokoll vom 29.04.2022, AS 9; Protokoll vom 19.02.2024, AS 110). Die von ihm genannten Durchreisestaaten bis zur Ankunft in Österreich (Protokoll vom 29.04.2022, AS 9) sind aus geographischer Sicht plausibel. Das Datum seiner Asylantragstellung in Österreich ist sowohl im Erstbefragungsprotokoll verschriftlicht (Protokoll vom 29.04.2022, AS 3), als auch im Fremdenregisterauszug des Beschwerdeführers vermerkt. Die Abmeldung des Beschwerdeführers geht aus einem E-Mail der BBU Grundversorgung vom 05.05.2022 hervor (AS 19), die Einstellung des Asylverfahrens aufgrund dessen aus dem Aktenvermerk des BFA vom 06.05.2022, AS 21 f). Die Rücküberstellung von Deutschland am 29.03.2023 ergibt sich aus einem Schreiben des BFA vom 13.06.2023 (AS 41).
Übereinstimmend gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass nach wie vor seine Eltern und zwei Schwestern in Syrien leben würden (Protokoll vom 29.04.2022, AS 5; Protokoll vom 19.02.2024, AS 108), wobei er vor dem BFA konkretisierte, dass diese in römisch 40 aufhältig seien (Protokoll vom 19.02.2024, AS 108). In der Beschwerdeverhandlung schilderte er die aktuellen Lebensumstände der Angehörigen in Syrien (VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 4).
Auch in Hinblick auf die in der Türkei wohnhaften Schwester, dem in den Vereinigten Arabischen Emiraten aufhältigen Bruder sind die Angaben des Beschwerdeführers stringent (Protokoll vom 29.04.2022, AS 5; Protokoll vom 19.02.2024, AS 110). Bereits in seiner Erstbefragung brachte er vor, dass er nach Deutschland zu seiner Verlobten wolle (Protokoll vom 29.04.2022, AS 7), die er dann in Deutschland am 01.09.2022 nach traditionellem Recht heiratete (Urkunde AS 163 ff). Eine Anfrage an das PKZ Passau vom 20.08.2024 hat ergeben, dass sowohl der Gattin, als auch deren Sohn aus einer früheren Beziehung eine Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt wurde (OZ 4). Zudem wurden Kopien aus dem Mutterpass in Vorlage gebracht und im Zuge der Beschwerdeverhandlung auch ein Geburtsbericht vorgelegt, aus dem sich das Geburtsdatum der Tochter ergibt (VH-Protokoll vom 14.10.2024, Beilage ./B).
Auf Nachfrage konkretisierte der Beschwerdeführer, für seine Schleppung bis nach Österreich ca. EUR 6.000,00 bezahlt zu haben, wovon die Hälfte von ihm, die andere Hälfte von Freunden stamme, die ihm das Geld geliehen hätten (Protokoll vom 19.02.2024, AS 111). Seine Angaben, von Serbien bis nach Wien EUR 2.900,00 bezahlt zu haben (Protokoll vom 29.04.2022, AS 11) stehen den von ihm angegebenen Gesamtausgaben nicht entgegen, stellt diese Strecke doch lediglich einen Teil seiner Reiseroute dar.
Der Bescheid des AMS vom 19.06.2024, die sowohl Ausmaß und Tätigkeit des Beschwerdeführers konkretisiert, liegt im Gerichtsakt ein; seine Beschäftigungsaufnahme ab 22.06.2024 ist im Sozialversicherungsdatenauszug des Beschwerdeführers ersichtlich. Dem Grundversorgungsauszug war zu entnehmen, dass er parallel dazu auch Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezieht. Er selbst verneinte, eine Sprachprüfung gemacht zu haben und schätzte der Beschwerdeführer seine Deutschkenntnisse auf Niveau A1 ein (VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 9). Hinsichtlich seiner Freiwilligenarbeit bei der römisch 40 GmbH sowie bei der Stadtgemeinde römisch 40 brachte er ein Konvolut an Urkunden in Vorlage (AS 129 ff; VH-Protokoll vom 14.10.2024, Beilage ./C).
Einem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug zu seiner Person war zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer strafgerichtlich unbescholten ist.
2.3. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers
Dass sich römisch 40 im Gouvernement Damaskus Umgebung sowie die angrenzenden Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes befinden, lassen einerseits die Länderberichte vergleiche Punkt römisch II. 1.3.2.), andererseits auch die tagesaktuelle Karte des Bürgerkriegs in Syrien (https://syria.liveuamap.com/#, Zugriff am 14.10.2024) sowie die historische Karte zu Syrien vergleiche https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html, Zugriff am 14.10.2024) erkennen.
Vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer nach seinem Schulabschluss ein Studium aufgenommen hat, stellen sich die ihm gewährten – und letztlich auch in Kopie in Vorlage gebrachten Wehrdienstbuch (AS 171 ff) verschriftlichten – Aufschübe als glaubhaft dar. In Anbetracht dessen, dass der Beschwerdeführer, wie bereits ausgeführt, im Sommer 2013 Syrien verlassen hat (Protokoll vom 29.04.2022, AS 7 und AS 9; Protokoll vom 19.02.2024, AS 110 f), war festzustellen, dass er vor Ablauf des ihm gewährten (zweiten) Aufschubs Syrien verließ, was er derart auch selbst vorbrachte (VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 6).
Der Beschwerdeführer brachte im Zuge seiner Erstbefragung vor, dass er Syrien verlassen habe, weil er sein Studium nicht habe abschließen können, weil er diskriminiert worden sei. Auch müsse er in Syrien den Militärdienst leisten und würde vielleicht verraten und eingesperrt werden (Protokoll vom 29.04.2022, AS 11).
Vor dem BFA führte er zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen aus, dass er in Latakia nicht weiter studieren habe dürfen, weil er aus römisch 40 stamme. Auch sei er einmal zwei Tage lang auf dem Weg zur Universität in Latakia an einem Checkpoint festgehalten worden, bis sein Vater Schmiergeld bezahlt habe. Er sei dann zum Studieren nach Damaskus gegangen. Dort wäre er von einer bewaffneten Gruppierung angehalten, drei Tage lang geschlagen und gefoltert worden. Dann sei er freigekommen, weil ihm ein Studienkollege geholfen habe. Auch habe er mindestens zehnmal an Demonstrationen teilgenommen. Er wollte seinen Militärdienst nicht ableisten und möchte dem Regime nicht dienen. Zudem habe sein Schwiegervater ihn und seine Frau bedroht und würde dieser sie im Falle einer Rückkehr nach Syrien umbringen (Protokoll vom 19.02.2024, AS 112).
In der Beschwerdeschrift wurde erneut auf das wehrfähige Alter des Beschwerdeführers abgestellt und dass er aus Gewissensgründen den Wehrdienst nicht antreten wolle. Weil er sich dem Wehrdienst entzogen habe, drohe ihm auch Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund einer politisch motivierten Ablehnung des Wehrdienstes bzw. einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung. Unabhängig davon führte der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr aufgrund des Bürgerkrieges und der damit einhergehenden desaströsen Sicherheitslage Gefahr für Leib und Leben. Daneben habe der Vater seiner Ehefrau ihn mit dem Tode bedroht (Beschwerde vom 12.04.2024, AS 678 ff).
Im Zuge der mündlichen Verhandlung schilderte der Beschwerdeführer dass er sich der Al Baath Partei nicht angeschlossen habe und deshalb an der Universität benachteiligt worden sei. Er sei zweimal verhaftet worden und einmal sei seine Unterkunft in Latakia gestürmt worden. Ohne die Hilfe eines alawitischen Freundes wäre er jetzt tot (VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 6 f).
In Hinblick auf das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers gilt nun auszuführen wie folgt:
2.3.1. Zum Vorbringen der Teilnahme an Demonstrationen
In Zusammenhang mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er im Jahr 2011 und 2012 an ca. zehn Demonstrationen teilgenommen habe (Protokoll vom 19.02.2024, AS 112 und AS 114; Beschwerde vom 12.04.2024, AS 678), bleibt festzuhalten, dass der Beschwerdeführer den Demonstrationen als „normaler Teilnehmer“ beigewohnt hat. Er selbst verneinte, jeweils Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei gewesen zu sein (Protokoll vom 19.02.224, AS 112; VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 7).
Schließlich ist der Beschwerdeführer, noch bis Sommer 2013 in Syrien wohnhaft, jedenfalls nicht aufgrund der Demonstrationsteilnahme ins Blickfeld des syrischen Regimes geraten. Er konnte bis Ende 2012 / Anfang 2013 (Protokoll vom 19.02.2024, AS 113) die Universität besuchen und bezog sich auch ansonsten sein Beschwerdevorbringen in Zusammenhang mit den beiden Festnahmen nicht auf die Demonstrationsteilnahmen. Vielmehr verneinte er sogar dezidiert, jemals aufgrund seiner politischen Gesinnung in Syrien verfolgt worden zu sein (Protokoll vom 19.02.2024, AS 112).
Letztlich ist bei einer Zusammenschau der zuvor dargelegten Erwägungen keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit gegeben, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Demonstrationsteilnahme im Jahr 2011 und 2012 einer Verfolgungsgefahr von Seiten des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr nach Syrien ausgesetzt wäre.
2.3.2. Zur Wehrdienstverweigerung und zur Möglichkeit eines Freikaufs vom verpflichtenden Wehrdienst
Wie dem hier zugrundeliegenden Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien zu entnehmen ist, ist für männliche syrische Staatsangehörige im Alter zwischen 18 und 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend. Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren. Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen vergleiche Punkt römisch II. 1.3.2.).
Zum Entscheidungszeitpunkt ist der Beschwerdeführer 31 Jahre alt, weshalb er sich grundsätzlich im wehrdienstfähigen Alter des syrischen Regimes befindet. Grundsätzlich bestünde daher beim Beschwerdeführer – soweit es hier ausschließlich die Sachverhaltsebene betrifft – die maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass dieser bei einer Rückkehr nach Syrien in seine Herkunftsregion entweder schon bei seiner Einreise an einem Grenzübergang des syrischen Regimes oder bei einem Checkpoint in seinem Herkunftsort einer Kontrolle durch syrische Behörden unterworfen ist, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Feststellung seiner bisherigen Nicht-Ableistung seines Wehrdienstes beim syrischen Militär führen würde.
Keineswegs lässt das Bundesverwaltungsgericht außer Acht, dass generell die Wehrdienstverweigerung laut den Länderberichten vom syrischen Regime ambivalent beurteilt wird. So wird sie im besten Fall als Feigheit und im schlimmsten Fall im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) als Landesverrat gesehen, wobei es in letzterem Fall zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis kommen kann. Wie sich aus den Länderberichten allerdings auch erschließt, wird Wehrdienstverweigerung aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich nämlich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben vergleiche Punkt römisch II. 1.3.5.).
Zwar stammt der Beschwerdeführer aus römisch 40 im Gouvernement Damaskus Umgebung und damit aus einem ehemals oppositionellen Gebiet. Berücksichtigenswert dabei ist jedoch, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise in Damaskus gelebt und studiert hat. Vonseiten des syrischen Regimes brachte er in diesem Zusammenhang auch keine Verfolgungshandlungen vor, vielmehr nahm er auf eine bewaffnete Gruppierung Bezug (Protokoll vom 19.02.2024, AS 112). Dass ihm allein deshalb eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird, ist nicht glaubhaft, zumal er auch Aufschübe bekommen hat. Aus der Anfragebeantwortung vom 16.02.2022 ergibt sich, dass die Stadt römisch 40 ab Ausbruch des Bürgerkriegs zu einem Zufluchtsort für Regimegegner wurde und die Belagerung im März 2017 mit einem Abkommen beendet wurde. In diesen Jahren hielt sich der Beschwerdeführer nicht dort auf. Er stammt zwar aus der Region, wird aber nicht als Oppositioneller angesehen, weil er dorthin nicht im Zuge der Revolution aufgrund seiner politischen Einstellung übersiedelte und in der Hochzeit der Regierungskritiker dort auch nicht aufhältig war.
Des Weiteren ist den Angaben des Beschwerdeführers aber auch keine glaubhafte verinnerlichte politische Überzeugung gegen die syrische Zentralregierung oder gegen den Dienst an der Waffe an sich zu entnehmen.
Hierzu ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung anführte, dem Regime nicht dienen zu wollen, weil es seine Familie in römisch 40 eingekesselt hat und weil er bereits zweimal verhaftet und gefoltert worden sei. Das syrische Regime habe die Russen und die Iraner dazugeholt, im Norden hätten die Türken die Kontrolle. Syrien sei nicht mehr für die Syrer (VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 5 f). Aus diesen allgemein Aussagen ergibt sich zwar – durchaus verständlich –, dass der Beschwerdeführer schlicht nicht in einer Armee oder einem bewaffneten Verband kämpfen will, die ihm bzw. seiner Familie bereits Unrecht getan hat. Nicht verkannt werden darf jedoch, dass der Beschwerdeführer den Dienst an der Waffe per se nicht ablehnt: In der Beschwerdeverhandlung beantwortete er die Frage, ob er denn in Österreich (als Österreicher) seiner Wehrdienstpflicht nachkommen würde, nämlich mit „Ja, kein Problem.“ (VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 6), weshalb weder eine politische, noch eine religiöse Überzeugung zu erblicken ist. Es trifft sohin auch nicht zu, dass er (generell) keine Waffe tragen wolle. In Hinblick auf sein Vorbringen in Zusammenhang mit der Teilnahme an Demonstrationen bleibt auf die obigen Erwägungen unter Punkt römisch II. 2.3.1. zu verweisen. Damit haben sich weder eine pazifistische Einstellung des Beschwerdeführers ergeben, ebenso wenig Anhaltspunkte einer verinnerlichten oppositionellen Haltung bzw. politischen Überzeugung des Beschwerdeführers. Insofern ist lediglich glaubhaft, dass sich der Beschwerdeführer – nachvollziehbarerweise – in Kriegszeiten schlicht an keinen Kampfhandlungen beteiligen will.
Zusammengefasst konnte eine gegen die syrische Zentralregierung gerichtete, verinnerlichte politische Gesinnung nicht konkret dargetan bzw. glaubhaft gemacht werden.
Schließlich besteht – entgegen der Beschwerdeschrift (Beschwerde vom 12.04.2024, AS 679 ff) – die Möglichkeit, sich frei zu kaufen, was auch für den Beschwerdeführer derart in Betracht kommt:
Wie sich aus den Länderberichten ergibt, erlaubt es das syrische Militärdienstgesetz syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien – die sich im wehrpflichtigen Alter (18 -42 Jahre) befinden, sofern sie mindestens ein Jahr ohne Wiedereinreise nach Syrien ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatten – eine Gebühr zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Der zu zahlende Betrag hängt dabei davon ab, wie lange die Männer im Ausland waren und variiert zwischen 7.000 und 10.000 Dollar. Das entsprechende Gesetzesdekret Nr. 31 aus November 2020 legt die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr fest. Das Wehrersatzgeld ist gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre), wobei zusätzliche Gebühren anfallen können. Auch Wehrdienstpflichtige, die das Land illegal verlassen haben, können sich durch eine solche Zahlung von der Wehrpflicht freikaufen. Möglich ist dies in einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat unter Vorlage eines Nachweises, dass man im Ausland lebt. Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen oder die Vorlage eines Personalausweises. Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann. Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem können Bestechungsgelder für die Bürokratie anfallen. Die syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten zufolge, die vom Danish Immigration Service befragt wurden und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben, problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (diesbezüglich bleibt jedoch auf die vorangegangenen Erwägungen zu verweisen). Das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw. Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden vergleiche Punkt römisch II. 1.3.5.). Insgesamt ist den zitierten Quellen somit keine systematische und generelle Praxis einer Einberufung bzw. Einziehung von Personen, die von der Bezahlung einer Wehrersatzgebühr Gebrauch machen, zu entnehmen. Dass man trotz Leistens der Befreiungsgebühr dem Regime nicht vertrauen könne und es keine Garantie gebe, ist in Anbetracht der zuvor zitierten Länderberichte nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Die syrische Zentralregierung selbst stellt wehrpflichtigen Männern ein legales Instrument zur Verfügung, den Wehrdienst nicht ableisten zu müssen. Eine (Zwangs-)Rekrutierung trotz Leistens der Kompensationszahlung würde das von dem Regime selbst geschaffene System zum Lukrieren einer Einnahmequelle konterkarieren, hat das Regime doch ein Interesse an den so lukrierten Mitteln.
Gegenständlich hielt sich der Beschwerdeführer von 2019 bis 2022 in der Türkei auf und konnte sich augenscheinlich eine entsprechende Summe zur Reise nach Europa erwirtschaften. Er nutzte schließlich die ihm zur Verfügung stehenden Mittel in Höhe von EUR 6.000,00 wie er selbst bezifferte (Protokoll vom 19.02.2024, AS 111), nicht, um sich vom syrischen Wehrdienst freizukaufen, sondern um seine Reise letztlich bis nach Österreich zu finanzieren.
Dass es dem Beschwerdeführer auch gegenwärtig möglich ist, sich vom syrischen Wehrdienst freizukaufen und 7.000 USD zzgl. allfälliger Gebühren aufzubringen, gründet auf folgender Überlegung: Der Beschwerdeführer selbst vermochte für seine Schleppung nach Österreich EUR 6.000,00 aufzubringen. Schließlich bleibt weiters zu berücksichtigen, dass dem Beschwerdeführer nunmehr der Status des subsidiär Schutzberechtigten iSd Paragraph 8, AsylG 2005 zuerkannt wurde – wie unten noch auszuführen sein wird – und er somit uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt im Bundesgebiet hat. Bereits jetzt hat er auf Grundlage einer Beschäftigungsbewilligung in Österreich gearbeitet und wurde ihm parallel dazu eine Unterkunft im Rahmen der Grundversorgung zur Verfügung gestellt. Dabei ist es dem gesunden und erwerbsfähigen Beschwerdeführer jedenfalls zumutbar, eine Vollzeitbeschäftigung aufzunehmen, um so die erforderlichen Geldmittel zu erwirtschaften. Er selbst hat nicht substantiiert aufgezeigt, weshalb ihm die Aufbringung der Geldmittel nicht möglich sein sollte, antwortete er darauf befragt doch ausschließlich, dass er sich das nicht leisten könne und er schlichtweg nicht bereit sei, dem Regime Geld zu zahlen (VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 6). Somit erscheint es dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen im Hinblick bis zu einem hypothetischen Rückkehrzeitpunkt – mit Blick auf den Prognosecharakter von Asylentscheidungen und den bestehenden subsidiären Schutzstatus – jedenfalls zumutbar und möglich, Geldmittel selbst zu verdienen. Zu den benötigten Dokumenten bleibt auszuführen, dass es schlichtweg nicht zutrifft, dass der Beschwerdeführer nicht über alle Unterlagen verfügt (Beschwerde vom 12.04.2024, AS 690) – wurde sein originaler Reisepass von deutschen Behörden in Verwahrung genommen (AS 55).
Dem Bundesverwaltungsgericht ist aufgrund der Berichtslage durchaus bewusst, dass beim Prozess des Freikaufens vom Militärdienst aufgrund der in Syrien verbreiteten Korruption zusätzliche Kosten (zB Bestechungsgelder für die Bürokratie) entstehen können und auch aufgrund des einzuleitenden „Versöhnungsprozesses“ aufwändig sein kann, was jedoch die Möglichkeit des Freikaufs per se nicht berührt.
Zum Einwand des Beschwerdeführers, wonach er dem syrischen Regime kein Geld geben wolle, weil es kriminell sei (VH-Protokoll vom 22.01.2024, AS 108) bzw. er schlichtweg nicht bereit sei, dem Regime Geld zu zahlen, weil es seine Familie eingekesselt habe, er verhaftet worden sei und auch sein Vater früher schon vom Regime zwei Jahre lang im Gefängnis festgehalten worden sei (VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 6), bleibt festzuhalten, dass eine etwaige Ablehnung der Zahlung der Befreiungsgebühr durch einen wehrpflichtigen Syrer aus moralischen oder politischen Gründen (Beschwerde vom 12.04.2024, AS 690 f), jedenfalls keine asylrelevante Bedeutung zukommen kann, wie unter Punkt römisch II. 3.1.2. noch weiter auszuführen sein wird.
Zusammenfassend ist somit darauf hinzuweisen, dass dem Beschwerdeführer nach den vorliegenden Länderinformationen zu Syrien jedenfalls die Möglichkeit offensteht, sich als Syrer mit Wohnsitz im Ausland gegen Bezahlung eines festgelegten Geldbetrages – ohne Angabe von Gründen – befreien zu lassen. Dem Beschwerdeführer droht daher im Falle einer – hypothetischen – Rückkehr in seine Heimatregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine (Zwangs-)Rekrutierung durch die syrische Regierung bzw. Armee bzw. darauf basierend die maßgebliche Gefahr, verhaftet oder getötet oder als Verräter angesehen zu werden bzw. dass ihm eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werde oder eine maßgebliche Gefahr, dass er sich an völkerrechtswidrigen militärischen Aktionen beteiligen müsste.
2.3.3. Zum Vorbringen einer Verfolgung durch den Schwiegervater:
Vor dem BFA und in der Beschwerde brachte der Beschwerdeführer noch vor, dass der Vater seiner Gattin gegen die Ehe war und er ihnen deshalb mit dem Umbringen gedroht habe (Protokoll vom 19.02.2024, AS 114 f; Beschwerde vom 12.04.2024, AS 679).
Von einer derartigen Bedrohung war in der mündlichen Beschwerdeverhandlung keine Rede mehr. Der Beschwerdeführer wurde dezidiert gefragt, ob er alle seine Fluchtgründe vortragen hat können und vermeinte er „Ich habe alles gesagt.“ (VH-Protokoll vom 14.10.2024, S 8). In diesem Zusammenhang ist auch anzuführen, dass die jetzige Frau des Beschwerdeführers geschieden ist und mit ihrem Exmann einen Sohn hat. Im Verfahren vor dem BFA war stets von Sorgerechtsstreitigkeiten die Rede und dass der Exgatte den Beschwerdeführer beschimpft und beleidigt habe. Unterlagen zum Scheidungsverfahren wurden dazu vorgelegt (AS 183 ff).
Da der Beschwerdeführer die Thematik nicht erneut ins Treffen geführt hat und sowohl die Scheidung im Jahr 2019 und die Bedrohungen einige Zeit zurückliegen, ist anzunehmen, dass eine akute Verfolgungsgefahr nicht besteht. Anzumerken ist auch, dass die Gattin die Scheidung von Exmann auch hat durchführen können, obwohl ihr Vater bzw. ihr Onkel sie gedrängt hätten, zum Exmann zurückzukehren. Eine weitere Verfolgung deswegen erscheint daher nicht maßgeblich wahrscheinlich.
2.3.4. Zum Vorbringen einer Verfolgung aufgrund illegaler Ausreise und Asylantragstellung im Ausland:
Zum weiteren Beschwerdevorbringen, wonach ihm aufgrund seiner illegalen Ausreise aus Syrien und seiner Asylantragstellung im Ausland eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde und er deshalb eine asylrelevante Bedrohung zu befürchten habe (Beschwerde vom 12.04.2024, AS 705 ff), gilt wie folgt anzumerken:
Wie im EUAA Country Guidance: Syria 2024, S 17 ff (https://euaa.europa.eu/publications/country-guidance-syria-april-2024, Zugriff am 14.10.2024) näher ausgeführt, hatte eine illegale Ausreise aus Syrien nur früher eine Haftstrafe und/oder eine Geldbuße zur Folge. Eine illegale Ausreise zieht zwar ein förmliches Verfahren vor der Rückkehr nach Syrien nach sich. Allein daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung droht.
Eine Asylantragstellung in Österreich ist für sich gesehen auch nicht ausreichend für die Asylzuerkennung, weil die Antragstellung den syrischen Behörden nicht bekannt ist. Dies deshalb, weil es den österreichischen Behörden untersagt ist, diesbezüglich Daten an die syrischen Behörden weiterzuleiten. Wie sich zudem den Länderberichten entnehmen lässt, führt die Tatsache, einen Asylantrag gestellt zu haben, alleine nicht zu Misshandlungen. Vielmehr ist dem syrischen Regime bewusst, dass Syrer auch deshalb im Ausland um Asyl ansuchen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, im Ausland einen legalen Status zu erreichen vergleiche DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria - Treatment Upon Return, S 8, wie in den Länderberichten unter Punkt römisch II. 1.3.5. zitiert).
Wie den Länderberichten zu entnehmen ist, ist die Schwelle, als oppositionell betrachtet zu werden, in Syrien allgemein niedrig. Personen werden aus unterschiedlichen Gründen und teilweise willkürlich als regierungsfeindlich angesehen und kommt es bei der Rückkehr von Flüchtlingen, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, immer wieder zu Verhaftungen, Verhören und teils auch zu Folterungen. Es übersieht weiters nicht, dass in ganz Syrien bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. ihnen zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. Somit geht aus den Länderinformationen hervor, dass es zwar nach wie vor willkürliche Verhaftungen und andere Repressionen gegenüber Rückkehrern gibt und verschiedene Quellen immer wieder von derartigen Einzelfällen berichten. Demgegenüber lässt sich den Länderberichten allerdings nicht entnehmen, dass jeder Person, die unrechtmäßig ausgereist ist und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat und in Folge nach Syrien zurückkehrt, bei einer Rückkehr eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und eine Verhaftung, ein Verhör und Folterungen drohen oder der weitaus überwiegende Teil aller Rückkehrenden systematischen Repressionen ausgesetzt wäre.
Ein Eingriff in die psychische und/oder körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers allein aufgrund seiner illegalen Ausreise und Asylantragstellung im Ausland ist daher nicht maßgeblich wahrscheinlich.
2.4. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat
Zu den zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat ausgewählten Quellen wird angeführt, dass es sich hierbei um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen sowohl staatlichen als auch nicht-staatlichen Ursprungs handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten, von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen, diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um kritische Sachverhalte geht, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteinahme unterstellt werden kann. Zudem werden auch Quellen verschiedener Menschenrechtsorganisationen herangezogen, welche oftmals das gegenteilige Verhalten aufweisen und so gemeinsam mit den staatlich-diplomatischen Quellen ein abgerundetes Bild ergeben.
Bei Berücksichtigung dieser Überlegungen hinsichtlich des Inhaltes der Quellen, ihrer Natur und der Intention der Verfasser handelt es sich nach Ansicht des erkennenden Richters bei den Feststellungen um ausreichend ausgewogenes und aktuelles Material vergleiche VwGH 07.06.2000, 99/01/0210). Der Beschwerdeführer hat die Länderberichte zudem auch nicht in seiner Beschwerde oder in der mündlichen Verhandlung substantiiert bekämpft.
Die obgenannten Länderfeststellungen konnten daher der gegenständlichen Entscheidung bedenkenlos zugrunde gelegt werden.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gegenständlich wurde ausschließlich gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides (Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten) Beschwerde erhoben, weshalb die weiteren Spruchpunkte römisch II. und römisch III., mit welchen dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt wurde, keiner Befassung bedürfen.
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
3.1. Zur Nichtgewährung von Asyl (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides):
3.1.1. Rechtslage
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht und keiner der in Artikel eins, Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, mwN).
Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach Paragraph 15, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen vergleiche VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).
Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht. Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht vergleiche VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).
Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung ist auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden VwG vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom VwG nicht getroffen werden vergleiche VwGH 13.01.2022, Ra 2021/14/0386, mwN).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. – des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste vergleiche VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen vergleiche Artikel 9, Absatz eins, der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen vergleiche VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen. Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa der Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine "bloße" Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein vergleiche VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, Rn. 19, mwN).
Der EuGH hat in seinem - Syrien betreffenden - Urteil vom 19.11.2020, C-238/19, Rs. EZ, zu einem deutschen Vorabentscheidungsersuchen ausgesprochen, dass eine Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlungen und dem Konventionsgrund der politischen Gesinnung nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden kann, weil Strafverfolgung oder Bestrafung wegen einer Wehrdienstverweigerung erfolgen. Allerdings spreche eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Artikel 9, Absatz 2, Litera e, Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen (also eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Bürgerkrieg, wenn der Militärdienst u.a. Kriegsverbrechen umfassen würde) mit einem Konventionsgrund in Zusammenhang stehe. Es sei Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.
3.1.2. Zur Anwendung der Rechtlage auf den gegenständlichen Fall
Wie unter Punkt römisch II. 2.3. beweiswürdigend ausführlich dargelegt, ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, individuelle Gründe für die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung seiner Person glaubhaft zu machen. Er weist weder eine verinnerlichte oppositionelle Gesinnung auf und haben sich auch ansonsten keine (glaubhaften) Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Verhaltens in den Fokus des syrischen Regimes gekommen und von diesem als oppositionell wahrgenommen wird.
Generell ist in Zusammenhang mit dem Vorbringen einer im Falle einer – hypothetischen – Rückkehr möglichen Einberufung zum Wehrdienst bzw. einer etwaigen Wehrdienstverweigerung Folgendes von Bedeutung:
Generell geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass nach der maßgeblichen Berichtslage sich aus den Länderberichten ein differenziertes Bild der Haltung des syrischen Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern ergibt und aus dieser Berichtslage nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden kann, dass jedem den Militärdienst verweigernden Syrer eine oppositionelle Haltung unterstellt werde vergleiche hierzu VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619, Rz 32 ff). Nach dieser Berichtslage lässt sich gerade kein Automatismus dahingehend als gegeben annehmen, dass jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde vergleiche VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619 mit Hinweis auf VwGH 21.12.2023, Ra 2023/18/0077; VwGH 08.11.2023, Ra 2023/20/0520; in diesem Sinn auch VwGH 21.12.2023, Ra 2023/20/0173).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung weiters dargelegt, dass es in jedem Fall vor der Asylgewährung wegen behaupteter Wehrdienstverweigerung erforderlich ist, die drohenden Verfolgungshandlungen wegen dieses Verhaltens im Herkunftsstaat zu ermitteln und bejahendenfalls eine Verknüpfung zu einem der Verfolgungsgründe des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK bzw. Artikel 10, Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) herzustellen. Das hat - was im Übrigen der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) entspricht - auch im Anwendungsbereich des Artikel 9, Absatz 2, Litera e, Statusrichtlinie Platz zu greifen. Allein deshalb, weil einem Wehrdienstverweigerer unter den Voraussetzungen des Artikel 9, Absatz 2, Litera e, Statusrichtlinie Bestrafung durch die Behörden seines Herkunftsstaates droht, kann die Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht als gegeben angesehen werden. Die Plausibilität der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ist nach Auffassung des EuGH von den zuständigen nationalen Behörden vielmehr in Anbetracht sämtlicher vom Asylwerber vorgetragenen Anhaltspunkte zu prüfen. Dabei spricht zwar eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Artikel 9, Absatz 2, Litera e, Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Artikel 10, Statusrichtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Dies entbindet die Asylbehörde und das nachprüfende Verwaltungsgericht aber nicht von der erforderlichen Plausibilitätsprüfung (VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619 mit Hinweis auf VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH und des deutschen Bundesverwaltungsgerichts; vergleiche weiters VwGH 31.01.2023, Ra 2022/20/0347, in diesem ebenfalls einen syrischen Staatsangehörigen betreffenden Fall hat der Verwaltungsgerichtshof - unter Hinweis auf Vorjudikatur - festgehalten, dass auch nach den Ausführungen in EuGH 19.11.2020, C-238/19, [weiterhin] eine auf den Einzelfall bezogene Beurteilung unverzichtbar ist; vergleiche zur Notwendigkeit, den Bedarf an asylrechtlichem Schutz - im Besonderen auch in Bezug auf das Vorliegen eines kausalen Zusammenhangs mit einem in der GFK genannten Grund - in jenem Fall, in dem ein syrischer Staatsangehöriger es ablehnt, in Syrien Militärdienst zu leisten, einer individuellen Prüfung zu unterziehen, aus jüngerer Zeit etwa VwGH 18.01.2024, Ra 2023/19/0496; VwGH 02.02.2024, Ra 2023/14/0207; VwGH 14.12.2023, Ra 2023/19/0144; VwGH 20.12.2023, Ra 2023/20/0415; VwGH 19.12.2023, Ra 2023/19/0073; VwGH 12.12.2023, Ra 2022/19/0281; VwGH 29.12.2023, Ra 2023/19/0258; VwGH 29.04.2024, Ra 2024/14/0076; VwGH 07.05.2024, Ra 2023/20/0542; VwGH 10.06.2024, Ra 2024/01/0003).
Es ist in Zusammenhang mit dem Vorbringen einer Wehrdienstverweigerung von Bedeutung, dass es für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten für sich genommen nicht ausreichend ist, wenn der asylwerbende Fremde – wie hier der Beschwerdeführer, der angegeben hat, dass das Regime in der Vergangenheit Verbrechen an den Bewohnern seines Herkunftsortes begangen hat und das Leben und die Zukunft in Syrien zerstört habe – Gründe, warum er den Militärdienst nicht ableisten möchte, ins Treffen führt, die Ausdruck einer politischen oder religiösen Gesinnung sein können. Es müssen nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung nämlich, damit der Status des Asylberechtigten zuerkannt werden kann, die Verfolgungshandlungen aus asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten drohen. Dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen muss, ergibt sich schon aus der Definition des Flüchtlingsbegriffs in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK, wonach als Flüchtling im Sinn dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, „aus Gründen“ (Englisch: „for reasons of“; Französisch: „du fait de“) der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Auch Artikel 9, Absatz 3, Statusrichtlinie verlangt eine Verknüpfung zwischen den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen einerseits und den Verfolgungsgründen andererseits. Dafür reicht es zwar nach der jüngeren Ansicht des UNHCR aus, dass der Konventionsgrund ein maßgebender beitragender Faktor ist und er nicht als einziger oder überwiegender Grund für die Verfolgung oder das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen nachgewiesen werden muss. Das bedeutet aber nicht, dass für die Gewährung von Asyl auf die Prüfung eines kausalen Zusammenhanges zwischen der Verfolgungshandlung (oder dem Fehlen von Schutz vor Verfolgung) und einem Verfolgungsgrund im Sinn der GFK verzichtet werden könnte vergleiche zuletzt etwa VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619 mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat im Zusammenhang mit syrischen Staatsangehörigen, die ihren Militärdienst nicht abgeleistet haben, zudem bereits darauf hingewiesen, dass dem Schutz vor (mit realem Risiko drohenden) willkürlichen Zwangsakten bei Fehlen eines kausalen Konnexes zu einem in der GFK genannten Grund die - dem Mitbeteiligten ohnedies zuteil gewordene - Gewährung subsidiären Schutzes dient vergleiche erneut VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619 mit Hinweis auf VwGH 23.05.2023, Ra 2023/20/0110; zuletzt etwa VwGH 24.04.2024, Ra 2024/20/0141).
Eine solche Verknüpfung ist im gegenständlichen Fall nicht erkennbar, wie die Ausführungen unter Punkt römisch II. 2.3.2. zur mangelnden verinnerlichten politischen oder religiösen Überzeugung des Beschwerdeführers, der einen Wehrdienst nicht per se ablehnt, aufzeigen.
Es ist dem Beschwerdeführer schließlich aufgrund seines mehr- bzw. langjährigen Auslandsaufenthaltes gemäß den Länderfeststellungen zudem möglich und zumutbar, sich vom Wehrdienst freizukaufen. Hierzu hat er nach Vornahme einer Prognoseentscheidung vergleiche den Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom 25.06.2024, E 536/2024, in welchem dieser Rechtsansicht nicht entgegengetreten wird) die finanziellen Mittel bzw. kann diese aufbringen vergleiche VwGH 26.02.2024, Ra 2023/20/0200; VwGH 08.11.2023, Ra 2023/20/0520 bzw. VfGH 26.02.2024, E 2592/2023; VfGH 25.06.2024, E 536/2024). Das Verlangen eines Staates auf finanzielle Kompensation für die Nichtableistung des Wehrdienstes ist dabei nicht als Verfolgungshandlung im Sinne des Artikel 9, der Statusrichtlinie, auf den die Legaldefinition des Begriffes „Verfolgung“ in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG verweist, anzusehen vergleiche VwGH 26.02.2024, Ra 2023/20/0200 mit Hinweis auf VwGH 28.03.2023, Ra 2023/20/0027). Es ist ausreichend, wenn – wie hier – damit zu rechnen ist, dass die finanziellen Mittel in absehbarer Zeit aufgebracht werden können vergleiche den rezenten Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom 25.06.2024, E 536/2024, in welchem dieser Rechtsansicht nicht entgegengetreten wird).
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt keineswegs, dass die Befreiungsgebühren, die von Auslandssyrern entrichtet werden, die wichtigste Devisengenerierungsquelle des syrischen Regimes darstellen. Auch wird nicht verkannt, dass das syrische Regime vor und während des andauernden syrischen Bürgerkriegs für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht wird und mit unerbittlicher Repression durch Verhaftungen und Folter gegen oppositionelle Gruppen und Personen, somit gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. Es mag daher grundsätzlich nachvollziehbar sein, wenn ein wehrpflichtiger syrischer Staatsbürger – auch ohne eine tiefergehende oppositionelle Gesinnung verinnerlicht zu haben – dieses Regime nicht finanziell unterstützen möchte. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang jedoch der vom EuGH in seinem Urteil vom 26.05.2015 in der Rechtssache C‑472/13 „Shepherd“ aufgestellten Prämisse (Rz 44 und 46), wonach die Verweigerung des Wehrdienstes die einzig verfügbare Möglichkeit für eine die Flüchtlingseigenschaft nach der StatusRL anstrebende Person sein muss, um ihre Einziehung zu einem staatlichen Wehrdienst – dessen Ableistung mit der Begehung von Kriegsverbrechen einherginge – zu verhindern, kann jedoch nicht durch moralischen Bedenken der die Flüchtlingseigenschaft anstrebende Person gegen eine mögliche Alternative zur Verweigerung außer Kraft gesetzt werden. Dem vorzitierten Urteil des EuGH kann nicht entnommen werden, dass bei Bestehen einer nach dem Recht des Herkunftsstaates legalen Alternative zur Ableistung eines solchen Wehrdienstes – wie der gegenständlichen in Rede stehenden Zahlung einer Befreiungsgebühr – diese von jener Person die in Furcht vor der Einziehung zu einem solchen Wehrdienst die Flüchtlingseigenschaft anstrebt, deshalb ungenutzt bleiben könnte, weil diese Person moralische oder politische Bedenken an der Benützung dieser alternativen Möglichkeit zur zuverlässigen Verhinderung ihrer Einziehung zum Wehrdienst hat vergleiche in diesem Zusammenhang Binder/Haller/Nedwed „Wehrdienstverweigerung als Asylgrund“, in Filzwieser/Kasper (Hrsg.), Asyl- und Fremdenrecht Jahrbuch 2023, S 245).
Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts entfällt dann eine konkrete Zumutbarkeitsprüfung zur Inanspruchnahme dieser Alternative zur Wehr- bzw. Reservedienstleistung, wenn es sich um eine nach dem Recht Herkunftsstaates legale Alternative zur Ableistung eines solchen Wehrdienstes handelt und diese im Herkunftsstaat legale Alternative nicht prima-facie mit den der eigenen Rechtsordnung zu Grunde liegenden Prinzipien (ordre public) unvereinbar erscheint. Dass die Bezahlung einer Befreiungsgebühr ohne signifikanten Pönalcharakter als Abgeltung für die Nicht-Leistung des Wehrdienstes nicht per-se als ordre public widrig erkannt werden kann, liegt nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf der Hand.
Folglich ist nicht anzunehmen, dass dem Beschwerdeführer bei Leistung der Befreiungsgebühr eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde, weshalb seinem Vorbringen zusammengefasst keine Asylrelevanz zukommt.
Des Weiteren lässt sich den Länderberichten auch nicht entnehmen, dass jeder Person, die unrechtmäßig ausgereist ist und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat und in Folge nach Syrien zurückkehrt, bei einer Rückkehr eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und eine Verhaftung, ein Verhör und Folterungen drohen oder der weitaus überwiegende Teil aller Rückkehrenden systematischen Repressionen ausgesetzt wäre. Es ergibt sich aus den Länderberichten keine Verfolgung aller Rückkehrer, die um Asyl angesucht haben vergleiche VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0147; VwGH 24.11.2022, Ra 2022/18/0222).
Auch haben sich im Verfahren ansonsten keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Verfolgung des Beschwerdeführers aus asylrelevanten Gründen im Herkunftsstaat maßgeblich wahrscheinlich erscheinen ließen. Die allgemeine Lage in Syrien ist auch nicht dergestalt, dass automatisch jedem Antragsteller aus Syrien der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müsste.
Aufgrund der Verneinung einer Verfolgung nach Paragraph 3, AsylG kommt es für die Klärung des Sachverhalts im Hinblick auf den Asylstatus auf die Erreichbarkeit der Herkunftsregion nicht an vergleiche VwGH 03.01.2023, Ra 2022/01/0328; VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108 und VfGH 29.06.2023, E 3450/2022).
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. war daher abzuweisen.
3.2. Beschwerdestattgabe – Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides):
Wird ein Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, so ist dem Asylwerber gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Nach Paragraph 8, Absatz 2, AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung dieses Status mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, AsylG 2005 zu verbinden.
Gemäß Paragraph 8, Absatz 3 und 6 AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich dieses Status abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative vergleiche Paragraph 11, AsylG 2005) offensteht oder wenn der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann. Daraus und aus mehreren anderen Vorschriften vergleiche Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13,, Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 2,, Paragraph 27, Absatz 2 und 4 AsylG 2005) ergibt sich, dass dann, wenn dem Asylwerber kein subsidiärer Schutz gewährt wird, sein Antrag auf internationalen Schutz auch in dieser Beziehung förmlich abzuweisen ist.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Artikel 2, oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) insbesondere einer gegen Artikel 2, oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat vergleiche jeweils mwN VwGH 25.06.2024, Ra 2024/18/0151; 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).
Um von der realen Gefahr einer drohenden Verletzung der durch Artikel 2, oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein „real risk“ vorliegt, wenn stichhaltige Gründe („substantial grounds“) dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Artikel 3, EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko iSd Artikel 3, EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen („in the most extreme cases“) diese Voraussetzung erfüllt. In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen („special distinguishing features“), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen vergleiche auch mit Nachweisen zur Rsp des EGMR VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).
Wie sich aus der festgestellten Situation in Syrien ergibt, ist die Sicherheitslage in den letzten zwei Jahren als deutlich volatil einzustufen. Auch wenn sich die allgemeine Sicherheitslage in manchen von der Regierung kontrollierten Gebieten Syriens verbessert hat, ist die Situation aber auch in Gegenden, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden, weiterhin angespannt. Selbst in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, und auch in vermeintlich friedlicheren Landesteilen im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden. Aktuell steht die Herkunftsregion des Beschwerdeführers aber aufgrund der Kriegshandlungen in Israel und den Angriffen im Libanon wieder stärker im Fokus. Tausende Menschen fliehen über die libanesische-syrische Grenze aus dem Libanon vergleiche https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-09/libanon-flucht-syrien-zehntausende-un, Zugriff am 14.10.2024). Durch die Involvierung der Hisbollah ist in Zusammenschau mit den vergangenen Ereignissen in der Stadt römisch 40 bzw. dem Bezirk römisch 40 vergleiche Punkt römisch II. 1.3.14) von einem erhöhten Sicherheitsrisiko in der Region auszugehen. Hinzutreten eine weiterhin äußerst schlechte Menschrechtslage in Syrien sowie fehlende Perspektiven sowie Rechtssicherheit für Rückkehrer.
Eine innerstaatliche Relokationsmöglichkeit stünde dem Beschwerdeführer aufgrund seiner persönlichen Voraussetzungen offen. Er hat in der Vergangenheit bewiesen, dass er auch in Latakia oder Damaskus Stadt zumindest zu Studienzwecken Fuß fassen konnte. Der Verwaltungsgerichtshof hat allerdings in der rezenten Entscheidung vom 25.06.2024, Ra 2024/18/0151, festgehalten, dass abseits der unmittelbaren Betroffenheit von kriegerischen Auseinandersetzungen die „Frage der persönlichen Sicherheit“ ebenso bedeutsame ist. Diese ist vor dem Hintergrund der getroffenen Länderfeststellungen zu sehen. Das Höchstgericht setzte sich mit der Rückkehr von syrischen Asylwerbern im Lichte des Artikel 3, EMRK und zeichnet durch die besonders ausführliche Exegese der Länderberichte im Wesentlichen ein der Rückkehr entgegenstehendes Bild in Bezug auf das ganze Land. Artikel 10, Absatz 3, Litera b, der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) sieht es nämlich als Pflicht der Mitgliedstaaten an zu gewährleisten, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck hätten die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa EASO und UNHCR sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller. Auch nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung ist den Richtlinien des UNHCR und der EUAA (früher: EASO) besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“) (VwGH 18.4.2023, Ra 2022/18/0219, mwH; VfGH 19.09.2023, E 1668/2022 ua.). Die Annahme einer Rückkehrmöglichkeit steht für den Verwaltungsgerichtshof zu den Länderfeststellungen in Widerspruch. Die Gesamtsituation des Beschwerdeführers bietet keine Argumentationspunkte, die den genannten Aussagen in den Länderberichten sowie den UNHCR-Richtlinien, denen Indizwirkung zukommt, entgegentreten.
Vor diesem Hintergrund ist die Situation für den Beschwerdeführer in ganz Syrien so geartet, dass für den Beschwerdeführer die Gefahr einer Verletzung seiner Rechte nach Artikel 2,, insbesondere Artikel 3, EMRK oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit aus den in Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 genannten Gründen besteht.
Ausschlussgründe nach Paragraph 8, Absatz 3 a, in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 liegen nicht vor, weil sie nicht hervorgekommen sind (Ziffer eins und Ziffer 2,) bzw. der Beschwerdeführer unbescholten ist.
Es war dem Beschwerdeführer somit der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
3.3. Erteilung einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung:
Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Fall des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom BFA für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
Da dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung in der Dauer von einem Jahr zu erteilen vergleiche mwN VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0281).
Infolge der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten waren die weiteren Spruchpunkte römisch III. bis römisch VI., mit denen keine Aufenthaltsberechtigung nach Paragraph 57, AsylG 2005 erteilt, eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer erlassen, die Abschiebung nach Syrien für zulässig erklärt und eine 14-tägige Ausreisefrist festgelegt wurde, zu beheben.
3.4. Aufhebung der sonstigen Spruchpunkte römisch III. bis römisch VI. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt wird.
Da im gegenständlichen Fall dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, liegen die Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung, für die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach Paragraph 57, AsylG 2005, für die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und für die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise nicht (mehr) vor.
Daher waren die entsprechenden Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides aufzuheben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder fehlt es an einer Rechtsprechung zum Vorbringen der Wehrdienstverweigerung und zum Freikauf, noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der persönlichen Sicherheit (abseits der unmittelbaren Betroffenheit von kriegerischen Auseinandersetzungen) im Zusammenhang mit Rückkehrmöglichkeiten ab; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.
ECLI:AT:BVWG:2024:I423.2290559.1.00