Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

21.08.2024

Geschäftszahl

W242 2268521-1

Spruch


W242 2268520-1/36E
W242 2268524-1/30E
W242 2268521-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIk

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HEUMAYR als Einzelrichter über die Beschwerden der 1) römisch 40 , geb. römisch 40 , 2) römisch 40 , geb. römisch 40 und 3) römisch 40 , geb. römisch 40 , alle StA. Iran, die minderjährige Beschwerdeführerin vertreten durch den Kindesvater, dieser vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom römisch 40 2023, Zlen. 1) römisch 40 , 2) römisch 40 und 3) römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am römisch 40 .2023, römisch 40 2024 und römisch 40 2024, zu Recht:

A)

römisch eins. Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird 1) römisch 40 , gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 sowie 2) römisch 40 und 3) römisch 40 , gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 34, Absatz 2, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1) römisch 40 , 2) römisch 40 und 3) römisch 40 , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

römisch II. Die Spruchpunkte römisch II. bis römisch VI. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2) sind verheiratet. Sie sind die Eltern der Drittbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF3).

1. Die Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), Staatsangehörige Irans, reisten am römisch 40 .2021 auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein und stellten am selben Tag am Flughafen Wien Anträge auf internationalen Schutz.

2. Am römisch 40 .2021 fanden vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftliche Erstbefragungen statt. Dabei gab der BF1 zu seinen Fluchtgründen befragt an, er sei Atheist und sei aus diesem Grund in Iran mit dem Tod bedroht worden. Er habe in einer Bank gearbeitet und die Drohung sei bei der Arbeit ausgesprochen worden. Er hätte in Iran die Todesstrafe bekommen. Er habe auch versucht, andere davon zu überzeugen, dass der Glaube nicht realistisch sei. Bei einer Rückkehr nach Iran fürchte er um sein Leben und das Leben seiner Familie. Seine Frau sei auch Atheistin. Die gemeinsame Tochter wäre dadurch auch betroffen. Sie würden alle umgebracht werden. Die BF2 gab als Fluchtgrund an, sie habe den Herkunftsstaat gemeinsam mit ihrem Mann verlassen müssen, da sie Atheisten seien. Sie hätten mitbekommen, dass ihnen deshalb die Todesstrafe drohen würde. Die BF2 stellte auch für ihre Tochter, die BF3, einen Antrag auf internationalen Schutz.

3. Am römisch 40 2022 wurde der BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF1 im Wesentlichen an, er habe bei einer Bank gearbeitet und sei dort verdächtigt worden, dass er seinen früheren Glauben nicht mehr habe. In der Bank habe es eine kleine Gruppe gegeben, die mit der Sepah zu tun gehabt habe. Sie hätten ihn ein paar Mal befragt und ihn bedroht, dass er seine Arbeit verlieren (es handle sich um eine staatliche Bank) und vor Gericht gestellt werde, wenn er nicht aufhöre. Er sei dann tatsächlich gekündigt worden. Da er Staatsbediensteter gewesen sei, sei die Kündigung mit der Nennung seines Namens in einer Zeitung veröffentlicht worden. Sein Bruder habe das Kündigungsschreiben übernommen, da er selbst schon in Österreich gewesen sei. Er habe zuvor von einem Arbeitskollegen, der auch Atheist sei, erfahren, dass er gekündigt und vor Gericht gestellt werden soll. Daraufhin sei er nach Hause gegangen und habe seiner Ehefrau gesagt, dass sie ausreisen müssten. Er sei seit etwa zwei Jahren Atheist. Er habe bei der Arbeit mit Kollegen diskutiert und diese seien anderer Meinung gewesen. Sie hätten ihn ungläubig genannt. Er habe den Kollegen auch erzählt, dass er nicht mehr faste und bete. Der BF1 legte seinen iranischen Dienstausweis, seinen iranischen Dienstvertrag, iranische Zeitungsberichte, E-Mails betreffend seine Kündigung, eine Unterstützungserklärung, ein ÖSD-Zertifikat A1, eine Zahlungsbestätigung für den Deutschkurs A2/1, eine Teilnahmebestätigung A1/2a (2), einen Jahresausweis einer Landesmusikschule betreffend die BF3 sowie ein Empfehlungsschreiben des ÖRK vor.

Am selben Tag wurde auch die BF2 vor dem BFA unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich einvernommen. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab sie zusammengefasst an, ihr Ehemann und sie seien seit zwei Jahren Atheisten. Sie hätten versucht, das geheim zu halten, weil ein Glaubenswechsel in Iran nicht erlaubt sei. Ihr Ehemann habe bei der Arbeit Probleme bekommen. Die Kollegen hätten ihn oft provoziert und mit ihm diskutiert. Eines Tages sei ihr Ehemann fix und fertig nach Hause gekommen und habe gemeint, sie müssten ein paar Sachen packen und das Land verlassen, weil sie nicht mehr sicher seien. Sie legte eine Bestätigung einer österreichischen Psychotherapeutin über eine psychotherapeutische Behandlung, ein ÖSD-Zertifikat A1, eine Teilnahmebestätigung A1/2a (2), eine Zahlungsbestätigung für den Deutschkurs A2/1, einen iranischen Gewerbeschein für Teppichknüpferei sowie ihr Universitätsabschlusszeugnis für den Studiengang Psychologie vor.

4. Mit Bescheiden des BFA vom römisch 40 2023 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch eins.) als auch gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Iran abgewiesen (Spruchpunkt römisch II.). Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß Paragraph 57, AsylG wurde den BF nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.) und gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt römisch IV.). Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß Paragraph 46, FPG nach Iran zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.) und gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt römisch VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Angaben zum Fluchtgrund nicht glaubhaft gewesen seien. Die Beweismittel seien lediglich in Kopie vorgelegt worden. Es sei davon auszugehen, dass sich die BF, nachdem ihnen die Weiterreise nach Kanada verweigert worden sei, eine Geschichte zurechtgelegt hätten, um einer vorzeitigen Rückführung nach Iran entgegenzuwirken. Der Umstand, dass der BF1 bei der Einvernahme vor dem BFA einen Notizzettel dabeigehabt habe, damit er nichts vergesse und die Geschichte detailgetreu wiedergeben könne, unterstreiche seine Unglaubwürdigkeit. Aus den vorgelegten Anklageschriften gehe in keiner Weise hervor, was dem BF1 von den iranischen Behörden bzw. seinem Dienstgeber vorgeworfen werde. Er sei mehrmals einer Ladung zu einem Untersuchungsausschuss ferngeblieben. Insofern sei lediglich zu erkennen, dass der BF1 offensichtlich gegen Regeln seines Dienstgebers und der Behörden verstoßen hätte und deswegen gekündigt worden sei. Es sei auch nicht glaubhaft, dass der BF1 weiterhin Kontakt mit seinen Geschwistern haben könnte, wenn er tatsächlich wegen seiner Glaubenseinstellung verfolgt würde, denn dann würden seine Geschwister Schwierigkeiten mit den Behörden haben. Es sei zudem nicht glaubhaft, dass der strenggläubige ältere Bruder des BF1 den Kontakt aufrechterhalten würde. Dass die BF nicht mehr in die Moschee gehen würden, würde nicht ihren Abfall vom Glauben beweisen. Die Angabe, dass Christen in Iran mehr Platz hätten, weise daraufhin, dass sich der BF1 mit religiösen Fragen im Heimatland nicht intensiv beschäftigt haben dürfte, denn konvertierte Christen würden dort genauso verfolgt, wie Atheisten. Alleine die Tatsache, dass sich der BF1 und die BF2 durch Lesen mehrerer Bücher und durch Recherchen im Internet mit wissenschaftlichen Thematiken auseinandergesetzt hätten, stelle keine Abwendung vom Glauben dar. Dies bezeuge lediglich, dass der BF1 und die BF2 vielseitig interessiert seien. Sie seien nach wie vor Mitglieder der islamischen Glaubensgemeinschaft. Ein tatsächlicher Abfall vom Glauben habe aufgrund des Vorbringens nicht erkannt werden können. Im Verfahren seien keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass die BF im Fall einer Rückkehr in eine lebensbedrohende Notlage geraten würden. Sie seien im Herkunftsstaat nach eigener Aussage gut situiert. Es liege kein Sachverhalt vor, aufgrund dessen subsidiärer Schutz zu gewähren wäre. Abgesehen von den mitgereisten Familienangehörigen hätten die BF keine Verwandten in Österreich. Es liege zwar eine Integrationswilligkeit vor, allerdings würden die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen. Durch die angeordnete Rückkehrentscheidung liege keine Verletzung von Artikel 8, EMRK vor.

5. Gegen diese Bescheide erhoben die BF im Wege ihrer Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerden in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften. Darin wurde zusammengefasst ausgeführt, dass die BF Atheisten seien. Die BF2 befinde sich in Österreich in psychotherapeutischer Behandlung und brauche, wie aus dem ärztlichen Schreiben hervorgehe, dringend weitere psychische Behandlung. Eine Abschiebung sei aus psychotherapeutischer Sicht nicht sinnvoll. Die BF3 leide an einer Form von Hautkrebs und müsse eine Therapie machen. Sie besuche eine Mittelschule. Die in den Bescheiden getroffenen Feststellungen zum Herkunftsstaat seien unvollständig und teilweise unrichtig. Die Feststellungen würden sich kaum mit dem konkreten Fluchtvorbringen der BF befassen. Zudem habe die belangte Behörde die Länderberichte, insbesondere hinsichtlich der Geheimdienste und der Apostasie, nicht ausreichend beachtet. Aus den Länderberichte gehe eindeutig hervor, dass eine Rückkehr nach Iran nicht zumutbar sei, da den BF durch ihre (unterstellte) politische Einstellung sowie dem Abfall vom Islam eine Verletzung in ihren Rechte nach Artikel 2 und 3 EMRK drohe. Das BFA hätte zum Schluss kommen müssen, dass den BF eine asylrelevante Verfolgung drohe und keine innerstaatliche Fluchtalternative vorliege. Die BF hätten aufgrund der Apostasie etwa ein bis zwei Wochen vor ihrer Ausreise Probleme bekommen. Glücklicherweise hätten sie über Visa verfügt, die sie bereits vor etwa vier Jahren, als sie noch keine Probleme gehabt hätten, beantragt hätten. Auf dem im Bescheid erwähnten Notizzettel habe sich der BF nicht den Fluchtgrund zur Erinnerung aufgeschrieben, sondern darauf etwas vermerkt, was er am Ende der Einvernahme besprechen habe wollen. Bei dem von der Behörde als Anklageschrift bezeichnetem Schriftstück handle es sich nicht um eine Anklageschrift, sondern um einen Zeitungsartikel, daher sei der genaue Grund für die Ladung zum Untersuchungsausschuss nicht veröffentlicht worden. Die BF seien im Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht mehr in Iran aufhältig gewesen. Der BF1 habe mit seinen Geschwistern über WhatsApp Kontakt. Auf diese Nachrichten habe der Geheimdienst keinen Zugriff. Den BF wäre internationaler Schutz gemäß Paragraph 3, AsylG zu gewähren gewesen. Aufgrund der persönlichen Einstellung sowie des Abfalls vom Islam drohe den BF zudem eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung. Wegen der Ablehnung des Glaubens der BF bzw. Gefahren für die weiteren Familienangehörigen könnten sie von diesen keine Unterstützung erwarten. Aufgrund der allgemeinen Ablehnung und Diskriminierung würden sie in Iran keine Arbeit finden, um ihre Grundbedürfnisse sichern zu können. Der BF1 sei bereits gekündigt worden. Die BF3 wäre als Kind stark in seinen Rechten und in seiner Entwicklung beeinträchtigt. Die BF2 und die BF3 würden zudem an gesundheitlichen Problemen leiden. Daher hätte den BF zumindest subsidiärer Schutz zuerkannt werden müssen. Die BF hätten sich seit ihrer Einreise sehr bemüht, sich zu integrieren und bereits wesentliche Integrationsschritte gesetzt. Sie seien unbescholten, hätten sich kooperativ verhalten und in der kurzen Zeit in Österreich bereits ein sicheres, sie unterstützendes Umfeld aufgebaut. Sie seien gewillt, aus eigenen Kräften für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei daher unverhältnismäßig. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt. Die BF legten Bestätigungen über den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft betreffend den BF1 und die BF2, medizinische Unterlagen, Zeugnisse zur Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau A2 betreffend den BF1 und die BF2 sowie Teilnahmebescheinigungen für Deutschkurse B1 betreffend den BF1 vor.

6. Am römisch 40 .2023 langten die Beschwerden mitsamt den bezughabenden Verwaltungsakten beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Die Parteien wurden am 17.03.2023 über die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung sowie die Einbeziehung der Länderinformationen der Staatendokumentation zu Iran, Version 5 informiert.

8. Am römisch 40 .2023 legten die BF ein Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau B1 betreffend den BF1, eine Bestätigung über eine psychiatrische Behandlung betreffend die BF2 und einen Ambulanzbericht betreffend die BF3 vor.

9. Am 27.04.2023 wurde die mündliche Verhandlung vom Bundesverwaltungsgericht abberaumt.

10. Am römisch 40 .2023 langten weitere Integrationsunterlagen (Urkunde vom Österreichischen Karatebund betreffend die BF3, Bestätigung über eine ehrenamtliche Tätigkeit betreffend die BF2, Anmelde- und Zahlungsbestätigung für einen Deutschkurs B1 des BFI betreffend den BF1) beim Bundesverwaltungsgericht ein.

11. Die Parteien wurden am 14.09.2023 über die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung sowie die Einbeziehung der Länderinformationen der Staatendokumentation zu Iran, Version 6 informiert.

12. Am römisch 40 .2023 legten die BF eine Schulbesuchsbestätigung und eine Leistungsbeschreibung der Mittelschule sowie zwei Terminbestätigungen eines Krankenhauses jeweils betreffend die BF3, eine Bestätigung über eine ehrenamtliche Tätigkeit, Teilnahmebestätigungen für Deutschkurse B2/1 und B2/2 sowie eine AMS-Anmeldung jeweils betreffend den BF1 und eine AMS-Anmeldung betreffend die BF2 vor.

13. Am römisch 40 .2023 brachten die BF islam-, religions- und irankritische Instagram-Postings des BF1, das iranische Kündigungsschreiben und eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in Österreich jeweils betreffend den BF1 sowie zwei Empfehlungsschreiben beim Bundesverwaltungsgericht ein. Zudem wurde die Einvernahme einer namentlich genannten Zeugin zum Beweis dafür, dass die BF vom islamischen Glauben abgefallen sind und aus innerer Überzeugung ein atheistisches Leben führen, beantragt.

14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am römisch 40 2023 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Farsi eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF1, die BF2 und ihre Vertreterin teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm entschuldigt nicht teil.

15. Am römisch 40 .2023 brachten die BF eine Einstellungszusage, eine Arbeitsbescheinigung und eine Quittung der Auszahlung eines Anerkennungsbetrages für Hilfstätigkeiten jeweils betreffend den BF1, einen Ambulanzbericht betreffend die BF3 und zwei Empfehlungsschreiben beim Bundesverwaltungsgericht ein.

16. Am römisch 40 2023 langten die Übersetzungen der am römisch 40 .2023 vorgelegten Unterlagen beim Bundesverwaltungsgericht ein.

17. Die Parteien wurden am 17.11.2023 über die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung informiert.

18. Am römisch 40 .2024 legten die BF weitere islam- und irankritische Instagram-Postings des BF1 sowie einen Dienstvertrag und Lohn-/Gehaltsabrechnungen für die Monate Oktober 2023, November 2023, Dezember 2023 und Jänner 2024 jeweils betreffend den BF1 vor.

19. Das Bundesverwaltungsgericht führte am römisch 40 .2024 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Farsi eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF1, die BF2 und ihre Vertreterin teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm entschuldigt nicht teil.

20. Die Parteien wurden am 15.02.2024 über die Anberaumung einer weiteren mündlichen Verhandlung informiert.

21. Mit Schreiben vom 22.02.2024 wurde der Dolmetscher vom Bundesverwaltungsgericht beauftragt, die Echtheit des Zeitungsartikels zu überprüfen.

22. Das Bundesverwaltungsgericht führte am römisch 40 .2024 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Farsi eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF1, die BF2, die BF3 und ihre Vertreterin teilnahmen. Zudem wurde eine Zeugin befragt. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm entschuldigt nicht teil. Die BF legten eine Bestätigung der Vormerkung zur Arbeitssuche des AMS betreffend die BF2 vor.

23. Am 02.04.2024 langte das Gutachten über die Echtheit des Zeitungsartikels beim Bundesverwaltungsgericht ein.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Identitäten der BF stehen fest. Sie sind iranische Staatsangehörige. Die BF lebten vor ihrer Ausreise Teheran. Sie reisten legal in das Bundesgebiet ein und stellten am römisch 40 .2021 Anträge auf internationalen Schutz. Der BF1 gehört der Volksgruppe der Azeris an und seine Muttersprache ist Azeri. Er spricht auch Farsi. Die BF2 gehört der Volksgruppe der Perser an. Die Muttersprache der BF2 und der BF3 ist Farsi.

Der BF1 und die BF2 sind verheiratet. Die Ehe bestand bereits in Iran. Sie üben die Obsorge über ihre gemeinsame minderjährige Tochter, die BF3, gemeinsam aus.

Der BF1 und die BF2 gehören in Österreich keiner Religionsgemeinschaft an. Der Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft erfolgte am römisch 40 .2023 in Österreich. Der BF1 bekennt sich aus innerer Überzeugung zum Atheismus.

Der BF1 besuchte zwölf Jahre lang die Schule und schloss diese mit Matura ab. Anschließend absolvierte er ein Studium im Studiengang Buchhaltung. Er arbeitete jeweils zwei Jahre lang als Buchhalter und im Rechnungswesen. Die letzten 16 Jahre vor der Ausreise war er als Regierungsbeamter in einer Bank tätig. Die BF2 besuchte zwölf Jahre lang die Schule und schloss diese mit Matura ab. Anschließend absolvierte sie ein Psychologiestudium. Danach durchlief sie eine vierjährige Teppichknüpferausbildung und arbeitete dann zwei Jahre als Trainerin in diesem Bereich. Die BF3 war in Iran zuletzt Schülerin.

In Iran leben zwei Brüder und zwei Schwestern des BF1 sowie zwei Brüder, eine Schwester und die Mutter der BF2. Regelmäßiger Kontakt mit Familienangehörigen in Iran besteht seitens des BF1 mit seinen Geschwistern und seitens der BF2 mit ihrer Mutter.

In Österreich halten sich keine weiteren Familienangehörigen der BF auf. Die BF leben in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt. Der BF1 besuchte Deutschkurse auf den Sprachniveaus A1, A2, B1 und B2 und bestand die Deutschprüfungen auf den Sprachniveaus A1, A2 und B1. Die BF2 besuchte Deutschkurse auf den Sprachniveaus A1 und A2 und bestand die entsprechenden Deutschprüfungen.

Der BF1 und die BF2 waren in Österreich ehrenamtlich tätig. Seit dem römisch 40 .2023 ist der BF1 in Vollzeit regulär erwerbstätig und selbsterhaltungsfähig. Die BF2 ist seit römisch 40 .2023 beim AMS als Arbeit suchend vorgemerkt. Die BF nehmen Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch, jedoch seit römisch 40 .2023 nur noch betreffend die Unterbringung. Die BF3 besucht derzeit die Mittelschule. Die BF3 legte in Österreich die Karateprüfung zur Erlangung des Gürtels des 9. Kyu ab. Die BF legten mehrere Unterstützungserklärungen vor.

Der BF1 ist gesund. Die BF2 leidet an mittelgradigen depressiven Episoden (F32.1) und einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1). Diese psychischen Probleme bestehen seit etwa acht Jahren und sie war deshalb bereits in Iran in Behandlung. Sie ist aufgrund dieser Diagnosen auch in Österreich in psychotherapeutischer Behandlung und nimmt seit mehreren Jahren das Medikament Sertralin ein. Die BF3 leidet an einer Obstipation (K59.0) und einer Neurofibromatose Typ 1. Zudem wurde bei der BF3 in Österreich eine Operation eines pilozytischen Astrozytoms durchgeführt.

Die BF sind strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Der BF1 hat sich vom Islam abgewendet und lebt aus innerer Überzeugung als Atheist. Er vertritt seine atheistischen Überzeugungen auch öffentlich. In Iran sprach er bei der Arbeit – in einer staatlichen Bank – mit seinen Kollegen über seinen persönlichen Abfall vom Glauben und allgemein über den Atheismus. Er versuchte, andere vom Atheismus zu überzeugen. Der BF1 geriet ins Visier der iranischen Behörden und wurde entlassen. In Österreich veröffentlichte der BF1 islam-, religions- und irankritische Postings auf seinem Instagram-Profil. Der BF1 versteht seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal und würde seinen Atheismus auch im Herkunftsstaat ausleben.

Dem BF1 würde im Fall einer Rückkehr nach Iran wegen seiner Abwendung vom Islam, seinem Auftreten als bekennender Atheist und da er bereits ins Visier der iranischen Behörden geraten ist, Verfolgung in Form von Belästigungen, Bedrohungen, körperlichen Misshandlungen, langjähriger Haftstrafen oder sogar der Todesstrafe drohen.

Hinsichtlich der BF2 und der BF3 wird festgestellt, dass sie sich nicht aus einer inneren Überzeugung dem Atheismus zugewandt haben, diesen nicht als ein identitätsstiftendes Merkmal verstehen und ihn im Herkunftsstaat nicht ausleben würden.

1.3. Zur relevanten Situation im Herkunftsland:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 26.06.2024 wiedergegeben:

Politische Lage

Letzte Änderung: 26.06.2024

Iran ist seit 1979 eine Islamische Republik (FAZ 24.3.2023). Sie kombiniert republikanisch-demokratische Elemente mit einem theokratischen System, wobei die theokratischen Aspekte die republikanischen Prinzipien größtenteils überschatten und untergraben (BS 19.3.2024). Das Kernkonzept der Verfassung ist die "Rechtsgelehrtenherrschaft" (velayat-e faqih). Nach schiitischem Glauben gibt es einen verborgenen Zwölften Imam, den als Erlöser am Jüngsten Gericht von Gott gesandten Muhammad al-Mahdi (BPB 10.1.2020). Gemäß diesem Prinzip soll ein schiitischer Theologe praktisch in Stellvertretung des seit dem Jahr 874 in Verborgenheit weilenden Mahdi agieren und die Geschicke des Gemeinwesens lenken (BAMF 5.2022). Darauf aufbauend schuf Ajatollah Ruhollah Khomeini 1979 ein auf ihn zugeschnittenes Amt, das über allen gewählten Organen steht und somit die republikanischen Verfassungselemente des Präsidenten und des Parlaments neutralisiert: das Amt des "Herrschenden Rechtsgelehrten" (vali-ye faqih), dessen Inhaber auch "Revolutionsführer" (rahbar) genannt wird. Der Revolutionsführer übt quasi stellvertretend für den Zwölften Imam bis zu dessen Rückkehr die Macht aus (BPB 10.1.2020).

Der Revolutionsführer (auch Oberster Führer, Oberster Rechtsgelehrter, religiöser Führer) ist seit 1989 Ayatollah Seyed Ali Hosseini Khamenei (ÖB Teheran 11.2021). Er wird von einer Klerikerversammlung (Expertenrat) auf Lebenszeit gewählt (AA 14.3.2024), ist höchste Autorität des Landes, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und ernennt den Leiter des Justizwesens sowie des staatlichen Rundfunks und die Mitglieder des Schlichtungsrats (FH 2024). Ihm unterstehen auch die Islamischen Revolutionsgarden (Pasdaran oder IRGC) inkl. der mehrere Millionen Mitglieder umfassenden, paramilitärischen Basij-Milizen. In der Hand religiöser Stiftungen und der "Garden" liegen mächtige Wirtschaftsunternehmen, die von der infolge der US-Sanktionen wachsenden Schattenwirtschaft profitieren (ÖB Teheran 11.2021). Die ultimative Macht liegt trotz der in der Islamischen Republik Iran abgehaltenen Wahlen in den Händen des Obersten Führers und den nicht gewählten Institutionen unter seiner Kontrolle. Diese Institutionen, einschließlich der Sicherheitskräfte und der Justiz, spielen eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung von abweichenden Meinungen und anderen Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten. Nach den Anti-Regierungs-Protesten unter dem Motto "Frau, Leben, Freiheit", die durch den Tod von Jina Mahsa Amini in Gewahrsam der Sittenpolizei im Jahr 2022 ausgelöst worden waren, haben die iranischen Behörden mit ausgedehnten Maßnahmen durchgegriffen (FH 2024). Obwohl der Revolutionsführer oberste Entscheidungsinstanz ist, kann er zentrale Entscheidungen nicht gegen wichtige Machtzentren treffen. Die Revolutionsgarden, die direkt Revolutionsführer Khamenei unterstehen, bleiben selbst ein militärischer, politischer und wirtschaftlicher Machtfaktor (AA 30.11.2022).

Entscheidende Gremien sind der vom Volk direkt gewählte Expertenrat sowie der Wächterrat (ÖB Teheran 11.2021). Des Weiteren gibt es noch den Schlichtungsrat. Er vermittelt im Gesetzgebungsverfahren und hat darüber hinaus die Aufgabe, auf die Wahrung der "Gesamtinteressen des Systems" zu achten (AA 14.3.2024). Der Expertenrat ernennt den Obersten Führer und kann diesen (theoretisch) auch absetzen (ÖB Teheran 11.2021). Er sollte die Arbeit des Revolutionsführers kontrollieren. In der Praxis scheint er die Entscheidungen des Revolutionsführers jedoch nicht herauszufordern (FH 2024). Der Expertenrat wird zwar direkt von der Bevölkerung gewählt, jedoch müssen die Kandidaten zunächst vom Wächterrat bestätigt werden (BS 19.3.2024). Sechs der zwölf Mitglieder des Wächterrats sind vom Obersten Führer ernannte Geistliche und sechs von der Judikative bestimmte (klerikale) Juristen, die vom Parlament bestätigt werden müssen. Der Wächterrat hat mit einem Verfassungsgerichtshof vergleichbare Kompetenzen (ÖB Teheran 11.2021), er überwacht die Übereinstimmung der vom Parlament verabschiedeten Gesetze mit dem islamischen Recht (Scharia) (BS 19.3.2024), ist jedoch noch wesentlich mächtiger (ÖB Teheran 11.2021). Er entscheidet, wer bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen antreten darf (BS 19.3.2024). Der Wächterrat ist somit das zentrale Mittel zur Machtausübung des Revolutionsführers (GIZ 2020).

Der Präsident ist nach dem Revolutionsführer der zweithöchste Amtsträger im Staat. Er bildet ein Regierungskabinett, das vom Parlament bestätigt werden muss (FH 2024). Das iranische Regierungssystem ist damit ein semipräsidiales und an der Spitze der Regierung steht der vom Volk für vier Jahre direkt gewählte Präsident (ÖB Teheran 11.2021), der jeweils für zwei hintereinanderfolgende Amtszeiten zur Wahl antreten darf (FH 2024). Der Präsident ist für das tagespolitische Geschäft zuständig und hat einen bedeutsamen Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik des Landes (BBC 8.10.2022). Seine Macht ist allerdings vergleichsweise beschränkt, vor allem in Sicherheitsfragen (BBC 8.10.2022; vergleiche BPB 10.1.2020). Die Befugnisse des gewählten Präsidenten werden durch den Revolutionsführer und andere nicht gewählte Behörden eingeschränkt (FH 2024), wie auch durch das Parlament (BBC 8.10.2022).

Ebenfalls alle vier Jahre gewählt wird das Einkammerparlament, genannt Majles, mit 290 Abgeordneten, das gewisse legislative Kompetenzen hat und Ministern das Vertrauen entziehen kann (ÖB Teheran 11.2021). Das Parlament ist die gesetzgebende Institution Irans. Allerdings muss bei Gesetzesvorhaben die Vereinbarkeit mit der islamischen Rechtstradition beachtet werden. Gesetzesvorschläge kommen von den Ministern oder den Abgeordneten (DW 16.6.2021). Ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz kann vom Wächterrat so lange an das Parlament zurückverwiesen werden, bis es seinen Vorstellungen entspricht (DW 16.6.2021; vergleiche FH 2024). Der Wächterrat weist oftmals Gesetze zurück, die er als "unislamisch" ansieht (FH 2024). Die Bewerber um einen Parlamentssitz erhalten ihre Unterstützung nicht von Parteien, sondern von klerikalen und wirtschaftlichen Interessengruppen (DW 16.6.2021; vergleiche FP 7.3.2024).

Das Bild stellt die im Text beschriebenen Institutionen sowie Akteure und ihre Beziehung zueinander graphisch dar.

Quelle: BPB 10.1.2020

Am 18.6.2021 fanden in Iran Präsidentschaftswahlen statt (AA 14.3.2024), die der konservative Hardliner und vormalige Justizchef Ebrahim Raisi mit mehr als 62 % der Stimmen gewonnen hat (Standard 19.6.2021). Der Wettbewerb um die Wählerstimmen war stark manipuliert. Der Wächterrat hatte im Vorfeld die meisten der 600 Präsidentschaftskandidaten - darunter auch 40 Frauen - abgelehnt. Drei der genehmigten Kandidaten zogen ihre Kandidatur wenige Tage vor der Wahl zurück. Die Behörden übten auf die Medien Druck aus, um kritische Berichterstattung über Raisi oder den Wahlvorgang zu verhindern (FH 2024). Nachdem Raisi am 19.5.2024 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam (Standard 20.5.2024), wurden für den 28.6.2024 Neuwahlen angesetzt (Zeit Online 20.5.2024). Der Wächterrat hat unter 80 Bewerbern sechs Kandidaten zur Wahl zugelassen (Tagesschau 9.6.2024). Ausgeschlossen wurden vor allem Bewerber, die als moderat oder reformorientiert gelten (BAMF 10.6.2024), auch wenn mit Massoud Pezeshkian ein Kandidat antreten durfte, der den Reformisten zugerechnet wird (IRINTL 12.6.2024; vergleiche Guardian 11.6.2024). Laut Medienberichten hat die iranische Presseaufsichtsbehörde im Vorfeld der vorgezogenen Präsidentschaftswahlen Richtlinien für die Berichterstattung und Veröffentlichung von Medieninhalten zur Wahl erlassen. Es wurde angekündigt, dass sämtliche Inhalte, die darauf abzielen würden, die Wahlbeteiligung negativ zu beeinflussen, sowie jegliche Form der Organisation von Protestversammlungen als kriminell eingestuft würden. Die Richtlinien würden insbesondere auch für soziale Medien gelten (BAMF 10.6.2024).

Am 1.3.2024 fanden zuletzt Parlamentswahlen statt, wobei der Wettbewerb im Wesentlichen zwischen Hardlinern und unauffälligen Konservativen stattfand, die alle ihre Loyalität zu den revolutionären Idealen bekundeten, während einflussreiche Gemäßigte und Konservative der Wahl fernblieben und Reformisten die Wahl als nicht frei und unfair bezeichneten (REU 4.3.2024; vergleiche FP 7.3.2024). Der dafür zuständige Wächterrat hatte im Vorfeld massenhaft Kandidaten disqualifiziert (Standard 4.3.2024; vergleiche IRINTL 23.1.2024) und die Namen der schlussendlich antretenden Kandidaten wurden weniger als zwei Wochen vor der Wahl bekannt gegeben. Der Wahlkampf dauerte nur zehn Tage, sodass die Wähler wenig Zeit hatten, um die Kandidaten kennenzulernen (NYT 28.2.2024). Aktivisten wie auch Oppositionsgruppen haben im Vorfeld zu einem Boykott der Wahlen aufgerufen (REU 4.3.2024; vergleiche NYT 28.2.2024), was auch zu Verhaftungen geführt hat (Standard 4.3.2024). Die Wahlbeteiligung lag landesweit bei 41 %, was die niedrigste Wahlbeteiligung bei einer Parlamentswahl seit 1979 darstellt (2020 lag die Wahlbeteiligung bei 42,5 %, 2016 bei rund 62 %) (REU 4.3.2024). Die Wahlbeteiligung wird sowohl von Anhängern als auch Kritikern der Regierung als Gradmesser für die Legitimität des Regimes angesehen (NYT 28.2.2024).

Am 1.3.2024 wurde auch der Expertenrat neu gewählt (Standard 4.3.2024; vergleiche REU 4.3.2024). Die Wahlen wurden vom Regime dafür genützt, den Expertenrat zu verjüngen (Standard 4.3.2024). Die 88 Mitglieder des auf acht Jahre gewählten Gremiums bestimmen den religiösen Führer, eine Aufgabe, von der angenommen wird, dass sie der Expertenrat in Anbetracht des gesundheitlichen Zustands des 84-jährigen Ayatollahs Khamenei in dieser Amtszeit auch wahrnehmen wird müssen. Durch die Auswahl der zur Wahl stehenden Kandidaten wurde sichergestellt, welche politische Richtung gewinnt. Es wurden nur Kandidaten im Sinne Khameneis und seines islamistischen geistlichen Erbes zugelassen, von denen erwartet wird, dass sie im Fall seines Ablebens "keine Schwierigkeiten machen" und nicht auf reformerische Ideen kommen (Standard 4.3.2024; vergleiche Tagesschau 11.2.2024).

Präsident, Parlament und Expertenrat werden in geheimen und direkten Wahlen vom Volk gewählt. Den OECD-Standards entspricht das Wahlsystem jedoch schon aus dem Grund nicht, dass sämtliche Kandidaten im Vorfeld durch den vom Revolutionsführer und Justizchef ernannten Wächterrat zugelassen werden müssen (AA 30.11.2022; vergleiche FH 2024). In kaum einem anderen Land des Nahen Ostens kam es jedoch zu derart umkämpften Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Die bestehenden programmatischen Differenzen zwischen prinzipientreuem Klerus und neokonservativen Technokraten, wirtschaftsliberalen Pragmatikern und klerikalen oder gar säkularen Reformern spiegelten einen Pluralismus in Iran wider, der allerdings phasenweise aufs Schärfste bedroht war (BPB 31.1.2020b). Die Wahlen in Iran waren einst hart umkämpft, mit Kandidaten aller großen politischen Parteien auf dem Stimmzettel. Die Ergebnisse waren unvorhersehbar und die Wahlbeteiligung war hoch. In den letzten Jahren hatten die Wähler jedoch nur noch die Möglichkeit, zwischen konservativen Kandidaten zu wählen (NYT 28.2.2024). Der Tod von Mahsa Amini im September 2022, der weitverbreitete Proteste auslöste, fand bereits im Kontext einer Wende zur schärferen Durchsetzung von "islamischen Werten" statt, die nach der ebenso streng regulierten Wahl von Ebrahim Raisi zum iranischen Präsidenten im Juni 2021 eingeleitet wurde. Dies wird auch damit in Verbindung gebracht, dass das Regime beim Ableben des inzwischen 84-jährigen Khamenei mit einem Übergangsszenario konfrontiert werden wird, bei dem die Entscheidungsträger nichts dem Zufall überlassen wollen (Standard 4.3.2024). In dieser Hinsicht befindet sich die Islamische Republik Iran laut einer Expertin in einer "kritischen Übergangsphase" (Zamirirad/SWP 19.4.2023).

Frauen haben das aktive Wahlrecht, werden bei der politischen Teilhabe allerdings mit bedeutsamen rechtlichen, religiösen und kulturellen Hindernissen konfrontiert. Nach Interpretation des Wächterrats verwehrt die iranische Verfassung es Frauen, die Ämter des Revolutionsführers oder Präsidenten, Funktionen im Experten-, Wächter- und Schlichtungsrat sowie manche Richterposten anzutreten (USDOS 23.4.2024). Frauen sind in der Politik, einschließlich der Regierung, deutlich unterrepräsentiert (FH 2024). Bei den Parlamentswahlen 2024 waren 1.713 der insgesamt 15.200 Kandidaten Frauen. Gegenüber den Parlamentswahlen im Jahr 2020 hat sich ihre Anzahl damit mehr als verdoppelt (NYT 28.2.2024).

Unter 40-Jährige, die etwa drei Viertel der iranischen Bevölkerung ausmachen, waren bislang größtenteils von jeglicher politischen Partizipation ausgeschlossen. Politische Ämter werden überwiegend von Männern der ersten Generation der Elite der Islamischen Republik - den heute über 70-jährigen Gründungsvätern - und der zweiten Generation - den heute über 60-jährigen Veteranen des Iran-Irak-Kriegs sowie Vertretern der Revolutionsgarden - regiert (BPB 31.1.2020b).

Der Tod der 22-jährigen Mahsa Jîna (ihr kurdischer Vorname) Amini am 16.9.2022, nachdem sie zuvor von der sogenannten Sittenpolizei aufgrund eines angeblich unkorrekt getragenen Hijabs in Gewahrsam genommen wurde, löste Proteste aus, die in ihrem Ausmaß, ihrer Reichweite und ihrer Langlebigkeit sowie in der gewaltsamen Reaktion des Staates beispiellos waren (UNHRC 19.3.2024; vergleiche BPB 16.2.2023). Die Proteste, die insbesondere von Frauen, jungen Menschen und marginalisierten Ethnien - insbesondere Kurden und Belutschen - getragen wurden, zeichneten sich durch ihre Dezentralität, die Bedeutung von zivilem Ungehorsam und Flashmobs als Protestform - insbesondere durch Frauen, die ihr Kopftuch ablegen - und, wie vor allem in europäischen Debatten oft bemängelt wird, durch fehlende Organisations- und Führungsstrukturen aus (BPB 16.2.2023). Die fehlenden Führungsstrukturen waren sowohl Stärke als auch Schwäche der Proteste, bei denen das Internet und soziale Medien eine große Rolle zur Mobilisierung und Verbreitung der Protestbotschaften spielten: Einerseits machen die fehlenden Führungsstrukturen staatliche Repression schwieriger, andererseits erschweren sie auch die Herausbildung einer Bewegung, welche eine politische Alternative zum derzeitigen System darstellen könnte (FR24 16.12.2022; vergleiche USIP 6.9.2023b).

Bis zum Sommer 2023 sind die Straßenproteste schließlich abgeflaut (USIP 6.9.2023a) - wobei es rund um den Jahrestag von Aminis Tod im September 2023 zu Demonstrationen kam, denen die Sicherheitsbehörden in manchen Fällen gewaltsam begegneten (FH 2024). Die Islamische Republik blieb weiterhin funktionsfähig und im Zuge der Proteste konnte nicht beobachtet werden, dass eine Einheit des hochkompetitiven iranischen Sicherheitsapparats geschwächelt oder sich illoyal verhalten hätte (Posch/Chatham 5.5.2023). Abgesehen von gezielten Zugeständnissen an bestimmte Gruppen hat die Regierung nicht mit grundlegenden Reformen auf die Proteste reagiert (FES 3.2024). Die Regierung ist darauf bedacht, ihre Anhängerschaft zu halten, versucht aber auch, Menschen am Rande der Gesellschaft zu Anhängern der Islamischen Republik zu machen. So haben die staatlichen Medien jüngst beispielsweise neue Fernsehsendungen produziert und eine größere Anzahl von Gästen eingeladen, um heikle politische Themen zu diskutieren. Die Regierung möchte aufgeschlossen und sympathisch erscheinen, um ein gewisses Maß an Legitimität aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen. Die Regierungsvertreter sind sich allerdings darüber im Klaren, dass die Legitimität des Regimes erodiert ist, insbesondere seit der gewaltsamen Niederschlagung der landesweiten Demonstrationen, die durch den Tod von Mahsa Amini in Polizeigewahrsam im Jahr 2022 ausgelöst worden waren (USIP 17.11.2023). Mit Stand April 2024 sind die Proteste abgeklungen, aber die dort artikulierten Missstände bleiben weiterhin bestehen (CRS 22.4.2024).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 26.06.2024

Verglichen mit Nachbarstaaten wie dem Irak, Libanon, Syrien und Afghanistan hat Iran eine sehr starke Zentralregierung mit einem komplexen Institutionengefüge. Das Gewaltmonopol liegt bei staatlichen und halbstaatlichen Institutionen, die das Regime ausmachen. Irans territoriale Integrität wird immer wieder durch angebliche Drohnenangriffe und größere Explosionen infrage gestellt. Gelegentlich flammen Grenzstreitigkeiten (z. B. mit Afghanistan im Juli 2022) und Streitigkeiten bezüglich passierender Schiffe in der Straße von Hormuz mit dem Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten auf (BS 19.3.2024).

Iran sieht sich mit terroristischen Bedrohungen durch verschiedene Oppositionsgruppen konfrontiert, einerseits durch separatistische Aufstandsbewegungen in seinen Grenzregionen, wo arabische, belutschische und kurdische ethnische Minderheiten leben, und andererseits durch transnationale Gruppierungen wie den Islamischen Staat (IS). Zu den separatistischen Gruppierungen zählen beispielsweise das Arab Struggle Movement for the Liberation of Ahwaz (ASMLA) und die Ahvaz National Resistance in Khuzestan und Jaysh al-Adl (JAA) in Sistan und Belutschistan. In den kurdischen Gebieten agieren verschiedene Gruppierungen, darunter die Partiya Jiyana Azad a Kurdistane [Partei für ein freies Leben in Kurdistan] (PJAK), die einen bewaffneten Aufstand gegen die iranischen Sicherheitskräfte führen und manchmal auch Anschläge verüben. Nach 1980 haben auch die Mujaheddin-e Khalq (MEK), die für einen Sturz des Regimes eintreten, Gewalt gegen iranische Zivilisten und Beamte ausgeübt (ISPI 26.2.2024).

Der IS hat sich seit 2017 zu vier Anschlägen in Iran bekannt. Die Anschläge richteten sich vor allem gegen sogenannte "high-profile"-Ziele, also Ziele mit hoher Symbolwirkung (BBC 5.1.2024). Unter anderem werden dem IS zwei Anschläge auf den Shah-Cheragh-Schrein in Shiraz [Provinz Fars] im Oktober 2022 und August 2023 zugeschrieben, bei denen insgesamt 14 Menschen starben, wobei sich der IS selbst nur zu ersterem der beiden Anschläge bekannte (BBC 5.1.2024; vergleiche AJ 13.8.2023, Guardian 13.8.2023). Bei einem Anschlag in der Stadt Kerman [Provinz Kerman] am 3.1.2024 starben fast 100 Menschen und über 200 wurden verletzt. Der Anschlag ereignete sich während einer Gedenkfeier anlässlich des Todestags von Qassem Soleimani (IRINTL 3.1.2024; vergleiche Soufan 4.1.2024), dem 2020 durch einen US-Drohnenangriff getöteten Befehlshaber der für Auslandsoperationen der Revolutionsgarden zuständigen Quds-Kräfte (BBC 4.1.2024; vergleiche AP 4.1.2024), der einer der Architekten der iranischen Politik in der Region war (BBC 4.1.2024; vergleiche Soufan 4.1.2024). Der IS bekannte sich zu dem Anschlag, wobei von einem US-amerikanischen Nachrichtendienst abgefangene Gespräche gemäß der Nachrichtenagentur Reuters bestätigen, dass der Ableger des IS in Afghanistan, der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP), für den Anschlag verantwortlich war (REU 5.1.2024; vergleiche FAZ 12.1.2024). Der ISKP hat seine Strategie nach der Machtübernahme der Taliban 2021 teils geändert und seine Operationsgebiete sowie Rekrutierungsbestrebungen "internationalisiert" (Conversation 11.1.2024; vergleiche FAZ 12.1.2024). Seit 2015 kommt es nach iranischen Angaben in der Provinz Khuzestan und in anderen Landesteilen, auch in Teheran, wiederholt zu Verhaftungen von Personen, die mit dem IS in Verbindung stehen und Terroranschläge in Iran geplant haben sollen (AA 12.6.2024; vergleiche TWI 31.10.2022).

Teheran fürchtet Unruhen unter den ethnischen und religiösen Minderheiten in den Randgebieten Irans. Fast alle Kurden im Nordwesten und Belutschen im Südosten des Landes sind Sunniten, ebenso eine substanzielle Minderheit der Araber im Südwesten. Diese Volksgruppen gelten der schiitischen Islamischen Republik als Sicherheitsrisiko, unterliegen vielfältigen Diskriminierungen und stehen oft in Opposition zum Regime. Sie scheinen eine besonders große Gefahr zu sein, weil ihre Siedlungsgebiete an den Außengrenzen Irans liegen. Daher sorgt sich die iranische Führung, Nachbarn könnten im Konfliktfall versuchen, die Minderheiten gegen den Staat zu mobilisieren (SWP 9.3.2024) und bezichtigt ausländische Mächte, v. a. Israel, die USA und manche Golfstaaten, separatistische oppositionelle Gruppierungen in Iran zu unterstützen, die das Land destabilisieren sollen (ISPI 26.2.2024).

Die belutschische separatistische Gruppierung Jaysh al-Adl [JAA, auch JUA] hat ihre Anschläge im Südosten Irans seit Dezember 2023 intensiviert (Standard 4.4.2024, ISW 30.4.2024, ISW 12.2.2024), wobei insbesondere Sicherheitskräfte, aber auch andere Vertreter staatlicher Institutionen ins Visier genommen werden, darunter etwa Richter und andere Justizbeamte (Zenith 26.1.2024). Beispielsweise im April 2024 führte die Gruppierung einen Großangriff bzw. komplexen Angriff auf Stützpunkte der Revolutionsgarden in Sistan und Belutschistan durch, bei denen insgesamt mehr als 20 Personen ums Leben kamen (ISW 4.4.2024, Tagesschau 4.4.2024). Aufgrund der militanten Aktivitäten an der Südostgrenze Irans haben die iranischen Sicherheitsbehörden nun auch Drohnen zur Ausschaltung von JAA-Kämpfern eingesetzt (ISW 30.4.2024; vergleiche RFE/RL 18.1.2022). Mitte Jänner 2024 führten die Revolutionsgarden außerdem einen Raketenangriff auf eine angebliche Stellung der JAA auf pakistanischem Staatsgebiet durch (IRINTL 17.1.2024; vergleiche BBC 18.1.2024), woraufhin die pakistanischen Streitkräfte mehrere Ziele in der Ortschaft Saravan in der iranischen Provinz Sistan und Belutschistan angriffen, bei denen es sich nach pakistanischen Angaben um "terroristische Verstecke" handelte (IRINTL 18.1.2024; vergleiche BBC 18.1.2024). Die JAA operiert vor allem von Pakistan aus (IRINTL 17.1.2024; vergleiche AnA 18.1.2024), und Iran war auch früher schon in bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Gruppe entlang der Grenze verwickelt (IRINTL 17.1.2024). Aufgrund der Konflikte zwischen iranischen Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppierungen (AA 12.6.2024; vergleiche MBZ 9.2023, Arabiya 17.1.2024) ist die Bewegungsfreiheit in Sistan und Belutschistan eingeschränkt, und es gibt vermehrte Sicherheits- und Personenkontrollen (AA 12.6.2024).

In Sistan und Belutschistan, wo 2023 länger Proteste stattfanden als in anderen Landesteilen (RFE/RL 18.1.2022), wurde zuletzt auch von gezielten Tötungen durch unbekannte Täter berichtet, welche die belutschische NGO Haalvash privaten, im Auftrag des Regimes tätigen Milizen zuschrieb (Haalvash 4.6.2024). Die belutschische NGO Baloch Campaign, die laut einem Experten bezüglich der Lage in Sistan und Belutschistan eine verlässliche Quelle ist (EXBEL 13.6.2024), berichtete von 150 Tötungen von Zivilisten durch bewaffnete Männer im Jahr 2023 (BALCAM 12.6.2024). Während Sistan und Belutschistan für seine Stammesstrukturen berüchtigt ist, lässt die große Zahl von Morden durch bewaffnete Einzelpersonen und Gruppen laut dem Experten die ernsthafte Vermutung zu, dass der Staat und seine Milizen hinter diesen Angriffen stecken, um Angst in der Gesellschaft zu schüren. Die Islamische Republik hat seit 1979 Stämme in den Kurden- und Belutschengebieten bewaffnet, in dem Wissen, dass die Waffen von den Stammesangehörigen häufig auch zur Beilegung von Stammesfehden und persönlichen Streitigkeiten eingesetzt werden (EXBEL 13.6.2024).

Die Grenze [zu Afghanistan und Pakistan] ist durchlässig, größtenteils gebirgig und eine wichtige Schmuggelroute für Drogen und andere Waren, die das organisierte Verbrechen anzieht (DFAT 24.7.2023; vergleiche BAMF 10.7.2023, AlMon 14.4.2024). Die Grenzzone zu Afghanistan, das östliche Kerman sowie Sistan und Belutschistan stehen teilweise unter dem Einfluss von Drogenhändler- und extremistischen Organisationen. Sie verüben immer wieder Anschläge und setzen teilweise Landminen auf Überlandstraßen ein (EDA 18.4.2024). Weiters sind die Beziehungen zwischen der iranischen Regierung und der Taliban-Regierung in Afghanistan teils angespannt (DFAT 24.7.2023). Seit die Taliban im August 2021 die Kontrolle übernommen haben, liefern sich iranische Soldaten und Taliban-Sicherheitskräfte entlang der gemeinsamen Grenze immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen (DFAT 24.7.2023; vergleiche Caspian 1.5.2024, IRINTL 25.4.2024).

In der Provinz Kurdistan und der ebenfalls von Kurden bewohnten Provinz West-Aserbaidschan gibt es wiederholt Anschläge gegen Sicherheitskräfte, Personal der Justiz und Angehörige des Klerus. In diesem Zusammenhang haben Sicherheitskräfte ihr Vorgehen gegen kurdische Separatistengruppen sowie Kontrollen mit Checkpoints noch einmal verstärkt (AA 12.6.2024). Die Sicherheitskräfte sind in den Provinzen Kurdistan, Kermanshah und West-Aserbaidschan in großer Zahl präsent (MBZ 9.2023). In dieser von Kurden bewohnten Region an der Grenze zum Irak und der Türkei (Izady/Gulf 2000 o.D.) kam es zu einigen bewaffneten Zusammenstößen zwischen iranischen Sicherheitskräften und Mitgliedern kurdischer Parteien, die Stützpunkte im Nordirak haben, manchmal auch mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten (MBZ 9.2023).

Iran und regionale Konflikte

Den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage in Iran auswirken (EDA 18.4.2024).

Seit 2010 hat Israel angeblich mindestens zwei Dutzend Operationen - darunter Attentate, Drohnenangriffe und Cyberangriffe - gegen Iran durchgeführt (USIP 30.1.2023). Die meisten Ziele standen im Zusammenhang mit dem umstrittenen Atomprogramm Teherans, das Israel als existenzielle Bedrohung betrachtet (USIP 30.1.2023; vergleiche TIS 29.12.2023). Israel hat seit langem militärische und nukleare Einrichtungen im Iran ins Visier genommen und iranische Nuklearwissenschaftler und Kommandeure sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes getötet (NYT 16.2.2024). Im Dezember vermeldete der iranische Ölminister einen Cyberangriff, den er Israel und den USA zuschrieb (FR24 18.12.2023; vergleiche NZZ 2.1.2024). Im Februar 2024 unterbrach ein Sabotageakt an zwei wichtigen Gaspipelines die Gasversorgung von zwei iranischen Provinzen. Zwei westliche Behördenvertreter und ein mit den Revolutionsgarden verbundener Militärstratege machten Israel für den Vorfall verantwortlich, wobei das Anvisieren von Infrastruktur in diesem Ausmaß eine Neuentwicklung darstellt (NYT 16.2.2024).

Iran hat eine lange Geschichte der Unterstützung von terroristischen [und anti-israelischen] Organisationen wie der Hisbollah, der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad (JPOST 27.2.2023). Das Regime unterstützt auch verschiedene "Widerstands"-Milizen im Irak (TWI 20.12.2023), in Syrien, im Jemen und auch Bahrain (CFR 11.12.2023). Die Hilfen umfassen umfangreiche finanzielle und logistische Unterstützung (TWI 20.12.2023). Im Zentrum des iranischen Netzwerks steht die libanesische Hisbollah. Sie half Iran auch bei der Unterstützung des Regimes von Bashar al-Assad im Bürgerkrieg in Syrien, wo sie andere Milizen zur Verteidigung des Regimes heranzog (CFR 11.12.2023). Die geografische Ausdehnung von Irans Allianznetz ist derzeit so groß wie nie zuvor seit der Islamischen Revolution 1979. Die mit Iran verbündeten Milizen agieren laut dem Experten Walter Posch selbstständig. Doch bei allen Aktionen gibt es Spuren, die zurück nach Iran führen (NZZ 2.1.2024).

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7.10.2023 haben die Spannungen in der Region zugenommen (IRINTL 11.1.2024; vergleiche BBC 16.1.2024). Die jüngsten Entwicklungen haben gezeigt, dass die sich zuspitzende Rivalität zwischen Iran und Israel die regionale Sicherheit prägen und die Politik im Nahen Osten auf absehbare Zeit bestimmen wird (FA 14.5.2024). Israel und Iran haben einen jahrelangen Schattenkrieg geführt, bei dem sie gegenseitig Einrichtungen angriffen, ohne die Verantwortung dafür zu übernehmen. Diese Angriffe haben sich während des aktuellen Krieges im Gazastreifen, der durch den Angriff der Hamas auf nahe gelegene israelische Gemeinden im vergangenen Oktober ausgelöst wurde, erheblich verschärft (BBC 19.4.2024). Während Iran seit Langem bewaffnete Gruppen beliefert, die Israel angreifen, und sie auch anderweitig unterstützt, hat es nie einen direkten Angriff der eigenen Streitkräfte von iranischem Territorium aus gegen Israel für sich beansprucht (und anscheinend auch tatsächlich nicht unternommen) (CRS 22.4.2024). Nach einem israelischen Angriff auf ein iranisches Konsulatsgebäude in Damaskus am 1.4.2024 feuerte Iran jedoch erstmals rund 300 Raketen und Drohnen direkt von iranischem Staatsgebiet auf Israel ab (BBC 19.4.2024). Da die Geschosse eine Distanz von über 1.000 Meilen [rd. 1.600 km] zurücklegen mussten, war Israel rechtzeitig vorgewarnt (CNN 14.4.2024) und konnte den Angriff mit Unterstützung von Verbündeten wie den USA, Großbritanniens, Frankreichs und auch Jordaniens abwehren (BBC 19.4.2024). Die iranische Operation wurde als "hochgradig choreografiert" bezeichnet und war laut einer Analystin "offenbar darauf ausgelegt, die Zahl der Opfer zu minimieren und gleichzeitig das Spektakel zu maximieren" (CNN 14.4.2024). Israel antwortete mit einem Raketenangriff auf eine große Luftwaffenbasis im Zentrum Irans (FA 14.5.2024), in Isfahan (BBC 19.4.2024). Dieser Schlag scheint diese Runde der gegenseitigen Angriffe beendet zu haben, bestätigte aber auch, dass die Regeln, die den Schattenkrieg zwischen Iran und Israel jahrelang bestimmten, nicht mehr gelten. Es wird angenommen, dass ein Angriff der einen Seite nun eine direkte Antwort der anderen Seite nach sich ziehen wird, was das Gespenst eines größeren Krieges beschwört (FA 14.5.2024).

Verbotene Organisationen

Letzte Änderung: 12.06.2024

In Iran sind die meisten zivilgesellschaftlichen und politischen Organisationen seit langem verboten, wobei neben jenen Gruppen, die das Regime stürzen wollen (bekannt unter dem Begriff Barandazi), auch die legalen reformistischen politischen Parteien, welche die Islamische Republik grundsätzlich unterstützen (Eslahtalab genannt), starken Einschränkungen unterliegen (Clingendael 27.10.2023).

Die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen kann zu staatlichen Zwangsmaßnahmen und Sanktionen führen. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder die islamischen Grundsätze infrage stellt. Dies ist besonders ausgeprägt bei Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der Islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden (AA 30.11.2022). Die Mehrheit der im Zeitraum 2010-2023 aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation hingerichteten Personen gehörte einer ethnischen Minderheit an (IHRNGO 5.3.2024).

In den iranischen Oppositionsgruppen spiegeln sich unterschiedliche politische Missstände, ethnische Spannungen und ideologische Strömungen wider. Die sichtbarsten Gegner des Regimes sitzen teilweise oder ganz außerhalb Irans. Ihre Ziele sind entweder ein Regimewechsel oder die Selbstbestimmung einer ethnischen Gruppe innerhalb Irans. Die Regierung hat Mitglieder der nachstehend erwähnten Gruppierungen verfolgt und strafrechtlich belangt. Einige Gruppierungen haben Verbindungen zu benachbarten Regierungen in der Region, andere operieren von Europa aus (USIP 2.7.2020).

Zu den militanten separatistischen Gruppen in Iran zählen insbesondere die kurdisch-marxistische Komala(h)-Partei(en), die Democratic Party of Iranian Kurdistan (KDPI), die Partiya Jiyana Azad a Kurdistane [Partei für ein freies Leben in Kurdistan] (PJAK), die eng mit ihrer Schwesterorganisation, der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans - PKK, zusammenarbeitet, die aus Belutschistan stammende Jundallah (AA 30.11.2022), ihre Absplitterung Jaish al-Adl (Armee der Gerechtigkeit [JAA, JUA]) und das Arab Struggle Movement for the Liberation of Ahwaz (ASMLA) in der Provinz Khuzestan. Die Mujahadeen-e Khalq (MEK) tritt vom Exil aus für einen Regimewechsel ein. Sie hat sich ab 2003 von der Gewalt losgesagt (USIP 2.7.2020).

Die iranischen Geheimdienste überwachen die Aktivitäten von Gruppierungen wie der MEK, Angehörige der separatistischen Befreiungsbewegung für die Ahwaz-Region sowie iranisch-kurdische Bewegungen auch im westlichen Ausland (BMP 7.10.2022). In einzelnen Fällen kam es auch zu Entführungen und Tötungen von Dissidenten im Ausland (USIP 5.4.2023).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 26.06.2024

Das Recht ist in allen Rechtsbereichen umfassend kodifiziert, so etwa das Zivilrecht, das Familien- und Erbrecht oder das Strafrecht. Die iranischen Gerichte müssen auf der Grundlage dieser Gesetze Recht sprechen. Die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz ist somit formal gewahrt (LTO 26.10.2022). Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit ist zwar durch die Verfassung geschützt, aber mit einem Vorbehalt versehen. In Artikel 167 der Verfassung, einem der umstrittensten Artikel, heißt es, dass die Richter verpflichtet sind, sich zu bemühen, jeden Fall auf der Grundlage des kodifizierten Rechts zu entscheiden (Islamic Law Blog 22.11.2015). Im Falle des Fehlens, der Unzulänglichkeit, der Kürze oder der Widersprüchlichkeit der Gesetze müssen die Richter den Fall jedoch auf der Grundlage der maßgeblichen islamischen Quellen und der authentischen Fatwas (fatāwā) entscheiden, um zu verhindern, dass ein Fall unentschieden bleibt (Islamic Law Blog 22.11.2015; vergleiche USDOS 23.4.2024).

Artikel 57, der Verfassung verleiht dem Revolutionsführer weitreichende Aufsichtsbefugnisse über das Justizwesen (BS 19.3.2024). Er ernennt für jeweils fünf Jahre den Chef der Judikative (Artikel 157, Verf.) (FH 2024; vergleiche AA 30.11.2022), der wiederum für die Ernennung und Entlassung der Gerichtsleiter (Soltani/Shooshinasab 8.2022) und von Richtern zuständig ist (BS 19.3.2024). Die ebenfalls in der Verfassung festgeschriebene Unabhängigkeit der Gerichte (AA 30.11.2022) und das Gebot der Gewaltenteilung sind in der Praxis somit stark eingeschränkt (AA 30.11.2022; vergleiche BS 19.3.2024).

Während die Gerichte innerhalb des herrschenden Establishments ein gewisses Maß an Autonomie genießen, wird das Justizsystem regelmäßig als Instrument eingesetzt, um Regimekritiker und Oppositionelle zum Schweigen zu bringen (FH 2024). Der Sicherheitsapparat (AA 30.11.2022) - insbesondere die Revolutionsgarden und ihr Nachrichtendienst (BS 19.3.2024) - nehmen v. a. in politischen Fällen massiven Einfluss auf Urteilsfindung und Strafzumessung (AA 30.11.2022; vergleiche BS 19.3.2024). Das Justizwesen ist geprägt von Korruption (AA 30.11.2022; vergleiche USIP 1.8.2015). Es wird von Fällen berichtet, in denen Richter bestochen wurden, um Gerichtsprozesse zu beeinflussen (IrWire 28.4.2021).

Die Behörden verletzen routinemäßig grundlegende Verfahrensstandards, insbesondere in politisch heiklen Fällen (FH 2024) und vor Revolutionsgerichten (HRW 11.1.2024a). Aktivisten werden ohne Haftbefehl verhaftet, auf unbestimmte Zeit ohne förmliche Anklage festgehalten und ihnen wird der Zugang zu einem Rechtsbeistand oder jeglicher Kontakt zur Außenwelt verweigert (FH 2024; vergleiche AI 27.3.2023). Insbesondere in der Untersuchungsphase von Verfahren schränken die Behörden das Recht von Verhafteten auf Zugang zu einem Rechtsbeistand regelmäßig ein (HRW 11.1.2024a). Viele werden später in Prozessen, die manchmal nur ein paar Minuten dauern, aufgrund vager Sicherheitsvorwürfe verurteilt (FH 2024), wobei zu den Prozessen "Geständnisse" als Beweise zugelassen werden, die unter Folter erpresst worden sind (HRW 11.1.2024a; vergleiche AI 27.3.2023).

Rechtsschutz ist nur eingeschränkt gegeben (AA 30.11.2022). Es gibt Fälle von Rechtsanwälten, welche Dissidenten vertraten und daraufhin inhaftiert und mit einem Berufsverbot belegt worden sind, oder dazu gezwungen wurden, das Land zu verlassen, um einer Strafverfolgung zu entgehen (FH 2024; vergleiche AA 30.11.2022). Anwälte, die politische Fälle übernehmen, werden systematisch eingeschüchtert oder an der Übernahme der Mandate gehindert (AA 30.11.2022). Eine Rechtsanwältin, die in der Vergangenheit Angeklagte in politischen Fällen vor Revolutionsgerichten vertreten hat, berichtete unter anderem von permanenter Überwachung, sobald derartige Fälle übernommen werden. Auch drohen manchen Rechtsanwälten derzeit sehr lange Haftstrafen (MRAI 19.6.2023). Der Anwalt Amirsalar Davoudi, der u. a. politische Gefangene vertrat und öffentlich Missstände im Justizsystem anprangerte, wurde 2019 beispielsweise zu 30 Jahren Haft verurteilt (IHRNGO 1.12.2022), was auf andere Anwälte äußerst abschreckend wirkt (MRAI 19.6.2023).

In Iran gibt es eine als unabhängige Organisation aufgestellte Rechtsanwaltskammer (Iranian Bar Association; IBA), deren Unabhängigkeit die Judikative einzuschränken versucht. Anwälte der IBA sind staatlichem Druck und Einschüchterungsmaßnahmen ausgesetzt (AA 30.11.2022). Um eine Anwaltslizenz zu erhalten, mussten Anwärter bislang unter anderem eine Prüfung bei der IBA ablegen (MBZ 9.2023; vergleiche Soltani/Shooshinasab 8.2022). Im August 2023 verabschiedete das iranische Parlament ein Gesetz, das die Kontrolle zur Erteilung von Anwaltslizenzen an das Ministerium für Industrie, Bergbau und Handel übertrug (MBZ 9.2023).

Der Zugang von Verteidigern zu staatlichem Beweismaterial wird häufig eingeschränkt oder verwehrt. Die Unschuldsvermutung wird - insbesondere bei politisch aufgeladenen Verfahren - nicht beachtet. Zeugen werden durch Drohungen zu belastenden Aussagen gezwungen. Insbesondere Isolationshaft wird genutzt, um politische Gefangene und Journalisten psychisch unter Druck zu setzen. Gegen Kautionszahlungen können Familienmitglieder die Isolationshaft in einzelnen Fällen verhindern oder verkürzen. Fälle von Sippenhaft existieren, meistens in politischen Fällen. Üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (AA 30.11.2022).

Während es an allen iranischen Gerichten bestimmte Probleme gibt, sind die Revolutionsgerichte besonders dafür berüchtigt, selbst die grundlegendsten Rechte nicht einzuhalten (MRAI 19.6.2023). Strafverfahren vor den Revolutionsgerichten finden oft hinter verschlossenen Türen unter dem Vorsitz von Geistlichen statt, ohne dass Standardgarantien eines Strafverfahrens, wie etwa die Gewährung von Zeit und Zugang zu Anwälten zur Vorbereitung einer Verteidigung, gewährleistet sind (Conversation 13.1.2023). Laut Menschenrechtsgruppen und internationalen Beobachtern werden vor Revolutionsgerichten, die im Allgemeinen die Fälle politischer Gefangener anhören, routinemäßig grob unfaire Gerichtsprozesse ohne ordnungsgemäße Verfahren abgehalten; es werden vorab festgelegte Urteile verkündet und Hinrichtungen für politische Zwecke befürwortet. Diese unlauteren Praktiken treten Berichten zufolge in allen Phasen der Strafverfahren vor den Revolutionsgerichten auf (USDOS 23.4.2024). Die Revolutionsgerichte haben sich bei der Verurteilung von Personen im Zusammenhang mit den Protesten seit September 2022 auf unter Folter oder durch andere Zwangsmittel erzwungene Geständnisse als Beweismittel gestützt, unter anderem auch bei Todesurteilen (UNHRC 7.2.2023).

Anwälte benötigen vor Revolutionsgerichten in der Regel schon alleine dafür eine Erlaubnis der Richter, um den Gerichtssaal betreten zu können. Anwälten von Personen, die in der Vergangenheit wegen mohārebeh angeklagt waren, wurde manchmal die Teilnahme am Prozess verweigert. In anderen sicherheitsrelevanten Fällen durften sie teilnehmen, aber ihr Recht auf eine angemessene Verteidigung wurde eingeschränkt (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Eine Novelle der Strafprozessordnung im Jahr 2015 höhlte die ohnehin begrenzten Beschuldigtenrechte bei Prozessen wegen Vergehen gegen die nationale Sicherheit weiter aus. Den Beschuldigten und ihren Anwälten wurde mit der Novelle beispielsweise das Recht auf eine Kopie der Gerichtsakten verweigert (MRAI 19.6.2023) und Angeklagte dürfen zumindest im Anfangsstadium des Verfahrens (AA 30.11.2022) - dem Untersuchungsstadium (MRAI 19.6.2023) - nur aus einer Liste mit vom Staat zugelassenen und damit mutmaßlich systemfreundlichen Anwälten auswählen (AA 30.11.2022; vergleiche MRAI 19.6.2023). In dieser bedeutsamen Prozessphase werden oftmals sensible Informationen aufgedeckt, diese Einschränkung der Auswahl gibt Anlass zur Sorge über die Fairness und Transparenz der Prozesse (MRAI 19.6.2023).

Die Revolutionsgerichte sehen meist davon ab, das Urteil an die Angeklagten zu übermitteln. In der Regel laden sie den Anwalt des Angeklagten vor Gericht und verlesen das Urteil. Solche Urteile sind folglich auf der elektronischen Datenbank Adliran nicht zugänglich. Rechtsanwälte dürfen Urteile lediglich direkt bei Gericht lesen und sich dort Notizen machen (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Anmerkung: s. Kap. "Dokumente, Meldewesen und Personenstandsregister" für Informationen zur Justizdatenbank Adliran und SANA.

Gerichte

Letzte Änderung: 26.06.2024

Die iranische Justiz verwaltet ein vielschichtiges Gerichtssystem. Die Strafverfolgung geht von niedrigeren Gerichten aus und kann bei höheren Gerichten angefochten werden. Der Oberste Gerichtshof überprüft Fälle von Kapitalverbrechen und entscheidet über Todesurteile. Er hat auch die Aufgabe, für die ordnungsgemäße Anwendung der Gesetze und die Einheitlichkeit der Gerichtsverfahren zu sorgen (USIP 1.8.2015). Bestimmte Urteile können vor dem Obersten Gerichtshof angefochten werden (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vergleiche Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Anders als die Berufungsgerichte ist der Oberste Gerichtshof nicht befugt, ein neues Urteil zu fällen. Im Falle einer erfolgreichen Anfechtung verweist er den betroffenen Fall wieder an ein zuständiges Gericht zurück (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Die allgemeinen Gerichte Irans sind offiziell damit beauftragt, alle Arten von Fällen und Streitigkeiten zu schlichten. Diese verteilen sich auf die kleineren Landkreise, Rayons und Bezirke des Landes. In den Strafgerichten werden Fälle gemäß der iranischen Strafprozessordnung (IStPO) behandelt, in den Zivilgerichten [Anm.: auf Englisch "legal courts"] gilt die Zivilprozessordnung (IrWire 9.9.2020). Seit 2001 gibt es darüber hinaus sogenannte Streitschlichtungsräte (Shurāhā-I hal-e ikhtilāf) als alternative Konfliktlösungskörperschaften. Die Richter dieser Räte können in Abstimmung mit den Ratsmitgliedern in bestimmten Fragen in den Bereichen Finanzen, Miete, Erbschaft, Mitgift und Unterhalt sowie bestimmten Ta'zir-Vergehen [s. weiter unten f. Begriffserklärung] Fälle anhören und Urteile sprechen. Sie können aber z. B. keine Scheidungsfragen behandeln und sind auch nicht dazu befugt, Körper- oder Haftstrafen auszusprechen. Die Zuständigkeit der Streitbeilegungsräte in den Dörfern beschränkt sich auf Friedens- und Kompromissentscheidungen (Soltani/Shooshinasab 8.2022).

Die Zivilgerichte verhandeln über lokale materielle und immaterielle zivilrechtliche Streitigkeiten, die nicht in die Zuständigkeit der Streitschlichtungsräte fallen. Die Familiengerichte entscheiden hierbei unter anderem bei Ehe- und Scheidungsfragen, Obsorge [Anm.: jedoch nicht Vormundschaft, s. Kap. "Frauen"] wie auch geschlechtsangleichenden Operationen. Die Urteile werden von einem männlichen Richter gefällt, nachdem er eine beratende Richterin schriftlich konsultiert hat (Soltani/Shooshinasab 8.2022).

Die Strafgerichte unterteilen sich in verschiedene Untereinheiten (IrWire 9.9.2020). Neben den Strafgerichten 1 und 2 gibt es die Revolutionsgerichte, Jugendgerichte und Militärgerichte (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021; vergleiche Soltani/Shooshinasab 8.2022). Darüber hinaus gibt es mehrere Sondergerichte (IrWire 9.9.2020), darunter beispielsweise ein Sondergericht für die Geistlichkeit (dadgah-e vīzheh-ye rouhaniyat), das als einziges Gericht nicht dem Justizchef, sondern direkt dem Revolutionsführer untersteht (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Es wird u. a. dazu genutzt, um prominente Kleriker, welche Kritik am Regime äußern, strafrechtlich zu verfolgen (IrWire 9.9.2020; vergleiche USIP 1.8.2015). Das Gesetz ermöglicht die Einsetzung eines zuständigen Gerichts zur Behandlung von Verstößen gegen das Pressegesetz von 1986 - das sogenannte Pressegericht - das unter Einbeziehung von Schöffen tagen soll. Derzeit werden Journalisten allerdings eher vor Revolutionsgerichten wegen Vergehen gegen die nationale Sicherheit, "Propaganda gegen den Staat" und/oder das "Schüren von Angst in der öffentlichen Meinung" angeklagt - nach Ansicht eines Experten, um Prozesse unter Anwesenheit von Schöffen zu vermeiden. Das Pressegericht ist derzeit nicht im Einsatz (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Die Revolutionsgerichte haben verschiedene Zweige in der Hauptstadt, in den Provinzen und in manchen Justizdistrikten (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Die Verfassung sieht weder ihre Einrichtung noch ein Mandat für die Revolutionsgerichte vor. Sie wurden ursprünglich nach der Revolution von 1979 geschaffen, um hochrangige Beamte der abgesetzten Monarchie vor Gericht zu stellen, und wurden später institutionalisiert. Sie arbeiten weiterhin parallel zum restlichen Strafjustizsystem (USDOS 23.4.2024) und sollten eigentlich von der Justiz beaufsichtigt werden (IrWire 9.9.2020). In der Praxis werden sie allerdings von und für Sicherheitsbehörden betrieben, die außerhalb des Gesetzes stehen (IrWire 9.9.2020; vergleiche MRAI 19.6.2023). Manche Quellen gehen davon aus, dass die Revolutionsgerichte in Zusammenarbeit mit den Revolutionsgarden und dem Geheimdienstministerium (MOIS) operieren (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Die Revolutionsgerichte unterscheiden sich bezüglich der Angelegenheiten, welche sie behandeln, von anderen Gerichten. Sie befassen sich in erster Linie mit Straftaten im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit, was im Grunde alle politischen und sozialen Aktivitäten von Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten einschließt (MRAI 19.6.2023). Weiters sind sie auch für bestimmte Finanzverbrechen zuständig (Soltani/Shooshinasab 8.2022). Die Zuständigkeit der Revolutionsgerichte umfasst laut Artikel 303, der IStPO die folgenden Delikte (FIDH 9.2023):

●             Alle Verbrechen gegen die nationale und internationale Sicherheit, mohārebeh (Waffenaufnahme gegen Gott und Staat) oder baghei (bewaffneter Aufstand gegen die Regierung) (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vergleiche IrWire 9.9.2020) und efsād fe-l-arz [Korruption auf Erden] - jeweils definiert und kriminalisiert in den Artikeln 279 bis 285 und 286 bis 288 des islamischen Strafgesetzbuchs von 2013 (Soltani/Shooshinasab 8.2022), Rebellion, geheime Absprachen und Versammlungen gegen die Islamische Republik Iran oder bewaffnete Aktionen, Brandanschläge, Zerstörung und Verschwendung von Eigentum, um sich gegen das Regime zu stellen (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vergleiche JIS 8.9.2018);

●             Spionage gegen das Regime (JIS 8.9.2018), Spionage im Auftrag von Ausländern (Artikel 502, IStGB) (FIDH 9.2023);

●             Beleidigung des Gründers der Islamischen Republik Iran und des Obersten Führers (Artikel 514,) (FIDH 9.2023; vergleiche JIS 8.9.2018);

●             Alle Straftaten im Zusammenhang mit Drogen, psychotropen Stoffen und deren Vorläufersubstanzen sowie dem Schmuggel von Waffen, Munition und anderen einschlägigen Gegenständen (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vergleiche JIS 8.9.2018);

●             Andere Fälle, für die laut Gesetz das Revolutionsgericht zuständig ist (Soltani/Shooshinasab 8.2022): z. B. in Artikel 49, der Verfassung erwähnte Delikte wie Bestechung, Korruption, Unterschlagung öffentlicher Mittel und Verschwendung von Volksvermögen (JIS 8.9.2018; vergleiche Soltani/Shooshinasab 8.2022).

Islamische und republikanische Elemente im Justizwesen, Strafrecht, Strafzumessungspraxis

Letzte Änderung: 26.06.2024

Die Verfassung Irans ist ein hybrides System aus republikanisch-demokratischen und theokratisch-autoritären Elementen unter dem Vorrang des islamischen Rechts der Ja'afari-Rechtsschule (BAMF 5.2021). Die iranische Verfassung besagt, dass alle Gesetze sowie die Verfassung auf islamischen Grundsätzen beruhen müssen (ÖB Teheran 11.2021). Von den drei Staatsgewalten haben die Geistlichen in der Judikative die stärkste Präsenz, wobei sie eine Ausbildung in islamischer Rechtswissenschaft oder Abschlüsse von religiösen Rechtsschulen haben müssen, um Richter zu werden. Der Chef der Justiz, der Generalstaatsanwalt des Landes und alle Richter des Obersten Gerichtshofs müssen hochrangige Geistliche oder Mujtahids sein (USIP 1.8.2015), also Rechtsgelehrte, die nach schiitischer Auslegung dazu qualifiziert sind, Ijtihad zu betreiben (EB o.D.a), d. h. islamische Texte in ungeklärten Rechtsfragen unabhängig auszulegen (EB o.D.b). Die iranische Justiz ist insofern ein einzigartiges System, als sie islamische Prinzipien und eine vom französischen System inspirierte Gesamtstruktur kombiniert. Nach der islamischen Revolution wurde das Justizsystem stark verändert, um die Scharia einzubeziehen. Das neue System wurde jedoch auf einer bereits bestehenden säkularen Struktur aufgebaut, wodurch ein sehr komplexes Justizwesen entstanden ist (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Mit der islamischen Revolution von 1979 kam es zur Wiedereinführung des islamischen Strafrechts, das die bisherige, vom "code pénal napoléon" von 1810 beeinflusste Gesetzgebung, ablöste und sich aus drei eigenständigen Teilbereichen zusammensetzt (BAMF 5.2021). Die Schwere und Art einer Straftat sowie die vorgeschriebene Strafe bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung des Falles zuständig ist. Artikel 14, des Islamischen Strafgesetzbuches (IStGB) unterteilt Verbrechen in vier Strafkategorien gemäß der Scharia: hadd, qisas, diyah und ta’zīr (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Hadd-Delikte umfassen Unzucht/Ehebruch (zina), Sodomie (levat), lesbische Beziehung (mosaheqeh), Beschaffung von Prostitution (qavadī), falsche Anschuldigung der Unzucht/Sodomie (qazf), Verleumdung des Propheten (sabb-e nabī), Alkoholkonsum (shorb-e khamr), Raub/Diebstahl, Waffennahme gegen Gott (mohārebeh ba khoda), Korruption auf Erden (mofsad/efsad fe-l-arz) und Rebellion (baghei). Zu den hadd-Strafen gehören die Todesstrafe, Steinigung, Kreuzigung, Auspeitschung, Amputation (von Hand und Fuß), lebenslange Haft und Verbannung. Art und Umfang dieser Strafen werden vom islamischen Recht bestimmt und gelten als von Gott festgelegt, sie können daher von einem Richter nicht abgeändert oder begnadigt werden. Aufgrund der Schwere der Strafen und der Tatsache, dass sie unveränderlich sind, gelten strenge Beweis- und andere Anforderungen (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021), wie zum Beispiel eine bestimmte Anzahl an Zeugen. Darüber hinaus gibt es auch die Beweisregelung des "richterlichen Wissens" (‘elm-e qāzī) (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021; vergleiche MRAI 19.6.2023), die in vielen hadd-Fällen angewandt wird. Sie bedeutet, dass der Richter auf Grundlage von Indizien entscheiden muss, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht. Eine Strafrechtsnovelle im Jahr 2013 hat die Anwendung dieser Regelung bei Ehebruchsfällen abgeschwächt. Bei Anklagen aufgrund der hadd-Tatbestände mohārebeh und mofsad/efsād fe-l-arz ist das "richterliche Wissen" immer noch einer der Hauptfaktoren zur Ermittlung der Schuld oder Unschuld eines Angeklagten (MRAI 19.6.2023).

Iranische Aktivisten und Dissidenten, darunter Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, werden normalerweise mit vage formulierten und weit gefassten Anklagen konfrontiert, die aus dem IStGB stammen. Die hadd-Verbrechen "Waffennahme gegen Gott" (mohārebeh) und "Korruption auf Erden" (efsād fe-l-arz) sind dabei die berüchtigtsten (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Manche Interpretationen von mohārebeh schließen selbst Messer als Waffen ein. Es kann daher passieren, dass Personen des mohārebeh beschuldigt werden, weil sie ein Messer bei sich trugen. Dieser Straftatbestand wird insbesondere gegen Minderheitengruppen wie Mitglieder der kurdischen Gemeinschaft verwendet, wenn ihnen Verbindungen zu militanten Gruppierungen vorgeworfen werden. Mofsad/efsad fe-l-arz ist dagegen eine völlig andere Kategorie. Die Definition dieses Begriffs obliegt dem jeweiligen Richter. Dies kann sexuelle Vergehen ebenso einschließen, wie Wirtschaftskriminalität, wenn die Handlung als so schwerwiegend interpretiert wird, dass sie eine ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft darstellt (MRAI 19.6.2023). Hadd-Strafen werden im zweiten Buch des IStGB (Artikel 217 –, 288,) behandelt (BAMF 5.2021).

Qisas-Vebrechen sind sogenannte Talions- oder Vergeltungsstrafen (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021; vergleiche BAMF 5.2021). Sie basieren auf einem Prinzip des islamischen Rechts, den Opfern eine analoge Vergeltung für Gewaltverbrechen wie Totschlag oder Körperverletzung zu erlauben - unter der Voraussetzung, dass die Taten vorsätzlich waren. Angehörige eines Tötungsopfers (nächste Familienangehörige) und Opfer von Körperverletzung können alternativ ihre Forderung nach Vergeltung gegen Geldentschädigung (diyah), also Blutgeld, zurücknehmen und die Freilassung des Täters veranlassen. Sie können dem Täter auch ganz vergeben und auf diyah verzichten. Das iranische Rechtssystem betrachtet diese Verbrechen als Angelegenheit zwischen Privatpersonen. Die Rolle des Staates besteht darin, die Ermittlungen und Gerichtsverfahren in diesen Fällen zu erleichtern und sicherzustellen, dass nachfolgende Bestrafungen in organisierter Form erfolgen. Doch selbst wenn die Bluträcher auf ihren Anspruch auf Vergeltung verzichten, kann der Staat eine zusätzliche Strafe verhängen, wenn er der Ansicht ist, dass das Verbrechen die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Gesellschaft stört. In Fällen von Körperverletzung ist Vergeltung selten. Auch bei Mord ist es für die Angehörigen oftmals attraktiver, diyah anzunehmen. Bei nicht vorsätzlicher Körperverletzung oder Totschlag ist diyah dagegen grundsätzlich vorgesehen (und nicht nur als Alternative zu Vergeltung, so die Opfer oder ihre Angehörigen zustimmen). Diyah wird weiters auch in manchen Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung angewendet, in denen Vergeltung verboten oder undurchführbar ist (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Qisas-Strafen werden im dritten Buch (Artikel 289 –, 447,) und das Blutgeld bzw. diyah im vierten Buch (Artikel 448 –, 728,) behandelt (BAMF 5.2021).

Für alle sonstigen aus Sicht der Rechtsordnung strafwürdigen Taten sind ta’zīr-Strafen (BAMF 5.2021; vergleiche Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021) - Ermessensstrafen - und sogenannte "Abschreckungsstrafen" (mojāzāt-e bāzdārandeh) vorgesehen. Letztere dienen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Während hadd, qisas und diyah durch islamisches Recht definiert werden, leiten sich ta'zir und Abschreckungsstrafen aus dem staatlichen Recht ab. In diese Kategorien fallen zum Beispiel Straftaten gegen die interne und externe Sicherheit des Staates (Artikel 498 -, 512 und 610-611 IStGB); Fälschung (Artikel 523 -, 542, IStGB); Vergehen gegen öffentliche Moral und Anstand (Artikel 637 -, 641, IStGB) - beispielsweise ungehörige Beziehungen zwischen Männern und Frauen, wie z. B. Berührungen und Küsse (Artikel 637,) oder unislamische Kleidung (Artikel 638,); Diebstahl (Artikel 651 -, 667, IStGB); sowie öffentliche Konsumation von Alkohol, Glücksspiel und Vagabundieren (Artikel 701 -, 713, IStGB). Ta’zīr-Strafen werden nach Art und Umfang nach Ermessen des Richters (auf der Grundlage des kodifizierten Rechts) verhängt (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Wenn sich Gesetze, die seit der Gründung der Islamischen Republik erlassen wurden, mit einer spezifischen Rechtssituation nicht befassen, rät die Regierung den Richtern, ihrer Kenntnis und Auslegung der Scharia (islamisches Gesetz) Vorrang einzuräumen. Bei dieser Methode können Richter eine Person aufgrund ihres eigenen "göttlichen Wissens" [divine knowledge] für schuldig erklären (USDOS 23.4.2024).

Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis

Bei Delikten, die im starken Widerspruch zu islamischen Grundsätzen stehen, können jederzeit Körperstrafen ausgesprochen und auch exekutiert werden (ÖB Teheran 11.2021). Im iranischen Strafrecht sind also körperliche Strafen wie die Amputation von Fingern, Händen und Füßen vorgesehen. Berichte über erfolgte Amputationen dringen selten an die Öffentlichkeit. Wie hoch die Zahl der durchgeführten Amputationen ist, kann nicht geschätzt werden (AA 30.11.2022). Auf die Anwendung der Vergeltungsstrafen (qisas) der Amputation (z. B. von Fingern bei Diebstahl) und der Blendung kann der Geschädigte gegen Erhalt eines Abstandsgeldes (diyah) verzichten. Derzeit ist bei Ehebruch noch die Strafe der Steinigung vorgesehen. Auch auf diese kann vom Geschädigten gegen diyah verzichtet werden. Im Jahr 2002 wurde ein Moratorium für die Verhängung der Steinigungsstrafe erlassen, seit 2009 sind keine Fälle von Steinigungen belegbar (ÖB Teheran 11.2021). Stattdessen hat sich die islamische Führung auf die Hinrichtung als Alternative verlegt. Im Jahr 2023 wurden beispielsweise zwei Todesurteile aufgrund des Straftatbestands Ehebruch verhängt (RFE/RL 3.11.2023).

Verlässliche Aussagen zur Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis sind nur eingeschränkt möglich, da diese sich durch Willkür auszeichnet. Mitunter bewusst unbestimmte Formulierungen von Straftatbeständen und Rechtsfolgen sowie eine unzureichende Kontrolle innerhalb der Justiz ermöglichen ein willkürliches Handeln von Richtern. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass Gerichte in politischen Verfahren nicht unabhängig agieren. Auch willkürliche Verhaftungen kommen häufig vor und führen dazu, dass Häftlinge ohne ein anhängiges Strafverfahren festgehalten werden. Wohl häufigster Anknüpfungspunkt für Diskriminierung im Bereich der Strafverfolgung ist die politische Überzeugung. Beschuldigten bzw. Angeklagten werden grundlegende Rechte vorenthalten, die auch nach iranischem Recht eigentlich garantiert sind. Untersuchungshäftlinge werden bei Verdacht einer Straftat unbefristet ohne Anklage festgehalten. Oft erhalten Gefangene während der laufenden Ermittlungen keinen rechtlichen Beistand, weil ihnen dieses Recht bewusst verwehrt wird oder ihnen die finanziellen Mittel fehlen. Insbesondere bei politisch motivierten Verfahren gegen Oppositionelle erfolgt die Anklage oft aufgrund konstruierter oder vorgeschobener Straftaten. Die Strafen sind in Bezug auf die vorgeworfene Tat oft unverhältnismäßig hoch, besonders bei Verurteilungen wegen Äußerungen in sozialen Medien oder Engagement gegen die Hijab-Pflicht (Kopftuchzwang) (AA 30.11.2022).

Hafterlass ist nach Ableistung der Hälfte der Strafe möglich. Amnestien werden unregelmäßig vom Revolutionsführer auf Vorschlag des Chefs der Justiz im Zusammenhang mit hohen religiösen Feiertagen und dem iranischen Neujahrsfest am 21. März ausgesprochen (AA 30.11.2022).

Doppelbestrafung, im Ausland begangene Vergehen, Verurteilung in Abwesenheit

Letzte Änderung: 17.06.2024

Einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge hält sich Iran an den Grundsatz ne bis in idem, wenn es um ta'zir-Strafen geht. Im Falle von hadd- und qisas-Strafen ist eine doppelte Strafverfolgung dagegen möglich. Auch ist es möglich, dass ein Gericht eine ta'zir-Strafe gegen eine Person verhängt, der Staatsanwalt jedoch im Nachhinein angibt, dass dies ein Fehler war und das Vergehen unter einen hadd-Tatbestand fällt. In diesem Fall kann eine Person zweimal für dieselbe Straftat verurteilt werden, in der Praxis kommt dies jedoch selten vor (MBZ 9.2023).

Iranische Staatsbürger unterliegen auch im Ausland der iranischen Gesetzgebung und können nach Artikel 7 des IStGB 2013 für Vergehen, die im Ausland begangen wurden, in Iran belangt werden (Landinfo 9.11.2022). Das Verbot der Doppelbestrafung gilt in diesem Fall nur stark eingeschränkt. Nach dem IStGB werden Iraner oder Ausländer, die bestimmte Straftaten im Ausland begangen haben und in Iran festgenommen werden, nach den jeweils geltenden iranischen Gesetzen bestraft. Auf die Verhängung von islamischen Strafen [Anm.: hadd- und qisas-Strafen] haben bereits ergangene ausländische Gerichtsurteile keinen Einfluss; die Gerichte erlassen eigene Urteile. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen drohen drastische Strafen (AA 30.11.2022). Ein von Landinfo im Jahr 2021 befragter Rechtsanwalt zeichnete jedoch ein differenzierteres Bild und gab an, dass insbesondere im Ausland begangene Vergehen, welche die innere und äußere Sicherheit betreffen, in Iran strafrechtlich verfolgt werden. Laut dem Rechtsanwalt werden beispielsweise Alkoholkonsum oder "unzüchtiges" Verhalten iranischer Staatsbürger im Ausland in Iran nicht strafrechtlich verfolgt (Landinfo 9.11.2022). In jüngster Vergangenheit sind keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden (AA 30.11.2022).

Es kommt in der Praxis vor, dass Personen in Iran in Abwesenheit aufgrund von im Ausland durchgeführten Tätigkeiten verurteilt werden, beispielsweise aufgrund von Veröffentlichungen von kritischen Beiträgen in den sozialen Medien. Mehrere Quellen berichteten von derartigen Fällen von bekannten Aktivisten im Ausland (MBZ 9.2023). Der ehemalige, in Dubai wohnhafte Profifußballer Ali Karimi wurde zum Beispiel von den iranischen Behörden in absentia verurteilt, nachdem er nach Mahsa Aminis Tod kritische Texte auf Instagram gepostet hatte (MBZ 9.2023; vergleiche ArTR 16.12.2022).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 26.06.2024

In Iran gibt es eine Vielzahl verschiedener Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Das Strafverfolgungskommando (FARAJA) [farmandehiye entezamiye jomhuriye eslamiye iran], das dem Innenministerium untersteht, stellt die uniformierte Polizei des Landes und ist dem Präsidenten verantwortlich, so wie auch das Informations- oder Geheimdienstministerium [vezarat -e etela’at - VAJA, wobei auch das englischsprachige Akronym MOIS weit verbreitet ist]. Gemeinsam mit dem Korps der Islamischen Revolutionsgarden [sepah-e pasdaran-e enqhelab-e islami - englischsprachiges Akronym: IRGC], das direkt dem Obersten Führer untersteht, sind FARAJA und VAJA/MOIS für die innere Sicherheit und die Strafverfolgung im Land zuständig. Die Basij, eine aus Freiwilligen bestehende paramilitärische Gruppierung, agieren zum Teil unter den Revolutionsgarden als Hilfseinheiten zum Gesetzesvollzug (CIA 7.5.2024).

Die Militärkräfte unterteilen sich in das Korps der Revolutionsgarden und die reguläre Armee (Artesh) (CIA 7.5.2024). Die Artesh ist ein Vermächtnis der Sicherheitsbehörden aus der Schah-Zeit. Sie existiert neben den Revolutionsgarden, die 1979 von Khomeini als regimetreue Truppe gegründet wurden (CRS 26.1.2024) und konzentriert sich in erster Linie auf die Verteidigung der iranischen Grenzen und Hoheitsgewässer gegen Bedrohungen von außen. Die Revolutionsgarden haben dem gegenüber einen umfassenderen Auftrag, nämlich die iranische Revolution gegen jegliche Bedrohung von außen oder innen zu verteidigen (CIA 7.5.2024). Die Revolutionsgarden sind im iranischen Sicherheitsapparat die mächtigste Kraft (BS 19.3.2024), aber auch vom Regime anerkannte Bürgerwehren üben Gewalt aus, wenn es z. B. um die Niederschlagung von Straßenprotesten geht (BS 19.3.2024; vergleiche IrWire 25.9.2022). Der Oberste Führer - und nicht der Präsident - ist der oberste Befehlshaber über alle Streitkräfte. Er kann Krieg oder Frieden erklären und Militäroperationen genehmigen (DIA 2019). Iran hat eine starke Zentralregierung mit einem komplexen institutionellen Gefüge. Das Gewaltmonopol liegt bei den staatlichen und halbstaatlichen Einheiten, die das Regime bilden (BS 19.3.2024).

Die Informationen zur Truppenstärke der iranischen Streitkräfte variieren. Rund 400.000 Soldaten dienen in den regulären Streitkräften und rund 150.000-190.000 in den Revolutionsgarden, davon 5.000-15.000 bei den Quds-Kräften (CIA 7.5.2024; vergleiche IRJ 1.2.2021). Die Basij haben mit Stand 2023 geschätzte 90.000 aktive paramilitärische Kräfte (CIA 7.5.2024), wobei Schätzungen über die Zahl der Basij-Mitglieder insgesamt weit auseinandergehen und bis zu mehreren Millionen reichen (ÖB Teheran 11.2021).

Behandlung der Zivilbevölkerung

In Bezug auf die Überwachung der Bevölkerung ist nicht bekannt, wie groß die Kapazität der iranischen Behörden ist. Die Behörden können nicht jeden zu jeder Zeit überwachen, haben aber eine Atmosphäre geschaffen, in der die Bürger von einer ständigen Beobachtung ausgehen (DIS 23.2.2018). Die kurdische Region ist das am stärksten militarisierte Gebiet Irans. Die Regierung überwacht die Bevölkerung dort durch ein Netzwerk von Kontrollpunkten (DIS 7.2.2020).

Straffreiheit innerhalb des Sicherheitsapparates ist weiterhin ein Problem. Menschenrechtsgruppen beschuldigen reguläre und paramilitärische Sicherheitskräfte (wie zum Beispiel die Basij), zahlreiche Menschenrechtsverletzungen zu begehen, darunter Folter, Verschwindenlassen und Gewaltakte gegen Demonstranten und Umstehende bei öffentlichen Demonstrationen (USDOS 23.4.2024). Mit willkürlichen Verhaftungen kann und muss jederzeit gerechnet werden, da die Geheimdienste (der Regierung und der Revolutionsgarden) sowie Basij de facto willkürlich handeln können. Bereits auffälliges Hören von (insbesondere westlicher) Musik, ungewöhnliche Bekleidung, Partys oder gemeinsame Autofahrten junger nicht miteinander verheirateter Männer und Frauen können den Unwillen zufällig anwesender Basij bzw. mit diesen sympathisierenden Personen hervorrufen. Willkürliche Verhaftungen oder Misshandlung durch Basij können in diesem Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden (ÖB Teheran 11.2021). Bei der brutalen Durchsetzung von Regeln wie der Kopftuchpflicht für Frauen, die im September 2022 Auslöser der Proteste war, stehen laut dem Iran-Experten Walter Posch nicht unbedingt die regulären Polizeieinheiten im Fokus, sondern "überambitionierte Freiwillige", die sich normalerweise aus den Basij-Milizen rekrutieren. Sie nennen sich die "Hezbollahis" [Anm.: nicht gleichzusetzen mit der libanesischen Hisbollah], also "Parteigänger Gottes" und vertreten dabei das islamische Prinzip des "Gebieten des Guten, Verbieten des Schlechten" (al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿani-l-munkar). Die Polizei hat wenig Anreiz, Frauen vor Willkür zu schützen und sich mit den politisch bestens vernetzten Hezbollahis anzulegen (Zenith 21.9.2022).

Polizei (Strafverfolgungskommando, FARAJA), Sittenpolizei

Letzte Änderung: 26.06.2024

Das Strafverfolgungskommando (FARAJA) ist die uniformierte Polizei Irans und umfasst Abteilungen für öffentliche Sicherheit, Verkehrskontrolle, Drogenbekämpfung, Spezialkräfte (Aufstandsbekämpfung, Terrorismusbekämpfung, Geiselbefreiung usw.) sowie für nachrichtendienstliche und strafrechtliche Ermittlungen. Die FARAJA ist auch für die Grenzsicherung zuständig (über das Grenzschutzkommando) (CIA 7.5.2024). Früher war die Organisation als "Strafverfolgungsbehörde der Islamischen Republik Iran" (NAJA) bekannt. Mit der Umbenennung erfolgte eine Erweiterung der Befugnisse und Einrichtungen, u. a. wurde eine neue nachrichtendienstliche Organisation der FARAJA geschaffen (IrWire 25.9.2022). Seit dem Jahr 2000 werden bestimmte Verwaltungsaufgaben in teilprivate, der NAJA angegliederte Firmen ausgelagert. Zu den Aufgaben dieser Firmen zählen beispielsweise die Ausstellung von Führerscheinen und Schutz- bzw. Wachdienste (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Sittenpolizei

Zu den Unterabteilungen der FARAJA zählt die Polizei für Öffentliche Sicherheit [polīs-e ettelā’āt va amnīyat-e‘ omūmī - PAVA], die wiederum eine Unterabteilung mit dem Namen "Polizei für Moralische Sicherheit" oder Sittenpolizei [polīs-e amnīyat-e akhlāqī] hat (AI 6.3.2024; vergleiche Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Ihr Auftrag ist die Überwachung von Bekleidungsvorschriften für Frauen und Männer in der Öffentlichkeit (Vermeidung eines "unislamischen" Erscheinungsbilds) sowie die Überwachung (und Verhinderung) von Verhalten gegen die "islamische Moral" im Allgemeinen. Die Sittenstreife (gasht-e ershād [auch: "Belehrungsstreife"]) ist eine Untereinheit der Sittenpolizei. Sie besteht aus männlichen wie weiblichen Sicherheitskräften und ist üblicherweise in Polizeiautos auf öffentlichen Plätzen stationiert. Dort überwachen sie die Lage und verhaften Personen, insbesondere Frauen, die vorgeblich "unzüchtig" gekleidet sind, oder versuchen, eine Vermischung der Geschlechter zu unterbinden [Anm.: so die betroffenen Männer und Frauen nicht nah miteinander verwandt sind] (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Die Sittenpolizei wird beschuldigt, Frauen willkürlich wegen Übertretungen zu verhaften. Der Tod einer jungen Frau, die zuvor von der Sittenpolizei wegen eines angeblich unkorrekt getragenen Hijabs festgenommen worden war, hat monatelange Proteste ausgelöst (DW 4.12.2022). Nach dem Ausbruch der landesweiten Proteste im September 2022 verschwand die Sittenpolizei weitgehend von den Straßen (USIP 6.9.2023a). Anfang Dezember 2022 berichteten Medien, dass die Sittenpolizei aufgelöst werden soll (DW 4.12.2022; vergleiche Tagesschau 11.3.2023), was als Zugeständnis an die Protestbewegung gewertet wurde (Tagesschau 11.3.2023). Tatsächlich wurde die Sittenpolizei jedoch nie aufgelöst. Die iranische Regierung hielt bezüglich der Umsetzung der Bekleidungsvorschriften an ihrer Position fest und verstärkte die Durchsetzung der Vorschriften später wieder. Im Juli 2023 setzte sie die Sittenpolizei wieder ein (USIP 6.9.2023a; vergleiche RFE/RL 20.7.2023).

Revolutionsgarden und Basij

Letzte Änderung: 26.06.2024

Die Revolutionsgarden (auch Pasdaran oder Sepah) sind sowohl militärische Kampftruppe, Sicherheitsbehörde und Geheimdienstorganisation als auch eine soziale und kulturelle Macht und ein industrielles wie wirtschaftliches Konglomerat (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Für die Organisation wurden bei ihrer Gründung mehrere Ziele definiert, allen voran der Schutz der Ideologie der Revolution, die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und die Verhinderung eines Putsches. Darüber hinaus sollte die Organisation ein Gegengewicht zum stehenden Heer bilden, obwohl sie in Koordination und Kooperation mit diesem agieren sollte (Shapira/INSS 11.2023). Die Revolutionsgarden haben engste Verbindungen zum Revolutionsführer (AA 30.11.2022).

Heute sind die Revolutionsgarden die wichtigste militärische Organisation des Landes. Sie erhalten vorrangig Ressourcen und sind für alle sensiblen Projekte zuständig (Shapira/INSS 11.2023; vergleiche AA 30.11.2022). Die Revolutionsgarden verfügen über zahlreiche Zweige, darunter eine Marine, Luftwaffe und Geheimdienst sowie die Quds-Kräfte, eine Streitkraft für auswärtige Angelegenheiten (Shapira/INSS 11.2023), und auch über eigene Gefängnisse (AA 30.11.2022). Darüber hinaus ist die Organisation für die Basij verantwortlich (Shapira/INSS 11.2023; vergleiche CFR 17.4.2024).

Die Revolutionsgarden wurden auch damit betraut, die iranische Revolution in die Welt zu exportieren (Shapira/INSS 11.2023; vergleiche CFR 17.4.2024). Es gibt nur wenige Konflikte in der Region, an denen sie nicht beteiligt sind. Libanon, Irak, Syrien, Jemen – überall mischen die Revolutionsgarden mit (Tagesschau 8.6.2017; vergleiche CFR 17.4.2024). Die Teilstreitkraft (niru) Quds ist dabei die international bekannteste Einheit der Revolutionsgarden. Ihr Schwerpunkt liegt auf Militärberatung, Organisation bzw. Überwachung und Durchführung des Expertisen- und Technologietransfers, worunter auch der Transfer von Raketen fällt, sowie auf nachrichtendienstlicher Tätigkeit auf allen Ebenen (Posch/LVAk 1.2.2024). Die Quds ist Irans wichtigstes Mittel zur Durchführung unkonventioneller Operationen im Ausland. Sie verfügt über mehr oder weniger enge Verbindungen zu staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in aller Welt (DIA 2019), beispielsweise zu bewaffneten Organisationen in Afghanistan, Gaza, Irak und Jemen (Shapira/INSS 11.2023). Aktive Kampfaufträge und militärische Operationen fallen dagegen in den Aufgabenbereich der Sondereinheit Saberin der Revolutionsgarden (Posch/LVAk 1.2.2024).

Neben ihrer herausragenden Bedeutung im Sicherheitsapparat haben die Revolutionsgarden im Laufe der Zeit Wirtschaft, Politik und Verwaltung durchdrungen und sich zu einem Staat im Staate entwickelt (AA 30.11.2022). Sie spielen eine dominante Rolle in der iranischen Wirtschaft (FH 2024). Ihre Aktivitäten haben sich vom Wiederaufbau von Infrastruktur in viele andere Branchen ausgedehnt, darunter das Bankwesen, die Schifffahrt, die verarbeitende Industrie und Konsumgüterimporte. Dank ihres politischen Einflusses erhalten Unternehmen, die den Revolutionsgarden angehören, vom Staat nicht ausgeschriebene Aufträge (CFR 17.4.2024). Das Baukonglomerat der Revolutionsgarden Khatam al-Anbia (auch bekannt unter dem Akronym GHORB) beschäftigt Berichten zufolge Zehntausende Mitarbeiter und hat Bauaufträge im Wert von Milliarden US-Dollar erhalten (BBC 3.1.2020). Die Revolutionsgarden kontrollieren die Flug- (WFP 1.2024) und Seehäfen Irans und entscheiden damit, welche Waren ins Land gelassen werden und welche nicht (DW 18.2.2016; vergleiche RFE/RL 5.6.2018). Wie groß der Anteil der iranischen Volkswirtschaft insgesamt ist, den die Revolutionsgarde inzwischen kontrolliert, lässt sich nicht sagen, da genaue Statistiken und Daten dazu fehlen (DW 7.3.2023). Mittlerweile sind die wirtschaftlichen Aktivitäten der Revolutionsgarden außerhalb des normalen Marktgeschehens jedoch so umfangreich, dass der Privatsektor in vielen Bereichen nicht mehr existiert (IRJ 1.2.2021).

Basij

Die Basij sind laut einem Iran-Experten die größte zivile Milizorganisation der Welt (TWI 5.1.2018) und sind ein wichtiger Teil des Sicherheitsapparats des Regimes (DIA 2019). Sie bilden ein Netzwerk aus Basij-Basen, Distrikten und Regionen. Die Basij-Basen sind aufgrund ihrer großen Sichtbarkeit (50.000 Standorte im gesamten Iran) das Rückgrat der Organisation an der Basis (TWI 5.1.2018). Die Basij haben unter anderem in Schulen und Universitäten Stützpunkte, wodurch die permanente Kontrolle der iranischen Jugend gewährleistet ist (ÖB Teheran 11.2021), und sind auch in Moscheen stationiert (DW 7.3.2023).

Die Basij haben spezialisierte Abteilungen für verschiedene Segmente der iranischen Gesellschaft (DIA 2019; vergleiche ABC News 13.10.2022), darunter die Schüler-Basij [basij-e danesh-amouzi], Studenten-Basij [basij-e daneshjouyi] oder die Arbeiter-Basij [basij-e karegaran], die ein Gegengewicht zu zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Gewerkschaften oder Studentenvereinigungen bilden sollen (USIP 6.10.2010). Der Sicherheitsapparat der Basij umfasst bewaffnete Brigaden, Aufstandsbekämpfungseinheiten und ein umfangreiches Netzwerk an Informanten (ABC News 13.10.2022), wobei der Geheimdienst der Revolutionsgarden auf Letzteres zurückgreifen kann (TWI 5.1.2018). Nicht alle Basij-Mitglieder sind an politischen Repressionen beteiligt. Dennoch verfügt die Organisation über mehrere Sicherheits- und Militäreinheiten, die sich aus aktiven oder freiwilligen Mitgliedern zusammensetzen (TWI 5.1.2018) und das Regime setzt eine ausgewählte Gruppe an Basij in Zivil für Sicherheitsagenden und zur "Kontrolle bei Massenansammlungen" ein (Kayhan 14.10.2022), d. h. zur gewaltsamen Unterdrückung von Demonstrationen, wobei diese Basij-Mitglieder bewaffnet sind. Sie spielten bei der Unterdrückung der Protestaktionen [ab September 2022] eine Schlüsselrolle (DW 7.3.2023). So wurde in Teheran während der Proteste 2022-2023 beispielsweise auf die Basij-Sondereinheit Fatehin zurückgegriffen (Posch/LVAk 1.2.2024). Sie gilt als die "eigentliche Miliz" der Basij. Mitglieder dieser Freiwilligen-Einheit wurden ab 2015 auch im syrischen Bürgerkrieg eingesetzt (Posch/LVAk 1.2.2024; vergleiche DIA 2019). Jedoch war auch die Studenten-Basij (auf Englisch Student Basij Organisation, SBO) in die gewaltsame Niederschlagung der Proteste an den Universitäten ab September 2022 involviert (NLM 20.4.2023; vergleiche IRINTL 22.5.2023).

Es gibt verschiedene Arten von Basij-Mitgliedern - nämlich allgemeine, reguläre, aktive und Spezialmitglieder (DIA 2019; vergleiche TWI 5.1.2018) - mit zunehmendem Fähigkeits- und Ausbildungsniveau, wobei die genauen Begriffe und Beschreibungen für diese Stufen variieren. Weiters gibt es noch eine Gruppe potenzieller Basij, die zwar keine formalen Mitglieder, aber Unterstützer der Islamischen Revolution sind und sich an Basij-Aktivitäten beteiligen. Während diese Gruppe, wie auch die allgemeinen und regulären Basij ehrenamtlich tätig sind, erhalten die aktiven und Spezial-Basij-Mitglieder neben einer umfangreicheren Ausbildung auch Gehälter. Die Spezial-Basij, die am besten ausgebildeten und erfahrensten Mitglieder, sind mit Vollzeit-Soldaten der Revolutionsgarden vergleichbar (DIA 2019). Die meist jungen Basij-Freiwilligen absolvieren dagegen normalerweise eine begrenzte Ausbildung, um als Hilfskräfte für die lokale Sicherheit zu dienen und die staatliche Kontrolle über die Gesellschaft durchzusetzen (IRINTL 1.7.2022). Alle Basij-Mitglieder, die über 15 Jahre alt sind, müssen als Teil ihres Dienstes ein zweimonatiges Militärtraining bei den Revolutionsgarden absolvieren (FP 30.1.2023). In die Basij einzu­treten eröffnet vielen jungen Menschen Perspektiven für Bildung und Beruf. Um von einer Mitgliedschaft in vollem Maße zu profitieren und dadurch in den Genuss von Krediten, kürzerem Wehr­dienst und besseren Berufsaussichten zu kommen, müssen spezielle Trainingsprogramme absolviert werden, die mindestens sechs Monate dauern (Zamirirad/SWP 19.4.2023).

Wichtigste Nachrichten- und Geheimdienste

Letzte Änderung: 26.06.2024

Iran hat insgesamt 16 nachrichtendienstliche Organisationen (DIA 2019). Die beiden wichtigsten Geheimdienste Irans sind das VAJA/MOIS und der Geheimdienst der Revolutionsgarden (englischsprachiges Akronym: IRGC-IO) [sāzmān-e ettelā’āt-e sepāh-e pāsdārān-e enqelāb-e eslāmī] (USIP 17.2.2023; vergleiche DIA 2019). Weitere Nachrichtendienste sind bei der regulären Armee (Artesh) und der Strafverfolgungsbehörde angesiedelt. Die Revolutionsgarden verfügen auch über eine eigene Spionageabwehr-Organisation (IRGC-CIO) (DIA 2019).

Der Leiter des MOIS hat einen Kabinettsposten inne und ist dem Präsidenten verantwortlich. Der Geheimdienst der Revolutionsgarden fällt dagegen unter die militärische Befehlskette und untersteht direkt dem Obersten Führer (USIP 17.2.2023; vergleiche DIA 2019). Laut dem Iran-Experten Walter Posch ist die Organisation nur nominell und aus historischen Gründen Teil der Revolutionsgarden, in Wirklichkeit ist sie ein eigenständiger Dienst (Posch/Chatham 5.5.2023). Die verzweigten Nachrichtendienststrukturen sollen auch dafür sorgen, dass keiner der Dienste zu mächtig wird (DIA 2019).

Der zivile Nachrichtendienst MOIS (DIA 2019) ist mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, Gegenspionage und der Beobachtung religiöser und illegaler politischer Gruppen beauftragt. Aufgeteilt ist dieser in den Inlandsgeheimdienst, Auslandsgeheimdienst und den technischen Aufklärungsdienst. Der Inlandsgeheimdienst beobachtet die politische Opposition und übt Druck auf diese aus (AA 30.11.2022). Eine Einheit, die dem MOIS zuarbeitet, ist die Herasat (sāzmān-e herāsat-e koll-e keshvar). Sie hat in allen Zivilorganisationen und Universitäten Zweige zur Identifizierung von Sicherheitsbedrohungen für das Regime (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021; vergleiche TWI 5.1.2018). Die IRGC-IO wurde im Zuge der Proteste des Jahres 2009 gegründet (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021) und ist der wichtigste militärische Nachrichtendienst Irans (DIA 2019). Die Missionen des MOIS und der IRGC-IO überlappen sich deutlich (USIP 17.2.2023; vergleiche Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021, DIA 2019), da beide Institutionen umfangreiche Aufgabenbereiche haben (USIP 17.2.2023). Die Hauptaufgabe des MOIS wie der IRGC-IO ist es, die Islamische Republik an der Macht zu halten. Die Überwachung von Dissidenten im In- und Ausland und die Unterdrückung organisierter Opposition sind wichtige Aufgabenfelder beider Dienste (USIP 17.2.2023).

Das MOIS ist z. B. laut dem Verfassungsschutz der Bundesrepublik Deutschland der Hauptakteur iranischer Nachrichtendienstaktivitäten in Deutschland. In seinem Fokus stehen insbesondere iranische Oppositionsgruppen. Darüber hinaus sind auch die geheimdienstlich agierenden Quds-Kräfte in Deutschland aktiv (BMIH/BfV 20.6.2023). Der Tradition großer Nachrichtendienste folgend, unterhält Iran an ausgewählten Botschaften „Legalresidenturen“ (nachrichtendienstliche Stützpunkte), so auch in Wien. Irans Botschaft in der Bundeshauptstadt gilt als bedeutende Einrichtung zur Tarnung von Nachrichtendienstmitarbeitern und als wichtige Steuerungszentrale iranischer Nachrichtendienstaktivitäten in Europa (BMI/DSN 17.5.2024). Bei ihren Operationen im westlichen Ausland stützen sich die iranischen Nachrichten- und Geheimdienste auch auf Dritte, wie zum Beispiel Kriminelle (WP 1.12.2022a).

Behörden zur Überwachung von Internetaktivitäten

Letzte Änderung: 26.06.2024

Zur Überwachung des Internets wurde der "Hohe Rat für den Cyberspace" gegründet. Er setzt sich aus hochrangigen Militärs und Politikern zusammen (DlF 26.9.2022; vergleiche RSF o.D.a). Dem Innenministerium unterstellt ist darüber hinaus die Cyberpolizei (polīs-e fazā-ye toulīd va tabādol-e ettelā’āt - FATA), wortwörtlich die "Polizei für virtuellen Raum und Informationsaustausch" (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021), die auf der EU-Menschenrechtssanktionsliste steht. Sie beschäftigt sich mit Internetkriminalität, speziell Wirtschaftskriminalität, Betrugsfälle, Verletzungen der Privatsphäre im Internet sowie der Beobachtung von Aktivitäten in sozialen Netzwerken und sonstigen politisch relevanten Äußerungen im Internet (AA 30.11.2022). Die Ausforschung von Verkäufern von Virtual Private Network (VPN)-Zugängen zählt ebenfalls zu den Aufgaben der FATA (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Nach eigenen Angaben beschäftigt die FATA rund 42.000 Freiwillige, die Aufgaben bei der Überwachung des virtuellen Raums sowie bei der Erstellung und Bewerbung von Inhalten übernehmen (Medium 18.2.2019; vergleiche Landinfo 9.11.2022). Das Aufgabenfeld der FATA überlappt sich mit jenem des Zentrums zur Überwachung Organisierter Kriminalität (markaz-e barrasī-ye jarā’em-e sāzmān-yāfteh - CIOC) und dem Cyberverteidigungskommando der Revolutionsgarden (qarārgāh-e defā’-e sāiberī). Diese beschäftigen sich jedoch in stärkerem Ausmaß mit Fragen der nationalen Sicherheit, wie zum Beispiel der Verbreitung von Onlinematerial kurdischer Parteien und politischer Bewegungen, oder der Verbreitung des christlichen Glaubens in den sozialen Medien. Die FATA beschäftigt sich demgegenüber eher mit "einfachen" Verbrechen, darunter auch Sittenverbrechen (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Unter anderem überwacht sie beispielsweise die Inhalte von als apolitisch wahrgenommenen Influencerinnen in den sozialen Medien bezüglich der Einhaltung der Hijab-Pflicht (Medium 18.2.2019). Darüber hinaus spielen auch die Basij eine Rolle bei der Überwachung von Internetaktivitäten (Landinfo 9.11.2022). Laut einem mit diesem Thema befassten Experten konzentrieren sich die bestehenden Überwachungskapazitäten Teherans derzeit vor allem auf die Überwachung einfacher Bürger, einschließlich politischer Aktivisten und Oppositioneller, und weniger auf die Abwehr von Cyberangriffen aus dem Ausland (Khorrami/TWI 29.3.2024).

Reguläre Armee (Artesh)

Letzte Änderung: 18.06.2024

Das reguläre Militär (Artesh) wird in erster Linie entlang der iranischen Grenzen eingesetzt, um Invasionstruppen abzuwehren (CRS 26.1.2024; vergleiche AA 30.11.2022) und erfüllt Aufgaben der Gebäudesicherung (AA 30.11.2022). Es verfügt (wie die Revolutionsgarden) über Land-, Luft- und Seestreitkräfte (CRS 26.1.2024; vergleiche DIA 2019).

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 26.06.2024

Die iranische Verfassung verbietet die Verletzung der Würde und des Ansehens von Personen, die festgenommen, inhaftiert, eingesperrt oder verbannt werden (UNHRC 19.3.2024), und das Erzwingen von Geständnissen durch Härte oder Folter ist durch die Verfassung verboten. Diese Geständnisse gelten vor Gericht als unzulässig. Artikel 171 des islamischen Strafgesetzbuchs (IStGB) sieht jedoch vor, dass ein Geständnis allein als Grundlage für eine Verurteilung verwendet werden kann, unabhängig von anderen verfügbaren Beweisen (UNHRC 9.2.2024), und die Verfassung enthält kein absolutes Verbot von Folter oder Misshandlung, da sie die Definition von Folter auf Handlungen einschränkt, die "zum Zweck der Erzwingung eines Geständnisses oder der Erlangung von Informationen" erfolgen. Darüber hinaus verbietet die iranische Gesetzgebung zwar bestimmte Arten von missbräuchlichem Verhalten bei Verhören, enthält jedoch keine ausdrückliche Definition des Straftatbestands der Folter und verhindert somit eine angemessene Ahndung entsprechender Vergehen (UNHRC 19.3.2024).

Psychische und physische Folter sowie unmenschliche Behandlung bei Verhören und in Haft, insbesondere in politischen Fällen, sind durchaus üblich (AA 30.11.2022; vergleiche USDOS 23.4.2024). Folter wurde besonders gegen Personen eingesetzt, denen Vergehen gegen die nationale Sicherheit, politische Vergehen oder Drogenvergehen vorgeworfen werden (UNHRC 9.2.2024). Folter wird in politischen Fällen nicht nur geduldet, sondern mitunter angeordnet (AA 30.11.2022). Laut Amnesty International wird Folter in Iran systematisch eingesetzt (AI 24.4.2024).

Ziel der Folter sind einerseits Geständnisse, auf die das iranische Justizsystem stark angewiesen ist (IrWire 17.2.2023; vergleiche AA 30.11.2022). Ehemalige Gefangene berichten, dass sie während der Haft geschlagen und gefoltert wurden, bis sie Verbrechen gestanden haben, die von Vernehmungsbeamten diktiert wurden (FH 2024). Andererseits dient die systematische und weitverbreitete Anwendung von Folter der Abschreckung. Das dritte Motiv für die Folter, das mit zuvor genanntem verbunden ist und ausschließlich für politische Gefangene gilt, ist die öffentliche Zurschaustellung von gebrochenen Persönlichkeiten. Die Folterung von politischen Gegnern mit dem Ziel, falsche Geständnisse zu erlangen und diese öffentlich zu verbreiten, ist eine Botschaft an die Gesellschaft, dass die Regierung jeden Widerstand niederschlagen kann (IrWire 17.2.2023; vergleiche AA 30.11.2022). Das Staatsfernsehen ist dafür bekannt, dass es Geständnisse von politischen Gefangenen ausstrahlt, die unter Zwang bzw. Folter oder anderen Misshandlungen erpresst wurden (FH 2024; vergleiche AI 18.1.2024).

Zahlreiche Berichte legen nahe, dass Mahsa Jina Amini, deren Tod weitverbreitete Proteste auslöste, vor ihrem Tod in Gewahrsam der Sittenpolizei geschlagen worden war, darunter auch auf den Kopf (UNGA 6.10.2023). Die Sicherheitskräfte unterdrückten die im September 2022 nach Aminis Tod im ganzen Land ausgebrochenen Proteste u. a. mit rechtswidriger Tötung, Folter, sexuellen Übergriffen und dem gewaltsamen Verschwindenlassen von Demonstranten, darunter auch Frauen und Kinder (HRW 11.1.2024a; vergleiche AI 12.2023). Folter und Misshandlungen begannen häufig unmittelbar nach der Festnahme und setzten sich während der Verbringung in Haftanstalten sowie in Polizeistationen, Haftanstalten des Geheimdienstministeriums (MOIS) oder der Revolutionsgarden und Gefängnissen fort. Die meisten Verstöße ereigneten sich in der ersten Zeit der Inhaftierung, insbesondere während der Verhöre. Die schlimmste Gewalt, einschließlich Vergewaltigung und anderer Formen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, wurde in inoffiziellen Haftanstalten der Revolutionsgarden und des MOIS verübt (UNHRC 19.3.2024).

Im Rahmen der Protestniederschlagung starben laut Menschenrechtsorganisationen mindestens 37 Protestteilnehmer an den Folgen von Folter, 23 Demonstranten starben kurz nach ihrer Entlassung (UNHRC 19.3.2024). Laut einer Untersuchung von IranWire [Anm.: regimekritische Nachrichtenorganisation] lassen sich die Todesursachen von Gefangenen oder vor Kurzem aus der Haft Entlassenen, darunter auch Protestteilnehmern, in folgende Hauptkategorien unterteilen: 1. verweigerte medizinische Behandlung; 2. unmittelbare Zufügung extremer und qualvoller körperlicher Verletzungen; 3. unmittelbare Zufügung extremer und qualvoller mentaler und emotionaler Schäden. Die Ursache für den Tod von Gefangenen kurz nach der Entlassung ist in den meisten Fällen Selbstmord, der auf die Haftbedingungen oder die Angst vor einer Rückkehr in diese Bedingungen zurückzuführen ist (IrWire 17.2.2023).

Folter wird sowohl seitens der Polizei, im parallelen System der Basij/Pasdaran als auch in Gefängnissen angewandt (ÖB Teheran 11.2021). Fälle von Folter wie auch Todesfälle aufgrund von Gewaltanwendung wurden überdies in verschiedenen Prozessstadien verzeichnet, beispielsweise während Voruntersuchungen und in Haftzentren (UNHRC 13.1.2022). Menschenrechtsorganisationen verwiesen regelmäßig auf mehrere Haftanstalten, in denen politische Gegner grausam und über längere Zeit gefoltert wurden, insbesondere auf die Abteilungen Nr. 209 und Nr. 2 des Evin-Gefängnisses, die Berichten zufolge von den Revolutionsgarden kontrolliert werden. Die Behörden unterhalten angeblich auch inoffizielle Geheimgefängnisse und Haftanstalten außerhalb des staatlichen Gefängnissystems, in denen es zu Misshandlungen kommt (USDOS 23.4.2024).

Straflosigkeit ist nach wie vor ein weitverbreitetes Problem bei allen Sicherheitskräften (USDOS 23.4.2024).

Gerichte verhängen weiterhin körperliche Strafen, wie zum Beispiel Auspeitschungen. Blendung, Steinigung und Amputation. Diese gelten als legale Strafmaßnahmen. 2023 wurde jedoch von keinen Fällen berichtet, in denen diese Strafen verhängt wurden (USDOS 23.4.2024). Bei Delikten, die im Widerspruch zu islamischen Grundsätzen stehen, können jederzeit Körperstrafen ausgesprochen und auch exekutiert werden. Bereits der Besitz geringer Mengen von Alkohol kann zur Verurteilung zu Peitschenhieben führen (eine zweistellige Zahl an Peitschenhieben ist dabei durchaus realistisch). Die häufigsten Fälle, für welche die Strafe der Auspeitschung durchgeführt wird, sind illegitime Beziehungen, außerehelicher Geschlechtsverkehr, Teilnahme an gemischt-geschlechtlichen Veranstaltungen, Drogendelikte und Vergehen gegen die öffentliche Sicherheit. Auch werden Auspeitschungen zum Teil öffentlich vollstreckt (ÖB Teheran 11.2021).

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 19.06.2024

Die iranische Verfassung (IRV) vom 15.11.1979 enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog. Der Generalvorbehalt des Einklangs mit islamischen Prinzipien des Artikel 4, IRV lässt jedoch erhebliche Einschränkungen zu. Der im Jahr 2001 geschaffene "Hohe Rat für Menschenrechte" untersteht unmittelbar der Justiz. Das Gremium erfüllt allerdings nicht die Voraussetzungen der 1993 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten "Pariser Prinzipien" (AA 30.11.2022).

Iran zählt zu den Ländern mit einer anhaltend beunruhigenden Menschenrechtslage, insbesondere der politischen und bürgerlichen Rechte, wobei sich der Spielraum für zivilgesellschaftliches Engagement im Menschenrechtsbereich in den letzten Jahren erheblich verengt hat (ÖB Teheran 11.2021). Der iranische Staat verstößt regelmäßig gegen die Menschenrechte nach westlicher Definition, jedoch auch immer wieder gegen die islamisch definierten (GIZ 2020). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder die islamische Grundsätze infrage stellt. Dies ist besonders ausgeprägt bei Gruppierungen, welche die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weit gefasste Straftatbestände vergleiche Artikel 279 bis 288 IStGB) sowie Staatsschutzdelikte (insbesondere Artikel eins bis 18 des 5. Buches des IStGB). Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der Islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, laufen Gefahr der Spionage beschuldigt zu werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niedrigschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv (AA 30.11.2022).

Meinungs- und Pressefreiheit, Internet

Letzte Änderung: 26.06.2024

Die Verfassung sieht das Recht auf freie Meinungsäußerung vor, auch für Mitglieder der Presse und anderer Medien, es sei denn, etwas wird als "schädlich für die Grundprinzipien des Islam oder die Rechte der Öffentlichkeit" angesehen (USDOS 23.4.2024; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). In der Praxis sehen sich Meinungs- und Pressefreiheit mit starken Einschränkungen konfrontiert (AA 30.11.2022; vergleiche HRW 11.1.2024a), sowohl online als auch offline (FH 2024). Die Gesetzgebung sieht die strafrechtliche Verfolgung von Personen vor, die der Anstiftung zu Straftaten gegen den Staat oder die nationale Sicherheit oder der "Beleidigung" des Islam beschuldigt werden. Die Regierung nutzt Gesetze, um Personen, welche die Regierung direkt kritisieren oder Menschenrechtsprobleme ansprechen, einzuschüchtern oder strafrechtlich zu verfolgen, sowie um normale Bürger zur Einhaltung des Moralkodex der Regierung zu zwingen (USDOS 23.4.2024).

Zugang zu Informationen

Für Funk- und Fernsehanstalten besteht ein staatliches Monopol (AA 30.11.2022; vergleiche Landinfo 9.11.2022). Der Empfang ausländischer Satellitenprogramme ist ohne spezielle Genehmigung untersagt, wenngleich weit verbreitet (AA 30.11.2022). Satellitenschüsseln sind verboten, und Übertragungen in persischer Sprache aus dem Ausland werden regelmäßig gestört (sogenanntes Jamming). Die Polizei führt zeitweise Razzien in Privathäusern durch und beschlagnahmt Satellitenschüsseln (FH 2024).

Mit Stand Jänner 2023 nutzten beinahe 80 % der Bevölkerung das Internet (FH 4.10.2023), wobei mehr als 60 % des Internetverkehrs über mobiles Internet läuft (RSF 5.10.2022). Seit 2009 haben die Behörden erhebliche Mittel in den Ausbau der Infrastruktur, aber auch in die Kontrolle ihrer Nutzung investiert (Landinfo 9.11.2022). Die Investitionen der Regierung in die IKT-Infrastruktur im Rahmen des National Information Network (NIN - auf Farsi: SHOMA (Medium 3.10.2019)) haben die Internetanbindung ländlicher Gebiete verbessert und die Kluft zwischen Stadt und Land etwas verringert, auch wenn die Preise weiterhin hoch sind (FH 4.10.2023). Die Telekommunikationsfirma, die den Internetverkehr nach und aus Iran kontrolliert, befindet sich in Besitz der Revolutionsgarden (Landinfo 9.11.2022). Mit dem NIN haben die iranischen Behörden eine lokalisierte Internetarchitektur aufgebaut. Damit sind die Behörden in der Lage, die Verbindungen zum globalen Internet zu kappen und gleichzeitig die inländischen Dienste online zu halten. Über das NIN soll eine "mehrschichtige" oder "abgestufte" Internetstruktur eingeführt werden, bei der bestimmte Personengruppen Zugang zum globalen Internet haben, während der Rest auf das inländische Netz angewiesen ist. Die Umsetzung würde die Zensur- und Überwachungsmöglichkeiten der Regierung erweitern, da ein Großteil der Bevölkerung gezwungen wäre, inländische Apps und Plattformen zu nutzen, die nur schwache Datenschutz- und Sicherheitsfunktionen bieten. Behördenangaben zum Entwicklungsstand des NIN waren in der Vergangenheit umstritten (FH 4.10.2023). Laut einem führenden Cloud-Service-Anbieter weltweit hat der Internetverkehr aus Iran in den vergangenen zwei Jahren merklich abgenommen, was auf eine zunehmende Isolierung des iranischen Netzwerks hindeutet (IRINTL 17.4.2024).

Die Regierung versucht auch, Internetnutzer mittels Preisanreizen zur Nutzung nationaler Plattformen zu bewegen (FH 4.10.2023; vergleiche Filterwatch 27.1.2023). Beispielsweise sind die Tarife zum Abrufen der Videoplattform Aparat, die Youtube ähnelt (FH 4.10.2023), oder bei Nutzung iranischer Apps günstiger. Nutzer sind auch gezwungen, iranische Messaging-Apps wie Rubika, Bale, Gap, Eita und Soroush herunterzuladen, um Zugang zu bestimmten Diensten wie E-Government und Bankfunktionen zu erhalten (Filterwatch 27.1.2023). Diese Apps und Dienste sind anfälliger für staatliche Kontrolle, sie können den Zugriff auf Daten und die Überwachung von Nutzern und Inhalten ermöglichen (Filterwatch 27.1.2023; vergleiche FH 4.10.2023).

Alle wichtigen Social-Media-Plattformen, darunter Instagram, Twitter, YouTube und Telegram, sind in Iran zusammen mit Tausenden von Websites verboten, erfreuen sich aber nach wie vor großer Beliebtheit bei Dutzenden von Millionen von Nutzern - was diese seit Jahren dazu veranlasst, auf Umgehungstools wie VPNs [Virtual Private Networks] zurückzugreifen, um sie abzurufen (AJ 24.2.2024; vergleiche Landinfo 9.11.2022). Im Zuge der Repressionen gegen die Proteste ab September 2022 nahm die Regierung u. a. auch VPNs ins Visier (RSF 5.10.2022). Ihr Kauf und Verkauf wurde 2022 verboten. Mit einer Direktive vom Februar 2024 soll nun auch ihre Nutzung ohne Genehmigung illegal werden (AJ 24.2.2024; vergleiche IrWire 20.2.2024).

Auch wenn die iranische Presselandschaft bislang eine gewisse Bandbreite unterschiedlicher Positionen innerhalb des politischen Spektrums widergespiegelt hat, ist mit der Amtsübernahme der ultrakonservativen Regierung eine deutlich strengere Berichterstattung auf Regimelinie feststellbar. Geprägt wird die Presse ohnehin von einer Vielzahl höchst wandelbarer, da nicht schriftlich fixierter "roter Linien" des Revolutionsführers, die in erheblichem Maß zu Selbstzensur führen. Bei Verstößen drohen Sanktionen bis hin zum Verbot von Zeitungen (AA 30.11.2022). Der staatliche Rundfunk wird von Hardlinern streng kontrolliert und vom Sicherheitsapparat beeinflusst. Nachrichten und Analysen werden stark zensiert, wobei das staatliche Fernsehen für die iranische Bevölkerung eine wichtige Informationsquelle ist (FH 2024). Zensur und Überwachung sind umfassend. Es wurde eine Cyberpolizei eingerichtet, und auch mehrere andere Regierungsbehörden haben Aufgaben im Zusammenhang mit der Überwachung des Internets und der sozialen Medien (Landinfo 9.11.2022).

Verfolgung von Journalisten und Künstlern, akademische Freiheit

Nach dem Gesetz wird jeder, der in irgendeiner Form "Propaganda" gegen die Islamische Republik Iran oder zur Unterstützung oppositioneller Gruppen und Vereinigungen betreibt, mit drei Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft [Anm.: Bei Verurteilungen z. B. wegen "Gefährdung der nationalen Sicherheit" oder "Korruption auf Erden" fallen höhere Strafen an] (USDOS 23.4.2024), wobei "Propaganda" nicht definiert ist. Zeitungen und Medien sind daher stets der Gefahr ausgesetzt, bei unliebsamer Berichterstattung geschlossen zu werden. Dies gilt auch für Regimemedien. Oft werden in diesem Zusammenhang die Zeitungsherausgeber verhaftet. Mitarbeiter von ausländischen Presseagenturen (insbesondere kritische farsisprachige Medien wie BBC, DW oder Voice of America) sowie unabhängige Journalisten sind Berichten zufolge oft mit Verzögerungen bei der Gewährung der Presselizenz durch die iranischen Behörden, Verhaftungen, körperlicher Züchtigung (ÖB Teheran 11.2021) sowie Einschüchterung ihrer Angehörigen konfrontiert (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche BBC 12.1.2023; vergleiche FAZ 28.11.2023). Unter anderem wurde auch von Einschüchterungsversuchen und Drohungen gegen Journalisten in Großbritannien berichtet (Guardian 18.12.2023), darunter ein Mordkomplott gegen zwei bekannte Fernsehmoderatoren eines exiliranischen Senders (Guardian 30.1.2024).

Infolge der Mitte September 2022 ausgebrochenen landesweiten Proteste hat der Druck auf Journalistinnen und Journalisten weiter zugenommen (AA 30.11.2022). Es kam zu einer Welle an Festnahmen und Verhaftungen iranischer Medienschaffender, die über den Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini und die darauffolgenden Proteste berichtet hatten (AA 30.11.2022; vergleiche FH 2024). Die Journalistinnen Elahe Mohammadi und Niloofar Hamedi, die dazu beigetragen hatten, die Geschichte von Aminis Tod zu verbreiten, wurden im Oktober 2023 mittels konstruierter Anschuldigungen, darunter wegen "Kollaboration mit der feindlichen Regierung der Vereinigten Staaten" zu 12 bzw. 13 Jahren Gefängnis verurteilt (FH 2024).

Reporter ohne Grenzen bezeichnet Iran als eines der repressivsten Länder weltweit in Hinblick auf die Pressefreiheit. Nach der umfangreichen Protestwelle ab September 2022 ist Iran eines der Länder mit den meisten eingesperrten Journalisten weltweit. 2024 belegt das Land mit einem Wert von 21,3 Rang 176 von 180 im Pressefreiheitsindex der Organisation [Anm.: je höher der Rang, desto geringer die Pressefreiheit] (RSF o.D.b).

Ebenso unter Druck stehen Künstler, vor allem dann, wenn ihre Kunst als "unislamisch" oder regimekritisch angesehen wird, oder sie ihre Filme an ausländische Filmproduktionsfirmen verkaufen oder auch nur im Ausland aufführen (dies unterliegt einer Genehmigungspflicht). Über zahlreiche Künstler wurden Strafen wegen zumeist "regimefeindlicher Propaganda" und anderen Anschuldigungen verhängt. Viele sind regelmäßig in Haft bzw. zu langjährigen Tätigkeits- und Interviewverboten verurteilt (ÖB Teheran 11.2021). Auch Künstler, die die Protestbewegung deutlich unterstützten, sahen sich Repressalien, Verhaftungen und Strafverfolgung ausgesetzt. Die Behörden haben Dutzende von hochrangigen Schauspielern ins Visier genommen, welche die Proteste unterstützten (HRW 11.1.2024a).

Die akademische Freiheit ist weiterhin eingeschränkt. Der Oberste Führer Khamenei hat davor gewarnt, die Universitäten in Zentren für politische Aktivitäten zu verwandeln. Universitätsprofessoren wurden in großer Zahl entlassen, weil sie die Proteste "Frau, Leben, Freiheit" unterstützten oder aus anderen politischen Gründen. Laut Berichten des Center for Human Rights in Iran (CHRI) vom September 2023 wurden mindestens 26 Professoren wegen ihrer offensichtlichen Unterstützung der Proteste "Frau, Leben, Freiheit" entlassen. Im August 2023 berichtete die Zeitung Etemad, dass seit der Machtübernahme von Präsident Raisi mindestens 110 Akademiker entlassen wurden; Berichten zufolge wurden sie durch Personen ersetzt, die dem Establishment näher stehen. Seit Raisi Präsident ist, berichten Studierende von strengeren Beschränkungen, einschließlich strengerer Vorschriften für das Tragen des Hijabs. Im Rahmen ihrer Bemühungen, die landesweiten Proteste, die 2022 begannen, zu unterdrücken, haben die Behörden Razzien auf Universitätsgeländen durchgeführt und Studenten verhaftet. Zwischen November 2022 und März 2023 kam es zu Vergiftungsfällen von über 1.200 Schülerinnen an fast 100 Schulen, von denen vermutet wird, dass die Urheber möglicherweise religiöse Extremisten oder Anhänger des Regimes waren, um Vergeltung für die Teilnahme der Schülerinnen an der Protestbewegung "Frau, Leben, Freiheit" zu üben [Anm.: s. dazu auch Kap. Kinder] (FH 2024).

Meinungsfreiheit und Zensur im Internet

Die regimekritische Debatte findet weitgehend in den sozialen Medien statt. Für illegale Oppositionsparteien ist das Internet der bevorzugte Kanal für den Informationsaustausch (Landinfo 9.11.2022). Die sozialen Medien waren ein wichtiger Bestandteil der Protestbewegung seit Mitte September 2022 und werden zur Mobilisierung wie auch zur Verbreitung der Protestbotschaften verwendet (DW 15.11.2022). Irans vage definierte Redebeschränkungen, harte strafrechtliche Sanktionen und die staatliche Überwachung der Online-Kommunikation gehören zu den Faktoren, welche die Bürgerinnen und Bürger davon abhalten, sich an offenen und freien privaten Diskussionen zu beteiligen. Trotz der Risiken und Einschränkungen äußern viele ihre abweichende Meinung in den sozialen Medien und umgehen in einigen Fällen die offiziellen Sperren auf bestimmten Plattformen (FH 2024).

Im November 2019 verhängten die Behörden zum ersten und bislang einzigen Mal eine landesweite, fast vollständige Abschaltung des Internets für mindestens sieben Tage. Die Entscheidung, das Land vom weltweiten Internet zu trennen, wurde vom Nationalen Sicherheitsrat nach einer Protestwelle getroffen, die durch die plötzliche Ankündigung einer erheblichen Erhöhung der Treibstoffpreise ausgelöst worden war. Örtlich begrenzte Internetabschaltungen werden häufig eingesetzt, um Proteste zu unterbinden und eine genaue Berichterstattung über Demonstrationen zu verhindern, so auch mehrfach bei den Protesten nach dem Tod von Mahsa Amini im September 2022 in den Provinzen Kurdistan, Khuzestan sowie Sistan und Belutschistan (FH 4.10.2023). Auch kam es zu Drosselungen der Internetgeschwindigkeit (USDOS 23.4.2024; vergleiche NatGeo 17.10.2022). Die Behörden haben im Rahmen der Niederschlagung der Proteste auch den Zugang zu WhatsApp und Instagram blockiert und VPNs wie auch Proxy-Server gefiltert (FH 4.10.2023).

Der Internetverlauf kann "gefiltert" bzw. mitgelesen werden. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen "Cyberkrieg" gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (AA 30.11.2022). Der Staat überwacht soziale Medien auf Aktivitäten, die er für illegal hält. Die Cyberpolizei FATA hat unter anderem die Aufgabe, soziale Medien im Rahmen der Bekämpfung der Cyberkriminalität zu überwachen und zu verfolgen. Im Mai 2020 kündigte die FATA an, dass das Nichttragen des Hijabs im Internet als Straftat gilt und Zuwiderhandlungen strafrechtlich verfolgt werden. Mehrere Frauen wurden verhaftet, weil sie Fotos oder Videos, in denen sie unverschleiert zu sehen sind, ins Internet gestellt hatten. Das Regime ergriff drakonische Maßnahmen zur Bestrafung von Online-Nutzern, und mehrere Personen wurden wegen ihrer Online-Inhalte vom Regime zum Tode verurteilt oder hingerichtet, beispielsweise im Mai 2023 zwei Männer wegen atheistischer Inhalte auf Telegram-Kanälen (FH 4.10.2023). Nach Beginn der Massenproteste im September 2022 verhafteten die Behörden Tausende von Menschen, darunter Prominente, Menschenrechtsaktivisten und andere, die ihre Unterstützung für die Bewegung durch Beiträge in den sozialen Medien oder durch die öffentliche Missachtung der Hijab-Vorschriften, die zu Aminis Verhaftung und Tod geführt hatten, zum Ausdruck gebracht hatten. Die Revolutionsgarden forderten die Justiz auf, jeden strafrechtlich zu verfolgen, der "falsche Nachrichten und Gerüchte" verbreitet (FH 2024).

Abseits von Maßnahmen, wie der Überwachung von Inhalten im Internet (AA 30.11.2022) und der Drosselung der allgemeinen Internetgeschwindigkeit (NatGeo 17.10.2022), ist wenig über die konkrete Vorgehensweise der Behörden bei der Unterdrückung der Proteste bekannt. Es wird vermutet, dass die Behörden ein Computersystem verwenden, das hinter den Kulissen der iranischen Mobilfunknetze arbeitet und den Betreibern eine breite Palette von Fernbefehlen zur Verfügung stellt, mit denen sie die Nutzung der Telefone ihrer Kunden verändern, stören und überwachen können, wie zum Beispiel die Datenverbindungen verlangsamen, die Verschlüsselung von Telefongesprächen knacken, die Bewegungen von Einzelpersonen oder großen Gruppen verfolgen und detaillierte Zusammenfassungen von Metadaten darüber erstellen, wer mit wem, wann und wo gesprochen hat (Intercept 28.10.2022). Ein Überwachungssystem, das auf Pickups nahe Universitäten und Protestzentren installiert wird und über das schon 2020 berichtet wurde, fängt beispielsweise Bluetooth-Übertragungen ab, um politische Aktivisten, Dissidenten und Demonstranten zu überwachen (Intel471 8.7.2020; vergleiche Khorrami/TWI 29.3.2024). Beobachterinnen der Proteste ab September 2022 berichteten, dass viele Demonstranten nicht auf den Straßen verhaftet wurden, sondern ein oder zwei Tage später zu Hause (Wired 10.1.2023). Iranische Mobiltelefonnutzer berichteten von SMS, die sie von lokalen Polizeistationen mit dem Hinweis erhalten haben, dass sie sich in einem "Unruhegebiet" aufgehalten hätten und dieses Gebiet nicht noch einmal aufsuchen oder nicht noch einmal mit "anti-revolutionären" Regierungsgegnern online in Verbindung treten sollten (Intercept 28.10.2022).

Das iranische Regime setzt auch eine "Cyber-Armee" ein (IrWire 5.6.2023), um Narrative in den sozialen Medien zu beeinflussen (NLM 5.9.2023 vergleiche IrWire 5.6.2023) und Desinformation zu verbreiten. Ziel der Desinformationskampagnen ist es dabei weniger, Personen vom eigenen Narrativ zu überzeugen, als Zweifel zu säen, sodass Internetnutzer schließlich gar keinen Quellen in den sozialen Medien - auch per se glaubwürdigen Personen - mehr vertrauen. Neben dem Stiften von Verwirrung ist die Diskreditierung und Unterminierung der Opposition ein wesentlicher Bestandteil der iranischen Cyberaktivitäten. Zum Teil geschieht das auch durch Hacking-Angriffe auf Oppositionsmitglieder (Wired 21.3.2023), wobei die Menschenrechtsorganisation Miaan Group im Jahr 2023 beispielsweise über 100 Phishing-Angriffe auf Journalisten, Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger inner- und außerhalb Irans dokumentierte. Vor allem Angehörige ethnischer Minderheiten wie der Kurden und Aserbaidschaner sowie Unterstützer der Proteste wurden dabei anvisiert (Filterwatch 27.11.2023). Die Diskreditierung von Oppositionellen geschieht auch durch falsche Konten in den sozialen Medien. Unterschiedliche Fraktionen der Opposition sollen so gegeneinander ausgespielt werden. Diese Bemühungen sind ebenfalls Teil einer umfassenderen Anstrengung, den Eindruck zu erwecken, dass niemand vertrauenswürdig und niemand glaubwürdig sei (Wired 21.3.2023). Im Jänner 2024 deckten "Cyber-Agenten" des Regimes laut der oppositionellen Nachrichtenseite Iran International zudem die Identitäten von Personen auf, die bislang anonym oppositionelle Social Media-Auftritte betrieben haben. Im Rahmen der Online-Kampagne wurden mehrere Personen verhaftet, was als eine breit angelegte Einschüchterungsaktion gegen Regimekritiker interpretiert wird (IRINTL 6.1.2024).

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Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

Letzte Änderung: 26.06.2024

In der Verfassung heißt es, dass öffentliche Demonstrationen zulässig sind, wenn sie "den Grundprinzipien des Islam nicht abträglich sind". In der Praxis sind i. d. R. nur staatlich genehmigte Demonstrationen erlaubt (FH 2024). Es besteht ein Genehmigungsvorbehalt für öffentliche Versammlungen. Demonstrationen der Opposition sind seit den Wahlen 2009 nicht mehr genehmigt worden, finden jedoch in kleinem Umfang statt (AA 30.11.2022). Die Sicherheitskräfte lösten in den letzten Jahren nicht genehmigte Versammlungen gewaltsam auf, nahmen Teilnehmer fest und wendeten tödliche Gewalt gegen sie an (FH 2024). Demgegenüber stehen Demonstrationen systemnaher Organisationen, zu deren Teilnahme Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung sowie Schüler und Studierende teilweise verpflichtet werden (AA 30.11.2022).

Proteste gegen das Regime fanden in der Islamischen Republik Iran in der Vergangenheit immer wieder statt. Die [bis zu den Protesten ab Mitte September 2022] größte Protestwelle wurde durch den massiven Betrug bei den Präsidentschaftswahlen 2009 ausgelöst und brachte Millionen von Menschen auf die Straße, bis die Behörden gegen die Führer der sogenannten Grünen Bewegung, Mir Hossein Mousavi und Mehdi Karroubi, vorgingen. 2019 fanden weitreichende Proteste statt, nachdem die Regierung beschlossen hatte, die Benzinpreise zu erhöhen (TWI 28.9.2022). Die iranischen Sicherheitsbehörden setzten zur Unterdrückung der Proteste auch tödliche Gewalt ein, darunter scharfe Munition, die wahllos auf Demonstranten abgefeuert wurde (DIS 1.7.2020). 2021 gab es Proteste von Arbeitnehmern, Rentnern und Landwirten in Bezug auf Löhne, Arbeitsplatzsicherheit und das Recht auf kollektive Organisierung (UNHRC 13.1.2022) sowie in der Provinz Khuzestan Proteste aufgrund mangelnden Zugangs zu Wasser (HRW 22.7.2021). Letztere wurden gewaltsam niedergeschlagen (HRW 22.7.2021; vergleiche UNHRC 13.1.2022). Nach dem Tod einer 22-jährigen Frau Mitte September 2022, die von den Sicherheitsbehörden aufgrund angeblich unangemessener Kleidung in Gewahrsam genommen worden war, kam es in Iran zu den größten Protesten seit Jahren. Sie wurden von den iranischen Behörden ebenfalls gewaltsam niedergeschlagen [Anm.: s. das Unterkapitel Protestwelle 2022/2023 für ausführliche Informationen] (EN 1.2.2023; vergleiche Guardian 17.2.2023).

Gewerkschaftliche Aktivitäten, politische Parteien und Opposition

In Iran gibt es ausführliche Vorschriften zur Arbeitnehmerorganisation und -vereinigung. Diese rechtlichen Grundlagen institutionalisieren ein schwaches System der Arbeitnehmervertretung, das geltende Arbeitsrecht schränkt die Vereinigungsfreiheit stark ein. Jede Firma oder Berufsgruppe darf nur eine einzige Gewerkschaft bilden. Diese Organisationen sind schwach und existieren hauptsächlich auf lokaler Betriebs- oder Bezirksebene. Formelle Gewerkschaftsorganisationen bleiben mit marginalisierten reformistischen Fraktionen in der iranischen Politik verbunden, die unter Präsident Raisi von der politischen Einflussnahme weitgehend ausgeschlossen sind. Neben den formellen Gewerkschaftsorganisationen bestehen in Iran auch zahlreiche unabhängige Gewerkschaftsinitiativen. Aufgrund staatlicher Repression sind diese Initiativen jedoch oft lokal begrenzt und nur von kurzer Dauer (FES 3.2024). Es gibt keine Betätigungsmöglichkeit für unabhängige Gewerkschaften (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche FH 2024), nur staatlich geförderte Arbeitsräte sind erlaubt. Arbeitnehmerrechtsgruppen sind in den letzten Jahren unter Druck geraten (FH 2024). Führende Vertreter und Aktivisten wurden aufgrund von Anschuldigungen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit zu Haftstrafen verurteilt (FH 2024; vergleiche AA 30.11.2022).

Zusätzlich zu den oben genannten Beschränkungen bei der Gewerkschaftsbildung bestehen klare De-jure-Beschränkungen für das Streikrecht und das Recht auf kollektive Verhandlungen. Obwohl beides formell erlaubt ist, machen umfangreiche Anforderungen an Schlichtung und Streikverfahren diese Rechte in der Praxis unpraktikabel. Gleichzeitig toleriert die Regierung informell Streiks und stellt sich während der Streikaktionen oft auf die Seite der Arbeitnehmer. Diese werden wegen ihrer Beteiligung an Streiks nur selten rechtlich verfolgt. Im Gegensatz dazu sehen sich unabhängige Formen der Arbeitnehmerorganisation, längerfristige und "nicht spontane" Formen des Streiks sowie Proteste mit politischen Forderungen einer systematischen staatlichen Unterdrückung gegenüber (FES 3.2024). Streikende Arbeitnehmer können von Entlassung und Verhaftung bedroht sein. Trotz solcher Repressalien haben die Arbeiterproteste in den letzten Jahren aufgrund der wachsenden wirtschaftlichen Not zugenommen (FH 2024).

Die Verfassung lässt die Gründung politischer Parteien, von Berufsverbänden oder religiösen Organisationen so lange zu, als sie nicht gegen islamische Prinzipien, die nationale Einheit oder die Souveränität des Staates verstoßen und nicht den Islam als Grundlage des Regierungssystems infrage stellen (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche FH 2024). Hinzu kommen immer wieder verhängte, drakonische Strafen aufgrund diffuser Straftatbestände ("regimefeindliche Propaganda", "Beleidigung des Obersten Führers" etc.) (ÖB Teheran 11.2021). Es gibt zwar politische Parteien und Gruppierungen (BS 19.3.2024; vergleiche MEHR 10.2.2024), aber sie stehen nicht im Mittelpunkt des politischen Prozesses. Insbesondere dienen sie nicht als Drehscheibe für die politische Willensbildung, die Einbeziehung von Forderungen der Bevölkerung in den politischen Prozess, die Umsetzung von Maßnahmen, die Kontrolle der Regierung oder die Rekrutierung von politischem Personal (BS 19.3.2024). Vielmehr wird die Politik in der Islamischen Republik über (zuweilen etwas fließende) personelle Netzwerke zwischen den Eliten des Regimes betrieben (BS 19.3.2024; vergleiche FP 7.3.2024). Einflussreiche Bewegungen, Gruppierungen und Persönlichkeiten veröffentlichen bei Wahlen Listen ihrer bevorzugten Kandidaten (FP 7.3.2024).

Im Parlament existiert keine, mit europäischen Demokratien vergleichbare, in festen Fraktionen organisierte parlamentarische Opposition. Sowohl bei Präsidentschafts- als auch bei Parlamentswahlen nimmt der Wächterrat die Auswahl der Kandidaten vor. Kandidaten werden unter fadenscheinigen Gründen aussortiert (ÖB Teheran 11.2021). Der ehemalige Präsident Hassan Rouhani, der sich insbesondere nach dem Tod von Mahsa Jina Amini im September 2022 kritisch gegenüber der konservativen Regierung und den Revolutionsgarden geäußert hat, durfte bei der Wahl zum Expertenrat im März 2024 nicht mehr antreten (ORF 24.1.2024), ebenso wie ein ehemaliger Leiter des Geheimdienstministeriums (MOIS), der wie auch Rouhani dem vorangegangenen Expertenrat angehört hat (FP 7.3.2024). Dort, wo es bei den Parlaments- und Expertenratswahlen im März 2024 einen Wettbewerb gab, fand dieser zwischen verschiedenen konservativen Fraktionen statt. Beispielsweise in der Hauptstadt Teheran forderten neue Konservative mit vergleichsweise strikten Positionen zu islamischem Recht sowie einer ablehnenden Haltung zu Reformen etablierte Konservative heraus (FP 7.3.2024). Zwar gab es in der Vergangenheit einen gewissen Spielraum für Machtverschiebungen zwischen anerkannten Fraktionen innerhalb des Establishments, doch stellen die ungewählten Institutionen des politischen Systems ein dauerhaftes Hindernis für Wahlsiege der Opposition und echte Machtwechsel dar (FH 2024).

An sich gäbe es ein breites Spektrum an Ideologien, welche die Islamische Republik ablehnen, angefangen von den Nationalisten bis hin zu Monarchisten und Kommunisten. Der Spielraum für die außerparlamentarische Opposition wird vor allem durch einen Überwachungsstaat eingeschränkt, was die Vernetzung oppositioneller Gruppen extrem riskant macht (Einschränkung des Versammlungsrechts, Telefon- und Internetüberwachung, Spitzelwesen, Omnipräsenz von Basij-Vertretern u. a. in Schulen, Universitäten sowie Basij-Sympathisanten im öffentlichen Raum, etc.). Angehörige der außerparlamentarischen Opposition werden immer wieder unter anderen Vorwürfen festgenommen (ÖB Teheran 11.2021). Viele Anhänger der Oppositionsbewegungen wurden verhaftet, haben Iran verlassen oder sind nicht mehr politisch aktiv (AA 30.11.2022). Führende Oppositionelle sind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Mir Hossein Mousavi, Zahra Rahnavard und Mehdi Karroubi, die Führer der reformorientierten Grünen Bewegung, deren Proteste nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen von 2009 gewaltsam niedergeschlagen wurden, stehen seit 2011 ohne offizielle Anklage unter Hausarrest (FH 2024). Das Fehlen oppositioneller Führung zeigte sich bei den Unruhen zum Jahreswechsel 2017/2018 sowie bei den Protesten im November 2019 (AA 30.11.2022). Auch bei den im September 2022 begonnen Protesten nach dem Tod von Mahsa Amini war keine Führungsfigur erkennbar. Der Sicherheitsapparat verhaftet umgehend alle Personen, die einen erkennbaren Grad an Sichtbarkeit oder Vernetzung mitbringen. Der Protest zeichnete sich durch einen hohen Grad an dezentralen Aktivitäten aus, die weniger Sichtbarkeit als Großdemonstrationen mit sich bringen, aber dadurch auch weniger leicht kontrollierbar sind (AA 30.11.2022; vergleiche USIP 6.9.2023b).

Protestwelle 2022/2023

Letzte Änderung: 26.06.2024

Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Jina (ihr kurdischer Vorname) Amini am 16.9.2022 (USDOS 20.3.2023) kam es in Iran zu den größten Protesten seit Jahren (EN 1.2.2023; vergleiche Guardian 17.2.2023). Sie fanden in mehr als 100 iranischen Städten statt (FH 2024), dauerten im Februar 2023 noch an (Guardian 17.2.2023) und flauten bis zum Sommer schließlich ab (USIP 6.9.2023a).

Amini war kurz vor ihrem Tod von der Sittenpolizei des Landes wegen angeblicher Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften für Frauen verhaftet und laut Augenzeugenberichten geschlagen worden (BBC 16.9.2022). Angehörige von Amini wie auch Demonstranten wiesen die Behauptung der Behörden zurück, Amini sei aufgrund einer unentdeckten Vorerkrankung gestorben (EN 1.2.2023). Eine Fact-Finding-Mission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu dem Schluss, dass Amini körperlicher Gewalt ausgesetzt war, die zu ihrem Tod führte. Auf dieser Grundlage trägt der Staat laut UNHRC die Verantwortung für ihren unrechtmäßigen Tod (UNHRC 19.3.2024).

Als Frau sunnitischer Konfession und als Kurdin verkörperte Mahsa Jina Amini alle drei Dimensionen der systematischen Diskriminierung durch die Islamische Republik: Geschlecht, Konfession und ethnische Zugehörigkeit (Posch/Chatham 5.5.2023). Die Wut der Tausenden von Demonstranten, die auf die Straße gingen, konzentrierte sich auf die Tatsache, dass weder das Geschlecht noch die ethnische Zugehörigkeit die Ursache für den Tod eines iranischen Bürgers in Gewahrsam sein sollte, was eine eindeutige Menschenrechtsfrage darstellt (Posch 2023). Der von den Demonstranten verwendete Spruch "Frau, Leben, Freiheit" (auf Farsi: "zan, zendegi, âzâdi") stammt dabei ursprünglich von der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) (auf Kurdisch "jin, jîyan, azadî"). Er war zunächst unter iranischen Demonstranten im Westen zu hören. Dann begannen auch in Iran die säkularen und linken Teile der Gesellschaft, ihn zu verwenden, bevor er sich landesweit über Klassen- und ethnische Grenzen hinweg verbreitete (Posch/Chatham 5.5.2023). Die Proteste wurden insbesondere von den folgenden Gruppen getragen: Frauen, Jugendliche, Studentinnen und Studenten sowie von marginalisierten Ethnien - insbesondere Kurden und Belutschen (BPB 16.2.2023). Die auf Menschen- und Bürgerrechten basierende Agenda der Proteste konnte sowohl säkulare Teheraner aus der Mittelschicht als auch sunnitische Fundamentalisten aus den marginalisierten Grenzprovinzen Irans mobilisieren. Unter anderem kritisierten prominente Stimmen wie Kak Hasan Amini, einer der profiliertesten sunnitischen Geistlichen Irans, oder Moulana Abdulhamid aus Belutschistan, der Führer der sunnitischen Gemeinschaft im Osten Irans, das Regime (Posch 2023).

Während es Fälle von Gewaltanwendung durch Demonstranten gab (UNHRC 19.3.2024; vergleiche EN 1.2.2023) - wobei die große Mehrheit der Teilnehmer friedlich protestierte (UNHRC 19.3.2024) - reagierte das Regime mit massiver Repression auf die Proteste (BPB 16.2.2023; vergleiche USIP 6.9.2023b, UNHRC 19.3.2024). Human Rights Watch (HRW) dokumentierte, dass die Sicherheitskräfte Schrotflinten, Sturmgewehre und Handfeuerwaffen gegen Demonstranten eingesetzt hatten, und zwar in weitgehend friedlichem Umfeld und oft in von Menschen überlaufenen Zonen (HRW 12.1.2023). Es wurden Schrotkugeln und scharfe Munition verwendet. Beamte wurden dabei gefilmt, wie sie Demonstranten gewaltsam schlugen (FH 2024). Die Angaben von Menschenrechtsorganisationen zur Anzahl der Todesopfer unter den Protestteilnehmern variieren zwischen 530 (DIS 3.2023; vergleiche BPB 16.2.2023) und 551 Personen (UNHRC 19.3.2024; vergleiche FH 2024), darunter mindestens 68 Kinder (HRW 11.1.2024a; vergleiche UNHRC 19.3.2024). Weiters wurden im Rahmen der Proteste zwischen 50 (ACLED 12.4.2023) und beinahe 70 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet (BPB 16.2.2023). Nach Angaben von HRW starben die meisten Protestteilnehmer, weil die Sicherheitskräfte mit verschiedenen Arten von Munition auf sie schossen (HRW 11.1.2024a). Die Sicherheitsbehörden gingen in kurdischen und belutschischen Gebieten besonders brutal vor (USIP 6.9.2023b; vergleiche VOA 16.11.2022). Am 30.9.2022 eröffneten beispielsweise Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstranten in der Stadt Zahedan (Provinz Sistan und Belutschistan) (HRW 12.1.2023; vergleiche USIP 6.9.2023b). 104 Menschen wurden im Rahmen dieses Vorfalls getötet, wobei die Sicherheitskräfte laut UNHRC "unnötige und unverhältnismäßige tödliche Gewalt angewendet und Demonstranten, von denen keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben ausging, getötet und verletzt haben, wodurch sie unrechtmäßige und außergerichtliche Hinrichtungen begangen haben" [Anm.: s. dazu auch Kap. Belutschen] (UNHRC 19.3.2024). In den kurdischen Gebieten wurden Truppen, schwere Waffen und Militärfahrzeuge in Stellung gebracht, um die Demonstrationen niederzuschlagen (EN 1.2.2023).

Über 20.000 Protestteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden zeitweise inhaftiert (DW 13.3.2023; vergleiche REU 17.2.2023). Laut staatsnahen iranischen Medien ist ein bedeutender Anteil der Festgenommenen minderjährig (AI 16.3.2023; vergleiche UNHRC 7.2.2023). Festgenommene berichteten von Folter während der Inhaftierung (NDR 1.2.2023; AI 16.3.2023), darunter auch von Minderjährigen (AI 16.3.2023), sowie von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung (AI 16.3.2023; vergleiche FH 2024). Vor den Nowruz-Feierlichkeiten im März 2023 kündigten die iranischen Justizbehörden an, dass rund 22.000 Menschen, die im Zusammenhang mit den Protesten festgenommen worden waren, begnadigt würden (DW 13.3.2023). Die meisten Minderjährigen sind nach Einschätzung von Amnesty International (AI) mit Stand März 2023 wieder freigelassen worden, manche auf Kaution und mit laufenden Verfahren. Viele wurden erst freigelassen, nachdem sie gezwungen worden waren, "Reue"-Schreiben zu unterzeichnen und sich zu verpflichten, von "politischen Aktivitäten" abzusehen und an regierungsfreundlichen Kundgebungen teilzunehmen (AI 16.3.2023). Manche Aktivisten wurden später wieder festgenommen (HRW 11.1.2024a). Eine unbekannte Anzahl von Personen, wie z. B. Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Studenten, Künstler, Akademiker, Rechtsanwälte und medizinisches Personal, das sich um Protestteilnehmer gekümmert hat, sowie Minderjährige und Personen, die sich online an anti-Regierungsaktivitäten beteiligt haben, wurde wegen "Verbreitung von Propaganda", "Absprachen zur Begehung von Straftaten und Handlungen gegen die nationale Sicherheit" oder "Kriegsführung gegen Gott" sowie "Korruption auf Erden" verurteilt, wobei diese Tatbestände vor den iranischen Revolutionsgerichten mit hohen Strafen geahndet werden (DIS 3.2023). Bis Jänner 2024 wurden mindestens neun Menschen in Zusammenhang mit ihrer Teilnahme an den Protesten hingerichtet (BBC 23.1.2024; vergleiche UNHRC 19.3.2024). Laut dem Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats zu Iran hat das iranische Regime im Zusammenhang mit der Protestniederschlagung Verstöße begangen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten (BBC 20.3.2023).

Die Behörden gingen im Laufe des Jahres 2023 weiter gegen Andersdenkende an den Universitäten vor (FH 2024; vergleiche USIP 6.9.2023b) und nahmen diejenigen ins Visier, die die Proteste "Frau, Leben, Freiheit" unterstützten oder sich anderweitig gegen das verpflichtende Tragen des Hijabs wehrten (FH 2024). Vor dem ersten Jahrestag der Proteste im September 2023 erhöhten die Behörden den Druck auf Dissidenten, Aktivisten und die Familienangehörigen der Getöteten, um weitere Proteste zu verhindern. Demonstrationen anlässlich des Jahrestages wurden dennoch abgehalten, und einige wurden mit der gleichen Art von gewaltsamer Unterdrückung wie im Jahr 2022 beantwortet (FH 2024). Dies betraf beispielsweise Zahedan, die Hauptstadt von Sistan und Belutschistan (AI 26.10.2023; vergleiche HRW 22.11.2023), wo weiterhin wöchentlich Protestkundgebungen stattfanden (AI 26.10.2023; vergleiche IRINTL 15.9.2023). Auch während der Proteste im Jahr 2023 unterbrachen die Behörden wiederholt den Internetzugang, vor allem in der Provinz Sistan und Belutschistan (FH 2024; vergleiche HRW 22.11.2023).

Nach dem Ausbruch der landesweiten Proteste im September 2022 verschwand die Sittenpolizei weitgehend von den Straßen. Als die Patrouillen nachließen, zeigten sich immer mehr Frauen ohne Hijab in der Öffentlichkeit. Die Sittenpolizei wurde jedoch nie aufgelöst. Die iranische Regierung hielt an ihrer Position fest (USIP 6.9.2023a; vergleiche RFE/RL 20.7.2023) und weigerte sich, in Bezug auf den Hijab Kompromisse einzugehen, obwohl viele Iranerinnen die offiziellen Regeln täglich missachten (FES 3.2024). Die Behörden verstärkten die Durchsetzung der Vorschriften später wieder und setzten im Juli 2023 die Sittenpolizei wieder ein (USIP 6.9.2023a; vergleiche RFE/RL 20.7.2023), Überwachungskameras wurden weiter installiert, um Hijab-Verstöße zu ahnden (REU 12.9.2023). Es wird von punktuellen Protesten in diesem Zusammenhang berichtet, beispielsweise im Juli 2023 in der Stadt Rasht, nachdem die Sittenpolizei drei Frauen angeblich wegen Verstößen gegen die Hijab-Pflicht festnehmen wollte (RFE/RL 20.7.2023), und im Dezember wurde eine Basis der Sittenpolizei in Shiraz laut der exiliranischen Nachrichtenseite Iran International angezündet, was die Seite mit anti-Hijab-Protesten in Verbindung brachte [Anm.: Entsprechende Beiträge wurden auch in den sozialen Medien geteilt (s. z.B. emilyshar1 3.12.2023, SabziPoloBaMahee 3.12.2023), darüber hinaus konnten hierzu jedoch keine weiteren Informationen gefunden werden] (IRINTL 3.12.2023b).

Haftbedingungen

Letzte Änderung: 20.06.2024

Die Haftbedingungen in iranischen Gefängnissen sind von massiver Überbelegung geprägt. Gefangene klagen häufig über schlechte Haftbedingungen, einschließlich der Verweigerung von medizinischer Versorgung (FH 2024; vergleiche USDOS 23.4.2024). Auch wurde über unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln, die langfristig zu entsprechenden Folgeschäden führen kann (ÖB Teheran 11.2021), körperliche Misshandlungen und unzureichende sanitäre Bedingungen (USDOS 23.4.2024; vergleiche AI 24.4.2024), einschließlich schlechter Belüftung, Mäuse- und Insektenbefall sowie fehlenden oder unzureichenden Zugang zu Bettzeug, Toiletten und Waschgelegenheiten berichtet (AI 24.4.2024). Es kam zu Hungerstreiks von Gefangenen, um gegen ihre Behandlung zu protestieren, wie auch zu versuchten Selbstmorden, die auf die Haftbedingungen zurückgeführt werden. Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge verweigern die Gefängnisbehörden den Gefangenen regelmäßig den Zugang zu Besuchern, Telefonaten und anderen Korrespondenzprivilegien (USDOS 23.4.2024).

Die Haftbedingungen variieren im Einzelfall nach Gefängnis-Trakt und Status der Gefangenen, wobei generelle Aussagen nicht möglich sind. So ist im Evin-Gefängnis in Teheran ein Trakt für Ausländer reserviert, ein Trakt wird vom Geheimdienst der Revolutionsgarden verwaltet, manche Trakte sind unterirdisch. Das Quarchak-Frauengefängnis in Teheran dürfte als ehemaliger Hühnerstall sanitär unzureichend sein (ÖB Teheran 11.2021). Menschenrechtsorganisationen nennen häufig mehrere Haftanstalten, in denen politische Gegner grausam und über längere Zeit gefoltert werden, darunter insbesondere die Abteilungen Nr. 209 und Nr. 2 des Evin-Gefängnisses, die Berichten zufolge von den Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) kontrolliert werden. Die Behörden unterhalten angeblich auch inoffizielle Geheimgefängnisse und Haftanstalten außerhalb des staatlichen Gefängnissystems, in denen es zu Misshandlungen kommt (USDOS 23.4.2024).

Die Haftbedingungen für politische und sonstige Häftlinge weichen stark voneinander ab (AA 30.11.2022; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Dies betrifft in erster Linie den Zugang zu medizinischer Versorgung (einschließlich Verweigerung grundlegender Versorgung oder lebenswichtiger Medikamente) sowie hygienische Verhältnisse (AA 30.11.2022). Politische Gefangene sind auch einem größeren Risiko von Folter und Misshandlung in der Haft ausgesetzt und werden mit der allgemeinen Gefängnisbevölkerung zusammengelegt, was die Gefahr von Angriffen durch Mitgefangene erhöht. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass die Behörden die Verweigerung der medizinischen Versorgung als eine Form der Bestrafung politischer Gefangener und zur Einschüchterung von Gefangenen einsetzen, die Beschwerden einreichen oder die Behörden herausfordern (USDOS 23.4.2024).

Folter und andere Misshandlungen sind nach wie vor weit verbreitet und werden systematisch angewendet (AI 24.4.2024). Als eine Form der psychologischen Folter werden Aktivisten auch in Isolationshaft genommen (DW 6.10.2023). Medien und Nichtregierungsorganisationen berichten über Todesfälle in der Haft und Gewalt zwischen Gefangenen, welche die Behörden manchmal nicht unter Kontrolle haben (USDOS 23.4.2024). Zwischen 2010 und 2022 dokumentierte Amnesty International (AI) 88 Todesfälle von Gefangenen aufgrund von Folter sowie 96 Todesfälle aufgrund von verweigerter medizinischer Versorgung (FH 2024).

Die Regierung lässt keine unabhängige Überwachung der Haftbedingungen zu. Gefangene und ihre Familien schreiben häufig Briefe an die Behörden und in einigen Fällen an UN-Gremien, um auf ihre Behandlung hinzuweisen und dagegen zu protestieren (USDOS 23.4.2024).

Die Grenzen zwischen Freiheit, Hausarrest und Haft sind in Iran fließend. Politisch als unzuverlässig geltende Personen werden manchmal in "sichere Häuser" gebracht, die den iranischen Sicherheitsbehörden unterstehen. Dort werden sie ohne Gerichtsverfahren Monate oder sogar Jahre festgehalten (ÖB Teheran 11.2021).

Behandlung von Minderjährigen

Minderjährige werden teils mit kriminellen Straftätern zusammengelegt, wodurch Übergriffe nicht selten sind (ÖB Teheran 11.2021).

Die iranischen Behörden haben die weitverbreitete Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an den Protesten seit Mitte September 2022 und ihre Überrepräsentation unter den Verhafteten eingeräumt. Nach Angaben eines Vertreters der Revolutionsgarden vom 5.10.2022 liegt "das Durchschnittsalter der meisten Personen, die während der Proteste verhaftet wurden, bei 15 Jahren". Am 11.10.2022 bestätigte der Bildungsminister, dass eine nicht näher definierte Anzahl von Kindern in "psychologische Zentren" eingewiesen worden war, nachdem sie wegen ihrer Teilnahme an staatsfeindlichen Protesten festgenommen worden sind. Berichten zufolge wurden Kinder zusammen mit Erwachsenen in Haft gehalten (UNHRC 7.2.2023). Kinder wurden oft zusammen mit Erwachsenen festgehalten und waren den gleichen Mustern von Folter und anderen Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, ausgesetzt. Frauen und Mädchen wurden häufig in Haftanstalten festgehalten, die von ausschließlich männlichen Geheimdienst- und Sicherheitskräften geführt wurden, ohne auf ihre geschlechtsspezifischen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, wodurch sie einem erhöhten Risiko von Vergewaltigung und anderen Formen sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Amnesty International dokumentierte Fälle von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen von Schülern und Schülerinnen während ihrer Inhaftierung im Zusammenhang mit den Protesten (AI 12.2023).

Todesstrafe

Letzte Änderung: 26.06.2024

Iran ist im weltweiten Vergleich nach China jenes Land, in welchem die Todesstrafe am häufigsten vollzogen wird (FH 2024). Die NGOs Iran Human Rights (IHRNGO) und Amnesty International (AI) zählten im Jahr 2023 834 (IHRNGO 5.3.2024) bzw. 853 Hinrichtungen (AI 4.4.2024). Gegenüber dem Vorjahr ist das eine Steigerung von rund 43 % (IHRNGO 5.3.2024) bzw. 48 %, gegenüber dem Jahr 2021 eine Steigerung von 172 % (AI 4.4.2024). Die genaue Anzahl der Hinrichtungen ist aufgrund der intransparenten Vorgehensweise der iranischen Behörden nicht bekannt (UNHRC 7.2.2023). 2023 wurden beispielsweise nur 15 % der von IHRNGO gezählten Hinrichtungen von den Behörden öffentlich bekannt gegeben (IHRNGO 5.3.2024). Die Anzahl der Hinrichtungen ist seit dem Amtsantritt von Präsident Raisi [im Jahr 2021] gestiegen (FH 2024).

Die Todesstrafe steht auf Mord (wobei die Familie des Opfers gegen Zahlung von Blutgeld auf die Hinrichtung verzichten kann), Sexualdelikte, gemeinschaftlichen Raub, wiederholten schweren Diebstahl, Drogenschmuggel (nur mehr bei besonders schweren Vergehen), schwerwiegende Verbrechen gegen die Staatssicherheit, "Moharebeh" (Waffenaufnahme gegen Gott) und homosexuelle bzw. außereheliche Handlungen (ÖB Teheran 11.2021); des weiteren auf terroristische Aktivitäten, Waffenbeschaffung, Hoch- und Landesverrat, Veruntreuung und Unterschlagung öffentlicher Gelder, Bandenbildung, Beleidigung oder Entweihung von heiligen Institutionen des Islams oder heiligen Personen (z. B. durch Missionstätigkeit), Vergewaltigung und Geschlechtsverkehr eines Nicht-Muslims mit einer Muslimin. Auch der Abfall vom Islam (Apostasie) kann mit der Todesstrafe geahndet werden. Nach Kenntnis des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland ist es jedoch in den letzten 20 Jahren zu keiner Hinrichtung aus diesem Grund gekommen [Anm.: s. dazu auch Kap. Apostasie, Konversion zum Christentum, Proselytismus, Hauskirchen] (AA 30.11.2022). Vergewaltigungsopfer können neben den Tatbeständen der "Unsittlichkeit" und des "unmoralischen Verhaltens" auch wegen Ehebruchs belangt werden, für das die Todesstrafe verhängt werden kann (USDOS 23.4.2024). Die Todesstrafe wird u. a. für Straftaten verhängt, die gemäß Völkerrecht nicht zu den "schwersten Verbrechen" zählen sowie für Handlungen, die international nicht als Straftaten anerkannt sind (AI 24.4.2024; vergleiche UNHRC 9.2.2024).

Regierung und NGOs sind bemüht, Hinrichtungen durch die Erleichterung des Blutgeld-Prozesses zu verhindern. Es werden z. B. mit Spendenaufrufen Blutgelder gesammelt [Anm.: Blutgeld, auch diyah, kann bei sog. qisas-Verbrechen zur Anwendung kommen, s. dazu Kap. Rechtsschutz / Justizwesen] (ÖB Teheran 11.2021).

Nach den Aufzeichnungen von IHRNGO wurden die Hinrichtungen durch die iranische Justiz im Jahr 2023 anteilsmäßig aufgrund der folgenden Vergehen vollzogen:

Das dargestellte Tortendiagramm wird im nachfolgenden Text beschrieben.

Quelle: IHRNGO 5.3.2024

56 % der Hinrichtungen (471 in absoluten Zahlen) erfolgten demnach aufgrund von Verurteilungen wegen Drogenvergehen, 34 % (282) wegen Mordes, 5 % (39) wegen Moharebeh oder "Korruption auf Erden" [mofsad/efsad fe-l-arz] und 2 % (20) wegen Vergewaltigung. Zwei Personen wurden aufgrund von Verurteilungen wegen Blasphemie hingerichtet, eine Person nach einer Verurteilung wegen Ehebruchs (IHRNGO 5.3.2024). Gemäß der Zählung von AI wurden im Jahr 2023 mindestens 545 Personen für Handlungen hingerichtet, die gemäß internationalem Recht nicht mit der Todesstrafe geahndet werden sollten, darunter Handlungen, die durch das Recht auf Privatsphäre und Meinungs-, Religions- oder Glaubensfreiheit geschützt sind, zu weit gefasste und vage formulierte Anklagen, die nicht dem Legalitätsprinzip entsprechen, sowie Drogendelikte und andere Straftaten, die keine "vorsätzliche Tötung" beinhalten. Dies betraf 64 % aller von AI erfassten Hinrichtungen (AI 4.4.2024).

2017 trat eine Änderung des Strafgesetzes für Drogendelikte in Kraft, welche die Todesstrafen im Bereich der Drogenkriminalität auf bestimmte Fallkonstellationen beschränkte. Bagatelldelikte sind damit von der Todesstrafe ausgenommen. Entsprechend sank die Zahl der Hinrichtungen für Drogenkriminalität nach dieser Gesetzesänderung zunächst stark (AA 30.11.2022; vergleiche AI 4.4.2024). Seit Oktober 2021 ist, vermutlich wegen vermehrter Drogenkriminalität auch durch die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und damit einhergehender fehlender Grenzkontrollen auf afghanischer Seite (AA 30.11.2022), und mit der Einsetzung von neuen Spitzenbeamten im Justizwesen durch Präsident Raisi (AI 4.4.2024), ein erneuter Anstieg bei der Zahl an Hinrichtungen wegen Drogenkriminalität zu verzeichnen (AA 30.11.2022; vergleiche IHRNGO 5.3.2024, AI 4.4.2024). Es ist außerdem davon auszugehen, dass es beim Kampf gegen Drogenhandel und Schmuggel vor allem in den Grenzregionen Sistan-Belutschistan und Kurdistan regelmäßig zu außergerichtlichen Hinrichtungen kommt (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche HRANA 8.2.2023).

Das iranische Regime setzt die Todesstrafe als Mittel der politischen Unterdrückung gegen Demonstranten, Dissidenten und ethnische Minderheiten ein (AI 24.4.2024; vergleiche IHRNGO 5.3.2024). Laut den Aufzeichnungen von IHRNGO besteht eine Korrelation zwischen der Anzahl an Hinrichtungen und politischen Ereignissen (IHRNGO 5.3.2024). In direktem Zusammenhang mit den Protesten ab September 2022 wurden bis Jänner 2024 mindestens neun Demonstranten hingerichtet (BBC 23.1.2024; vergleiche OHCHR 24.1.2024) und vier weitere Personen zum Tod verurteilt (BBC 23.1.2024). 15 weitere Personen laufen Gefahr, zum Tod verurteilt zu werden (UNHRC 9.2.2024; vergleiche BBC 23.1.2024). Die gegen die Demonstranten erhobenen Anklagen betrafen Sicherheitsvergehen oder Mord, in einigen Fällen kam es auch zu Doppelbestrafung. Alle Anklagen - bis auf eine - standen im Zusammenhang mit dem Tod von Streitkräften. Den mit 84 % gegenüber dem Vorjahr deutlichen Anstieg an Hinrichtungen aufgrund von Drogenvergehen im Jahr 2023 bringt IHRNGO ebenfalls mit den "Frau, Leben, Freiheit"-Protesten ab September 2022 in Verbindung. Viele der wegen Drogenvergehen Hingerichteten stammen aus marginalisierten Gruppen und ethnischen Minderheiten, insbesondere jener der Belutschen (IHRNGO 5.3.2024). Obwohl sie nur rund fünf Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen, waren mindestens 29 % der im Jahr 2023 wegen Drogenvergehen hingerichteten Personen Belutschen [Anm.: s. u. a. Kap. Belutschen zur Rolle der Belutschen bei den Protesten] (AI 4.4.2024; vergleiche UNHRC 9.2.2024).

Iran ist eines der wenigen Länder weltweit, die noch die Todesstrafe für jugendliche Straftäter anwenden, auch wenn dies internationalen Verträgen widerspricht, welche von Iran unterzeichnet worden sind (IHRNGO 5.3.2024). Das 2013 verabschiedete iranische Strafgesetzbuch (IStGB) definiert das "Alter der strafrechtlichen Verantwortlichkeit" für Kinder ausdrücklich als das Alter der Reife nach der Scharia, was bedeutet, dass Mädchen über neun Mondjahren und Buben über 15 Mondjahren für eine Hinrichtung infrage kommen, wenn sie wegen hadd- oder qisas-Verbrechen verurteilt werden [s. Kap. Rechtsschutz / Justizwesen für Begriffserklärungen] (IHRNGO 5.3.2024; vergleiche UNHRC 9.2.2024). Gemäß Artikel 91 IStGB kann ein Richter bei hadd- oder qisas-Vergehen von unter-18-Jährigen von der Verhängung einer Todesstrafe jedoch absehen, wenn Zweifel an der geistigen Reife und Einsicht des Verurteilten bestehen. Laut IHRNGO ist diese Bestimmung vage formuliert und wird inkonsistent angewendet (IHRNGO 5.3.2024). 2023 wurden je nach Quellen mindestens eine (UNHRC 9.2.2024, AI 4.4.2024) oder mindestens zwei Personen unter 18 Jahren hingerichtet (IHRNGO 5.3.2024). Vier weitere Personen, die im Jahr 2023 hingerichtet wurden, waren zum Tatzeitpunkt unter 18 Jahre alt (AI 4.4.2024).

Gemäß dem vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzten Sonderberichterstatter über die Menschenrechtslage in Iran wurden Todesurteile nach Verfahren gefällt, die gegen die Prinzipien eines ordnungsgemäßen oder fairen Prozesses verstoßen. Personen wurden vor ihrer Hinrichtung gefoltert und misshandelt, ihnen wurde häufig der Zugang zu einem Anwalt verweigert, und Anwälte durften ihre Mandanten nicht verteidigen (UNHRC 9.2.2024). Dies betraf laut Menschenrechtsorganisationen Urteile gegen Protestteilnehmer (HRW 11.1.2024a; vergleiche BBC 18.1.2023, BBC 23.1.2024). IHRNGO dokumentierte jedoch auch, dass beinahe alle im Rahmen ihres jährlichen Berichts zur Todesstrafe erfassten, wegen Drogenvergehen verhafteten Gefangenen Folter ausgesetzt waren und ihnen der Zugang zu einem Anwalt verweigert wurde (IHRNGO 5.3.2024). Nach der Zählung von AI wurden im Jahr 2023 mindestens 520 Personen (61 %) nach Todesurteilen vor Revolutionsgerichten hingerichtet, wobei den Angeklagten vor Revolutionsgerichten, in deren Zuständigkeitsbereich Vergehen gegen die nationale Sicherheit und mit Drogenbezug fallen, systematisch das Recht auf einen fairen Prozess verweigert wird (AI 4.4.2024).

Während die iranischen Behörden Hinrichtungen zuletzt nicht mehr öffentlich durchgeführt hatten (ÖB Teheran 11.2021), fanden im Dezember 2022 wieder öffentliche Hinrichtungen von Protestteilnehmern statt (NBC 19.12.2022) und 2023 wurden insgesamt sieben Männer öffentlich hingerichtet (AI 4.4.2024).

Die Familien hingerichteter Gefangener wurden nicht immer über geplante Hinrichtungen informiert, und wenn doch, dann oft nur sehr kurzfristig. Die Behörden verweigerten den Familien häufig die Möglichkeit, Bestattungsriten durchzuführen oder rechtzeitig eine unparteiische Autopsie vornehmen zu lassen (USDOS 23.4.2024). Die Herausgabe des Leichnams wird teilweise verweigert oder verzögert (AA 30.11.2022).

Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 26.06.2024

In Iran leben schätzungsweise rund 88,4 Millionen Menschen (CIA 22.5.2024), von denen nach offiziellen Angaben ungefähr 99 % dem Islam angehören. Etwa 90 % der Bevölkerung sind demnach Schiiten, ca. 9 % sind Sunniten und der Rest verteilt sich auf Christen, Juden, Zoroastrier, Baha‘i, Sufis, Ahl-e Haqq (Yaresan) und nicht weiter spezifizierte religiöse Gruppierungen (STDOK 3.5.2018; vergleiche USDOS 15.5.2023). Im Rahmen einer viel beachteten und breit diskutierten (NYMAG 21.10.2022) Onlinebefragung der Organisation Gamaan aus dem Jahr 2020, an der sich 40.000 innerhalb Irans lebende Iraner sowie rund 10.000 im Ausland lebende Iraner beteiligt haben, wurden folgende Einstellungen bzw. religiösen Ausrichtungen angegeben: nur rund 32 % der Bevölkerung bekennen sich zum Schiitentum, 5 % zum Sunnitentum und rund 8 % zum Zoroastrismus. 9 % identifizierten sich dagegen als Atheisten, 7 % als "spirituell" und 6 % als Agnostiker. Andere gaben an, dem Sufismus, Humanismus, Christentum, dem Baha'i-Glauben oder dem Judentum zu folgen (Anteile zwischen rd. 0,1 und 3 %) und rund 22 % der Befragten wollten sich mit keiner der genannten Gruppierungen identifizieren (GAMAAN 25.8.2020). Auch wenn nicht genau gesagt werden kann, inwiefern die von Gamaan vorgelegten Zahlen auf die Gesamtbevölkerung Irans umlegbar sind, zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zum nationalen Zensus. Aus der Studie lässt sich eine erosionsartige Fragmentierung des religiösen Feldes zumindest bei den befragten Iranern ablesen. Interessant ist unter anderem die Vielfalt an verschiedenen Glaubensbekenntnissen von Konfessionslosigkeit und Atheismus, beides eigentlich Tabus in einer offiziell islamischen Gesellschaft wie der iranischen, über Zoroastrismus und Trends zu spirituellen und esoterischen Sekten, bis hin zum Agnostizismus, zu sufischen Bewegungen, den Bahai und zum Christentum. Letztere stellen laut der Studie lediglich eine relativ kleine Gruppe dar (BAMF 5.2022). In einer im Jänner 2024 geleakten (Amwaj 3.4.2024), vom Informationsministerium (MOIS) in Auftrag gegebenen, unter Verschluss gehaltenen Umfrage gaben 70 % der Befragten an, sich ein säkulares Regierungssystem zu wünschen. Eine Mehrheit lehnte die gesetzlich verordnete Hijab-Pflicht für Frauen ab (Standard 1.3.2024).

Nachstehender Karte können die Hauptsiedlungsgebiete der größten Glaubensgruppen in Iran entnommen werden. Demnach leben Sunniten mehrheitlich in den Grenzregionen im äußersten Nordwesten Irans, im Norden in einem Gebiet an der Grenze zu Turkmenistan [Provinz Golistan] sowie im Süden bei Bandar-e Abbas [Provinz Hormuzgan] und an der Grenze zu Pakistan sowie zum Südwesten Afghanistans [in Iran: Provinz Sistan und Belutschistan]. Der größte Teil des Landes wird mehrheitlich von Schiiten bewohnt. Minderheitengruppen wie Zoroastrier, Bahai, Juden und Sikhs werden auf der Karte nicht dargestellt; insbesondere in urbanen Zentren ist die Bevölkerung sehr heterogen und kann auf dieser Karte nicht dargestellt werden (BMI/BMLVS 2017).

[…]

Laut Verfassung ist Iran eine islamische Republik und der schiitische Zwölfer- oder Ja'afari-Islam ist die offizielle Staatsreligion. Die Verfassung schreibt vor, dass alle Gesetze und Vorschriften auf "islamischen Kriterien" und einer offiziellen Auslegung der Scharia beruhen müssen. In der Verfassung heißt es, dass die Bürger alle menschlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte "in Übereinstimmung mit islamischen Kriterien" genießen sollen (USDOS 15.5.2023). Für Frauen bedeutet dies beispielsweise unter anderem eine allgemeine Kopftuchpflicht in der Öffentlichkeit, die [unter anderem] im Zuge der Proteste anlässlich des Todes von Mahsa Amini von vielen Protestierenden abgelehnt wurde und in den Fokus der Auseinandersetzung zwischen dem Regime und seinen Gegnern geriet (Tagesschau 6.10.2022). Gleichwohl dürfen die in Artikel 13, der iranischen Verfassung anerkannten 'Buchreligionen': Christentum, Judentum und Zoroastrismus ihren Glauben in ihren Gemeinden relativ frei ausüben (AA 30.11.2022; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). In Fragen des Ehe- und Familienrechts genießen sie verfassungsrechtlich Autonomie (AA 30.11.2022). Die Freiheiten bei der Glaubensausübung sind allerdings von der Auslegung religiöser Gelehrter abhängig. Darüber hinaus lassen die Mehrdeutigkeit und die Auslegungsfähigkeit von Gesetzen den Richtern oft Raum für willkürliche Entscheidungen, was die Gefährdung von Minderheitengemeinschaften erhöht (IrWire 4.3.2024).

Die Lehrpläne aller öffentlichen und privaten Schulen müssen einen Kurs über die schiitischen Lehren enthalten. Sunnitische Schüler, sowie jene, die einer anerkannten religiösen Minderheit angehören, müssen die Kurse über den schiitischen Islam belegen und bestehen, obwohl sie auch separate Kurse über ihre eigenen religiösen Überzeugungen belegen können. Anerkannte religiöse Minderheitengruppen, mit Ausnahme der sunnitischen Muslime, dürfen Privatschulen betreiben (USDOS 15.5.2023).

Anhänger religiöser Minderheiten unterliegen Beschränkungen beim Zugang zu höheren Staatsämtern. Lediglich schiitische Muslime dürfen in vollem Umfang am politischen Leben teilnehmen (AA 30.11.2022; vergleiche MRG 24.11.2022). Sunniten werden v. a. beim beruflichen Aufstieg im öffentlichen Dienst diskriminiert (ÖB Teheran 11.2021). Die Diskriminierung am Arbeitsplatz ist durch die Praxis des gozinesh institutionalisiert, ein obligatorisches Prüfverfahren, dem sich jeder unterziehen muss, der eine Beschäftigung im öffentlichen oder halbstaatlichen Sektor sucht. Dies beinhaltet eine Bewertung der Befolgung des Islam und der Loyalität gegenüber der Islamischen Republik durch die potenziellen Arbeitnehmer (MRG 24.11.2022; vergleiche UNHRC 19.3.2024). Die Bewerber müssen dabei das Prinzip der Herrschaft des Rechtsgelehrten (Velayat-e Faqih) anerkennen (UNHRC 19.3.2024), das es im sunnitischen Islam [sowie nichtislamischen Religionen] nicht gibt (USDOS 23.4.2024). Die gozinesh-Kriterien schließen nicht nur Anhänger nicht anerkannter Religionen von der Arbeitssuche aus, sondern benachteiligen auch Sunniten und alle, die Ansichten vertreten, die den offiziellen Werten der Islamischen Republik zuwiderlaufen (MRG 24.11.2022; vergleiche UNHRC 19.3.2024).

Nichtmuslime sehen sich im Familien- und Erbrecht nachteiliger Behandlung ausgesetzt, sobald ein Muslim Teil der relevanten Personengruppe ist (AA 30.11.2022; vergleiche IrWire 4.3.2024). Verfassungsrechtlich anerkannte Minderheiten haben auch bei Mord oder Unfalltod nicht die gleichen Rechte wie Muslime. Nach dem islamischen Strafgesetzbuch (IStGB) haben die Hinterbliebenen eines Opfers das Recht, Vergeltung oder Entschädigung zu verlangen, wenn das Opfer Muslim ist. Wenn das Opfer einer anderen [anerkannten] Religion angehört, muss der Täter lediglich Lösegeld zahlen (IrWire 4.3.2024).

Anerkannte religiöse Minderheiten (Zoroastrier, Juden, Christen) werden diskriminiert, sie sind in ihrer Religionsausübung jedoch nur relativ geringen Einschränkungen unterworfen. Sie haben gewisse rechtlich garantierte Minderheitenrechte (ÖB Teheran 11.2021). Im Parlament sind beispielsweise fünf der insgesamt 290 Sitze für ihre Vertreterinnen und Vertreter reserviert: zwei für armenische Christen, einer für Juden, einer für Zoroastrier und einer für assyrische Christen (Zeit Online 19.1.2023; vergleiche FH 2024). Nichtmuslimische Abgeordnete dürfen jedoch nicht in Vertretungsorgane oder in leitende Positionen in der Regierung, beim Geheimdienst oder beim Militär ernannt werden (USDOS 15.5.2023) und ihre politische Vertretung bleibt schwach (FH 2024).

Für nicht anerkannte religiöse Gruppen gibt es keine rechtlichen Schutzgarantien. Diese Gruppierungen - z. B. Baha'i, Sabäer-Mandäer, Yaresani [Anm.: auch Ahl-e Haqq] (MRG 24.11.2022; vergleiche BAMF 5.2022), Anhänger fernöstlicher oder esoterischer Philosophien und Kulte (IRINTL 25.1.2022), konvertierte evangelikale Christen, Sufi (Derwisch-Orden), Atheisten - werden in unterschiedlichem Ausmaß verfolgt (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche OpD 2024).

Das Ministerium für Kultur und islamische Führung und das MOIS überwachen religiöse Aktivitäten. Die Revolutionsgarden überwachen auch Kirchen (USDOS 15.5.2023) und Gottesdienste (OpD 2024). Die iranische Regierung verfolgt Angehörige religiöser Minderheiten bisweilen unter dem Vorwand, diese seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit, und nicht, weil sie beispielsweise Christen sind (CNEN 4.2.2023). Führende Vertreter von Minderheitengruppen und Aktivisten werden oftmals unter dem allgemeinen Vorwurf der Bedrohung der "öffentlichen Moral" oder der nationalen Sicherheit zu langen Haftstrafen oder zum Tod verurteilt (MRG 24.11.2022; vgl.OpD 2024).

Auch oppositionelle schiitische Geistliche und muslimische Sekten sind der Verfolgung ausgesetzt (ÖB Teheran 11.2021). Zur Sanktionierung von Vergehen wie "Irrlehre", "Abweichung" und "Propaganda" durch Geistliche besteht ein Sondergericht, das über eine eigene Polizei, Strafprozessordnung, Gefängnisse und einen eigenen Strafkatalog verfügt, zu dessen Strafen etwa Verbote, Seminare abzuhalten oder die Kleriker-Robe in der Öffentlichkeit zu tragen ebenso gehören wie Verbannung, Haftstrafen und Todesurteile (Qantara 16.5.2023). Das Sondergericht für Geistliche untersteht direkt dem Revolutionsführer und ist, wie auch die Revolutionsgerichte, in der Verfassung nicht vorgesehen (USDOS 15.5.2023).

Ethnische und religiöse Minderheiten, die jahrzehntelang unter systemischer und systematischer Diskriminierung und Verfolgung gelitten haben, waren von der Welle der Repression seit Beginn der Proteste im September 2022 unverhältnismäßig stark betroffen [Anm.: s. u. a. Unterkap. Sunniten für weitere Informationen]. Unter anderem verwehrten die iranischen Behörden Angehörigen von getöteten Protestteilnehmern Begräbnisse nach ihren religiösen Riten zu vollziehen (UNHRC 7.2.2023). Obwohl diese Vorkommnisse nicht völlig neu waren, kam es im Zuge der Proteste auch vermehrt zu Übergriffen auf schiitische Geistliche, die aufgrund der umfassenden Politisierung von Religion mit dem iranischen Regime gleichgesetzt werden und als Vollstrecker von dessen politischen Zielen fungieren (INSS 18.5.2023; vergleiche Qantara 16.5.2023).

Muslimische Geistliche rufen manchmal zu Gewalt gegen religiöse Minderheiten auf (OpD 2024). Dabei ist die iranische Gesellschaft weniger fanatisch als ihre Führung (OpD 2024; vergleiche NLM 23.2.2023). Dies ist zum Teil auf den weitverbreiteten Einfluss des gemäßigteren Sufi-Islams zurückzuführen sowie auf den Stolz des iranischen Volkes auf seine vorislamische persische Kultur (OpD 2024). Dennoch wird mitunter von bedrohlicher Diskriminierung von Nicht-Schiiten seitens des familiären oder gesellschaftlichen Umfelds berichtet (ÖB Teheran 11.2021). Religiöse Familien üben Druck auf Familienmitglieder aus, die sich vom Islam abgewandt haben und Christen geworden sind (OpD 2024).

Nach Einschätzung des australischen Außenministeriums sind nicht praktizierende iranische Muslime einem geringen Risiko behördlicher oder gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt, insbesondere in den Großstädten (DFAT 24.7.2023). Der Besuch von Moscheen ist in Iran beispielsweise nicht weit verbreitet, verglichen mit anderen muslimischen Ländern (Moaddel/FTJ 2022; vergleiche MRAI 19.6.2023, Amwaj 3.4.2024), und Personen werden nicht per se als Atheisten betrachtet, weil sie keine Moscheen aufsuchen. Dies gilt auch im ländlichen Bereich. Auch halten sich viele Iraner im Privaten nicht strikt an die Fastenregeln des Ramadan. Solange die Fastenregeln nicht in der Öffentlichkeit gebrochen werden, führte dies bislang üblicherweise zu keinen Problemen (MRAI 19.6.2023). Der Konsum von Speisen und Getränken sowie Rauchen in der Öffentlichkeit während des Ramadan kann nach Artikel 638, des iranischen Strafgesetzbuchs (IStGB) jedoch mit Strafen wie Peitschenhieben sowie Haft geahndet werden (IRINTL 13.3.2024a). Während des Ramadan im Frühling 2024 wurde eine Anzahl an Restaurants und Geschäften aufgrund von Fastenverstößen geschlossen (IrWire 8.4.2024). Nachdem das [vorislamische] persische Nowruz-Fest in diesem Jahr während des Fastenmonats Ramadan stattfand, wurden die Regeln für Restaurants gegenüber den Vorjahren allerdings gelockert, sodass diese ihre üblichen Öffnungszeiten beibehalten durften, wenn auch mit verhängten Fenstern (IRINTL 13.3.2024a). Der Nowruz-Freudentag "Sizdah-bedar", der üblicherweise mit Familienausflügen ins Grüne sowie Feiern mit Tanz und Musik begangen wird, fiel mit dem islamischen Trauertag anlässlich der Ermordung des ersten schiitischen Imams Ali Ibn-Abi-Talib zusammen. Regimenahe Medien verkündeten, dass Parks und Freizeitanlagen an diesem Tag geschlossen werden würden, für den Abend, nach dem Fastenbrechen dagegen Unterhaltungsprogramme vorgesehen seien. Von offiziellen Stellen wurde beides dementiert. In vielen Teilen Irans wurden an diesem Tag Sicherheitskräfte mobilisiert, um die Bürger an der Feier des "Sizdah-bedar" zu hindern. Nach Einschätzung einer Teheraner Gastautorin des Iran Journal waren sich die Verantwortlichen selbst nicht sicher, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten (IRJ 2.4.2024).

Nach dem Gesetz dürfen Nicht-Muslime nicht missionieren oder versuchen, einen Muslim zu einem anderen Glauben zu bekehren. Das Gesetz betrachtet diese Aktivitäten als Bekehrungsversuche, die mit dem Tod bestraft werden können (USDOS 15.5.2023). Das Parlament höhlte das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit 2021 weiter aus, indem es zwei neue Paragrafen in das IStGB aufnahm, wonach die "Diffamierung staatlich anerkannter Religionen, iranischer Bevölkerungsgruppen und islamischer Glaubensrichtungen" sowie "abweichende erzieherische oder missionarische Aktivitäten, die dem Islam widersprechen" mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren und/oder einer Geldstrafe geahndet werden können (AI 29.3.2022; vergleiche HRW 4.2024). Die vage formulierten Straftatbestände in den Artikeln 499 bis und 500 bis IStGB ermöglichen es den Behörden, Angehörige von nicht anerkannten Religionsgruppen, wie z. B. den Baha'i, für ihre Religionsausübung zu verurteilen, wenn sie diese als den islamischen Prinzipien widersprechend ansehen (HRW 4.2024). Das Regime betrachtet auch fernöstliche oder esoterische Philosophien und Kulte kritisch (IRINTL 25.1.2022). Unter anderem wurde auch ein Yogalehrer wegen "Propaganda gegen die Heiligtümer des Islam" vor einem Revolutionsgericht angeklagt, wobei seine Rechtsanwältin angab, die Behörden hätten seine Tätigkeit als Meditations- und Yogalehrer fälschlicherweise als islamfeindlich interpretiert (RFE/RL 7.11.2023).

Menschen, deren Eltern von den Behörden als Muslime eingestuft wurden, laufen Gefahr, willkürlich inhaftiert, gefoltert oder wegen "Apostasie" mit der Todesstrafe belegt zu werden, wenn sie andere Religionen oder atheistische Überzeugungen annehmen [Anm.: s. Unterkapitel Apostasie, Konversion zum Christentum, Proselytismus, Hauskirchen für weitergehende Informationen] (AI 24.4.2024; vergleiche ÖB Teheran 11.2021).

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Apostasie, Konversion, Proselytismus, Blasphemie

Letzte Änderung: 26.06.2024

Rechtliche Rahmenbedingungen

Abfall vom Islam, Apostasie (Farsi: ertedad) fällt in den Bereich der sog. Hadd-Strafen der Sharia, die allgemein mit der Todesstrafe geahndet werden (BAMF 5.2022) - so die Angeklagten Männer sind, für Frauen ist bei Apostasie eine lebenslange Haftstrafe (bis zur Reue und Rückkehr zum Islam) vorgesehen (Landinfo 20.10.2023). Die islamischen autoritativen Rechtsquellen wie der Koran und Hadithe (Aussagen des Propheten) sind allerdings nicht immer eindeutig und zuweilen auch widersprüchlich. Das Strafgesetzbuch der Islamischen Republik Iran (IStGB) ist nicht mit der Sharia identisch und Apostasie wird nicht als Straftatbestand im IStGB aufgeführt. In Fällen wie diesen erlaubt Artikel 167, der Verfassung Richtern den Rückgriff auf traditionelle islamische Rechtsquellen (Koran, Hadith und Fatwas, sog. Rechtsgutachten). Damit besteht rechtlich zumindest in der Theorie die Möglichkeit bei Apostasie eine Bestrafung gemäß den islamischen Rechtsquellen und Fatwas vorzunehmen. Obwohl die iranischen Behörden zuweilen mit Apostasie-Anklagen drohen, sind solche jedoch sehr selten (BAMF 5.2022; vergleiche ARTICLE19 6.7.2022). Zwischen 1990 und 2020 haben sie das - vermutlich auf internationalen Druck - nur dreimal getan. Die einzige Hinrichtung aufgrund von Apostasie fand 1990 statt (OpD 20.2.2023; vergleiche IRB 9.3.2021). Ein Teilnehmer an den "Frau, Leben, Freiheit"-Protesten wurde im Dezember 2022 jedoch von einem Revolutionsgericht unter anderem wegen Apostasie zum Tod verurteilt. Ihm war die Verbrennung eines Korans vorgeworfen worden, wobei er laut Amnesty International durch Folter zu einem Geständnis gezwungen worden war. Das Urteil wurde im Mai 2023 aufgehoben, der Protestteilnehmer verstarb jedoch in Haft, bevor es zu einer Neuverhandlung kommen konnte (AI 7.9.2023; vergleiche BBC 31.8.2023).

Zum Christentum Konvertierte können auch auf Grundlage anderer Straftatbestände angeklagt werden, wobei diese Anklagepunkte zu den sogenannten Taʿzir-Strafen (Ermessensstrafen) zählen, bei denen die Urteilsfindung und das Strafmaß im Ermessen des vorsitzenden Richters liegen. Mögliche Anklagepunkte, die lt. IStGB mit unterschiedlich langen Haftstrafen geahndet werden, sind z. B.: Aktionen gegen die nationale Sicherheit (IStGB 5. Buch/Art. 498-99) (BAMF 5.2022) einschließlich der Gründung und Mitgliedschaft einer illegalen Gruppe (Landinfo 20.10.2023), Propaganda gegen das System (IStGB 5. Buch/Art. 500), Beleidigung heiliger islamischer Werte und Prinzipien (IStGB 5. Buch/Art. 513), Versammlung und Verschwörung zur Unterminierung der Landessicherheit (IStGB/Art. 610) oder Alkoholgenuss [im Zuge der Heiligen Kommunion] (IStGB/Art. 701) (BAMF 5.2022), wobei der Alkoholkonsum im Rahmen der religiösen Riten einer registrierten Gemeinschaft erlaubt ist (ÖB Teheran 11.2021). Andere politisch motivierte Anklagen wie Feindschaft gegen Gott (moharebeh) und Verderbtheit auf Erden (efsad-e fi’l-arz) [Anm.: zählen beide zu den Hadd-Strafen] wurden ebenfalls verschiedentlich dokumentiert, sind im Zusammenhang mit Bekenntnissen zu religiösen Alternativen allerdings eher selten (BAMF 5.2022).

Missionarische Tätigkeit - d. h. jegliches nicht-islamisches religiöses Agieren in der Öffentlichkeit - ist verboten und wird geahndet (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche USDOS 15.5.2023). Missionierung kann im Extremfall mit dem Tod bestraft werden, wobei es mit Stand November 2021 in den letzten Jahren zu keinem derartigen Urteil kam (ÖB Teheran 11.2021). Im September 2022 wurde jedoch bekannt, dass zwei Aktivistinnen für LGBTIQ-Rechte, denen die Behörden neben anderen Anklagepunkten auch "Missionierung für das Christentum" vorwarfen, zum Tod verurteilt worden sind (BAMF 1.1.2023; vergleiche OMCT 22.9.2022).

Im November 2021 entschied der Oberste Gerichtshof, dass neun christliche Konvertiten, die wegen ihrer Beteiligung an Hauskirchen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden waren, nicht wegen "Handelns gegen die nationale Sicherheit" angeklagt werden sollten. In der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs heißt es: "Die bloße Verkündigung des Christentums und die Förderung der 'evangelikalen zionistischen Sekte', wobei beides offensichtlich die Propagierung des Christentums durch Familientreffen [Hauskirchen] bedeutet, ist kein Ausdruck der Zusammenkunft und der geheimen Absprache, um die Sicherheit des Landes zu stören, weder im Inneren noch nach außen" (ARTICLE18 25.11.2021; vergleiche RFE/RL 5.5.2022). Anders als die Berufungsgerichte kann der Oberste Gerichtshof keine neuen Urteile erlassen, sondern entscheidet lediglich über die Wiederaufnahme von Gerichtsverfahren. Der Fall wurde an eine Zweigstelle des Berufungsgerichtshofes innerhalb des Revolutionsgerichts überstellt, das nun unabhängig von den bislang ergangenen Gerichtsurteilen - aber auch unabhängig vom Obersten Gerichtshof - zu einem Urteil in der Sache gelangen konnte. Die Konvertiten wurden daraufhin im Februar 2022 freigesprochen und bis auf eine Person, die wegen ihrer christlichen Aktivitäten noch eine andere Haftstrafe verbüßt, freigelassen. Gegen zwei der Freigelassenen wurden umgehend neue Anklagen erhoben (BAMF 5.2022). In einem ähnlich gelagerten Fall wurde ein zum Christentum konvertiertes Ehepaar, das 2020 aufgrund der Teilnahme an hauskirchlichen Treffen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden war, im Mai 2023 freigesprochen und aus der Haft entlassen. Auch hier hatte ein Berufungsgericht geurteilt, dass die Organisation, Mitgliedschaft und Teilnahme an christlichen Gruppen keine Handlungen gegen die Sicherheit des Landes darstellen würden (BAMF 15.5.2023). Menschenrechtsorganisationen betonen einerseits eine mögliche Signalwirkung der Urteile (BAMF 15.5.2023; vergleiche ARTICLE18 25.11.2021), andererseits wurde beispielsweise im September 2022 bekannt, dass mehrere Christen aufgrund ihrer Beteiligung an Hauskirchen unter dem Anklagepunkt "Bildung und Betrieb illegaler Organisationen, mit dem Ziel die Sicherheit des Landes zu stören", von einem Berufungsgericht teilweise zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren (ET 24.9.2022; vergleiche OpD 22.9.2022).

Der Straftatbestand der Blasphemie im IStGB kann sich gegen anerkannte wie auch nicht anerkannte religiöse Minderheiten und Atheisten richten (MRG 12.12.2023). Gemäß Artikel 262 und Artikel 513, IStGB kann "Sab al-nabi" (Beleidigung des Propheten) und die Beleidigung der "heiligen islamischen Werte" mit dem Tod bestraft werden (USCIRF 14.9.2023), auch wenn das in der Praxis nicht üblich ist (MRG 12.12.2023). Im Mai 2023 wurde jedoch von zwei Exekutionen nach einer Verurteilung wegen Blasphemie berichtet [Anm.: s. auch Abschnitt zu Atheismus] (RFE/RL 8.5.2023; vergleiche AJ 8.5.2023). Nach Artikel 513, IStGB sind auch Haftstrafen möglich (USCIRF 14.9.2023). Im Mai 2024 wurde beispielsweise ein bekannter, kontroverser Rapper wegen Blasphemie zu drei Jahren Haft verurteilt, nachdem er zuvor von der Türkei nach Iran überstellt worden war (Spiegel 19.5.2024). "Gotteslästerer" werden zudem auch wegen "Korruption auf Erden" und "Feindschaft gegenüber Gott" belangt. Eine Änderung des IStGB im Jahr 2021 (Artikel 499 und 500 bis) schränkt die Rechte religiöser Minderheiten weiter ein, insbesondere das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit [Anm.: s. Überkapitel] (MRG 12.12.2023).

Behandlung von Konvertiten

Christen, insbesondere Evangelikale und andere Konvertiten aus dem Islam, sind nach Angaben christlicher Nichtregierungsorganisationen weiterhin unverhältnismäßig vielen Verhaftungen und Inhaftierungen sowie einem hohen Maß an Schikanen und Überwachung ausgesetzt (USDOS 15.5.2023; vergleiche AA 30.11.2022). Menschenrechtsorganisationen und christliche NGOs berichten weiterhin, dass die Behörden Christen, einschließlich Mitglieder nicht anerkannter Kirchen, aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit oder ihrer Aktivitäten verhaften und sie beschuldigen, illegal in Privathäusern zu operieren oder "feindliche" Länder zu unterstützen und deren Hilfe anzunehmen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen setzt die Regierung auch das Verbot der Missionierung weiter durch (USDOS 15.5.2023). 2023 wurden laut einem Bericht mehrer NGOs mindestens 166 Christen verhaftet, ein Anstieg gegenüber 2022 (134) (ARTICLE18/OpD/MEC/CSW 2.2024).

In Iran Konvertierte nehmen von öffentlichen Bezeugungen ihrer Konversion naturgemäß Abstand, behalten ihren muslimischen Namen und treten in Schulen, Universitäten und am Arbeitsplatz als Muslime auf. Die Probleme, die durch Konversion auftreten können, sind breit gefächert. Sie beginnen in der Schule, wo Kinder aus konvertierten Familien einen Verweis oder die Verwehrung des Hochschuleintritts riskieren, sollten sie den Fächern Religionsunterricht, Islamische Lehre und Koranstunde fernbleiben (ÖB Teheran 11.2021).

Trotz des Verbots des "Abfalls vom Islam" ist in Iran ein anhaltender Trend von Konversion zum Christentum festzustellen. Unter den Christen des Landes stellen Konvertiten aus dem Islam mit schätzungsweise mehreren Hunderttausend inzwischen die größte Gruppe dar, noch vor den Angehörigen traditioneller Kirchen. Viele vor allem jüngere Iraner haben sich von der Religion auch gänzlich abgewendet, weil sie mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit der Islamischen Revolution nicht einverstanden sind (AA 30.11.2022). Das Regime ist bestrebt, die Werte der Islamischen Revolution von 1979 zu schützen, von denen es seine Legitimität ableitet. Der christliche Glaube gilt als gefährlicher westlicher Einfluss und als Bedrohung der islamischen Identität der Republik (OpD 2024). Konversion und Bekenntnis zum Christentum sind damit Akte des Protests, der Fundamentalopposition und des Bruches mit der Islamischen Republik (BAMF 5.2022; vergleiche taz 19.2.2024). Dies erklärt, warum insbesondere Konvertiten, die sich vom Islam ab- und dem christlichen Glauben zugewandt haben, wegen "Verbrechen gegen die nationale Sicherheit" verurteilt werden (OpD 2024). Aufgrund der häufigen Unterstützung ausländischer Kirchen für Kirchen in Iran und der Rückkehr von Christen aus dem Ausland lautet das Urteil oft auch Verdacht auf Spionage und Verbindung zu ausländischen Staaten und Feinden des Islam (z. B. Zionisten) (ÖB Teheran 11.2021). Freikirchliche Protestanten werden des "evangelikalen und zionistischen" Christen- bzw. Sektentums bezichtigt (BAMF 5.2022).

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Behandlung von Konvertiten nach der Rückkehr

Einige Geistliche, die in der Vergangenheit in Iran verfolgt oder ermordet wurden, waren im Ausland zum Christentum konvertiert. Die Tragweite der Konsequenzen für jene Christen, die im Ausland konvertiert sind und nach Iran zurückkehren, hängt von der religiösen und konservativen Einstellung ihres Umfeldes ab. Jedoch wird von familiärer Ausgrenzung berichtet, sowie von Problemen, sich in der islamischen Struktur des Staates zurechtzufinden (z. B. Eheschließung, soziales Leben) (ÖB Teheran 11.2021). Informanten in westlichen Ländern berichten dem iranischen Geheimdienst über Aktivitäten iranischer Christen im Ausland (OpD 2024).

Die Rückkehr von Konvertiten nach Iran führt nicht zwingend zu einer Festnahme oder Inhaftierung (BAMF 3.2019). Wenn ein Konvertit den Behörden auch zuvor nicht bekannt war, dann ist eine Rückkehr weitgehend problemlos. Auch konvertierte Rückkehrer, die keine Aktivitäten in Bezug auf das Christentum setzen, sind für die Behörden nicht von Interesse. Wenn ein Konvertit schon vor seiner Ausreise den Behörden bekannt war, kann sich die Situation anders darstellen. Auch Konvertiten, die ihre Konversion öffentlich machen, können sich womöglich Problemen gegenübersehen. Wenn ein zurückgekehrter Konvertit sehr freimütig über seine Konversion in den Social Media-Kanälen berichtet, besteht die Möglichkeit, dass die Behörden auf ihn aufmerksam werden und ihn bei der Rückkehr verhaften und befragen. Der weitere Vorgang hängt davon ab, was der Konvertit den Behörden erzählt. Wenn der Konvertit kein 'high-profile'-Fall ist und nicht missionarisch tätig ist bzw. keine anderen Aktivitäten setzt, die als Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen werden, ist eine harsche Strafe eher unwahrscheinlich. Eine Bekanntgabe der Konversion auf Facebook allein führt zumeist nicht zu einer Verfolgung, aber dies kann durchaus dazu führen, dass man beobachtet wird. Ein gepostetes Foto im Internet kann von den Behörden ausgewertet werden, gemeinsam mit einem Profil und den Aktivitäten der konvertierten Person. Wenn die Person vor dem Verlassen des Landes keine Verbindung mit dem Christentum hatte, wird diese aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht verfolgt werden. Wenn eine konvertierte Person die Religion in politischer Weise heranzieht, um zum Beispiel Nachteile des Islam mit Vorteilen des Christentums auf sozialen Netzwerken zu vergleichen, kann das aber zu Problemen führen (DIS 23.2.2018). Eine befragte Rechtsanwältin schilderte in diesem Zusammenhang auch, dass es Fälle gibt, bei denen Personen aufgrund von Beiträgen in den sozialen Netzwerken mit nur geringer Reichweite oder Beiträgen von lediglich "privat" einsehbaren Profilen inhaftiert wurden, da sie von Personen aus ihrem Umfeld gemeldet wurden. Der Staat ist rechtlich dazu in der Lage, Personen in derartigen Fällen aufgrund von "Vergehen gegen die nationale Sicherheit" oder "Vergehen gegen den Islam" zu verfolgen (MRAI 19.6.2023). Die iranischen Behörden fokussieren bei der Überwachung von Konvertiten zuletzt zunehmend auf Online-Aktivitäten (Landinfo 20.6.2022).

Atheismus

Rechtlich gesehen ist es im Iran nicht möglich, sich nicht zu einer Religion zu bekennen. Es gibt mehrere Situationen, in denen Iraner den Behörden ihre Religionszugehörigkeit mitteilen müssen (MBZ 9.2023). Personen, die sich öffentlich vom Islam lossagen, können wegen Apostasie (DFAT 24.7.2023) und Blasphemie angeklagt werden (SäkF 24.8.2020; vergleiche RFE/RL 8.5.2023). Beispielsweise im Mai 2023 exekutierte das iranische Regime zwei atheistische Aktivisten, die wegen Blasphemie zum Tod verurteilt worden waren, da sie in den sozialen Medien angeblich "Atheismus und die Beleidigung von religiösen und islamischen Heiligtümern" gefördert hätten (RFE/RL 8.5.2023; vergleiche AJ 8.5.2023). Atheisten sind daher üblicherweise diskret bei der Zurschaustellung ihrer Anschauung (DFAT 24.7.2023; vergleiche USDOS 15.5.2023). Wenn sie diese nicht weithin bekannt machen, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Behörden auf sie aufmerksam werden (DFAT 24.7.2023). Unter anderem verbietet auch das Pressegesetz ausdrücklich eine Verbreitung von atheistischen Inhalten oder von Inhalten, die als schädlich für die islamischen Kodizes oder als Beleidigung islamischer Rechtsgelehrter angesehen werden. Die weit gefassten Definitionen erleichtern hierbei eine umfassende Zensur und verwehren den Bürgern den Zugang zu verschiedenen Informationsquellen (ARTICLE19 27.2.2018).

Atheisten aus konservativen Familien könnten mit familiärem Druck und potenzieller Ächtung konfrontiert werden, wenn ihr Atheismus bekannt würde. Atheisten aus liberaleren Familien und Teilen des Landes, wie dem Norden Teherans, sind solchem Druck dagegen nicht ausgesetzt (DFAT 24.7.2023). Gemäß einer anderen Quelle gaben Atheisten dagegen an, dass sie ihren Atheismus in den meisten gesellschaftlichen und sogar familiären Kontexten zu ihrer eigenen Sicherheit verbergen müssen (IrWire 27.2.2023).

Rückkehr zum Islam

Wer zum Islam zurückkehrt, tut dies ohne besondere religiöse Zeremonie, um Aufsehen zu vermeiden. Es genügt, wenn die betreffende Person glaubhaft versichert, weiterhin oder wieder dem islamischen Glauben zu folgen. Es gibt hier für den Rückkehrer bestimmte religiöse Formeln, die dem Beitritt zum Islam ähneln bzw. nahezu identisch sind (ÖB Teheran 11.2021).

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Ethnische Minderheiten

Letzte Änderung: 26.06.2024

Nur etwa jeder zweite Iraner hat Persisch als Muttersprache; die Bezeichnungen Iraner und Perser sind keineswegs identisch und Iran ist seit drei Jahrtausenden ein Vielvölkerstaat (BPB 13.1.2020). Angehörige ethnischer Minderheiten machen insgesamt ca. die Hälfte der iranischen Bevölkerung aus, darunter Azeris, Kurden, Gilaki und Mazandarani, Araber, Turkmenen, Luren, Belutschen, Zaza, Armenier, Assyrer und Georgier (AA 30.11.2022). Nach anderen Angaben gehören schätzungsweise 30 bis 35 von insgesamt rund 80 Millionen Iranern einer ethnischen Minderheit an. Der Staat veröffentlicht dazu keine Zahlen – aus Furcht vor Missbrauch durch außenpolitische Gegner, aber auch um bei den Minoritäten selbst keine Forderungen zu ermutigen (BPB 13.1.2020).

Berechnungen zufolge stellen Azeris etwa 20 % der Bevölkerung, Kurden 10 %, Luren 6 %, Araber und Belutschen je 2 %, Turkmenen 1 %. Ferner wohnen mehrere Millionen Afghanen dauerhaft in Iran, viele bereits in der zweiten Generation (BPB 13.1.2020). Die Minderheiten leben keineswegs nur in jenen Regionen, die ihren jeweiligen Namen tragen, wie etwa Kurdistan oder Aserbaidschan. Irans Ethnien- und Sprachenkarte ähnelt einem bunt gemusterten Teppich [Anm.: vergleiche Karte unten] (BPB 13.1.2020; vergleiche Izady/Gulf 2000 o.D.), wobei die meisten dieser Minderheiten in den Grenzprovinzen leben und Verbindungen zu Ethnien in Nachbarstaaten wie Irak, Aserbaidschan, Pakistan (FP 19.10.2022) und Afghanistan haben (MRG 6.2018).

Die ethnischen Minderheiten sind vorwiegend auch religiöse Minderheiten (UNHRC 19.3.2024). Zu den sunnitischen ethnischen Minderheiten des Landes zählen die Turkmenen im Nordosten, die Kurden im Westen, Araber im Südwesten und Belutschen im Südosten (DW 7.4.2024).

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Die Verfassung gewährt allen ethnischen Minderheiten gleiche Rechte und erlaubt die Verwendung von Minderheitensprachen in den Medien. Das Gesetz gewährt den Bürgern das Recht, ihre eigenen Sprachen und Dialekte zu lernen, zu verwenden und zu unterrichten (USDOS 23.4.2024). Trotzdem erleben Vertreter ethnischer Minderheiten verschiedene Formen von Diskriminierung (FH 2024; vergleiche USDOS 23.4.2024), einschließlich Einschränkungen bei der Verwendung ihrer Sprachen. Vertreter nicht-persischer ethnischer Minderheiten und insbesondere nicht-schiitischer religiöser Minderheiten erhalten nur selten höhere Regierungsposten, und ihre politische Vertretung ist nach wie vor schwach (FH 2024). Persisch ist die vorherrschende Sprache im Land, und das Sprechen anderer Sprachen ist in Schulen, Medien und im öffentlichen Leben verboten oder stark eingeschränkt, auch wenn es Bemühungen gab, um die sprachliche und kulturelle Diversität in Iran beispielsweise durch die Einführung einiger Kurse für Minderheitensprachen an Schulen und Universitäten zu fördern (TGP 21.2.2023). Nach dem iranischen Personenstandsgesetz können die Behörden zudem die Registrierung von Namen ablehnen, wobei die Entscheidung, ob ein Name zulässig ist oder nicht, häufig im Ermessen der örtlichen Behörden liegt. Das Gesetz wurde jedoch systematisch dazu benutzt, um ethnischen und religiösen Minderheiten die Wahl des Namens für ihre Kinder zu verweigern (Jadaliyya 1.11.2022; vergleiche VOA 19.5.2022). Viele Iraner haben daher zwei Namen - einen, der in juristischen Dokumenten verwendet wird, und einen anderen für Familie und Freunde (VOA 19.5.2022).

Bei der Behandlung gibt es auch Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen: Aserbaidschaner sind beispielsweise seit Jahrhunderten eine Säule der iranischen Verwaltung und in jüngerer Vergangenheit haben Mitglieder der Gemeinde wichtige Machtpositionen ausgefüllt, indem sie beim Militär und bei den Revolutionsgarden dienten (MEI 27.2.2024; vergleiche USDOS 23.4.2024). Jedoch berichteten auch Aserbaidschaner von Übergriffen auf Aktivisten und die Verweigerung von turksprachigen Namen für Kinder (USDOS 23.4.2024).

Von Minderheiten bevölkerte Regionen wie Khuzestan, Kurdistan und Sistan-Baluchestan bleiben wirtschaftlich unterentwickelt (MRG 24.11.2022). Sie wurden seit Jahrzehnten bei staatlichen Investitionen, der Entwicklung der Infrastruktur und bezüglich Beschäftigungsmöglichkeiten vernachlässigt (AGSIW 14.10.2022; vergleiche AA 30.11.2022). Im Vergleich zum persisch dominierten Zentrum sind sie mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, darunter Armut, schlechter Zugang zu staatlichen Dienstleistungen, Umweltzerstörung und Wasserknappheit (FP 19.10.2022). Ethnische Minderheiten, insbesondere Ahwazis, Aseris und Luren, beschwerten sich regelmäßig darüber, dass die Regierung natürliche Ressourcen, vor allem Wasser, aus den von Minderheiten bewohnten Regionen abzweigt und damit Misswirtschaft betreibt, was zu Umweltzerstörung und einer weiteren Marginalisierung dieser Gruppen führt (USDOS 23.4.2024).

Die Anzahl an Inhaftierungen (FP 19.10.2022) und Hinrichtungen ist in Regionen mit hohem Bevölkerungsanteil von ethnischen Minderheiten vergleichsweise hoch (IHRNGO 5.3.2024), wobei in diesem Zusammenhang insbesondere die ethnischen Gruppen der Belutschen und Kurden genannt werden (AI 4.4.2024; vergleiche IHRNGO 5.3.2024). Auch die Mehrheit der 2023 wegen ihrer politischen Zugehörigkeit Hingerichteten gehörte einer ethnischen Minderheit an, wobei Kurden hierbei die größte Gruppe darstellen, gefolgt von Belutschen und Arabern. Laut der NGO Iran Human Rights (IHRNGO) könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Behörden mehr Gewalt anwenden, um Angst zu schüren, weil der Widerstand in der Bevölkerung in diesen Regionen größer ist. Während der landesweiten Proteste nach der Ermordung von Jina (Mahsa) Amini waren die kurdischen Regionen und Belutschistan die Gebiete mit den am längsten anhaltenden Protesten (IHRNGO 5.3.2024). Die Sicherheitskräfte setzten bei der Protestniederschlagung in den Regionen mit Minderheitenbevölkerung besonders brutale und militarisierte Gewalt ein, was zu einer höheren Zahl von Todesopfern führte (UNHRC 19.3.2024). Fast die Hälfte aller auf der Straße getöteten Demonstranten stammte aus Belutschistan, Kurdistan und anderen kurdischen Städten in anderen Provinzen (IHRNGO 5.3.2024; vergleiche UNHRC 7.2.2023). Die Behörden betreiben gezielte Propaganda, bei der sie ihre Kritiker in Regionen mit ethnischen Minderheiten als Separatisten bezeichnen, und die Präsenz bewaffneter Gruppen in diesen Regionen macht es den Behörden leichter, Todesurteile unter dem Vorwand der Bekämpfung von Terrorismus und Separatismus zu rechtfertigen. IHRNGO geht außerdem davon aus, dass die lokalen Justizbehörden in Gebieten mit schwierigen sozioökonomischen Bedingungen - wie in den von ethnischen Minderheiten bewohnten Provinzen Kurdistan, West-Aserbaidschan, Ost-Aserbaidschan und Sistan und Belutschistan - gesetzloser und willkürlicher vorgehen als anderswo (IHRNGO 5.3.2024).

Ahwazi-Araber, Belutschen und Kurden waren 2023 auch überproportional von heimlichen Hinrichtungen betroffen (AI 4.4.2024). Grenzüberschreitende Schmuggler, die in Kurdistan als Kolbars und in Belutschistan als Sookhtbars bekannt sind, werden seit Jahrzehnten außergerichtlich hingerichtet, wobei in diesem Zusammenhang auf die beschränkten Verdienstmöglichkeiten bzw. Armut in den von ihnen bewohnten Gebieten verwiesen wird (NLM 8.11.2022; vergleiche IRINTL 24.3.2024).

Sowohl vor als auch nach der Revolution rechtfertigten iranische Regierungen die "Politik der eisernen Faust" in den Randgebieten des Landes als Mittel zur Wahrung der territorialen Integrität Irans (Stimson 27.2.2023; vergleiche BPB 13.1.2020). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante, separatistische Gruppierungen. Jedoch werden auch Personen, die sich für den Erhalt der sprachlichen oder kulturellen Identität einsetzen, oft als Separatisten verfolgt und teils zu langen Haftstrafen verurteilt (AA 30.11.2022). Einer Minderheit angehörende Aktivisten werden regelmäßig verhaftet und aufgrund willkürlicher Anschuldigungen zur Wahrung der nationalen Sicherheit in Prozessen verfolgt, die in keiner Weise internationalen Standards entsprechen (HRW 11.1.2024a). Das Regime versuchte, die Forderungen nicht-persischer ethnischer Gruppen im Rahmen der Proteste ab September 2022 als Separatismus zu delegitimieren (BS 19.3.2024; vergleiche NLM 8.11.2022), während Experten eine noch nie da gewesene Solidarität zwischen den persischen und nicht-persischen Gemeinschaften des Landes sahen (NLM 8.11.2022; vergleiche Stimson 27.2.2023, BS 19.3.2024).

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Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Letzte Änderung: 26.06.2024

Generell genießt die Familie in Iran, ebenso wie in den meisten anderen islamischen Gesellschaften, einen hohen Stellenwert. Der Unterschied zwischen Stadt und Land macht sich aber auch hier bemerkbar in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau sowie hinsichtlich der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Auf dem Land hat das traditionelle islamische Rollenmodell weitgehende Gültigkeit, der Tschador, der Ganzkörperschleier, dominiert hier das Straßenbild. In den großen Städten hat sich dieses Rollenverständnis inzwischen verschoben, wenn auch nicht in allen Stadtteilen. Während des Iran-Irak-Krieges war, allen eventuellen ideologischen Bedenken zum Trotz, die Arbeitskraft der Frauen unabdingbar. Nach dem Krieg waren Frauen aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken oder gar zu entfernen. Die unterschiedliche und sich verändernde Stellung der Frau zeigt sich auch an den Kinderzahlen: Während in vielen ländlichen - v. a. in den abgelegeneren - Gebieten fünf Kinder der Normalfall sind, sind es in Teheran und Isfahan im Durchschnitt unter zwei. Insbesondere junge Frauen begehren heute gegen die nominell sehr strikten Regeln auf, besonders anhand der Kleidungsvorschriften für Frauen wird heute der Kampf zwischen einer eher säkular orientierten Jugend der Städte und dem System in der Öffentlichkeit ausgefochten (GIZ 12.2020b).

Bei den landesweiten Protesten ab September 2022 spielten Frauen und Mädchen eine zentrale Rolle (AI 27.3.2023). Amini war kurz vor ihrem Tod von der Sittenpolizei wegen angeblicher Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften für Frauen verhaftet und laut Augenzeugenberichten geschlagen worden (BBC 16.9.2022). Den Protesten unter der weitverbreiteten Parole: "Frau, Leben, Freiheit" (in kurdischer Sprache: "Jin, Jîyan, Azadî") (NatGeo 17.10.2022), die im Wesentlichen von Frauen gestartet wurden (EN 1.2.2023), schlossen sich Iraner und Iranerinnen aller Altersgruppen und Ethnien an, wobei sie v. a. von den jüngeren Generationen auf die Straße getragen wurden (NatGeo 17.10.2022). Viele Gegnerinnen der Regierung drücken ihren Protest auch durch zivilen Ungehorsam aus, etwa indem sie den Kopftuchzwang ignorieren (Spiegel 19.1.2023). Die Behörden verhafteten im Rahmen der Massenproteste Tausende von Menschen, darunter Prominente, Menschenrechtsaktivisten und andere, die ihre Unterstützung für die Bewegung durch Beiträge in den sozialen Medien oder durch die öffentliche Missachtung der Hijab-Pflicht, die zu Mahsa Aminis Verhaftung und Tod geführt hatte, zum Ausdruck brachten (FH 2024). 2023 haben die Behörden ihre Bemühungen zur Durchsetzung der Hijab-Pflicht wieder intensiviert (HRW 11.1.2024a).

Verschiedene gesetzliche Verbote machen es Frauen unmöglich, im gleichen Maße wie Männer am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht sind iranische Frauen also vielfältigen Diskriminierungen unterworfen, die jedoch zum Teil relativ offen diskutiert werden (AA 30.11.2022). Frauen haben das aktive Wahlrecht (USDOS 23.4.2024), sind jedoch von einigen staatlichen Funktionen (u. a. Richteramt, Staatspräsident) gesetzlich oder aufgrund entsprechender Ernennungspraxis ausgeschlossen (AA 30.11.2022; vergleiche USDOS 23.4.2024) und in der Politik unterrepräsentiert (FH 2024).

Iran hat die "Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau" (CEDAW) als einer von wenigen Staaten weltweit nicht unterzeichnet (FNS 8.12.2022; vergleiche UNHRC o.D.) und der iranische Bildungsminister hat beispielsweise die Agenda 2030 für Bildung der UNESCO, die sich gegen Geschlechterdiskriminierung im Bildungswesen einsetzt, als der iranischen Kultur widersprechend bezeichnet (IRINTL 5.5.2024).

Rechtliche Stellung von Frauen

Die iranische Verfassung schreibt eine "Gleichberechtigung aller vor dem Gesetz" vor, allerdings steht diese zugleich unter dem Vorbehalt der Ziele der Islamischen Republik, die nur unter "Beachtung der islamischen Normen" erreicht werden können. Da alle einfachgesetzlichen Normen mit der Scharia vereinbar sein müssen und in Iran einer traditionellen Rechtsauslegung der Scharia gefolgt wird, kommt es v. a. in den Bereichen zum Ehe- und Scheidungsrecht, dem Sorgerecht und bei Erbschaftsangelegenheiten zu erheblichen Benachteiligungen für Frauen (BAMF 1.2023). Prägend ist dabei die Rolle der (Ehe-) Frau als dem (Ehe-) Mann untergeordnet, wie sich sowohl in Fragen der Selbstbestimmung, des Sorgerechtes, der Ehescheidung als auch des Erbrechts erkennen lässt (AA 30.11.2022; vergleiche AI 24.4.2024, HRW 11.1.2024a, BAMF 1.2023).

Beispielsweise darf eine verheiratete Frau ohne die schriftliche Genehmigung ihres Mannes (oder Vormundes) keinen Reisepass erhalten oder ins Ausland reisen [Anm.: s. Kap. Bewegungsfreiheit für weitere Informationen.] (HRW 11.1.2024a; vergleiche BAMF 1.2023). Nach dem Gesetzbuch für Zivilrecht hat ein Ehemann das Recht, den Wohnort zu wählen, und kann seine Frau daran hindern, bestimmte Berufe auszuüben (HRW 11.1.2024a). Im Straf- bzw. Strafprozessrecht sind Mädchen bereits mit neun Jahren strafmündig (Buben mit 15 Jahren) (AA 30.11.2022; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Zeugenaussagen von Frauen werden nur zur Hälfte gewichtet (AA 30.11.2022; vergleiche FH 2024), und die finanzielle Entschädigung, die der Familie eines weiblichen Opfers nach ihrem Tod gewährt wird, ist nur halb so hoch wie die Entschädigung für ein männliches Opfer (FH 2024; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Selbst Kfz-Versicherungen zahlen bei Personenschäden von Frauen nur die Hälfte. Auch erben Frauen nur die Hälfte des Erbanteils von Männern (ÖB Teheran 11.2021).

Kleidungsvorschriften und kulturelle Teilhabe

Dem Gesetz nach müssen alle Frauen in Iran ab einem Alter von neun Jahren die islamischen Bekleidungsvorschriften in der Öffentlichkeit einhalten (BAMF 7.2020). Artikel 638 des iranischen Strafgesetzbuchs (IStGB) stellt die Missachtung der Hijab-Regeln und die Verletzung der Geschlechtertrennung als sündige oder unanständige öffentliche Handlungen unter Strafe und ist ein Eckpfeiler der geschlechtsspezifischen, systematischen Unterdrückung (JS 11.4.2024). Frauen, die in der Öffentlichkeit ohne "angemessene Kleidung", wie z. B. einen Stoffschal über dem Kopf (Hijab) und einem Kurzmantel (Manteau), oder einen Tschador [bodenlanger Umhang, der nur das Gesicht freilässt] auftreten, können zu Auspeitschung oder einem Bußgeld verurteilt werden (USDOS 23.4.2024), Artikel 638, IStGB sieht auch Haftstrafen zwischen zehn Tagen und zwei Monaten vor (IStGB 15.7.2013). Für Männer gibt es keine entsprechenden Bestimmungen im Strafgesetzbuch (USDOS 23.4.2024). Diese und andere Vorschriften ermächtigen verschiedene Stellen am Arbeitsplatz, im Bildungs- und Gesundheitswesen und in kulturellen Einrichtungen, ein breites Spektrum an Disziplinarmaßnahmen und Einschränkungen gegen Frauen zu verhängen, die sich nicht an die Hijab-Pflicht und die Vorschriften zur Geschlechtertrennung halten (JS 11.4.2024).

Im Juni 2023 hat das Parlament das sogenannte "Hijab- und Keuschheitsgesetz" beschlossen (IRINTL 12.5.2024), das bislang allerdings nicht offiziell in Kraft getreten ist (Standard 13.4.2024), da es vom Wächterrat mehrfach an das Parlament zurückverwiesen wurde (IrWire 13.3.2024). Der Gesetzentwurf sieht eine Verschärfung der Strafen für Frauen vor, die sich in der Öffentlichkeit nicht an die Bekleidungsvorschriften halten (JS 11.4.2024; vergleiche IrWire 13.3.2024). In Extremfällen können sogar bis zu 15 Jahre Haft und umgerechnet mehr als 5.000 Euro Strafe verhängt werden. Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, sollen auch mit Berufsverboten von bis zu 15 Jahren belegt werden können, und die Justiz soll die Befugnis erhalten, ein Zehntel ihres Vermögens zu beschlagnahmen (taz 20.9.2023). Unter Strafe gestellt werden auch Handlungen wie das Veröffentlichen unverhüllter Fotos in sozialen Medien, Proteste gegen Hijab-Vorschriften oder die Zusammenarbeit mit ausländischen Medien und Regierungen gegen die Hijab-Pflicht. Geschäftsinhabern drohen Geldstrafen, Schließung und Lizenzentzug (JS 11.4.2024). Der Gesetzesentwurf sieht auch eine Verschärfung der Überwachungsmaßnahmen zur Einhaltung der Hijab-Gesetzgebung vor, unter anderem mittels Überwachungskameras und Gesichtserkennungssoftware (IRINTL 27.5.2024), sowie die Bereitstellung von umfangreichen Haushaltsmitteln für die Einrichtung einer zentralen Stelle im Innenministerium, an die Ministerien, Staatsorgane und Strafverfolgungsbehörden ihre Einhaltung der Hijab- und Keuschheitsvorschriften melden müssen. Obwohl das Gesetz offiziell noch nicht in Kraft getreten ist, werden viele dieser Maßnahmen schon umgesetzt (JS 11.4.2024).

Amnesty International dokumentierte beispielsweise Konfiskationen von Autos wegen angeblicher Hijab-Verstöße durch Frauen, wie auch Zugangsverweigerungen zu öffentlichen Verkehrsmitteln, wobei manche Frauen Textnachrichten erhielten und strafrechtlich verfolgt wurden, da sie von Überwachungskameras ohne Hijab bzw. in nicht konformer Kleidung gefilmt worden waren. Manche Frauen wurden nur verwarnt, andere zur Teilnahme an einem "Sittenunterricht" verpflichtet. Eine Betroffene berichtete von der Konfiskation ihres Laptops und strafrechtlicher Verfolgung aufgrund von in den sozialen Medien veröffentlichten Bildern (AI 6.3.2024). Um die Zahl der Strafverfahren zu verringern, kommen Frauen bei Verstößen in vielen Fällen mit einer Verwarnung davon (DIS 3.2023). Auch wenn es in der Regel nur zu Verwarnungen kommt, ist die sogenannte Sittenpolizei in Iran jedoch gefürchtet. Bei Kontrollen soll sie regelmäßig Gewalt anwenden (AA 30.11.2022). Es wird von Fällen berichtet, bei denen Frauen von "Hijab-Durchsetzern" oder Polizeikräften verprügelt wurden (IrWire 16.5.2024). Weiters kommt es zu Schließungen von Cafés, Restaurants und Geschäften, die Frauen ohne Hijab bedient haben (IrWire 16.5.2024; vergleiche NYT 5.5.2023). Einige Besitzer verweigern die Bedienung von Frauen mit losem Kopftuch aufgrund des Drucks der Sicherheitsbehörden daher. Die Politik der Islamischen Republik zielt darauf ab, Frauen die Präsenz im städtischen Raum zu verweigern (IrWire 16.5.2024). Im April 2024 kündigten die Sicherheitsbehörden die "Operation Nour" ("Licht") an, in deren Rahmen Frauen verstärkt wegen Hijab-Verstößen verhaftet werden. Berichten zufolge haben die Behörden Hunderte von Einrichtungen geschlossen, weil sie die Hijab-Pflicht nicht durchgesetzt haben (UANI o.D.; vergleiche IrWire 16.5.2024). Frauen, die sich an Online- und Offline-Kampagnen gegen die Hijabpflicht beteiligt haben, wurden auch wegen Sicherheitsdelikten angeklagt, da sie den Hijab in der Öffentlichkeit nicht korrekt getragen hatten (DIS 3.2023).

Gleichwohl ignorieren viele Frauen, v. a. in den Städten, trotz etwaiger Gegenmaßnahmen weiterhin die Einhaltung der Kopftuchpflicht (BAMF 4.12.2023; vergleiche IRINTL 12.5.2024). Seit Mai 2023 entwickelten sich beispielsweise die U-Bahnstationen in Teheran zu Kampffeldern zwischen Gegnerinnen und Befürwortern des verpflichtenden Hijabs. Frauen, die grüne Schulterschärpen mit der Aufschrift "Orientierungsbotschafterinnen" tragen, halten dort Frauen an, die kein Kopftuch tragen, und ermahnen sie zur Einhaltung der Hijab-Pflicht (IRINTL 25.11.2023), wobei sich manche der Frauen über eine harte Behandlung durch diese "Botschafterinnen" beschwerten (IrWire 23.11.2023). Die Behörden sind noch mehr in Alarmbereitschaft, seit eine 17-Jährige [lt. manchen Quellen auch 16-Jährige] im Oktober nach einer Konfrontation mit der Sittenpolizei in der Teheraner U-Bahn gestorben ist (RFE/RL 6.11.2023). Laut Zeugenaussagen war die junge Frau, die kein Kopftuch trug, von einer Hijab-Vollstreckerin gestoßen worden, sodass sie mit dem Kopf auf einen Metallgegenstand fiel. Sie verlor daraufhin das Bewusstsein und verstarb nach einigen Wochen im Koma (TIME 28.10.2023; vergleiche RFE/RL 6.11.2023).

Laut offiziellen Statistiken sind rund 70 % der iranischen Bevölkerung gegen den verpflichtenden Hijab (BAMF 1.2023).

Zahlreiche Beschränkungen zielen auf Frauen in Sport und Kultur ab (Verbot des Singens außer im Chor, Verbot des Tanzens, Verbot des Zugangs zu Fußballstadien, etc.) (ÖB Teheran 11.2021). Frauen ist es untersagt, in der Öffentlichkeit allein zu singen. Tanzen in der Öffentlichkeit ist nicht ausdrücklich verboten, doch können Personen strafrechtlich verfolgt werden, wenn die Behörden ihre Handlungen für unanständig oder unmoralisch halten. Es gab mehrere Berichte über Mädchen, die 2023 verhaftet wurden, nachdem sie Videos von sich beim Tanzen ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit veröffentlicht hatten. In vielen Fällen wurde Frauen der Besuch von Sportveranstaltungen untersagt, obwohl Frauen an nach Geschlechtern getrennten Sportarten teilnehmen dürfen (USDOS 23.4.2024). Seit 1979 wird Frauen der Zutritt zu großen Fußballstadien verwehrt. Auf Druck der FIFA und anderer Organisationen durften Frauen in den letzten Jahren bei einer Handvoll nationaler Spiele anwesend sein. Im August 2022 durften sie zum ersten Mal ein Ligaspiel besuchen (AJ 25.8.2022). Im Mai 2024 wurde wieder von Zutrittsverboten von Frauen zu einem Stadion berichtet (IrWire 16.5.2024). Im Februar 2024 wurde beispielsweise von einem in der Provinz Khorasan Razavi erlassenen Verbot berichtet, das die Sportausübung von Frauen in Parks einschränkt (IrWire 6.2.2024).

Wirtschaftliche Teilhabe

Mehr als die Hälfte der Universitätsabsolventen sind Frauen, die Arbeitslosenrate von Frauen ist jedoch doppelt so hoch wie jene der Männer (FA 2.2.2023). Nur etwa 14 % aller Frauen über 15 Jahren sind in Iran laut den aktuellsten Daten (2023) berufstätig (WB 6.2.2024a), während es unter den Männern geschätzte 71 % sind (WB 6.2.2024b). Die Arbeitslosenrate von Frauen ist doppelt so hoch wie jene von Männern (USDOS 23.4.2024). Frauen sehen sich am Arbeitsmarkt im Hinblick auf Beschäftigungschancen und gleiche Bezahlung mit Diskriminierung konfrontiert. Außerdem dürfen sie bestimmte Berufe nicht ausüben (z. B. das Richteramt) (BS 19.3.2024). Die ultrakonservative Regierung wird die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt nicht vorantreiben, weil sie die traditionelle Rolle der Frau in der islamischen Familie stärken und die Geburtenrate erhöhen will (AA 30.11.2022). Der Zugang zum Arbeitsmarkt und die beruflichen Möglichkeiten für Frauen sind durch soziale und rechtliche Regelungen eingeschränkt, mit dem Ziel der Beschränkung von Frauen auf deren Rolle als Mutter und Ehefrau. Oftmals wird von Frauen das Einverständnis des Ehemannes oder Vaters verlangt, um eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können. Gesetzlich kann ein Ehemann seiner Ehefrau jederzeit verbieten, arbeiten zu gehen. Stellenausschreibungen werden oft geschlechtsspezifisch nur für Männer ausgeschrieben. Regelmäßig werden Frauen nach Rückkehr aus der neunmonatigen Karenz gekündigt. Die gravierenden Einschränkungen der Versammlungsfreiheit verhindern den gewerkschaftlichen Zusammenschluss erwerbstätiger Frauen. Konservative Politiker haben in der Vergangenheit mehrmals versucht, die Erwerbstätigkeit von Frauen weiter einzuschränken oder in manchen Sektoren zu verbieten (ÖB Teheran 11.2021).

Zugang zum Bildungswesen

Obwohl der Grundschulbesuch bis zum Alter von elf Jahren für alle kostenlos und verpflichtend ist, berichten Medien und andere Quellen über eine geringere Einschulung in ländlichen Gebieten, insbesondere bei Mädchen. Sie können von der Schulpflicht ausgenommen werden, wenn sie verheiratet sind (USDOS 23.4.2024). Auf der einen Seite gibt es an den Schulen eine institutionalisierte Ungleichheit der Geschlechter, welche die Qualität der Bildung, die Frauen erhalten, aktiv beeinträchtigt. Alle Schulen sind nach Geschlechtern getrennt, sowohl in Bezug auf Schüler als auch auf Lehrer. Es ist bekannt, dass iranische Schulbücher Bilder und Schriften enthalten, die Frauen zugunsten von Männern diskriminieren. Ferner wird berichtet, dass dreimal so viele Mädchen im schulpflichtigen Alter keine Bildung erhalten wie Buben (BAMF 7.2020; vergleiche AIC 12.7.2022). Im November 2023 kündigte der iranische Bildungsminister Pläne für eine grundlegende Umgestaltung des iranischen Bildungssystems mit der Einführung geschlechtsspezifischer Lehrbücher für männliche und weibliche Schüler an (RFE/RL 13.11.2023; vergleiche IRINTL 5.5.2024). Andererseits hat Iran immense Fortschritte in den Bereichen Alphabetisierung von Frauen, Grundschulbildung und Hochschulbildung gemacht. Am bemerkenswertesten ist die weibliche Dominanz in der tertiären Bildung (AIC 12.7.2022). Im regionalen Vergleich bietet das iranische Bildungssystem daher etwas mehr Möglichkeiten für Frauen (BS 19.3.2024). Fast 60 % der Studenten sind weiblich (TEHT 27.6.2023; vergleiche SRF 22.10.2022), wobei es für Frauen Zugangsbeschränkungen zu bestimmten Studienfächern gibt (Zeit Online 10.3.2023). Universitäten bieten mehrheitlich den gemeinsamen Zugang für Männer sowie Frauen an. Es gibt jedoch einige Universitäten in Iran, die lediglich für Männer oder Frauen zugänglich sind (BAMF 7.2020). Im Oktober 2023 wurde von Studentenprotesten an der Technischen Universität (Sharif) gegen Maßnahmen zur Geschlechtertrennung in einzelnen Fakultäten und universitären Einrichtungen berichtet. Zu Beginn des laufenden akademischen Jahres sind im Zuge vermehrter Kontrollen der Einhaltung islamischer Bekleidungsvorschriften auch Maßnahmen zur Geschlechtertrennung im akademischen Umfeld verstärkt worden (BAMF 16.10.2023).

Massenvergiftungsfälle an Mädchenschulen

Vor allem zwischen November 2022 und April 2023 wurde von Fällen von Massenvergiftungen, vorwiegend an Mädchenschulen, berichtet (IRINTL 7.10.2023). Im Herbst 2023 wurden weitere Fälle in mehreren Städten bekannt (IRINTL 4.11.2023; vergleiche IRINTL 7.10.2023). Nach Regierungsangaben wurden von November 2022 bis November 2023 insgesamt rund 13.000 Mädchen mit Symptomen von Gasvergiftungen medizinisch behandelt (IRINTL 4.11.2023). Es kam zu mindestens einem Todesopfer (IRINTL 7.10.2023). Der Ausbruch an Mädchenschulen, der erstmals in der heiligen Stadt Ghom gemeldet wurde, löste erneute Proteste gegen die Regierung aus (USIP 16.3.2023). Auch aufgrund der Proteste von Eltern haben die Behörden inzwischen eingeräumt, dass es sich um vorsätzliche Vergiftungen handeln könnte (Zeit Online 10.3.2023; vergleiche USIP 16.3.2023). Über die Täter und Motive gibt es nur Spekulationen (Zeit Online 10.3.2023; vergleiche IRINTL 4.11.2023). Die Beispiellosigkeit dieser Ereignisse und ihre zeitliche Nähe zu den landesweiten Protesten, an denen sich Schülerinnen aktiv beteiligten, ließen viele Medien, Nichtregierungsorganisationen und andere zu dem Schluss kommen, dass die Vergiftungen in den Schulen darauf abzielten, den Widerstand zu unterdrücken und den Mädchen und ihren Familien, Angst einzujagen bzw. sie für ihre Beteiligung an der Protestbewegung zu bestrafen (UNHRC 19.3.2024).

Reproduktive Rechte

Nach dem Ende des iranisch-irakischen Krieges (1980-1988), in dem die Familien ermutigt wurden, mehr Kinder zu bekommen, befürchtete die iranische Führung, dass das Bevölkerungswachstum des Landes die Ressourcen übersteigen könnte. Daher begann sie mit der Umsetzung landesweiter Familienplanungsprogramme. Unter der Leitung des damaligen Obersten Führers Ruhollah Khomeini ermutigte die Regierung Familien, nur ein oder zwei Kinder zu haben, riet von Schwangerschaften bei Minderjährigen ab, stellte kostenlos Kondome zur Verfügung und subventionierte Vasektomien, neben anderen Initiativen. Selbst in ländlichen Gebieten hatten Frauen und Schwangere im Allgemeinen verlässlichen Zugang zu Gesundheitsuntersuchungen in Kliniken und anderen Diensten zur Familienplanung (WP 1.12.2021). In einer Zeit des Bevölkerungsrückgangs scheint sich das Kalkül verschoben zu haben (WP 1.12.2021; vergleiche BNE 17.5.2024). Am 1.11.2021 wurde ein neues Gesetz zur "Verjüngung der Gesellschaft und zum Schutz der Familie" verabschiedet, das von neun UN-Sonderberichterstattern und Menschenrechtsmechanismen als menschenrechtswidrig bezeichnet worden ist (ÖB Teheran 11.2021). Das Gesetz weist die Behörden an, dem Bevölkerungswachstum Priorität einzuräumen. Diese Politik umfasst Maßnahmen wie das Verbot der freiwilligen Sterilisation und das Verbot der kostenlosen Verteilung von Verhütungsmitteln durch das öffentliche Gesundheitssystem. Das Gesetz sieht auch vor, dass Inhalte über Familienplanung in Universitätslehrbüchern durch Materialien über eine "islamisch-iranische Lebensweise" ersetzt werden sollten (USDOS 23.4.2024). Legale Abtreibungen können nur mehr mit offizieller Erlaubnis durchgeführt werden. Trotz drohender Strafen werden illegale Abtreibungen im Untergrund durchgeführt, und der Staat tut sich schwer, das Gesetz durchzusetzen. Verschiedene offizielle Schätzungen beziffern die Anzahl der durchgeführten Abtreibungen in Iran auf jährlich 250.000 bis 650.000 Fälle (IRINTL 13.3.2024b).

Der Staat gewährt Opfern von sexueller Gewalt keinen Zugang zu Diensten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Notfallverhütung und Postexpositionsprophylaxe [Anm.: zur Ansteckungsvermeidung von sexuell übertragbaren Krankheiten] sind nicht routinemäßig als Teil der klinischen Behandlung von Vergewaltigungen verfügbar. Gemäß dem Menschenrechtsbericht des US-amerikanischen Außenministeriums gibt es keine Berichte über Zwangsabtreibungen, es existieren jedoch vereinzelte Berichte über unfreiwillige Sterilisationen seitens der Behörden. Die Menschenrechtsorganisation Haalvash berichtete beispielsweise über Fälle von Frauen in der Provinz Sistan und Belutschistan, denen nach einer Geburt ohne ihre Zustimmung die Gebärmutter entfernt wurde (USDOS 23.4.2024).

Schutz vor Gewalt

Der Staat ist verpflichtet, Frauen vor sexueller Gewalt zu schützen (AA 30.11.2022). Frauen, die ehelicher oder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, können nicht uneingeschränkt darauf vertrauen, dass effektiver staatlicher Schutz gewährt wird. Gesetze zur Verhinderung und Bestrafung geschlechtsspezifischer Gewalt existieren nicht (AA 30.11.2022; vergleiche MRAI 19.6.2023) und häusliche Gewalt ist gesetzlich nicht verboten. Die Behörden betrachteten den Missbrauch in der Ehe und innerhalb der Familie als Privatsache und sprachen nur selten öffentlich darüber (USDOS 23.4.2024). Im April 2023 billigte das Parlament die Grundsätze eines Gesetzesentwurfs mit dem Titel "Verteidigung der Würde und Schutz von Frauen vor Gewalt", der bereits seit über einem Jahrzehnt vorlag. Einige der Bestimmungen wurden zur weiteren Prüfung an die zuständigen Parlamentsausschüsse verwiesen. Der Text wurde jedoch abgeschwächt, um den Begriff "Gewalt" streichen zu können. Das geänderte Gesetz definiert weder häusliche Gewalt als eigenständigen Straftatbestand, noch stellt es Kinderehen oder Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe. Auch gewährleistet es nicht, dass Männer, die ihre Frauen oder Töchter ermorden, angemessen bestraft werden (AI 24.4.2024). Krisenzentren und Frauenhäuser nach europäischem Modell existieren in Iran nicht (ÖB Teheran 11.2021).

Vergewaltigung ist illegal und unterliegt strengen Strafen, einschließlich der Todesstrafe. Das Gesetz betrachtet Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe per Definition als einvernehmlich und behandelt daher keine Vergewaltigung in der Ehe, auch nicht in Fällen von Zwangsheirat. Die meisten Vergewaltigungsopfer melden Verbrechen nicht, weil sie staatliche Vergeltungsmaßnahmen oder Strafen für Vergewaltigungen befürchten, wie zum Beispiel Anklagen wegen Unanständigkeit, unmoralischem Verhalten oder Ehebruch. Ehebruch wiederum ist ebenfalls mit der Todesstrafe bedroht. Auch gesellschaftliche Repressalien oder Ausgrenzung werden von Vergewaltigungsopfern befürchtet (USDOS 23.4.2024). Eine ehemals in Iran tätige Rechtsanwältin mit umfangreichem Erfahrungsschatz in diesem Bereich gab an, dass sie ihren Klientinnen bei sexuellen Übergriffen oder Vergewaltigung nie dazu riet, diese anzuzeigen, da sie dann Gefahr laufen, außerehelicher Beziehungen beschuldigt zu werden. Hinzu kommt, dass der Zugang zu Rechtsberatung oftmals eingeschränkt ist und Rechtsanwälte teuer sind. Während sich Personen in Strafrechtssachen zwar an die Rechtsanwaltsvereinigung wenden können, ist die Qualität der vom Staat gestellten Pflichtverteidiger im Allgemeinen eher schlecht. Sie sind unterbezahlt und ihnen fehlt in derartigen Fällen oftmals die Expertise. Dies hat zu einer Vielzahl an Problemen bei Steinigungs- und Selbstverteidigungsfällen von Frauen geführt (MRAI 19.6.2023).

Ehrenmorde

Unter Ehrenmord (qatl-e namusi) wird ein Mord verstanden, der innerhalb einer Familie, von einem Vater, einem Ehemann oder einem sonstigen männlichen Verwandten begangen wird, um ein Familienmitglied (in der Regel Frauen und Mädchen) zu bestrafen, das den Ruf und die Ehre der Familie beschädigt hat. Typische Ursachen für die Beschädigung der Familienehre sind vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung, Widerstand gegen eine Zwangsverheiratung und die Weigerung, eine arrangierte Ehe einzugehen (BAMF 1.2023). Ehrenmorde werden nach Angaben einer Frauenrechtlerin oftmals unter Zustimmung oder gar Unterstützung der Familie begangen. Familienmitglieder, die sich dagegen aussprechen, berichten später, unter Druck gesetzt worden zu sein, keine Anzeige zu erstatten oder mit den Medien zu reden (IRJ 18.5.2024). Ehrenmorde, die von einem Vater, Großvater oder einem männlichen Verwandten begangen werden, gehören nach Artikel 301, des Iranischen Strafgesetzbuchs (IStGB) 2013 nicht zu den Qisas-Strafen (Vergeltungsstrafrecht) [Anm.: s. Kap. "Rechtsschutz / Justizwesen" für Begriffserklärungen zu Hadd, Qisas, Ta'zir und Diyah]. Stattdessen sind hier die Zahlung eines Blutgelds [Diyah] sowie Ta'zir- bzw. Ermessensstrafen vorgesehen. Nur wenn nach Artikel 612, IStGB 1996 der Ehrenmord eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Gesellschaft darstellt, wird der Täter zu einer Freiheitsstrafe von drei bis zu zehn Jahren verurteilt. Nach Artikel 630, IStGB 1996 wird ein Ehemann nicht nach dem Vergeltungsstrafrecht (Qisas) bestraft, wenn er seine Ehefrau beim Ehebruch mit einem anderen Mann erwischt und tötet bzw. sich sicher ist, dass es sich um keine Vergewaltigung handelt. Auch entfällt in diesem Fall die Zahlung eines Blutgeldes (Diyah). Wird die Ehefrau von einem anderen Mann vergewaltigt (Ehebruch gegen den Willen der Ehefrau), kann der Ehemann nur den Täter straffrei töten (BAMF 1.2023).

Ehrenmorde sind v. a. in den ländlichen Gebieten verbreitet und richten sich meistens gegen Frauen und Mädchen. Größtenteils werden sie in den folgenden Provinzen verzeichnet: West-Aserbaidschan, Kurdistan, Kermanshah, Ilam, Lurestan und Khuzestan. Hier leben v. a. arabische, kurdische und lurische Bevölkerungsgruppen (BAMF 1.2023). Die genaue Zahl solcher Morde in Iran ist nicht bekannt und wird unter Verschluss gehalten (IRINTL 17.10.2023). Die Teheraner Tageszeitung Shargh berichtete Ende 2023, dass 2022 und 2023 offiziellen Angaben zufolge 165 Frauen in Iran sogenannten "Ehrenmorden" zum Opfer gefallen seien. In den ersten zwei Monaten des laufenden Jahres sollen weitere 27 Opfer dazugekommen sein. Frauenrechtlerinnen schätzen die Anzahl dieser Morde als wesentlich höher ein (IRJ 18.5.2024). Viele Fälle tauchen in den Statistiken auch als Selbstmord auf (IRJ 18.5.2024; vergleiche BAMF 1.2023).

Weibliche Genitalverstümmelung (FGM)

Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) ist gesetzlich verboten (UNFPA 3.2024). Daten zur Verbreitung von FGM in Iran sind nur begrenzt verfügbar. Die Praxis kommt vor allem in den Provinzen Westaserbaidschan, Kurdistan, Kermanshah und Hormuzgan vor und wird insbesondere mit den Sorani sprechenden Shafi'i-Kurden in Verbindung gebracht (Ahmady 2022). UNFPA berichtet vereinzelt von Fällen von FGM innerhalb der sunnitischen Minderheit. Die iranische Mehrheitsgesellschaft lehnt FGM ab (AA 30.11.2022) und gemäß Daten aus dem Zeitraum 2009-2014 hat die Verbreitung von FGM auch in den vier genannten Provinzen abgenommen (Ahmady 2022).

Heirat, Scheidung, Vormundschaft und Obsorge für Kinder

Letzte Änderung 21.06.2024

Anmerkung, Die drei in der iranischen Verfassung anerkannten Buchreligionen Judentum, Christentum und Zoroastrismus genießen in Fragen des Ehe- und Familienrechts verfassungsrechtlich Autonomie (AA 30.11.2022) und sind somit berechtigt, ihr eigenes Personenstandsrecht anzuwenden, das allerdings der iranischen Gesetzgebung zur öffentlichen Ordnung entsprechen muss (McGlinn 2001). Auch Sunniten dürfen in Personenstandsfragen eigene Gerichte betreiben. Personen, die als Angehörige der genannten religiösen Gruppen anerkannt werden, müssen Personenstandsfragen vor den Gerichten ihrer jeweiligen Religionsgemeinde klären. Sie können sich in diesen Fällen nicht an die staatlichen Gerichte wenden. In Hinblick auf ihre Rechte kann dies für Frauen in manchen Fällen positiv sein, in anderen ist es das nicht. Manche christliche Gemeinden sehen beispielsweise keine Möglichkeit zur Scheidung vor und in manchen sunnitischen Gemeinden haben Frauen kein Recht auf eine Erbschaft von ihrem Vater, während das für Schiiten geltende Personenstandsrecht diese Rechte gewährleistet. Manche christliche Gemeinden - allerdings nicht die Mehrheit der Gemeinden dieser anerkannten religiösen Minderheit - sind dagegen progressiver und gestehen Frauen die gleichen Rechte zu wie Männern (MRAI 19.6.2023). Nachstehend wird v. a. auf die rechtliche Situation von Frauen der schiitischen Mehrheitsgesellschaft sowie der nicht anerkannten Religionsgruppen, denen das Recht auf ein eigenes Ehe- und Familienrecht nicht zugesprochen wird, eingegangen. Für Informationen zur Heirat von unter-18-Jährigen, zur Behandlung von unehelichen Kindern sowie zur Weitergabe der Staatsbürgerschaft durch Mütter, s. Kap. "Relevante Bevölkerungsgruppen / Kinder".

Das Gesetz erkennt Ehen zwischen muslimischen Frauen und nicht-muslimischen Männern nicht an (USDOS 23.4.2024; vergleiche IrWire 13.2.2014). Muslimische Männer dürfen nicht-muslimische Frauen aus den drei anerkannten Buchreligionen dagegen auf jeden Fall in Zeitehen [auch: Sigheh, Mut'a-Ehe] heiraten, während die Meinungen bezüglich permanenter Ehen auseinandergehen. Manche Rechtsgelehrte gehen von ihrer Zulässigkeit aus, andere nicht (IrWire 13.2.2014). Es ist Männern gesetzlich erlaubt, bis zu vier Ehefrauen und eine unbegrenzte Anzahl von "Ehefrauen auf Zeit" zu haben, basierend auf einem schiitischen Brauch, der zivile und religiöse Verträge mit begrenzter Dauer zulässt. Das Gesetz gewährt Frauen kein Recht auf mehrere Ehemänner (USDOS 23.4.2024). In der Praxis ist Polygamie von Männern in Iran jedoch nicht weit verbreitet (USIP 4.8.2023). Laut gesetzlichen Bestimmungen benötigen jungfräuliche Frauen zur Heirat die Zustimmung ihrer Väter oder Großväter oder die Erlaubnis eines Gerichts (USDOS 23.4.2024).

Eine Frau kann sich nur unter bestimmten Voraussetzungen scheiden lassen (USDOS 23.4.2024: vergleiche BAMF 7.2020), wie z. B. wenn ihr Ehemann einen Vertrag unterzeichnet, der ihr dieses Recht einräumt, wenn er seine Familie nicht versorgen kann, wenn er gegen die Bestimmungen des Ehevertrags verstößt oder wenn er drogenabhängig, geisteskrank oder impotent ist. Ein Mann kann sich ohne Angabe von Gründen von seiner Frau scheiden lassen. Das Gesetz erkennt das Recht einer geschiedenen Frau auf einen Teil des gemeinsamen Vermögens und auf Unterhalt an. Dies wird nicht immer durchgesetzt (USDOS 23.4.2024). Frauen können dieses Recht einklagen, allerdings ist dies ein zeit- und kostenintensiver Prozess (MRAI 19.6.2023).

Nach iranischem Recht fordert die Familie der Frau im Fall einer dauerhaften Eheschließung eine nicht unerhebliche Morgen- bzw. Brautgabe (Mehrieh) in Form von Geld, Immobilien oder Goldmünzen (BAMF 1.2023). Mahr [Mehrieh] wird als traditioneller islamischer Ehevertrag angesehen. Gemäß den Bedingungen der Vereinbarung/des Vertrags erklärt sich der Ehemann dabei bereit und verpflichtet sich, eine vereinbarte Summe in Form der Morgengabe an die Frau zu zahlen (Maclean 17.7.2019). Die Erfüllung dieser Vereinbarung kann zu jeder Zeit während der Ehe oder auch während der Scheidung von der Frau verlangt werden. Die Mehrieh oder Morgengabe dient in einer konservativen islamischen Gesellschaft der Vorsorge für die Frau im Falle der Scheidung (BAMF 7.2020). Manche Frauen nutzen ihre Mehrieh auch, um ihre Männer zur Scheidung zu bewegen, indem sie auf die Zahlung verzichten, oder indem sie eine geringere Summe verlangen, wenn der Gatte der Scheidung zustimmt (IRINTL 8.8.2022; vergleiche MRAI 19.6.2023). Mehrieh ist in diesen Fällen ein wichtiges Instrument für Frauen. Sie können es als Druckmittel einsetzen, um andere Rechte, wie das Recht auf Scheidung, auszuhandeln - allerdings auf Kosten ihrer finanziellen Absicherung. Vor rund 15 Jahren galten Eheverträge in Iran noch als etwas, das nur die Eliten nutzten. Inzwischen ist es kein Tabuthema mehr, allerdings ist schwer zu sagen, wie weit Eheverträge tatsächlich verbreitet sind. Vermutlich sind sie unter gebildeten oder urbanen Bevölkerungsgruppen üblicher als in anderen Gesellschaftsteilen. Die drei wichtigsten Klauseln in Eheverträgen betreffen meist Scheidungsfragen, die Aufteilung von gemeinsamem Eigentum (MRAI 19.6.2023) und das Recht auf Reisefreiheit der Ehefrauen ohne Zustimmung der Ehemänner (MRAI 19.6.2023; vergleiche IrWire 2.11.2019). Eheverträge können dagegen keine Klauseln betreffend der Obsorge für etwaige Kinder enthalten, da dies erst nach der Geburt der Kinder entschieden werden kann. Nach der Geburt eines Kindes kann jedoch eine entsprechende offizielle Vereinbarung getroffen werden (MRAI 19.6.2023).

Die Vormundschaft für Minderjährige liegt laut den gesetzlichen Bestimmungen beim Vater oder Großvater väterlicherseits. Wenn diese nicht in der Lage sind, die Verantwortung zu übernehmen, kann vom Gericht ein Ersatz bestellt werden (Landinfo 5.8.2022; vergleiche MRAI 19.6.2023). In Abwesenheit eines Vaters bzw. Großvaters gibt es eine Möglichkeit für die Mutter, die Vormundschaft für ihr Kind zu übernehmen, so ein Gericht zustimmt. Laut einem von Landinfo befragten Experten ist es unter islamischen Rechtsgelehrten jedoch sehr umstritten, ob Mütter tatsächlich die Vormundschaft übernehmen können (Landinfo 5.8.2022). Eine iranische Rechtsanwältin betont, dass die Vormundschaft von anderen Gerichten als den Familiengerichten entschieden wird. Diese Gerichte gehen bei der Vergabe der Vormundschaft an Frauen sehr restriktiv vor. Überraschenderweise sprachen sie selbst in Fällen, bei denen kein Vater oder Großvater vorhanden war, nicht der Mutter, sondern einer Drittpartei die Vormundschaft zu. Die Vormundschaft ist bei der Schulanmeldung, zur Eröffnung von Bankkonten und anderen bedeutsamen Fragen ausschlaggebend. Die Entscheidungen in diesen Fragen liegen somit immer noch bei den Vätern bzw. Großvätern (MRAI 19.6.2023).

Das Gesetz sieht dagegen vor, dass geschiedenen Frauen vorzugsweise das Sorgerecht für ihre Kinder bis zu deren siebentem Lebensjahr gegeben werden soll. Danach soll das Sorgerecht dem Vater übertragen werden, außer dieser ist dazu nicht imstande. Heiraten geschiedene Frauen erneut, verlieren sie das Sorgerecht für Kinder aus einer früheren Ehe (ÖB Teheran 11.2021). Im Bereich der Obsorge waren in den letzten Jahren positive Entwicklungen zu beobachten: Aufgrund von Gesetzesänderungen haben Richter nun mehr Spielraum, um die Bedürfnisse von Kindern zu berücksichtigen, und Mütter erhalten nun häufiger das Sorgerecht als früher. Es lässt sich jedoch eine Bandbreite an unterschiedlichen Zugängen der Richter in dieser Frage beobachten, die Entscheidungen werden von Fall zu Fall getroffen (MRAI 19.6.2023).

Fehlt alleinstehenden Frauen der Rückhalt ihres Partners bzw. ihrer eigenen Familie, so befinden sie sich schnell am Rande der Gesellschaft und sind gezwungen, sich zum Wohle ihres Kindes mit der Gesellschaft zu arrangieren. Zwar sind die leiblichen Eltern unehelicher Kinder verpflichtet, ihren elterlichen Pflichten in Hinblick auf die Personensorge nachzukommen, und der leibliche Vater bzw. auch der biologische Großvater väterlicherseits sind auch einem unehelichen Kind gegenüber unterhaltspflichtig. Im Fall, dass beide unbekannt sind bzw. sich beide ihrer Verantwortung entziehen, muss die Mutter ihr Kind allerdings finanziell allein versorgen (BAMF 1.2023). Angaben über mögliche (finanzielle) Unterstützung vom Staat für alleinerziehende bzw. alleinstehende Frauen sind nicht eruierbar (ÖB Teheran 11.2021).

Aufgrund der Schwierigkeit für Frauen, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist der familiäre Rückhalt für alleinstehende Frauen umso bedeutender. Jedoch erhalten manche Frauen, die außerhalb der gesellschaftlichen Norm leben (wie zum Beispiel lesbische Frauen oder Prostituierte), keine Unterstützung durch die Familie und können Opfer von häuslicher Gewalt und Zwangsheirat werden. Alleinstehende Frauen haben oft Schwierigkeiten, eine Wohnung oder Arbeit zu finden, da sie für Prostituierte gehalten werden (ÖB Teheran 11.2021).

Kinder

Letzte Änderung: 26.06.2024

Iran hat das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (unter Vorbehalt des Einklangs mit dem islamischen Recht) (CRC) und das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (CRC-OP-SC) ratifziert (AA 28.1.2022; vergleiche UNHRC o.D.). Nach einer Häufung von sogenannten Ehrenmorden hat das Parlament 2020 ein Gesetz verabschiedet, das den Schutz von Kindern vor Gewalttaten auch durch Verwandte stärken soll (AA 30.11.2022). Das Gesetz "zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen" enthält neue Strafen für bestimmte Handlungen, welche die Sicherheit und das Wohlergehen eines Kindes beeinträchtigen, einschließlich körperlicher Schäden und der Verhinderung des Zugangs zu Bildung. Das Gesetz ermöglicht es den Behörden auch, Kinder in Situationen, die ihre Sicherheit ernsthaft gefährden, umzusiedeln. Das Gesetz geht jedoch nicht auf einige der schwerwiegendsten Bedrohungen für Kinder in Iran ein, wie Kinderehen oder die Verhängung der Todesstrafe (HRW 13.1.2021).

Mündigkeit und Behandlung im Strafwesen

Nach Anmerkung 1 zu Paragraph 1210, Zivilgesetzbuch (IZGB) beträgt das Volljährigkeitsalter für Knaben 15 Jahre, während die Volljährigkeit für Mädchen mit Vollendung des neunten Lebensjahres eintritt. Neben der Volljährigkeit gehört zur Geschäftsfähigkeit grundsätzlich auch die davon unabhängig zu beurteilende Reife. Gem. Paragraph 1208, IZGB ist diejenige Person unreif, deren Verfügungen über das eigene Vermögen oder die finanziellen Rechte unvernünftig sind. Nach dem zwischenzeitlich aufgehobenen Paragraph 1209, IZGB wurde bei Mädchen und Buben bis zum Ablauf des 18. Lebensjahrs die fehlende Reife vermutet. Obgleich die nötige Reife seit Aufhebung des Paragraph 1209, IZGB gesondert bestimmt werden muss, erfolgt in der Praxis keine gesonderte Feststellung. Vielmehr wird der aufgehobene Paragraph 1209, IZGB faktisch weiterhin angewendet. Die Unterscheidung in Anknüpfung an das Geschlecht in Bezug auf das Eintreten von Volljährigkeit findet sich ebenfalls im Strafgesetzbuch (IStGB) wieder. Demnach erreichen Mädchen mit neun und Knaben mit 15 Mondjahren die Strafmündigkeit (Artikel 147, IStGB) (BAMF 7.2020).

Im "Kapitel über die Strafen" des iranischen Strafgesetzbuches finden sich detaillierte Vorschriften, wie mit Jugendlichen umzugehen ist. Bei Straftaten, die mit Ta'zir-Strafen bedroht sind [Anm.: s. Kap. "Rechtsschutz / Justizwesen" für Begriffserklärungen zu Hadd, Qisas und Ta'zir], wird gegen Kinder und Jugendliche unter 15 Mondjahren eine Reihe von Erziehungsmaßnahmen verhängt, zwischen zwölf und 15 Jahren sind auch leichte Strafen möglich, wie die Ermahnung durch den Richter oder eine Selbstverpflichtung, keine Straftaten mehr zu begehen. Bei schweren und mittelschweren Straftaten ist die Unterbringung in einem Erziehungszentrum für drei Monate bis zu einem Jahr, unabhängig von den ebenso vorgesehenen milderen Strafen, möglich (Artikel 88, IStGB). Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren werden mit Unterbringung in einer Erziehungsanstalt bestraft, die bei schweren Straftaten bis zu fünf Jahren dauern kann. Bei mittelschweren und leichten Straftaten kann stattdessen eine Geldstrafe oder gemeinnützige Arbeit verhängt werden (Artikel 89, IStGB). Bei den Hadd- und Qisas-Delikten wird eine Person, welche die Strafmündigkeit erreicht hat, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, und das Wesen der Straftat und ihres Verbots nicht erfasst hat, oder an deren geistiger und seelischer Reife Zweifel bestehen, je nach den Umständen mit denselben Strafen wie bei Ta'zir-Delikten bestraft (Artikel 91, IStGB). Zur Feststellung derartiger Zweifel kann das Gericht das Gutachten eines Gerichtsmediziners einholen; es kann sich aber auch jedes anderen Mittels bedienen (gesetzliche Erläuterung zu Artikel 91, IStGB). Das bedeutet, dass es beispielsweise Verwandte, Nachbarn, Lehrer oder andere Personen aus dem nahen Umfeld befragen kann. Damit hat das Gericht aber einen so großen Spielraum, dass es die schweren Hadd- und Qisas-Strafen bei Personen unter 18 Jahren fast immer vermeiden kann (BAMF 7.2020). Verurteilte können für Verbrechen, die sie im Alter von unter 18 Jahren begangen haben, jedoch hingerichtet werden (FH 2024). Die Verhängung der Todesstrafe ist gegen männliche Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr, für Mädchen ab dem neunten Lebensjahr möglich und kann bei Eintritt der Volljährigkeit vollstreckt werden (AA 30.11.2022). 2023 wurden mindestens zwei jugendliche Straftäter hingerichtet (IHRNGO 5.3.2024; vergleiche AI 4.4.2024). Diese Vorgehensweise widerspricht dem von Iran unterzeichneten Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) (UNHRC 7.2.2023; vergleiche IHRNGO 5.3.2024).

Strafverfahren von unter-18-Jährigen werden gemäß Artikel 304, der iranischen Strafprozessordnung vor einem Gericht für Kinder und Heranwachsende behandelt (BAMF 7.2020).

In Gefängnissen sind Erwachsene und Minderjährige oftmals nicht getrennt untergebracht (AA 30.11.2022; vergleiche ÖB Teheran 11.2021).

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Bildungswesen

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Iran ist ein Land, in dem die Bildung einen hohen Stellenwert genießt (BAMF 7.2020). Iranische Schulen bieten sowohl Männern als auch Frauen eine qualitativ hochwertige Ausbildung in Natur- und Geisteswissenschaften, die mit anderen Ländern in der Region vergleichbar ist. Das iranische Schulsystem kann in zwei Grundstufen unterteilt werden: Grund- und Sekundarschulbildung. Viele Familien entscheiden sich jedoch dafür, ihr Kind auch in der Vorschule anzumelden, wobei etwa 64 % der Kinder im Alter von fünf Jahren die Vorschule besuchen. In Iran umfasst die Grundschule eine sechsjährige Schulzeit, die bei den meisten Kindern im Alter von sechs Jahren beginnt. Die Grundschulbildung ist verpflichtend und kostenlos, weshalb 99,8 % der iranischen Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren in Grundschulen eingeschrieben sind. Nach Abschluss der Grundschule treten iranische Schüler in die Sekundarstufe ein, die in zwei Phasen unterteilt ist: Sekundarstufe römisch eins und Sekundarstufe römisch II. Die Sekundarstufe römisch II ist in drei Zweige unterteilt: einen akademischen, einen technischen und einen beruflichen. Ob Schüler den akademischen Zweig antreten können, wird durch ihre Prüfungsergebnisse am Ende des Sekundarstufe römisch eins bestimmt. Alle drei Zweige umfassen einen Zeitraum von drei Jahren mit Absolvierung eines der Bildungsgänge, die zum Erwerb der Hochschulreife führen. Darüber hinaus erhalten diejenigen Schüler und Schülerinnen, die entweder den technischen oder den beruflichen Weg absolvieren, ein "Technikerzertifikat". Um den tertiären, akademischen Bildungsweg fortzusetzen, muss eine nationale standardisierte Aufnahmeprüfung absolviert werden, der "Konkur". Nur rund 10 % der Prüfungsabsolventinnen und -absolventen bekommen einen Platz an einer öffentlichen Universität. Der tertiäre Bildungsweg bleibt in Iran jedoch sehr beliebt: Fast 60 % der Iraner im Alter von 18 bis 22 Jahren sind an einer postsekundären Bildungseinrichtung eingeschrieben. In Iran findet die Hochschulbildung in einer Kombination aus öffentlichen und privaten Einrichtungen statt. Öffentliche tertiäre Einrichtungen sind meist kostenfrei, während private Einrichtungen üblicherweise Studiengebühren verlangen (AIC 12.7.2022).

Kindern, die keinen staatlichen Identitätsnachweis besitzen, wird das Recht auf Bildung verweigert. Der Gebrauch von Minderheitensprachen als Unterrichtssprache an Schulen ist nicht erlaubt (USDOS 23.4.2024). Nach Angaben der iranischen Statistikbehörde waren rund 930.000 Kinder und Jugendliche im aktuellen Schuljahr gezwungen, ihre Ausbildung abzubrechen, was mit der steigenden Armut im Land in Verbindung gebracht wird. Die meisten der Betroffenen (rd. 550.000) waren zwischen 15 und 17 Jahre alt (RFE/RL 27.3.2024).

Auswirkungen der Protestwelle auf das Bildungswesen

Irans Schulen, insbesondere Mädchenschulen, wurden zu Brennpunkten der Unruhen, nachdem Mahsa Amini im September 2022 wegen eines Verstoßes gegen die Hijabpflicht in Polizeigewahrsam genommen wurde und kurz darauf verstarb (RFE/RL 13.11.2023). Im Zusammenhang mit den Protesten nach dem Tod von Mahsa (Jina) Amini wurden [bis November 2022] 23 staatliche Übergriffe auf höhere Schulen in Städten in ganz Iran dokumentiert, bei denen Milizangehörige in Zivil und Geheimdienstagenten Schüler verhörten, schlugen und durchsuchten oder Schulbehörden Schüler bedrohten oder angriffen (NYT 14.11.2022). Bei Razzien an Universitäten wurden zwischen September 2022 und Juni 2023 mindestens 720 Studenten verhaftet (FH 2024), auch wenn manche anschließend wieder freigelassen wurden (UNGA 6.10.2023). Die gewaltsame Niederschlagung der Proteste an den Universitäten wurde oftmals nicht direkt von der Polizei oder den Revolutionsgarden durchgeführt, sondern vom universitären Zweig der Basij-Miliz, der Student Basij Organisation (SBO) (NLM 20.4.2023).

Das Regime antwortete nicht nur mit Razzien an Schulen, sondern entließ und verhaftete unter anderem auch Lehrer. Der iranische Bildungsminister gab nach Beginn des akademischen Jahres 2023/2024 bekannt, dass fast 20.000 Schuldirektoren ausgetauscht worden seien, um an den Schulen "einen Wandel herbeizuführen" (RFE/RL 13.11.2023). Im Oktober 2023 wurde von staatlicher Seite mitgeteilt, dass an iranischen Schulen ein Mangel von mindestens 250.000 bis 300.000 Lehrkräften drohe, wobei die Anzahl in den verschiedenen Provinzen unterschiedlich hoch ausfalle (BAMF 13.11.2023). Im Rahmen von landesweit angelegten Umstrukturierungen des Hochschulsystems wurden ca. 32.000 außerordentliche Universitätslehrkräfte von ihren Positionen an Zweigstellen der Islamischen Azad-Universität ausgeschlossen. Die Universität mit Sitz in Teheran ist ein privates Universitätssystem, dessen Präsident direkt vom Revolutionsführer ernannt wird. Es verfügt über ein umfangreiches Netzwerk von Bildungseinrichtungen mit 367 Campusstandorten landesweit (BAMF 16.10.2023).

Behandlung von Jugendlichen im Zusammenhang mit den Protesten ab September 2022

Junge Menschen haben bei den Protesten ab September 2022 eine herausragende Rolle gespielt und waren von der anschließenden Niederschlagung betroffen (WP 1.12.2022b). Die Regierung hat auf die Proteste von Jugendlichen mit der gleichen Taktik reagiert, die sie gegen Erwachsene anwendet. Laut Menschenrechtsgruppen, Anwälten und Eltern wurden einige erschossen und zu Tode geprügelt (NYT 14.11.2022), andere wurden festgenommen und gemeinsam mit Erwachsenen inhaftiert, Minderjährige wurden verhört und bedroht (NYT 14.11.2022; vergleiche AI 12.2023). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights (IHRNGO) wurden in den ersten beiden Monaten der Proteste über 60 Minderjährige von Sicherheitskräften getötet (IHRNGO 27.12.2022), bis zum 20.2.2023 erhöhte sich ihre Zahl laut der Organisation Human Rights Activists News Agency (HRANA) auf 71. 181 unter-18-Jährige wurden verhaftet (HRANA 21.2.2023; vergleiche DIS 3.2023). Die iranischen Behörden bestätigten die umfassende Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an den Protesten, sowie ihre Überrepräsentation unter den Festgenommenen (UNHRC 7.2.2023; vergleiche AI 16.3.2023). Amnesty International dokumentierte Fälle von Minderjährigen, die im Zuge der Proteste festgenommen und in Haft gefoltert, vergewaltigt und sexuell missbraucht worden sind (AI 16.3.2023; vergleiche AI 12.2023). Von den sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen waren Buben wie auch Mädchen betroffen (AI 12.2023).

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Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 26.06.2024

Das Gesetz sieht die Bewegungsfreiheit im Land, Auslandsreisen, Emigration und Repatriierung vor. Im Prinzip respektiert die Regierung diese Rechte, es gibt jedoch einige Einschränkungen, besonders für Frauen, Flüchtlinge und Gefangene (USDOS 23.4.2024).

Verheiratete Frauen dürfen nicht ohne die Zustimmung ihrer Ehemänner ins Ausland reisen (USDOS 23.4.2024; vergleiche FH 2024), während unverheiratete und geschiedene Frauen sowie Witwen [über 18 Jahre] keine Erlaubnis ihres Vaters oder eines männlichen Vormunds benötigen, um zu reisen (CEDOCA 30.3.2020). Ehefrauen können jedoch Ehevertragsklauseln mit ihrem Ehemann vereinbaren, um eine generelle Ausreisegenehmigung zu erhalten (BAMF 1.2023; vergleiche IrWire 2.11.2019). Die Ausreisegenehmigung durch den Ehemann muss in Form einer beim Notariat eingetragenen Vollmacht erfolgen (Eli Gasht 14.3.2024). Ehemänner können die Genehmigung jederzeit zurückziehen (HRW 11.1.2024a; vergleiche Eli Gasht 14.3.2024). Die Väter von unverheirateten Frauen sowie Ehemänner von verheirateten Frauen können ein Ausreiseverbot für Frauen beantragen, auch wenn diese einen Reisepass erhalten haben (MBZ 9.2023). Für die Ausstellung eines Reisepasses an Frauen mit einem iranischen Ehepartner oder Kindern unter 18 Jahren ist die schriftliche Zustimmung des Ehepartners oder Vaters erforderlich (IRIMFA o.D.; vergleiche Eli Gasht 14.3.2024, BAMF 7.2020). Wenn der Ehemann oder Vater nicht anwesend ist, hat sich die Frau bei einem Wunsch zur Ausreise an die zuständige Behörde des Außenministeriums zu wenden, sofern keine schriftliche Erlaubnis vorliegt (BAMF 7.2020; vergleiche IRIMFA o.D.). Geschiedene oder verwitwete Frauen benötigen keine Zustimmungserklärung, um einen Reisepass zu erhalten (Eli Gasht 14.3.2024).

Bestimmte Gruppen, wie Angestellte in sensiblen Bereichen, iranische Studenten im Ausland und alle Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren, die ihren Militärdienst noch nicht abgeleistet haben, benötigen eine besondere Ausreisebewilligung (Landinfo 21.1.2021 vergleiche CEDOCA 10.5.2023). Wehrpflichtige müssen eine Kaution hinterlegen, um ausreisen zu dürfen (Ekhtebar 22.4.2024). Bürger, die auf Staatskosten ausgebildet wurden oder Stipendien erhielten, müssen entweder das Stipendium zurückzahlen oder erhalten eine befristete Ausreisegenehmigung. Die Regierung schränkt die Auslandsreisen einiger religiöser Führer, Angehöriger religiöser Minderheiten und Wissenschaftler in sensiblen Bereichen ein. Journalisten, Akademiker, oppositionelle Politiker, Künstler sowie Menschen- und Frauenrechtsaktivisten sind von Reiseverboten und Konfiszierung der Reisepässe betroffen (USDOS 23.4.2024).

Laut einer vom niederländischen Außenministerium befragten vertraulichen Quelle kann ein vom Staatsanwalt bei Gericht eingebrachter Antrag auf ein Ausreiseverbot von der Person, gegen die das Ausreiseverbot verhängt worden ist, nicht im SANA-System eingesehen werden (MBZ 9.2023). Eine auf Rechtsfragen spezialisierte iranische Nachrichtenseite gibt an, dass Ermittler nach dem Strafprozessrecht ein Ausreiseverbot als gerichtliche Überwachungsanordnung in zwei Schritten erlassen können, einmal vor dem Kontakt zum Beschuldigten und zum anderen nach dem Kontakt zum Beschuldigten. Ausreiseverbote können laut dieser Quelle unter Umständen schon im SANA-System eingesehen werden. Ausreiseverbote (neben strafrechtlichen Gründen und o. g. Ausreiseverboten für Frauen z. B. wegen Bank- oder Steuerschulden sowie für Personen mit "schlechtem Ruf") können ggf. auf der Website der Staatlichen Organisation für die Registrierung von Urkunden und Grundstücken (SSAA), des Finanzamts, oder persönlich beim Passamt überprüft werden (Ekhtebar 22.4.2024).

Zur rechtmäßigen Ausreise aus der Islamischen Republik Iran benötigen iranische Staatsangehörige einen gültigen Reisepass und einen Nachweis über die Bezahlung der Ausreisegebühr (AA 30.11.2022). Die Reisepässe werden bei der Ein- und Ausreise am Grenzübergang gestempelt. Fehlt der Ausreisestempel bei der erneuten Einreise nach Iran, führt dies zu einer Befragung. Illegale Ausreisen werden, so weiter nichts vorliegt, üblicherweise mit Geldstrafen geahndet (MBZ 9.2023).

Iraner können innerhalb Irans grundsätzlich frei reisen (MBZ 9.2023). Zu den Gerichtsurteilen gehört jedoch manchmal die interne Verbannung nach der Haftentlassung. So werden Personen daran gehindert, in bestimmte Provinzen zu reisen. Flüchtlinge dürfen sich nur in bestimmten Provinzen bewegen oder ansiedeln [Anm.: s. Kap. Afghanen in Iran für weitere Informationen] (USDOS 23.4.2024).

Ausweichmöglichkeiten

Soweit Repressionen praktiziert werden, geschieht dies landesweit unterschiedslos. Zivile und militärische Verwaltungsstrukturen arbeiten effektiv. Ausweichmöglichkeiten bestehen somit nicht (AA 30.11.2022).

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 26.06.2024

Die Wirtschaft zeichnet sich durch ihren Kohlenwasserstoff-, Landwirtschafts- und Dienstleistungssektor sowie eine bemerkenswerte staatliche Präsenz in der verarbeitenden Industrie und den Finanzdienstleistungen aus. Iran steht weltweit an zweiter Stelle, was die Größe der Erdgasreserven betrifft, und bei den nachgewiesenen Rohölreserven an vierter Stelle (WB 20.10.2022). Obwohl die iranische Wirtschaft für ein erdölexportierendes Land relativ diversifiziert ist (WB 20.10.2022; vergleiche BPB 15.5.2020) und über ein Reservoir gut ausgebildeter Arbeitskräfte verfügt (BPB 15.5.2020), hängen die Wirtschaftstätigkeit und die Staatseinnahmen von den Öleinnahmen ab und sind daher volatil (WB 20.10.2022; vergleiche BPB 15.5.2020).

Der staatliche Sektor (staatliche und halbstaatliche Unternehmen) macht etwa 80 % der iranischen Wirtschaftstätigkeit aus, für die restlichen 20 % ist der private und kooperative Sektor verantwortlich (BS 19.3.2024). Die iranische Wirtschaft steht allerdings nicht einfach unter der Kontrolle der iranischen Regierung. Institutionen, die mit Hoheitsorganen abseits der Regierung (den Revolutionsgarden und dem Haus des Obersten Führers) verbunden sind, kontrollieren große Teile der Wirtschaft des Landes (EPC 28.3.2023; vergleiche BS 19.3.2024). Eine wichtige Säule im Machtapparat des Regimes sind die Bonyads (LMD 2020), wirtschaftlich mächtige religiöse, revolutionäre und militärische Stiftungen (BS 19.3.2024), die für sich beanspruchen, eine Vielzahl von Aktivitäten im Zusammenhang mit Sozialarbeit, Beratungs-, Sozial- und Rehabilitationsdiensten durchzuführen (MEI 29.1.2009). Die Bonyads werden direkt oder indirekt vom Obersten Führer kontrolliert. Dadurch sind sie strukturell vom Wettbewerb abgeschirmt und verzerren die Grundsätze des freien Marktes. Diese Einrichtungen genießen zahlreiche Privilegien, darunter Steuerbefreiungen und exklusiven Zugang zu lukrativen staatlichen Aufträgen (BS 19.3.2024). Die Revolutionsgarden sind mit einigen der Bonyads eng verbunden (MEI 3.5.2022). Sie sind wirtschaftlich ebenso aktiv und haben ihre eigenen finanziellen, wirtschaftlichen, industriellen und landwirtschaftlichen Zweige. Das Wirtschaftskonglomerat Khatam al-Anbiya, das sich im Besitz der Revolutionsgarden befindet, hat es geschafft, ein Monopol auf große Infrastrukturprojekte in Iran aufzubauen (MEI 7.6.2022). Die Vermengung der politischen mit der wirtschaftlichen Sphäre hat eine staatliche Verteilungs- und Klientelpolitik gefördert, die mit hoher Korruption einhergeht (BPB 31.1.2020a; vergleiche MEI 7.6.2022).

Mit einem Pro-Kopf-BIP von 4.669,6 USD im Jahr 2022 [letztverfügbare Daten] zählt die Weltbank die Islamische Republik Iran zu den Ländern in der Kategorie "niedriges mittleres Einkommen" (WB o.D.). Laut dem Human Development Index (HDI) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) befindet sich Iran mit einem Indexwert von 0,780 für das Jahr 2022 unter den Ländern mit einem hohen Entwicklungsstand. Der HDI misst den Entwicklungsstand von Staaten anhand der Faktoren "langes und gesundes Leben", "Zugang zu Bildung" und "menschenwürdige Lebensstandards für die Bevölkerung". Während die Indexwerte für Iran im Zeitraum 1990-2017 gestiegen sind, nahmen sie danach wieder ab. 2022 stieg der Indexwert erstmals wieder im Vergleich zum Vorjahr und erreichte ungefähr das Niveau von 2020 (UNDP 13.3.2024).

Das iranische Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist 2022/2023, d. h. im iranischen Kalenderjahr [1401], das im März 2023 endete, um 3 % gewachsen (Amwaj 23.2.2024) und auch 2024 wird ein reales BIP-Wachstum von 3 % erwartet (IMF 4.2024). In USD ausgedrückt ist der nominale Wert der Wirtschaft 2022/2023 jedoch gesunken (Amwaj 23.2.2024). Das BIP-­Wachstum des Landes, gemessen in konstanten Dollar-Kursen, ist seit den frühen 2010er-Jahren weitgehend unverändert geblieben und das BIP pro Kopf liegt bei Kaufkraftparität etwa 10 % unter dem Niveau der späten 2000er-Jahre (FES 3.2024).

Der Rial (IRR) hat seit der Verhängung der US-Sanktionen im Jahr 2018 auf dem freien Markt von rund 42.000 zu 1 USD auf bis zu 580.000 zu 1 USD Anfang 2024 abgewertet (IRINTL 29.1.2024a; vergleiche Bonbast 23.2.2024). Der niedrige IRR-Kurs verteuert vor allem Importe auf breiter Front (BAMF 13.2.2023). Aufgrund der Inflation profitieren gewöhnliche Iraner vom BIP-Wachstum in ihrem täglichen Leben nicht viel (FDD 30.11.2023). Die geschätzte Inflationsrate der durchschnittlichen Konsumentenpreise liegt 2024 bei 37,5 % (IMF 4.2024), wobei sie seit 2021 immer über 40 % ausmachte (IMF 4.2024; vergleiche WB 24.8.2023). Die hohe Inflation trifft Haushalte mit geringem Einkommen unverhältnismäßig stark, da deren Ausgaben für Lebensmittel und Wohnen etwa 80 % ihres Budgets ausmachen, während ihre Reallöhne sinken (WB 24.8.2023). Gemäß dem Recherchedienst des iranischen Parlaments hat die Hälfte der iranischen Bevölkerung 2022/2023 den empfohlenen täglichen Kalorienbedarf (2.100 Kalorien) nicht erreicht, was unter anderem mit der hohen Inflation für Nahrungsmittelpreise in Verbindung gebracht wurde (IrWire 30.4.2024).

Entsprechend der von der Weltbank für Iran verwendeten Definition der Armutsgrenze (Verfügbarkeit von mindestens 6,85 USD tägl.) befanden sich im Jahr 2022 21,9 % der Iraner unter der Armutsgrenze. Die Armut hat damit seit 2020 abgenommen, als noch 29,3 % der Iraner weniger als 6,85 USD täglich zur Verfügung hatten (WB 4.2024). Nach Angaben des iranischen Ministeriums für Kooperativen, Arbeit und Wohlfahrt befanden sich im Jahr 2022 dagegen 35 % der iranischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze (Amwaj 8.2.2024), während ein bekannter iranischer Ökonom im Mai 2023 sogar von einem Anteil von 50 % sprach (IRINTL 20.5.2023; vergleiche BNE 1.8.2023). Iran hat seit 1979 bemerkenswerte Fortschritte bei der Armutsbekämpfung gemacht, der Zeitraum zwischen 2010 und 2020 gilt jedoch als verlorenes Jahrzehnt hinsichtlich des Wirtschaftswachstums, als fast zehn Mio. Iraner in die Armut abgerutscht sind (WB 11.2023). Trotz eines allgemeinen Rückgangs der Armut zwischen 2020 und 2022 gibt es nach wie vor regionale Unterschiede, insbesondere gegenüber den ländlichen und südöstlichen Regionen. So galt 2022 mehr als ein Drittel der Bevölkerung in ländlichen Gebieten als arm. Die Ungleichheiten wurden durch anhaltende Dürre und Wasserknappheit noch verschärft. Die südöstlichen Provinzen, insbesondere Sistan und Belutschistan, sind von großer Armut betroffen, die deutlich über dem nationalen Durchschnitt liegt (WB 4.2024).

Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen ist im ganzen Land nahezu flächendeckend, mit Ausnahme des Zugangs zu modernen Abwassersystemen und zum Internet, wo es eine große Kluft zwischen ländlichen und städtischen Haushalten gibt (WB 11.2023). Die Grundversorgung ist gesichert, wozu neben staatlichen Hilfen auch ein enger Familienzusammenhalt sowie das islamische Spendensystem beitragen (AA 30.11.2022).

Ein Grund für die schlechte wirtschaftliche Leistung Irans sind die europäischen und amerikanischen Wirtschaftssanktionen. Sie wurden Anfang der 2010er-Jahre verschärft, bis 2015 das Atomabkommen mit Iran (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA) ausgehandelt wurde, das teilweise Sanktionsentlastungen enthielt. Nach dem Rückzug der Regierung von US-Präsident Donald Trump aus dem Atomabkommen im Jahr 2018 wurden die Sanktionen von den USA einseitig wieder eingeführt und in den folgenden zwei Jahren weiter verschärft. Auch die EU und andere westliche Länder verschärften ihre Sanktionen im Zuge der "Frau-Leben-Freiheit"-Proteste im Jahr 2022 (FES 3.2024) und nach dem Hamas-Angriff vom 7.10.2023 wurden weitere Sanktionen gegen mit Iran verbundene Personen und Organisationen verhängt (Soufan 14.5.2024). Iranische Banken sind seit der Wiedereinführung der Sanktionen im Jahr 2018 vom SWIFT-System ausgenommen (MEE 30.1.2023; vergleiche BS 19.3.2024). Damit wurden sie vom globalen Finanzsystem effektiv ausgeschlossen (BS 19.3.2024).

Sozialbeihilfen

Letzte Änderung: 26.06.2024

Das sozialstaatliche System Irans besteht aus Subventionen für grundlegende Güter, Bargeldtransfers, Organisationen zur Armutsbekämpfung, die einen Teil der ärmeren Bevölkerung nach Bedürftigkeit versorgen, und Sozialversicherungsorganisationen, welche die mittleren und oberen Einkommensschichten des Landes abdecken (CERI 12.2021). Zu den Sicherungsmaßnahmen gehören Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosengeld, Krankenurlaub, Mutterschaftsgeld, Familienbeihilfen und Zuwendungen für Behinderte (WB 11.2023). Das Bildungs- und Gesundheitswesen ist für alle iranischen Staatsangehörigen, einschließlich der Rückkehrenden, über das Bildungsministerium und das Ministerium für Gesundheit und medizinische Ausbildung zugänglich (IOM 11.2023).

Sozialversicherungsleistungen

Das iranische Sozialversicherungssystem wird vom Ministerium für Kooperativen, Arbeit und Wohlfahrt überwacht und v. a. von der "Organisation für Sozialversicherung" (Social Security Organization, SSO [Farsi: Sazman Tamin Ejtemaei]) (SSA o.D.) als größtem Sozialversicherungsträger verwaltet (Bimeh 20.12.2023). Gemäß der iranischen Arbeitsgesetzgebung müssen alle regulär Angestellten des privaten Sektors bei der SSO versichert sein (SAIS Rethinking Iran 2023; vergleiche Bimeh 20.12.2023), wobei die Versicherungsprämien durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie staatliche Zuschüsse gedeckt werden. Öffentliche Bedienstete mit befristeten Verträgen sind ebenfalls bei der SSO versichert (Landinfo 12.8.2020), für [andere] Staatsbedienstete und Angehörige der Streitkräfte gibt es spezielle Versicherungssysteme (IOM 11.2023). Seit den 1990ern werden auch Angestellte in kleinen Firmen und informell tätige Selbstständige dazu ermutigt, sich bei der SSO zu versichern (Landinfo 12.8.2020). Unternehmer sind nicht dazu verpflichtet, sich zu versichern (Bimeh 20.12.2023). Es besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung bei der SSO, beispielsweise auch für Hausfrauen (IOM 11.2023). Hierbei müssen die Antragsteller bestimmte Voraussetzungen erfüllen, wie z. B. die Einzahlung der Versicherungsbeiträge für mindestens 30 Tage (IOM 11.2023; vergleiche Bimeh 20.12.2023) und Männer müssen ihren Ausweis zur erfolgten Ableistung des Wehrdienstes vorlegen (Bimeh 20.12.2023). Personen aus den untersten Einkommensklassen fallen unter die Salamat-Versicherung, die mittels staatlicher Finanzierung eine medizinische Grundversorgung bietet (Amwaj 29.4.2024).

Offiziellen Statistiken zufolge erhält rund die Hälfte der iranischen Bevölkerung irgendeine Art von Leistung von der SSO (IRINTL 26.10.2023; vergleiche Amwaj 29.4.2024), wobei dies auch unterhaltsberechtigte Angehörige von Versicherten mit einschließt (Landinfo 12.8.2020). Rund ein Drittel der Bevölkerung ist über Salamat versichert (Amwaj 29.4.2024). Zur Größe des informellen Sektors der iranischen Wirtschaft existieren unterschiedliche Daten. Demnach sind 25 bis rund 60 % der Arbeitskräfte informell beschäftigt (SAIS Rethinking Iran 2023). Rund 25 % der Beschäftigten, vor allem im informellen Sektor und unter Saisonarbeitern, sind nicht pensionsversichert (Landinfo 12.8.2020).

Die SSO bietet ihren Mitgliedern Krankenversicherungs-, Pensions- und Arbeitslosenversicherungsleistungen (IRINTL 26.10.2023; vergleiche Landinfo 12.8.2020). Andere Leistungen werden möglicherweise von Arbeitgebern oder privaten Versicherungsgesellschaften angeboten (IOM 11.2023).

Nachdem in die Sozialversicherungskasse zwei Jahre eingezahlt wurde, entsteht für Angestellte ein monatlicher Kindergeldanspruch (AA 30.11.2022; vergleiche SSA o.D.). Die Familienbeihilfe wird gezahlt, bis das Kind 18 Jahre alt ist, oder - wenn es studiert - bis das Studium abgeschlossen ist (Landinfo 12.8.2020).

Arbeitnehmer, die mindestens sechs Monate hintereinander Sozialversicherungsbeiträge geleistet haben, und unfreiwillig arbeitslos werden, können mindestens sechs Monate lang Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beziehen. Sie erhalten dabei 55 % ihres angegebenen Monatslohns. Dies gilt auch für Rückkehrer. Darüber hinaus existiert keine staatliche Arbeitslosenhilfe (IOM 11.2023). Selbstständige und Beamte sind nicht Teil der Arbeitslosenversicherung, da angenommen wird, dass ihre Arbeitsverträge nicht gekündigt werden können (Landinfo 12.8.2020).

Die Mittel für die Alterspension werden durch gemeinsame Beiträge der versicherten Person, des Arbeitgebers und der Regierung gedeckt und variieren je nach Beitragsjahren. Die Hinterbliebenenrente wird an Angehörige einer versicherten verstorbenen Person gezahlt (Landinfo 12.8.2020). Mit einem Gesetzesbeschluss vom Jänner 2024 wurde das gesetzliche Pensionsantrittsalter für Männer [von 60] auf 62 Jahre angehoben, während es für Frauen bei 55 Jahren verbleibt (IRINTL 14.1.2024; vergleiche IRNA 13.2.2024). Um die volle Pension beziehen zu können, sind laut der staatlichen iranischen Nachrichtenagentur IRNA mindestens 30 Sozialversicherungsbeitragsjahre notwendig (IRNA 13.2.2024). Andere Quellen berichten, dass die notwendigen Sozialversicherungsbeitragsjahre zum vollen Pensionsanspruch nun bei 35 (VOA 21.11.2023; vergleiche Amwaj 22.11.2023) bzw. 42 Jahren für Berufseinsteiger liegen (IRINTL 14.1.2024; vergleiche Amwaj 22.11.2023).

Andere Hilfsleistungen

Der Staat zahlt (praktisch) jeder Familie eine Wohnungs- und Lebensmittelzulage in Form von monatlichen Geldtransfers (Landinfo 12.8.2020). Diese Zahlung wurde ursprünglich 2010 eingeführt und hat über die Jahre deutlich an Wert verloren (IRINTL 5.10.2022; vergleiche POMEPS 12.2017). Eine neue Zuschussleistung wird nach Einkommensklassen ausgezahlt. Personen in den niedrigsten drei Einkommensklassen erhalten demnach monatlich vier Mio. IRR (87,61 EUR), die zwei Einkommensklassen darüber erhalten drei Mio. IRR (65,71 EUR) (IOM 11.4.2024; vergleiche Rade 15.1.2024).

Es gibt soziale Absicherungsmechanismen, wie z. B. Armenstiftungen, Kinder-, Alten-, Frauen- und Behindertenheime. Hilfe an Bedürftige wird durch den Staat, Moscheen, religiöse Stiftungen, Armenstiftungen und oft auch durch NGOs oder privat organisiert (z. B. Frauengruppen) (AA 30.11.2022; vergleiche IOM 11.2023). Der Kampf gegen die Armut wird vor allem unter religiösen Vorzeichen geführt. Die großen religiösen Stiftungen haben hier theoretisch ihren Hauptaufgabenbereich. Außerdem liegt die Versorgung der Armen in der Verantwortung der Gesellschaft, das Almosengeben ist eine der Säulen des Islam. Die blauen Spendenbehälter, vom Staat aufgestellt, um die 'sadeqe', die Almosen, zu sammeln, finden sich in jeder Straße (GIZ 12.2020a).

Es gibt zwei öffentliche Organisationen für gefährdete Gruppen. Je nach den Bedürfnissen der Kunden können diese Dienste in Form von Bargeld oder Zuschüssen erbracht werden. Sie dienen als ergänzendes Unterstützungssystem für gefährdete und einkommensschwache Menschen. Die bekannteste öffentliche Organisation, die allen älteren und behinderten Bürgern offen steht, heißt Behzisti [Anm.: auch State Welfare Organization, SWO]. Sie bietet eine breite Palette von Dienstleistungen für verschiedene gefährdete Gruppen wie Drogenabhängige, alleinerziehende Mütter, arbeitende Kinder, unbegleitete Minderjährige, geistig und körperlich Behinderte, Hochbetagte und so weiter. Zu den Dienstleistungen gehören sozialpsychologische Sitzungen, Beratungsdienste, vorübergehende Unterkünfte (Garm Khaneh) und Wohnheime, geistige und körperliche Rehabilitationsdienste, Suchtbehandlung und vieles mehr (IOM 11.2023). Die International Organization for Migration (IOM) berichtete allerdings beispielsweise bezüglich der Unterstützungszahlungen für Menschen mit Behinderungen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, dass diese zwar einen gesetzlichen Anspruch auf einen monatlichen Unterhaltszuschuss von Behzisti hätten, der allerdings aufgrund der wirtschaftlichen Lage nicht regelmäßig ausbezahlt wird (IOM 29.5.2024). Die Imam Khomeini Relief Foundation bietet auch Dienstleistungen für von Frauen geführte Haushalte, Waisen, Familien von Häftlingen usw. an, um deren Lebensbedingungen zu verbessern. Öffentliche Zentren sind in der Regel überlaufen und weisen lange Warteschlangen auf. Die Leistungsempfänger, die weniger überfüllte Orte oder einen engen Kontakt zu Spezialisten/Dienstleistern bevorzugen, wenden sich an private Zentren, bei denen es sich in der Regel um kleinere spezialisierte Kliniken oder Zentren handelt (IOM 11.2023). Gemäß Angaben aus dem Jahr 2021 erhalten rund zwölf Mio. Personen Unterstützung von Behzisti oder der Iman Khomeini Relief Foundation (Kayhan 25.10.2023a).

Behzisti und die Imam Khomeini Relief Foundation helfen bedürftigen Menschen auch bei der Anmietung einer Wohnung. Anspruchsberechtigte Personen erhalten unter besonderen Bedingungen eine monatliche Beihilfe für Grundbedürfnisse wie Wohnraum. Aufgrund des Anstiegs der Wohnungspreise und des Rückgangs der Einkommen können diese Beträge die Wohnkosten in Iran nicht decken (IOM 11.2023).

Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer und ihre Familien sind nicht bekannt (AA 30.11.2022; vergleiche IOM 11.2023). Für Rückkehrer im Rahmen des IOM-Projekts "Assisted Voluntary Return and Reintegration" (AVRR) können jedoch auf Anfrage Hotelzimmer für ein paar Tage gebucht werden. Vorübergehende Unterkünfte, auch bekannt als Garm Khaneh, nehmen nur extrem gefährdete Obdachlose und Drogenabhängige auf (IOM 11.2023).

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 25.06.2024

Grundsätzlich entspricht die medizinische Versorgung, insbesondere in ländlichen Gebieten, nicht (west-)europäischen Standards. Das Land hat in den Jahrzehnten seit der Revolution 1979 allerdings viel in das nationale Gesundheitssystem investiert (AA 30.11.2022). Seit damals hat sich das Gesundheitssystem konstant stark verbessert. Die iranische Verfassung sichert allen Bürgern das Recht zu, den jeweiligen höchst erreichbaren Gesundheitszustand zu genießen (ÖB Teheran 11.2021). Auf nationaler Ebene ist das Gesundheitsministerium für die Leitung, Politikgestaltung, Planung, Finanzierung und Steuerung der Programme zuständig (IOM 11.2023).

Fast die gesamte Landbevölkerung hat Zugang zu primären Gesundheitsdiensten, die in Gesundheitshäusern und ländlichen Gesundheitszentren erbracht werden. Auf Provinzebene sind die Universitäten für medizinische Wissenschaften und die Gesundheitsdienste die wichtigsten staatlichen Einrichtungen, die die Menschen mit Gesundheitsdiensten versorgen und ihre Bedürfnisse im Bereich der individuellen, kollektiven und ökologischen Gesundheit erfüllen. Auf städtischer und ländlicher Ebene ist ein Bezirksgesundheitsnetz, bestehend aus einem Bezirksgesundheitszentrum, städtischen und ländlichen Gesundheitszentren, Gesundheitsposten und Gesundheitshäusern, mit dieser Aufgabe betraut. Neben den Universitäten für medizinische Wissenschaften und den Gesundheitsdiensten wird ein Teil der Leistungen von Versicherungsgesellschaften und den Provinz- und Bezirkseinheiten der Social Welfare Organization [Anm.: State Welfare Organization (SWO), Behzisti] erbracht (IOM 11.2023). Staatliche Institutionen wie die Iranian National Oil Corporation, die Justiz und Revolutionsgarden betreiben ihre eigenen Krankenhäuser (Landinfo 12.8.2020). Neben dem zuständigen Ministerium und den Universitäten gibt es auch Gesundheitsdienstleister des privaten Sektors und NGOs (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche Landinfo 12.8.2020). Diese bedienen jedoch eher die sekundäre und tertiäre Versorgung, während die Primär-/Grundversorgung (z. B. Impfungen, Schwangerschaftsvorsorge) staatlich getragen wird (ÖB Teheran 11.2021).

Selbst in ländlichen Gebieten haben 85 % der Bevölkerung Zugang zur primären Gesundheitsversorgung, 90 % werden mit sauberem Trinkwasser versorgt, 80 % sind an entsprechende Sanitäranlagen angeschlossen. Dennoch haben bei Weitem nicht alle Zugang zu komplexen, spezialisierten und damit auch teureren Diensten (AA 30.11.2022). Die spezialisierte, medizinische Versorgung, gerade bei Notfällen oder Unfällen, ist in weiten Landesteilen medizinisch, hygienisch, technisch und organisatorisch nicht auf der Höhe der Hauptstadt und nicht vergleichbar mit europäischem Standard. In Teheran ist die medizinische Versorgung in allen Fachdisziplinen meist auf einem recht hohen Niveau möglich (AA 31.5.2024). Auch wenn der Zugang zu gesundheitlicher Erstversorgung größtenteils gewährleistet ist, gibt es dennoch gravierende Qualitätsunterschiede zwischen den Regionen. Gesundheitsdienste sind geografisch nicht nach Häufigkeit von Bedürfnissen, sondern eher nach Wohlstand verteilt (ÖB Teheran 11.2021).

Notfallhilfe bei Natur- oder menschlich verursachten Katastrophen wird durch den gut ausgestatteten und flächendeckend organisierten iranischen Roten Halbmond besorgt (ÖB Teheran 11.2021). Alle Krankenhäuser sind verpflichtet, Notfälle rund um die Uhr aufzunehmen (IOM 11.2023). Ein zuverlässig funktionierendes Rettungswesen besteht auch in den Städten nicht überall (AA 31.5.2024).

Alle iranischen Staatsbürger, einschließlich der Rückkehrenden, haben Anspruch auf grundlegende Gesundheitsleistungen (PHC) und weitere Gesundheitsdienste. Die beiden am weitesten verbreiteten Arten von primären Krankenversicherungen sind Tamin Ejtemaei und Salamat [Anm.: auch Universal Public Health Insurance (UPHI)]. Die Erstversicherung deckt die Kosten für Medikamente, medizinische und Krankenhausleistungen, Impfungen usw. ab. Kosmetische Operationen fallen nicht unter den Versicherungsschutz und können vom Versicherer nicht unterstützt werden. Unternehmen müssen ihre Angestellten bei Tamin Ejtemaei versichern (IOM 11.2023), der "Krankenversicherung der Sozialversicherung" (bimeh-ye darmani-ye ta’min-e ejtema’i), die von der Social Security Organization (SSO) bereitgestellt wird [Anm.: s. zur Sozialversicherung Kap. Sozialbeihilfen] (Landinfo 12.8.2020). Darüber hinaus ist unter bestimmten Bedingungen auch eine freiwillige Versicherung über Tamin Ejtemaei möglich. Bei der Salamat-Versicherung wird die finanzielle Situation des Antragstellers geprüft und auf dieser Grundlage die Höhe der Versicherungsprämie berechnet. In einigen Fällen kann die Versicherungsgebühr entfallen. Salamat-Versicherte haben keinen Anspruch auf eine Versicherung bei Tamin Ejtemaei. Die Versicherung umfasst auch nur medizinische Leistungen in öffentlichen und universitären medizinischen Zentren. Es gibt eine spezielle Salamat-Versicherung für Dorf- und Kleinstadtbewohner (Orte unter 20.000 Einwohnern), die für die Versicherten kostenlos ist, da der Staat die Versicherungsgebühr übernimmt, und mit der sich die Versicherten in öffentlichen medizinischen Zentren versorgen lassen können. Weiters existiert auch ein Versicherungsschutz für seltene Krankheiten, mit der Personen, die an seltenen Krankheiten leiden, einen Teil der Behandlungskosten abdecken können (IOM 11.2023). Über Salamat, bzw. den Versicherungsträger Iran Health Insurance Organization (IHIO), sind auch öffentliche Bedienstete und Studenten versichert (Landinfo 12.8.2020). Die meisten Regierungsbehörden betreiben außerdem eigene Sozialleistungszentren, die unter anderem Gesundheitsdienste für ihre Bediensteten bereitstellen (SAIS Rethinking Iran 2023). Neben den öffentlichen Krankenversicherungen gibt es auch private mit unterschiedlichen Prämien je nach Versicherungsschutz (IOM 11.2023; vergleiche Landinfo 12.8.2020). Wohltätigkeitsorganisationen, u. a. die "Imam Khomeini Stiftung", kümmern sich um nicht versicherte Personen - etwa mittellose Personen oder nicht anerkannte Flüchtlinge [Anm.: s. Kap. Afghanen in Iran zur Gesundheitsversorgung für afghanische Staatsbürger in Iran] (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche Landinfo 12.8.2020).

Die peripheren Einheiten (Gesundheitshäuser/ländliche Gesundheitszentren) auf dem Gelände der medizinischen Universitäten bieten kostenlose Gesundheitsdienste an. In den anderen Einrichtungen nehmen die Patienten die von ihnen benötigten Leistungen in Anspruch, indem sie einen Teil des Betrags auf der Grundlage ihrer Krankenversicherung bezahlen (IOM 11.2023). Obwohl primäre Gesundheitsdienstleistungen kostenlos sind, und die Staatsausgaben für das Gesundheitswesen erheblich zugenommen haben, müssen noch immer Selbstbehalte von den versicherten Personen geleistet werden (ÖB Teheran 11.2021). Aufgrund des Budgetdefizits vieler Sozialversicherungsträger werden durchschnittlich nur rund 30 % der Gesundheitsausgaben von öffentlicher Hand gedeckt, für den Rest müssen die Patienten selbst aufkommen (Amwaj 29.4.2024). Es ist davon auszugehen, dass sich eine Vielzahl an Haushalten keine ausreichende Gesundheitsversorgung leisten kann (ÖB Teheran 11.2021).

Der private Sektor ist vor allem in den größeren Städten vertreten und bietet denjenigen, die private Krankenhäuser und Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen möchten, verschiedene Preiskategorien. In den öffentlichen Krankenhäusern sind fast alle Gesundheitsleistungen zu einem niedrigeren Preis erhältlich und können von der Krankenversicherung [z.T., s.o.] übernommen werden. Aufgrund der langen Aufnahmezeiten, der überfüllten öffentlichen Zentren und der besseren Leistungen in privaten Gesundheitszentren ziehen es die Menschen jedoch möglicherweise vor, mehr zu bezahlen und sich an private Gesundheitseinrichtungen zu wenden (IOM 11.2023).

Iran verwendet interne Referenzpreise für Arzneimittel, was bedeutet, dass Arzneimittel zum Preis des Referenz-Arzneimittels erstattet werden und die Patienten die Möglichkeit haben, teurere Arzneimittel zu kaufen und die zusätzlichen Kosten zu bezahlen. Der Erstattungspreis wird von der Regierung festgelegt, während Hersteller, Händler oder Einzelhändler ihren eigenen Arzneimittelpreis festlegen können (Landinfo 12.8.2020).

Obwohl die US-Sanktionen gegen Iran den humanitären Handel ausnehmen, gibt es faktisch Transaktionshindernisse, die die Einfuhr bestimmter Arzneimittel verhindern (BNE 13.8.2023; vergleiche IRINTL 29.1.2024b). Es kommt daher zu Engpässen bei der Einfuhr einiger spezieller Medikamentengruppen (IOM 11.2023; vergleiche IRINTL 29.1.2024b), Anfang 2024 konnten bestimmte Medikamente aus Devisenmangel nicht importiert werden (IrWire 12.1.2024). Dennoch besteht im öffentlichen Gesundheitswesen Irans laut IOM kein ernsthafter Mangel an Medikamenten, Fachärzten oder Ausrüstung (IOM 11.2023). Nach Angaben eines iranischen Behördenvertreters beschränken sich die Einfuhren im pharmazeutischen Sektor auf Medikamente für seltene Krankheiten, während andere Medikamente zur Gänze lokal produziert werden oder auf Rohmaterialien aus dem Ausland angewiesen sind (BNE 13.8.2023). Iranische Ärzte waren mitunter auch gezwungen, auf lokal hergestellte Nachahmungen spezialisierter ausländischer Arzneimittel zurückzugreifen, von denen viele von minderer Qualität sind und zu lebensverändernden Komplikationen und sogar zum Tod von Patienten geführt haben (Intercept 12.6.2023). Der erhebliche Anstieg der Preise für pharmazeutische Rohstoffe in den letzten Jahren hat zudem zu einem exorbitanten Anstieg der Arzneimittelpreise und der Ausgaben der Bürger geführt (BNE 13.8.2023; vergleiche IOM 11.2023, IRINTL 29.1.2024b). Der Rote Halbmond wurde als Anlaufstelle für die Einfuhr bestimmter Medikamente bestimmt und stellt diese für bestimmte Patienten über ausgewiesene Apotheken bereit. Im Allgemeinen sind die meisten Medikamente in Iran erhältlich. Einige Medikamente sind jedoch aufgrund der Sanktionen sehr teuer. Medikamente werden in der Regel nur in kleinen Mengen abgegeben, um einen Weiterverkauf auf dem Schwarzmarkt zu vermeiden (IOM 11.2023).

Das iranische Gesundheitssystem sieht sich mit einer erheblichen Abwanderung von medizinischen Fachkräften ins Ausland konfrontiert (IRINTL 19.3.2024; vergleiche RFE/RL 26.8.2023), was unter anderem mit wirtschaftlichen Härten, beruflichen Zwängen und einem Mangel an sozialen und politischen Freiheiten in Verbindung gebracht wird. Nach Angaben eines Mitglieds des Zentralrats der iranischen Krankenpflegeorganisation verlassen jährlich zwischen 2.500 und 3.000 Krankenpfleger Iran, was die Belastung des ohnehin schon unter Druck stehenden Systems noch weiter erhöht (IRINTL 19.3.2024).

Rückkehr

Letzte Änderung: 26.06.2024

Die iranische Regierung verfolgt seit langem die Politik, keine zwangsweisen Rückführungen zuzulassen. Freiwillige Rückführungen sind möglich und werden manchmal von den rückführenden Regierungen oder der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unterstützt. In Fällen, in denen eine iranische diplomatische Vertretung vorübergehende Reisedokumente ausgestellt hat, werden die Behörden über die bevorstehende Rückkehr der Person informiert (DFAT 24.7.2023).

Es gibt nur wenige Informationen über die Situation von Iranern, die [dauerhaft] nach Iran zurückkehren, im Allgemeinen und von zurückgekehrten Antragstellern auf internationalen Schutz im Besonderen (CEDOCA 10.5.2023). Zum Thema Rückkehrer gibt es nach wie vor kein systematisches Monitoring, das allgemeine Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulassen würde (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche CEDOCA 10.5.2023). In Einzelfällen konnte im Falle von Rückkehrern aus Deutschland festgestellt werden, dass diese bei niederschwelligem Verhalten und bei Abstandnahme von politischen Aktivitäten, mit Ausnahme von Einvernahmen durch die iranischen Behörden unmittelbar nach der Einreise, keine Repressalien zu gewärtigen hatten. Allerdings ist davon auszugehen, dass Rückkehrer keinen aktiven Botschaftskontakt pflegen, der ein seriöses Monitoring ihrer Situation zulassen würde. Auch IOM Iran, die in Iran Unterstützungsleistungen für freiwillige Rückkehrer im Rahmen des ERIN-Programms anbietet, unternimmt ein Monitoring nur hinsichtlich der wirtschaftlichen Wiedereingliederung der Rückkehrer, nicht jedoch im Hinblick auf die ursprünglich vorgebrachten Fluchtgründe und die Erfahrungen mit Behörden nach ihrer Rückkehr (ÖB Teheran 11.2021).

Nach derzeitigem Kenntnisstand können Asylantragsteller bzw. anerkannte Flüchtlinge Kontakt mit iranischen Auslandsvertretungen aufnehmen, um beispielsweise einen neuen iranischen Pass zu beantragen. Fälle von daraus folgenden Repressalien gegen die Antragsteller oder ggf. gegen deren Familien in Iran sind bislang nicht bekannt (AA 30.11.2022). Im April 2022 kündigte das Amt für Personenstandswesen an, hinkünftig "smarte" Identitätsnachweise an im Ausland lebende Iraner auszustellen. Antragsteller können sich unter anderem im iranischen Konsulat in Wien registrieren lassen, um den Identitätsnachweis zu erhalten (TEHT 10.4.2022).

Allein der Umstand, dass eine Person einen Asylantrag gestellt hat, löst bei einer Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus (AA 30.11.2022). Eine von der belgischen Herkunftstländerrechercheeinheit CEDOCA im Jänner 2023 durchgeführte Recherche zu diesbezüglichen Fällen blieb ergebnislos (CEDOCA 10.5.2023). Im Allgemeinen schenken die Behörden abgelehnten Asylwerbern bei ihrer Rückkehr nach Iran wenig Beachtung. Das australische Außenministerium geht davon aus, dass ihre Aktivitäten (einschließlich Beiträgen in sozialen Medien über Aktivitäten vor Ort) von den Behörden nicht routinemäßig untersucht werden. Die Behörden können allerdings in den sozialen Medien einsehbare Aktivitäten von in Australien (oder anderswo) bekannten Iranern überprüfen (DFAT 24.7.2023) und laut einem von CEDOCA befragten Experten wird es immer üblicher, dass die Behörden Rückkehrer anweisen, ihre Konten in sozialen Netzwerken offenzulegen (CEDOCA 10.5.2023). Einer vom niederländischen Außenministerium konsultierten Quelle zufolge befragen die Behörden fast jede Person, von der sie wissen, dass sie einen Asylantrag gestellt hat, um herauszufinden, was der Grund für den Asylantrag war und ob sich die Person nicht politisch oder religiös betätigt hat. Ob Rückkehrer im Ausland einen Asylantrag gestellt haben, können die Behörden beispielsweise durch Angehörige oder Freunde der Betroffenen erfahren, durch abgehörte Kommunikation oder aufgrund einer Durchsicht von Inhalten in den sozialen Medien (MBZ 9.2023).

Es gibt leicht unterschiedliche Ansichten darüber, was das Interesse der Behörden an einem abgelehnten Asylwerber wecken könnte. Allgemein herrscht der Eindruck vor, dass diejenigen, die vor ihrer Ausreise aus Iran Gegenstand negativer behördlicher Aufmerksamkeit waren, bei ihrer Rückkehr mit Reaktionen rechnen müssen. Als weiterer Faktor wird die Art der Informationen genannt, welche Behörden über die Aktivitäten einer Person im Ausland erhalten haben, und ob diese Aktivitäten dem Regime schaden - oder ihm möglicherweise nützen - könnten (Landinfo 21.1.2021). Einer Quelle zufolge spielt der ethnische oder religiöse Hintergrund oder die sexuelle Orientierung eines Rückkehrers für sich genommen keine Rolle. Einer anderen Quelle zufolge können diese Faktoren eine kumulierende Wirkung haben (MBZ 31.5.2022; vergleiche MBZ 9.2023).

An Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert wurden, besteht ein Verfolgungsinteresse. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrer aufgrund der Protestbewegung ab September 2022 verstärkt von den Sicherheitsdiensten überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich beispielsweise der Kenntnis des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland entzieht (AA 30.11.2022). [Anm.: s. Unterkap. Exiliraner, Behandlung von Aktivisten bei Rückkehr, Auswirkungen der Protestwelle von 2022 für Informationen zur Behandlung von Rückkehrern, die politisch aktiv waren oder als Aktivisten in Erscheinung getreten sind.]

Insbesondere in Fällen, in denen Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Im Rahmen der Befragung wird der Reisepass regelmäßig einbehalten und eine Ausreisesperre ausgesprochen (AA 30.11.2022). Wenn Personen mit einem Laissez-Passer anstelle eines regulären Reisedokuments ins Land zurückkehren, kann dies zu Befragungen führen, da dies bedeuten könnte, dass die betroffenen Personen illegal ausgereist sind und/oder im Ausland um internationalen Schutz angesucht haben (CEDOCA 10.5.2023; vergleiche MBZ 9.2023). Ebenso kann es zu Befragungen führen, wenn bei einer erneuten Einreise kein Ausreisestempel im Reisepass vermerkt ist (MBZ 9.2023). Im Falle einer illegalen Ausreise ist die häufigste Strafe eine Geldstrafe oder eine Gefängnisstrafe auf Bewährung, es sei denn, die Person wird zusätzlich anderer Straftaten verdächtigt (CEDOCA 10.5.2023; vergleiche MBZ 9.2023). Wenn die Person Iran illegal verlassen hat, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, oder in kriminelle Aktivitäten wie Schmuggel und Menschenhandel sowie Aktivitäten militanter Gruppen an der Grenze verwickelt ist, ist die Reaktion wesentlich schärfer (CEDOCA 10.5.2023).

Einige Mitglieder der iranischen Diaspora kehren regelmäßig nach Iran zurück, zum Beispiel für einen Urlaub oder um Verwandte zu besuchen (MBZ 9.2023). Andere Auslandsiraner schrecken aus Angst, aufgrund ihrer politischen Aktivitäten oder regimekritischer Äußerungen inhaftiert oder an einer Ausreise gehindert zu werden, vor Reisen nach Iran zurück (IRINTL 9.1.2024). Es hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, ob jemand nach der Rückkehr befragt wird. Oft wird erst im Laufe der Zeit klar, ob eine echte Bedrohung vorliegt (MBZ 31.5.2022). Iranreisende - sowohl iranische als auch z. B. deutsche Staatsangehörige - müssen seit einiger Zeit verstärkt damit rechnen, in Iran willkürlich verhaftet und möglicherweise auch angeklagt zu werden. Ferner häufen sich seit 2022 gezielte nachrichtendienstliche Ansprachen zum Zweck einer Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit iranischen Nachrichtendiensten. Dies gilt insbesondere für Personen, die durch iranische Stellen mit einer oppositionellen Gruppierung in Verbindung gebracht werden oder bei denen Kontakte zu Personen aus der oppositionellen Szene vermutet werden (BMIH/BfV 20.6.2023; vergleiche BMI/DSN 17.5.2024). Zudem besteht die Gefahr, dass Mobilfunkgeräte und Informations- und Kommunikationshardware ausgelesen oder manipuliert werden (BMIH/BfV 20.6.2023). Eine Befragung von aus dem Ausland zurückkehrenden Iranern kann bei der Ankunft am Flughafen durch Geheimdienstmitarbeiter erfolgen (IRINTL 7.1.2022; vgl.MBZ 31.5.2022), oder zu einem späteren Zeitpunkt, in der Wohnung des Befragten und durch die lokalen Behörden (MBZ 31.5.2022). Ebenso kommt es vor, dass es Rückkehrern nach ihrer Ankunft am Flughafen erlaubt wird, nach Iran einzureisen, und sie dann zu einem späteren Zeitpunkt von den iranischen Behörden strafrechtlich verfolgt werden. Einer Quelle zufolge nehmen die Behörden Rückkehrer in der Regel nicht gleich bei der Ankunft am Flughafen fest, weil sie dort sichtbar sind und von den vielen anwesenden Personen mit ihren Handys gefilmt werden könnten. Den Rückkehrern wird dann am Flughafen zum Beispiel gesagt, dass etwas mit ihrem Pass nicht stimmt oder dass ein Bußgeld aussteht, und dass sie sich später an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit melden sollen (MBZ 9.2023).

Iran erkennt Doppelstaatsbürgerschaften nicht an (USDOS 11.1.2024) und ist dafür bekannt, Doppelstaatsbürger als Geiseln zu nehmen, und sie in seinen Verhandlungen mit anderen Ländern, insbesondere westlichen Staaten, als Verhandlungsmasse einzusetzen (IRINTL 9.1.2024). Eine Reihe von Doppelstaatsbürgern, die nach Iran zurückkehrten, werden so im Land festgehalten (CHRI 22.1.2022; vergleiche BBC 7.6.2022, IrWire 14.2.2024).

Das iranische Außenministerium hat im Dezember 2021 ein Webportal eingerichtet, auf dem Iraner, die sich im Ausland aufhalten und eine Rückkehr nach Iran erwägen, ihre Daten hochladen können, woraufhin ihnen mitgeteilt wird, ob sie sicher und ungehindert ein- und ausreisen können oder ob es offene Fälle gegen sie gibt. Allerdings ist nicht jeder in der iranischen Diaspora davon überzeugt, dass dieses System funktioniert und dass er oder sie ohne Bedenken nach Iran reisen kann. Ein Grund dafür ist, dass nicht alle iranischen Nachrichtendienste koordiniert zusammenarbeiten und daher immer die Möglichkeit besteht, dass Rückkehrer dennoch aufgegriffen werden (IRINTL 7.1.2022; vergleiche MBZ 9.2023).

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Exiliraner, Behandlung von Aktivisten bei Rückkehr, Auswirkungen der Protestwelle von 2022

Letzte Änderung: 26.06.2024

Der Logik folgend, dass das Überleben des iranischen Regimes dessen wichtigstes Ziel ist, bekämpfen die iranischen Behörden interne und externe Bedrohungen, wo auch immer diese identifiziert werden (UKHO 1.3.2022; vergleiche BMI/DSN 17.5.2024), wobei die weit gefasste Definition des iranischen Regimes, wer eine Bedrohung für die Islamische Republik darstellt, zum Umfang und Intensität der transnationalen Repressionsbemühungen beiträgt (FH 2021). Die Bekämpfung oppositioneller Gruppierungen und Einzelpersonen stellt im Inland wie auch Ausland den Schwerpunkt iranischer nachrichtendienstlicher Aktivitäten dar (BMIH/BfV 20.6.2023; vergleiche SÄPO 30.5.2024). Regimegegner sowie Oppositionelle werden nicht nur auf iranischem Boden, sondern auch in der Diaspora im Ausland und damit auch in Österreich bedroht und eingeschüchtert (BMI/DSN 17.5.2024). Die Aktivitäten iranischer Nachrichtendienste umfassen in Europa, dem Nahen Osten und Nordamerika unter anderem Ermordungen, Entführungen, Einschüchterung im digitalen Raum, den Einsatz von Spionagesoftware (FH 2021; vergleiche Landinfo 28.11.2022), Bewegungseinschränkungen und Interpol-Missbrauch [Anm.: durch das Erstellen von "Red Notices", sodass Personen in Drittstaaten festgehalten werden] sowie Nötigung durch Dritte (FH 2021). Abseits seiner Nachrichtendienste stützt sich das Regime hierbei auch auf kriminelle Netzwerke (SÄPO 30.5.2024; vergleiche BMI/DSN 17.5.2024).

Bei den bekannten Opfern von Mord, versuchtem Mord und Entführung durch iranische Regimekräfte handelt es sich um Führungskräfte großer Oppositionsgruppen oder separatistischer Organisationen wie der Volksmudschahedin (MEK) und dem Arab Struggle Movement for the Liberation of Ahwaz (ASMLA), sowie um Anführer und Aktivisten der iranisch-kurdischen Exilparteien und Aktivisten im Ausland, die in Iran durch ihre Online-Kampagnen viel Aufmerksamkeit erregt haben (Landinfo 28.11.2022; vergleiche IRINTL 7.1.2024). Es sind Fälle bekannt, in denen iranische Staatsangehörige, insbesondere, wenn diese als Journalisten oder Blogger eine große Reichweite haben und sich kritisch zu politischen Themen in Iran (Menschrechtsverletzungen, Korruption und Bereicherung von Amtsträgern, Frauenrechte, interne Machtkämpfe) geäußert haben, in Drittländern entführt wurden, um sie nach Iran zu verbringen, wo sie in (Schau-)Prozessen verurteilt worden sind (AA 30.11.2022). Unter Journalisten stehen jene besonders im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden, die für bekannte Medienplattformen wie die BBC, Iran International, Deutsche Welle, Radio France Internationale, Voice of America, Radio Zamaneh oder andere auf Farsi tätig sind, da sie am ehesten in der Lage sind, ein großes Publikum in Iran zu erreichen (RSF 1.4.2024).

Die iranischen Nachrichtendienste bemühen sich aktiv um die Anwerbung von Informanten innerhalb der Oppositionsgruppen (Landinfo 28.11.2022). Ein Experte merkte im Juni 2019 gegenüber ACCORD an, dass es den iranischen Behörden gelungen sei, die meisten oppositionellen Organisationen [im Exil] zu unterwandern (ACCORD 5.7.2019). Im Fokus der Behörden stehen dabei unter anderem die MEK, ethnische Gruppen (ACCORD 5.7.2019; vergleiche Landinfo 28.11.2022) und sunnitische Dschihadisten (ACCORD 5.7.2019). Fälle von aufgedeckten Informanten sind zum Beispiel aus Schweden (betreffend der ASMLA) und den USA (betreffend der MEK) bekannt (Landinfo 28.11.2022). Der Experte hält weiters fest, den iranischen Behörden sei bewusst, dass sich beispielsweise iranische Auslandsstudenten - auch in der Hoffnung, Asyl oder Bleiberecht zu erhalten - Oppositionsgruppen anschließen oder zum Christentum konvertieren würden. Dadurch werden diese Personen verwundbar und, sofern sie sich politisch auffällig verhalten, von den iranischen Behörden unter Druck gesetzt. Gerade bei Studenten hat der iranische Staat mehrere Druckmittel, wie etwa beim Verlängern von Reisepässen oder bei Auslands-Aufenthaltsgenehmigungen. Dem Experten sind Fälle bekannt, in denen solche Verlängerungen nicht gewährt worden sind und den Studenten gedeutet worden ist, sich zwecks Unterredung mit den Behörden nach Iran zurückzubegeben (ACCORD 5.7.2019). Die Manipulation von "Asylwerber-Communities" kann eine Bedrohung darstellen. Ziel dieser Operationen ist die gezielte Beschaffung von Informationen, um potenzielle Regimegegner zu identifizieren, Geflohene zur Zusammenarbeit zu bewegen oder belastendes Material gegen Zielpersonen der Islamischen Republik Iran zu sammeln. Zum christlichen Glauben konvertierte Iraner können ebenfalls Opfer von Beobachtung und Verfolgung werden (BMI/DSN 17.5.2024).

Nach Auskunft eines außerhalb Irans lebenden Experten besteht für politisch aktive Personen bei einer Rückkehr ein "größeres" Risiko. Personen, die politisch sehr aktiv oder bekannt sind, können nicht nach Iran zurückkehren. "Einfache" Bürger würden bei der Rückkehr möglicherweise keine Probleme haben, dies ist allerdings sehr einzelfallabhängig (IRB 22.2.2021). Personen, die in Iran an Protesten teilgenommen haben, dann ins Ausland gegangen sind und dort nicht politisch aktiv waren, müssen nach einer Rückkehr nicht mit Konsequenzen rechnen, es sei denn, es sind Verfahren, Vorwürfe oder Strafen gegen sie anhängig (IRB 22.2.2021; vergleiche DFAT 24.7.2023). In diesem Fall würden die betroffenen Personen verhaftet werden. Personen, die im Ausland zwar politisch aktiv waren, es dabei aber geschafft haben, anonym zu bleiben, können laut dem Experten zurückkehren, während es ausgeschlossen ist, dass sie, wenn sie unter ihrem Klarnamen aufgetreten sind, zurückkehren können (IRB 22.2.2021).

Teilnahme an Straßenprotesten im Ausland

Eine große Zahl von Exiliranern hat [ab September 2022] an Protesten und Solidaritätsmärschen in der ganzen Welt teilgenommen. Gemäß Landinfo liegen nur wenige Informationen darüber vor, ob Iraner, die außerhalb Irans in der Protestbewegung aktiv waren, bei der Rückkehr in ihr Heimatland mit Sanktionen belegt wurden. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um Asylwerber oder um Personen mit anderem Aufenthaltsstatus handelt. Das Thema wird in der internationalen Medienberichterstattung nur selten erwähnt. Es gibt jedoch mehrere Beispiele dafür, dass Sportler nach ihrer Rückkehr in Schwierigkeiten geraten sind, weil sie bei Sportveranstaltungen im Ausland ihre Unterstützung für die Proteste zum Ausdruck gebracht haben (Landinfo 5.7.2023). Ein von CEDOCA befragter Experte geht davon aus, dass die iranischen Behörden Bildmaterial von Teilnehmern an Demonstrationen im Ausland sammeln, betont aber, dass er bislang [Stand 18.11.2022] keine Beweise gesehen hat, wonach sie dann die abgebildeten Personen tatsächlich verfolgen. Laut dieser Quelle ist es unwahrscheinlich, dass die iranischen Behörden Personen, die lediglich an Demonstrationen im Ausland teilnehmen, als hochrangige Ziele betrachten. Derselbe Experte gibt jedoch an, dass er sich hinsichtlich Personen, die an den Protesten teilgenommen haben und nach Iran zurückkehren, Sorgen machen würde, wobei dies nicht bedeutet, dass diese Personen bei der Rückkehr sofort verhaftet werden. Dies hängt vom Profil der Personen ab. Die Organisatoren der Proteste würden bei einer Rückkehr auf Probleme stoßen. Eine andere von CEDOCA befragte Expertin gibt an, dass Agenten des Regimes die iranische Diaspora seit dem Ausbruch der Proteste Mitte September 2022 deutlicher und offener überwachen. Sie führte an, dass iranische Demonstranten im Ausland Personen identifizieren, die Demonstranten filmen, und ihre Gesichter in den sozialen Medien veröffentlichen. Mehrere Personen, die 2009 im Rahmen der Grünen Bewegung vor der iranischen Botschaft in London demonstrierten, berichteten beispielsweise, dass das iranische Konsulat sie als Demonstranten identifizierte und sich weigerte, ihre Konsularangelegenheiten zu bearbeiten. Im Zusammenhang mit den Mitte September 2022 ausgebrochenen Protesten sind bislang keine derartigen Fälle bekannt. Die Bildqualität der Kameras vor Botschaften hat sich inzwischen allerdings verbessert und der iranische Staat verwendet nach Eigenangaben Gesichtserkennungstechnologie (CEDOCA 10.5.2023).

Iranische Aktivisten berichteten im Zusammenhang mit den Protesten ab September 2022 unter anderem von Einschüchterungsversuchen in Österreich und Deutschland, beispielsweise durch auffälliges Filmen und Fotografieren von Protestierenden sowie durch Drohanrufe oder -nachrichten (Standard 29.3.2023; vergleiche BMP 11.3.2023, CEDOCA 10.5.2023). Sie gehen davon aus, dass die iranischen Sicherheitsbehörden hinter den Vorfällen stecken (Standard 29.3.2023; vergleiche BMP 11.3.2023). Mizan, das Nachrichtenportal der iranischen Justiz, verkündete im September 2023, dass das Informationsministerium [auch Geheimdienstministerium, VAJA/MOIS] mehrere mutmaßliche Protestanführer im Ausland verhaftet habe. Hierzu ist ein Video veröffentlicht worden, das Geständnisse mehrerer Männer zeigen soll, die in den USA, Deutschland und Großbritannien als Anführer von Demonstrationen in Erscheinung getreten sein sollen (BAMF 18.9.2023; vergleiche Mizan 12.9.2023). Das von Mizan veröffentlichte Video beinhaltet auch mehrere Videomitschnitte aus sozialen wie traditionellen Medien, welche Demonstrationen von Exiliranern in den genannten Ländern zeigen, wobei unter anderem die Fahnen Kurdistans, der MEK und der Monarchisten sowie Bilder von Shah Reza Pahlewi zu sehen sind (Mizan 12.9.2023). Wann und wo die Männer festgenommen wurden, ging aus dem Bericht nicht hervor. Die Authentizität und der Wahrheitsgehalt der Angaben lassen sich nicht unabhängig verifizieren (BAMF 18.9.2023).

Online-Aktivitäten

Ein maßgeblicher Teil der Überwachung durch die Sicherheitsbehörden findet online statt (CEDOCA 10.5.2023), wobei die Behörden diesbezügliche Bemühungen nach Protestbeginn Mitte September 2022 verstärkt haben (LOT 15.12.2022). Die Behörden überwachen Aktivisten im Exil, haben aber nicht die Kapazitäten, alle von ihnen zu überwachen. Das Regime setzt auf Grundlage seiner Interessen Prioritäten, und diese Prioritäten können sich auch ändern. Gemäß einer von CEDOCA befragten Quelle lag der Fokus mit Stand 13.9.2022 [Anm.: d. h. kurz vor Beginn der umfangreichen Protestwelle] auf Journalisten und Aktivisten ethnischer Minderheiten. Der Quelle zufolge ist die Menge an Kritik, die eine Person am Regime übt, kein wesentlicher Faktor, der das Risiko erhöht, als online-Dissident im Exil überwacht zu werden. Vielmehr bestimmt der Einfluss, den eine Person hat, ob diese für das Regime Priorität hat (CEDOCA 10.5.2023), wobei hierbei insbesondere zwei Faktoren ausschlaggebend sind: Zugang zu öffentlicher Aufmerksamkeit und Verbindungen zum Heimatland (Michaelsen 2020). Als einflussreich gilt beispielsweise, wer in Fernsehsendern wie Iran International oder Voice of America (VOA) zu sehen ist. In den sozialen Medien kann die Anzahl der Follower einerseits als gewisser Richtwert gesehen werden, andererseits gibt es dazu keine einfache Formel. Im Zentrum steht vielmehr die Frage, ob es einer Person gelingt, mit ihren Beiträgen den Diskurs mitzuprägen. Eine von CEDOCA befragte Quelle hält es jedenfalls für sehr unwahrscheinlich, dass ein Facebook-Profil von jemandem außerhalb Irans mit rund 500 "Freunden", das die iranische Regierung kritisiert, von den Behörden überwacht wird, wobei die Plattformen twitter.com, Instagram und Telegram bedeutsamer sind, um ein iranisches Publikum zu erreichen, als Facebook oder Blogs (CEDOCA 10.5.2023).

Die Art und Weise, wie iranische Behörden Iraner im Ausland überwachen, hängt vom Ziel ab. Die iranischen Behörden zielen mit Malware auf einige bekannte ("high profile") Dissidenten in der Diaspora ab. Auch Social-Media-Profile von Personen, die nicht zu den profilierten Dissidenten gehören, können überwacht werden. So können die iranischen Behörden beispielsweise lesen, worüber jemand twittert, oder sehen, wer im Netzwerk einer Person ist. Hierfür verwenden die iranischen Behörden öffentlich zugängliche Informationen und überwachen keine privaten [d. h. nicht öffentlich einsehbaren] Konten. Dieser Quelle zufolge haben es die iranischen Behörden bei der Überwachung der iranischen Diaspora v. a. auf Führungspersönlichkeiten und Organisatoren abgesehen, d. h. auf Personen, die eine Gruppe oder Partei anführen oder auf Personen, die von einer Gruppe von Menschen gehört werden. Das Regime könnte hochrangige politische Aktivisten als Bedrohung ansehen und dann ausgeklügelte Cybersecurity-Angriffe gegen sie starten (CEDOCA 10.5.2023). Während sich das Regime bei der Überwachung üblicherweise auf bedeutsame Persönlichkeiten fokussiert, sind laut einer anderen Quelle auch Aktivisten aus der "mittleren Ebene" von Hacking-Angriffen betroffen, und auch "einfache" Iraner werden mitunter überwacht, da jede Art von Information für die Behörden nützlich ist (IRB 22.2.2021). Eine befragte iranische Rechtsanwältin merkte [im Gespräch über die Verbreitung von christlichen Inhalten in den sozialen Medien] zudem an, dass es Fälle von Personen gibt, die aufgrund von Beiträgen in den sozialen Medien mit geringer Reichweite oder mit privaten Konten Probleme mit den Behörden bekommen haben, weil sie von Personen aus ihrem Umfeld gemeldet wurden. Der Staat ist rechtlich dazu in der Lage, derartige Personen zu verfolgen (MRAI 19.6.2023).

Verfolgung von in Iran lebenden Familienmitgliedern

Zwar gibt es keine klaren Kriterien dafür, gegen wen ermittelt wird und wer bestraft wird (DIS 7.2.2020), doch laufen enge Familienmitglieder von politischen Aktivistinnen und Aktivisten (DIS 7.2.2020; vergleiche FH 2021) wie auch von Mitgliedern kurdischer Oppositionsparteien mit Stützpunkt im Nordirak Gefahr, von den Behörden ins Visier genommen zu werden (Landinfo 28.11.2022), nicht jedoch die Großfamilie. Eine andere Quelle widerspricht dem und geht - allerdings ohne Beispiele zu nennen - davon aus, dass die Behörden die Familienangehörigen politischer Aktivisten gut behandeln, um der Welt zu zeigen, dass es in Iran Freiheit gibt, und dass den Rückkehrern kein Leid zugefügt werden wird (DIS 7.2.2020). Im Jänner 2023 wurde von einem Fall berichtet, bei dem eine in Frankreich lebende Iranerin, die an den Protesten nach dem Tod von Mahsa Jina Amini teilgenommen hat, von einem vorgeblichen Mitarbeiter des MOIS gedroht wurde, dass ihre in Iran lebenden Eltern und andere Familienmitglieder inhaftiert werden würden, sollte sie von weiteren Aktivitäten gegen das Regime nicht Abstand nehmen (IRINTL 7.1.2023; vergleiche CNN 21.4.2023). Unter anderem wies der MOIS-Mitarbeiter die Iranerin an, auf Instagram keine Inhalte zu den Protesten mehr zu teilen, wobei sie angegeben hat, dass Beiträge ihres Profils dort nicht öffentlich eingesehen werden können [Anm.: im Rahmen einer zeitlich begrenzten Recherche konnten keine weiterführenden Informationen dazu gefunden werden, was das Interesse der Behörden an der Person konkret geweckt hat] (IRINTL 7.1.2023). Im Juni 2023 wurde von der Verhaftung des Sohns und Bruders einer in London lebenden Menschenrechtsaktivistin berichtet, wobei der Sohn kurz zuvor seine Mutter besucht hatte (IrWire 21.6.2023). In Iran lebende Familienmitglieder von Journalisten der Farsi-sprachigen Sparte der BBC, BBC Persian (BBC 12.1.2023), und der Farsi-Redaktion der Deutschen Welle berichteten ebenfalls von Drohungen der iranischen Behörden (FAZ 28.11.2023), in Iran lebende Familienmitglieder von Journalisten der BBC sind auch von Ausreiseverboten betroffen (RSF 1.4.2024).

Dokumente, Meldewesen und Personenstandsregister

Letzte Änderung: 26.06.2024

Alle iranischen Staatsbürger erhalten bei der Geburtsregistrierung ein Ausweisheft (Shenasnameh) [auch: Familienbuch/Stammbuch] (Landinfo 5.1.2021; vergleiche DFAT 24.7.2023). Dieses ist in zwei Versionen erhältlich: eines für Kinder bis zu 15 Jahren und eines für Personen über 15 Jahren. Das Shenasnameh wird bei Änderungen des Familienstandes und der Familienverhältnisse aktualisiert. Darüber hinaus stellen die iranischen Behörden für iranische Staatsbürger über 15 Jahren einen nationalen Personalausweis aus (Kart-e melli). Dabei handelt es sich inzwischen um eine elektronische Chipkarte, die allmählich zum wichtigsten Ausweisdokument der Iraner im täglichen Leben geworden ist (Landinfo 5.1.2021). Sie ist beispielsweise zur Beantragung von Reisepässen, Führerscheinen und für Bankgeschäfte notwendig (DFAT 24.7.2023). Sowohl das Shenasnameh als auch die Kart-e melli werden von der Nationalen Organisation für Zivilregistrierung (NOCR) ausgestellt. Die Pass- und Einwanderungspolizei stellt Reisepässe auf der Grundlage von Shenasnameh und Kart-e melli aus (Landinfo 5.1.2021).

Nach Angaben des australischen Außenministeriums haben iranische Identitätsdokumente Sicherheitsmerkmale, deren Fälschung aufwendig ist, sodass diese für die meisten Iraner unerschwinglich sind (DFAT 24.7.2023). Während die neuesten Ausgaben des Shenasnameh und der Kart-e melli über fortschrittlichere Sicherheitsstandards als die Vorgängermodelle verfügen, sind allerdings auch noch alte Versionen in Gebrauch, die weitaus leichter manipuliert werden können (Landinfo 5.1.2021). Andere Arten von Dokumenten, wie z. B. Ausweise für die Wehrdienstbefreiung, sind technisch anfälliger für Fälschungen, da sie weniger robuste Sicherheitsmerkmale haben, allerdings sind sie ebenfalls teuer. Papierdokumente, wie z. B. Gerichtsurkunden, Vorladungen und Grundstücksurkunden sind dagegen relativ leicht durch betrügerische Mittel zu erhalten (DFAT 24.7.2023).

Die österreichische Botschaft in Teheran und das deutsche Auswärtige Amt geben an, dass mit falschen Angaben erstellte Dokumente in Iran einfach erhältlich sind (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche AA 30.11.2022). Auch echte Dokumente unrichtigen Inhaltes sind einfach zu beschaffen. Dies betrifft laut Auswärtigem Amt insbesondere das Shenasnameh. So ist es relativ einfach, in ein echtes Shenasnameh ein anderes Geburtsdatum eintragen zu lassen. Bei Kindern, die außerehelich geboren werden, wird zumeist ein beliebiger Name als Vater eingetragen, um die Kinder vor Benachteiligungen in der Schule und im Erwachsenenleben zu schützen. Frauen lassen sich nach einer Scheidung häufig ein neues Shenasnameh ausstellen, aus der die gescheiterte Ehe nicht hervorgeht (AA 30.11.2022).

Sowohl die von iranischen Behörden als auch von der afghanischen Botschaft in Iran ausgestellten Dokumente bestätigen unrichtige Angaben. Eine Überprüfung ist seitens der österreichischen Botschaft nicht möglich. Die Überprüfung von Haftbefehlen kann von der Botschaft aufgrund von Datenschutz nicht durchgeführt werden (ÖB Teheran 11.2021). Auch für Justizunterlagen wie Urteile, Vorladungen etc. kann eine mittelbare Falschbeurkundung nicht ausgeschlossen werden. Denn einerseits ist auch das Justizsystem korruptionsanfällig, andererseits ist es in der iranischen Kultur nicht unüblich, auf der Grundlage von Beziehungsgeflechten Hilfeleistungen und Gefälligkeiten zu erbringen. Sofern die Dokumente in der Justizdatenbank [Adliran, s. unten] hinterlegt sind, kann von deren Echtheit ausgegangen werden (AA 30.11.2022).

Meldewesen und Personenstandsregister

Es gibt kein, etwa mit dem deutschen, vergleichbares Meldewesen (AA 30.11.2022).

Es gibt ein zentral angelegtes, elektronisches Personenstandsregister (Saseman-e sabt-e Ahwal keschwar), in das Geburt, Eheschließung/Scheidung und Tod eingetragen werden. Registereinträge können von dem jeweiligen Bezirksamt für Personenstandsangelegenheiten erteilt werden. Auskünfte über die bei der Ehe grundsätzlich geschlossenen Eheverträge können zudem von dem Notar erteilt werden, bei dem sie geschlossen worden sind (AA 30.11.2022).

Die offizielle Registrierungsbehörde nimmt alle iranischen Staatsangehörigen in ihre Datenbank auf, nachdem zuvor die Identität durch Polizei- und Informationsdienste festgestellt worden ist. Auslandsvertretungen sind nicht ermächtigt, Auskünfte einzuholen. Ein formales Staatsangehörigkeitsfeststellungsverfahren ist nicht bekannt (AA 30.11.2022).

SANA-System/Justizdatenbank Adliran

Durch die sukzessive Digitalisierung des Justizsystems können seit Ende 2016 Justizdokumente über das sog. SANA-System [bzw. in der Datenbank Adliran] abgerufen werden (AA 30.11.2022). Das SANA-System ist eine elektronische Rechtsdatenbank der Justiz, die zur Registrierung und Verfolgung von Fällen dient. Über das SANA-System können ein Anwalt oder sein Mandant auf die Dokumente eines Falles zugreifen (MBZ 9.2023). Seit 2019 werden Justizdokumente in allen Provinzen in der Regel fast ausschließlich über diese Datenbank kommuniziert vergleiche Artikel 175, iranische StPO in der Fassung von 2013/14) (AA 30.11.2022). Personen können relevante Rechtsdokumente jedoch auch über die traditionelle Zustellungsmethode erhalten, d. h. durch einen persönlich anwesenden Gerichtsvollzieher (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Wenn jemand vor Gericht erscheinen muss, wird er per SMS benachrichtigt, dass ein Brief im SANA-System vorhanden ist. Sollte der Betroffene kein SANA-Konto haben, wird eine Benachrichtigung in Papierform ausgestellt. Darin wird darauf hingewiesen, dass sich der Adressat über das SANA-System für die weiteren Schritte registrieren muss (MBZ 9.2023). Auch Dritte können auf die Justizdokumente einer Person zugreifen, wenn sie die zehnstellige "nationale Nummer" des Benutzers (den Benutzernamen) und das sechsstellige temporäre Passwort haben, das per SMS zugesandt wird. So kann jeder, einschließlich Familienmitgliedern und Rechtsvertretern eines Beschuldigten, auf die in der Datenbank gespeicherten Informationen zugreifen und Dokumente ausdrucken, so sie die Zugangsdaten dazu besitzen (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021; vergleiche MBZ 9.2023). Rechtsanwälte können allerdings auch persönlich bei Gericht erscheinen und um Kopien von Akteninhalten ansuchen, so diese vom Gericht zur Akteneinsicht freigegeben wurden (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021).

Angeklagte erhalten bei Fällen, die vor Revolutionsgerichten verhandelt werden, üblicherweise keine Dokumente aus den Strafakten. Militärgerichte, die Straftaten von Angehörigen der Streitkräfte bei der Dienstausübung verhandeln, sind gesetzlich dazu verpflichtet, Dokumente zu Urteilen im SANA-System bereitzustellen. Laut einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle hängt es jedoch vom jeweiligen Fall ab, ob ein Urteil eines Militärgerichts im SANA-System sichtbar ist. Bei sensiblen Fällen können die Gerichte die Bediensteten auffordern, persönlich zur Urteilseinsicht zu erscheinen (MBZ 9.2023).

2. Beweiswürdigung

Die Feststellungen ergeben sich aus den von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsunterlagen sowie den Aktenbestandteilen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Als Beweismittel insbesondere relevant sind die Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahmen durch das BFA, der Beschwerdeschriftsatz, die Länderinformationen der Staatendokumentation zu Iran vom 26.06.2024, Version 8, mit den darin enthaltenen, bei den Feststellungen näher zitierten Berichten, die von den BF eingebrachten Unterlagen, das eingeholte Gutachten und die mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht.

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der BF:

Die Identitäten der BF stehen aufgrund der vorgelegten authentischen Reisepässe fest. Die legale Einreise und die Stellung der Anträge auf internationalen Schutz ergeben sich aus dem Akteninhalt. Die BF reisten mit kanadischen Visa auf dem Luftweg von Iran nach Österreich. Nachdem ihnen von einer kanadischen Fluglinie der Weitertransport nach Kanada verweigert wurde, stellten sie am Flughafen Wien-Schwechat Anträge auf internationalen Schutz. und verfügten dabei über kanadische Visa. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppenzugehörigkeit, zur Herkunft und zu ihren Muttersprachen beruhen auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben der BF im Verfahren. Dass der BF1 auch Farsi spricht konnte festgestellt werden, weil er das selbst angab und sämtliche Einvernahmen auf Farsi durchgeführt wurden.

Die Familienverhältnisse der BF ergeben sich aus dem diesbezüglich unzweifelhaften Akteninhalt.

Dass der BF1 und die BF2 in Österreich keiner Religionsgemeinschaft angehören, brachten sie glaubhaft vor und ergibt sich zudem aus dem Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft. Sie legten Bestätigungen der Bezirkshauptmannschaft Linz-Land über ihren Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft vor, daher konnte dieser festgestellt werden. Der BF1 konnte zudem glaubhaft machen, dass er sich aus innerer Überzeugung zum Atheismus bekennt (dazu näher bei 2.2.).

Die Feststellungen zur Ausbildung und zur Berufserfahrung des BF1 und der BF2 ergeben sich aus ihren glaubhaften Angaben (AS 71, 72; 2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 10; AS 92, 2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 10). Der BF1 belegte seine Berufstätigkeit bei einer iranischen Bank zudem durch den vorgelegten Dienstausweis und Dienstvertrag.

Die Feststellungen zu den in Iran aufhältigen Familienangehörigen der BF ergeben sich aus den gleichbleibenden und glaubhaften Angaben der BF im Verfahren. Der aufrechte Kontakt mit genannten Familienangehörigen steht aufgrund der Angaben der BF fest (AS 71; AS 92).

Aufgrund von aktuellen ZMR-Auszügen steht fest, dass die BF in Österreich im gemeinsamen Haushalt leben. Die Teilnahme an den Deutschkursen und die Ablegung der Deutschprüfungen stehen aufgrund der vorgelegten Teilnahmebescheinigungen und Prüfungszertifikate fest.

Für die ehrenamtlichen Tätigkeiten des BF1 und der BF2 wurden Bestätigungen vorgelegt. Die Feststellungen zur Erwerbstätigkeit und Selbsterhaltungsfähigkeit des BF1 ergeben sich aus dem Dienstvertrag und den Lohn-/Gehaltsabrechnungen. Dass die BF2 seit römisch 40 2023 beim AMS als Arbeit suchend vorgemerkt ist, steht aufgrund der Bestätigung der Vormerkung zur Arbeitssuche durch das AMS fest. Die Inanspruchnahme von Leistungen aus der Grundversorgung ergibt sich aus aktuellen GVS-Auszügen. Der Schulbesuch der BF3 konnte aufgrund der im Akt befindlichen Schulbesuchsbestätigung festgestellt werden. Dass die BF3 in Österreich eine Karateprüfung ablegte, steht aufgrund der vorgelegten Urkunde des Österreichischen Karatebundes fest. Die Unterstützungserklärungen liegen im Akt auf.

Der BF1 gab an, dass er unter keinen chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen leide und keine Medikamente einnehme (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 5). Er sei gesund (AS 70). Die BF2 belegte die festgestellten psychischen Krankheiten durch die Vorlage einer Bestätigung ihrer Psychotherapeutin. Sie gab glaubhaft an, dass sie Sertralin einnimmt (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 5, AS 90). Die festgestellten Krankheiten der BF3 wurden durch entsprechende ärztliche Unterlagen (Ambulanzberichte) belegt.

Dass die BF in Österreich strafgerichtlich unbescholten sind, steht aufgrund der Einsichtnahme in aktuelle Strafregisterauszüge fest.

2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der BF:

Zum BF1:

Der BF1 konnte glaubhaft darlegen, dass er seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht, die er auch im Herkunftsstaat leben würde. Er konnte seine Gründe für den Abfall vom Islam und seiner Zuwendung zum Atheismus nachvollziehbar darlegen. Der BF1 führte aus, er habe sich in den letzten Jahren vor der Flucht aus Iran intensiv mit dem Islam beschäftigt. Er habe die persische Fassung des Koran mehrmals durchgelesen und sei zum Schluss gekommen, dass das Buch nicht von Gott, sondern von Menschen verfasst sei. Es bestehe aus Lügen und der Islam sei eine "lügnerische, räuberische und mörderische Religion" (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 15). Atheisten würden nicht an die Existenz eines Gottes glauben (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 16). In Österreich verwende er den Rufnamen " römisch 40 " (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 7), weil sein Geburtsname ein islamischer Name sei und er diesen deshalb gehasst habe (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 11). Er habe sich mit Physik und anderen Wissenschaften beschäftigt und sowohl im Internet als auch durch das Lesen von verschiedenen Büchern über den Atheismus informiert. Er sei zur Erkenntnis gelangt, dass er sein ganzes Leben einem falschen Glauben gefolgt sei. Wir seien nicht von einem gemeinsamen Schöpfer geschaffen worden, sondern würden selbst Entscheidungen treffen sowie Gut und Böse auseinanderhalten. Es gebe keine außerirdischen Einwirkungen auf unser Verhalten und unsere Entscheidungen, sondern wir würden selbst darüber bestimmen. Die Wissenschaft suche nach der Wahrheit und sei in der Lage Fehler einzugestehen (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 16). Der "echte" Islam sei hingegen unveränderbar (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 15). Alle Religionen der Welt würden an einen Gott glauben, aber keine könne darlegen, woher dieser Gott gekommen sei (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 16). Der BF konnte im Rahmen der mündlichen Verhandlung auch die Fragen des Richters zum Atheismus beantworten und so sein diesbezügliches Wissen und seine intensive Beschäftigung mit dem Thema nachweisen. Der BF trat in Österreich aus der islamischen Glaubensgemeinschaft aus.

Dass er sich aus innerer Überzeugung zum Atheismus bekennt und diesen als identitätsstiftendes Merkmal versteht, ergibt sich auch daraus, dass er versucht, andere vom Atheismus zu überzeugen. Der BF1 gab an, er verbreite seine Meinung zum Atheismus, weil er sein Wissen an andere weitergeben wolle und von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch machen wolle. Er könne nicht tatenlos zusehen, denn dann würden keine Veränderungen im Leben der Menschen stattfinden. Der Kampf gegen das Unwissen sei für ihn eine Pflicht und dafür nehme er auch Gefahren in Kauf (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 16). Seine Unterhaltungen mit Kollegen am Arbeitsplatz seien für ihn ein Kampf gegen das Unwissen gewesen und leider bringe jeder Kampf auch Gefahren und Konsequenzen mit sich. Für die Trennung von Religion und Politik hätten in Europa auch sehr viele Menschen ihr Leben gegeben. Diese Menschen hätten diese Gefahren auf sich genommen, damit die Menschen in Europa heute Freiheit und Menschenrechte genießen könnten (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 17). Er teile seine Überzeugungen gerne mit anderen (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 13). Aufgrund der vorgelegten Screenshots seines Instagram-Profils konnte auch festgestellt werden, dass der BF1 islam-, religions- und irankritische Postings auf Instagram veröffentlicht. In diesen Postings gratuliert der BF1 etwa zum internationalen Tag des Atheismus. Er teilte auch mehrere weitere "atheistische Inhalte", wie etwa "Die religiöse Familie, in der ich das Licht der Welt erblickt habe, hatte nie erwartet, dass aus mir so etwas wird, dass ich nicht an einen Schöpfer glaube und zu diesem Ergebnis führen werde.", "Man sagt (behauptet), dass die Welt so komplex ist, dass sie einen Schöpfer braucht. Ist Gott selbst nicht so komplex, dass er einen Schöpfer braucht?" und "Alle menschlichen Tragödien begannen mit diesem Ausspruch: 'Gott sagte'. Wer sagte es? An wen sagte er es? Wer hat gesehen, dass Gott es sagte?!!! Warum spricht Gott nicht mehr?!!!".

Sein Vorbringen, dass er in der staatlichen Bank, in der er gearbeitet habe, mit Kollegen und Freunden über den Atheismus gesprochen habe und auch versucht habe, diese zu überzeugen, sowie, dass diese Handlungen Mitgliedern der Sepah und der Basij bekannt wurden, konnte der BF1 glaubhaft machen. Er konnte nachvollziehbar darlegen, dass er in der Folge mehrmals befragt und auch bedroht wurde sowie vor einem Untersuchungsausschuss erscheinen sollte. Dass er schließlich von der Bank gekündigt wurde, wies er durch die Vorlage entsprechender Unterlagen nach. Die Entlassung des BF1 wurde in einer iranischen Zeitung öffentlich bekannt gemacht. Daraus geht hervor, dass der BF1 entlassen wurde, weil er wiederholt ungerechtfertigt der Untersuchung seiner Verstöße gegen die Verwaltungsvorschriften für Mitarbeiter der staatlichen Bank ferngeblieben ist. Aus dem dazu angefertigten Gutachten ergibt sich, dass gemäß den iranischen Gesetzen eine Bekanntmachung der Entlassung durch Veröffentlichung in einer weit verbreiteten Zeitung möglich ist, wenn die betroffene Person an einem unbekannten Ort ist. Das war beim BF1 der Fall, denn im Zeitpunkt der Veröffentlichung hielt er sich bereits in Österreich auf. Die in der Veröffentlichung genannten gesetzlichen Bestimmungen sind nach den Ausführungen im Gutachten auch jene, die die entsprechenden Textstellen in der Veröffentlichung regeln. Es wurde auch bestätigt, dass der vorgelegte Zeitungsausschnitt im Online-Archiv der Zeitung vorhanden ist. Das Gutachten ergab, dass die Anzeige authentisch ist. Zudem wurde das Kündigungsschreiben vom römisch 40 .2022 vorgelegt, das mit diesen Ausführungen übereinstimmt. Der BF1 schilderte dieses Vorbringen auch während des gesamten Verfahrens gleichbleibend sowie glaubhaft und machte in den Beschwerdeverhandlungen einen glaubwürdigen Eindruck.

Zur BF2 und BF3:

Hinsichtlich der BF2 und der BF3 konnte nicht glaubhaft gemacht werden, dass sie den Atheismus derart verinnerlicht hätten, dass sie diesen öffentlich ausleben (wollen) würden. Aus ihren Vorbringen ergeben sich keine in Iran getätigten konkreten Handlungen, die eindeutig Ausdruck einer atheistischen Lebensweise wären. Sie haben sich in Iran auch nicht öffentlich zum Atheismus bekannt. Geglaubt wird der BF2 und der BF3 hingegen, dass sie sich aktuell von keinen religiösen Vorschriften einschränken lassen möchten und sie sich insofern als Atheistinnen bezeichnen. Das erkennende Gericht ist überzeugt, dass die BF2 und die BF3 sich im Falle einer Rückkehr in Iran nicht aktiv als Atheistinnen outen würden und auch für diesen Atheismus nicht bereit wären, persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Es ist davon auszugehen, dass sie im Falle einer Rückkehr die in Teheran erforderlichen religiösen Vorschriften einhalten würden, um ein unbeschwertes Leben führen zu können, sowie, dass sie nicht versuchen würden, andere Menschen vom Atheismus bzw. vom Abfall vom Islam zu überzeugen. Die BF2 und die BF3 wollen zwar an sich ein selbstbestimmtes Leben führen, ohne sich an viele Zwänge halten zu müssen, sind jedoch bereit, wenn es erforderlich ist, sich Zwängen zu beugen. Sie haben ihren „Atheismus“ nicht derart verinnerlicht, dass dieser ein Wesensmerkmal ihres eigenen Ichs wäre und von jedermann auch wahrgenommen werden könnte.

Die BF2 gab selbst an, sie habe versucht, ihren Atheismus in Iran geheim zu halten und sie sei dort auch nicht persönlich bedroht worden (AS 94). Sie habe ihre atheistische Einstellung nach außen versteckt (AS 97). Sie sei bereits die letzten zwei Jahre vor der Ausreise Atheistin gewesen (AS 94; 2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 8). Sie brachte auch vor, dass das Leben in der islamischen Gesellschaft hart für sie gewesen sei, weil sie gezwungen gewesen sei, die in der Gesellschaft bestehenden Einschränkungen einzuhalten. Sie habe die Kleidungsvorschriften einhalten müssen. Kontakte mit anderen Leuten seien schwierig gewesen, weil sie nicht mehr an dasselbe geglaubt habe (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 22). Obwohl sie diese Vorschriften als einschränkend ansah, akzeptierte sie diese letztlich und hielt sich daran. Auch die Aussage der BF2, dass sie ihr Land und ihre Familie nicht verlassen wollte, sich aber aufgrund der Probleme ihres Ehemannes zwischen diesem und ihrem Leben in Iran entscheiden hätte müssen, zeigt, dass sie wegen der Probleme ihres Ehegatten ausreiste und die Einschränkungen in ihrem Leben in Iran weiterhin akzeptiert hätte, wenn die Probleme ihres Ehemannes nicht aufgetreten wären. Sie gab bei der Einvernahme vor dem BFA schließlich auch an, sie beziehe sich im Rahmen des Familienverfahrens auf die Fluchtgründe ihres Mannes (AS 97).

Konkrete Verfolgungshandlungen, die sich gegen die BF2 und die BF3 gerichtet hätten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht. Die BF3 brachte zwar vor, dass sie und ihre Mutter zweimal angehalten worden seien, weil sie selbst die Kleidungsvorschriften nicht eingehalten hätte. Einmal habe ein Mann deshalb ihre Mutter geschlagen und einmal seien sie und ihre Mutter von der Sittenpolizei festgenommen worden. Sie hätten eine Verpflichtungserklärung bezüglich der Einhaltung der Kleidungsvorschriften abgeben müssen, um freigelassen zu werden (3. Verhandlungsprotokoll Sitzung 12, 13). Diese Vorfälle sind allerdings nicht glaubhaft, denn sie wurden erstmals in der Beschwerdeverhandlung vorgebracht und zuvor wurde behauptet, dass es keine Verfolgungshandlungen gegen die BF2 und die BF3 gegeben hätte. Es wurden auch keinerlei Belege für diese Behauptungen vorgelegt. Zudem behauptete die BF2, dass der Mann ihre Tochter mit der Faust schlagen hätte wollen und nicht wie die BF3, dass er die BF2 geschlagen hätte (2. Verhandlungsprotokoll Sitzung 22, 23).

Die BF2 und die BF3 konnten nicht substantiiert und glaubhaft darlegen, wie sie bei einer allfälligen Rückkehr ihren "Atheismus" ausleben würden und was sie deswegen machen oder unterlassen würden. Es ist auch nicht ersichtlich, wie sie ins Visier von iranischen Behörden geraten könnten und ihnen in weiterer Folge eine Verfolgung drohen würde. Damit ist auch für das erkennende Gericht nicht erkennbar, warum sie bei einer allfälligen Rückkehr nach Iran wegen des behaupteten Atheismus mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer religiösen oder politischen Verfolgung betroffen wären.

Hiebei ist auch festzuhalten, dass die BF2 nicht nachvollziehbar darlegen konnte, aus innerer Überzeugung eine atheistische Weltanschauung zu vertreten und diese als identitätsstiftendes Merkmal zu verstehen. Sie gab an, solange sie nicht vom Islam abgefallen gewesen sei, sei sie ein gläubiger Mensch gewesen. Sie habe gebetet und gefastet, sei aber nicht in die Moschee gegangen (3. Verhandlungsprotokoll Sitzung 4). Die Frage, ob sie in dem Zeitraum, in dem sie den Islam noch gelebt habe, von der Richtigkeit der Religion überzeugt gewesen sei, verneinte die BF2. Sie habe sich bereits seit ihrem 18. oder 19. Lebensjahr gefragt, wie Gott zustande gekommen sei, warum die Lehren des Islams für Männer und gegen Frauen geschrieben seien und warum im Koran immer Männer die Ansprechpersonen seien. Diese widersprüchlichen Aussagen versuchte die BF2 damit zu erklären, dass sie nach Außen ein gläubiger Mensch gewesen sei, weil sie keine Gründe zur Ablehnung des Gottes und des Islam gekannt habe. Der Islam sei ihre einzige Option gewesen und aufgrund ihrer religiösen Erziehung sei sie auch eine gläubige Muslima gewesen. Sie habe jedoch Fragen gehabt und Antworten für diese Fragen gesucht (3. Verhandlungsprotokoll Sitzung 5).

Die BF3 gab an, sie lehne die Kleidungsvorschriften ab, weil sie nicht wolle, dass ihr jemand befehle, wie sie sich zu kleiden habe. Religion spiele keine Rolle in ihrem Leben. Sie sei Atheistin, weil die Erklärungen ihrer Eltern logischer seien, als die Erklärungen, die im Koran stünden. Am Islam störe sie besonders, dass Männer mehr Rechte hätten als Frauen sowie, dass es viele Zwänge gebe. Über den Atheismus wisse sie nur, dass Atheisten nicht an einen Schöpfer/Gott glauben würden. Der Atheismus würde hauptsächlich auf Wissenschaft basieren und menschliche Einstellungen sowie zwischenmenschliche Liebe seien wichtig (3. Verhandlungsprotokoll Sitzung 13). Dass die BF3 diese Vorschriften aus einer inneren Überzeugung bzw. verinnerlichten Werten ablehnt, ergibt sich aus ihren Angaben und ihrem persönlichen Auftreten nach dem Eindruck des erkennenden Richters nicht.

Die BF2 und die B3 bezeichneten sich im Asylverfahren selbst als Atheistinnen und die BF2 trat in Österreich aus der islamischen Glaubensgemeinschaft aus, allerdings werden diese Erklärungen nicht an iranische Behörden weitergemeldet, insofern ergibt sich auch daraus kein Grund für die Annahme, dass der Glaubensabfall den iranischen Behörden bekannt werden könnte. Dass der BF2 und der BF3 wegen der Vorfälle betreffend den BF1 ein Glaubensabfall unterstellt würde ist nicht maßgeblich wahrscheinlich. Eine plausible Erklärung für die gemeinsame Ausreise wäre ebenso, dass sie das Familienleben mit dem BF1 aufrechterhalten wollten und sie ihm deshalb gefolgt wären. Insofern ist nicht ersichtlich, weshalb iranische Behörden der BF2 und der BF3 nach einer Rückkehr etwa die Behauptung, dass sie sich weiterhin zum Islam bekennen, nicht glauben würden. Die bloßen Tatsachen, dass die BF2 in Iran nicht in die Moschee ging und die BF3 in der Schule die islamischen Vorschriften nicht gerne einhielt, bedeuten nicht, dass ihnen von iranischen Behörden der Abfall vom Glauben unterstellt würde. Aus den Länderfeststellungen ergibt sich, dass nicht praktizierende iranische Muslime einem geringen Risiko behördlicher oder gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind, insbesondere in den Großstädten. Der Besuch von Moscheen ist in Iran beispielsweise nicht weit verbreitet, verglichen mit anderen muslimischen Ländern und Personen werden nicht per se als Atheisten betrachtet, weil sie keine Moscheen aufsuchen. Auch halten sich viele Iraner im Privaten nicht strikt an die Fastenregeln des Ramadan. Solange die Fastenregeln nicht in der Öffentlichkeit gebrochen werden, führte dies bislang üblicherweise zu keinen Problemen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die BF2 und die BF3 während ihres Aufenthaltes in Iran im Wesentlichen die religiösen Vorschriften einhielten. Aus ihren Äußerungen ergibt sich nicht, dass sie nach außen hin nunmehr eine grundlegend andere Lebensweise angenommen hätten. Sie konnten auch nicht glaubhaft machen, dass sie versucht hätten, andere Personen vom Atheismus zu überzeugen. Aus ihrem Vorbringen geht zudem nicht hervor, dass die iranischen Behörden mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen würden, dass sie vom Glauben abgefallen sind.

2.3. Zu den Feststellungen zur allgemeinen Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zum Herkunftsland der BF basieren auf den angeführten Länderberichten zur aktuellen, im Hinblick auf das gegenständliche Verfahren relevanten Situation in Iran. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:

Gemäß Artikel 130, Absatz eins, Ziffer eins, B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit. Gemäß Paragraph 6, BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da im vorliegenden Verfahren keine Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, liegt gegenständlich Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. römisch eins 2013/33 in der Fassung BGBl. römisch eins 2013/122, geregelt (Paragraph eins, leg.cit.). Gemäß Paragraph 59, Absatz 2, VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, Bundesgesetzblatt Nr. 194 aus 1961,, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, Bundesgesetzblatt Nr. 173 aus 1950,, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, Bundesgesetzblatt Nr. 29 aus 1984,, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Paragraph eins, BFA-VG, BGBl. römisch eins 2012/87 idgF bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und im FPG bleiben unberührt.

Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen (Paragraph 28, Absatz eins, VwGVG).

Zu A)

3.2. Zur Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides):

3.2.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, Asylgesetz 2005 (AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 19.01.2023, Ra 2022/20/0313, mwN). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH v. 26.02.1997, Zl. 95/01/0454; VwGH v. 09.04.1997, Zl. 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse vergleiche VwGH v. 18.04.1996, Zl. 95/20/0239; vergleiche auch VwGH v. 16.02.2000, Zl. 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.

Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen vergleiche Artikel 9, Absatz eins, der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen vergleiche VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).

Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht vergleiche VwGH 23.01.2019, Ra 2018/01/0442, mwN). Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung ist auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden VwG vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom VwG nicht getroffen werden vergleiche VwGH 28.06.2018, Ra 2018/19/0262, mwN).

Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen vergleiche VwGH 01.09.2021, Ra 2021/19/0233, mwN).

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, dass er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. - im vorliegenden Fall - des VwG) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste vergleiche VwGH 12.06.2020, Ra 2019/18/0440, mwN).

Im Rahmen einer "Wahrunterstellung" wird geprüft, ob im Fall der hypothetischen Richtigkeit des Vorbringens zum Sachverhalt aus den geltend gemachten Tatsachen – allenfalls in Verbindung mit bereits feststehenden Sachverhaltselementen – der behauptete Rechtsanspruch überhaupt begründet werden kann. Ist dies nicht der Fall, bedarf es keiner Ermittlungen und Feststellungen zur Richtigkeit des (allenfalls: übrigen, noch keinen Feststellungen unterworfenen) sachverhaltsbezogenen Vorbringens vergleiche VwGH 25.06.2019, Ra 2019/19/0032, mwN).

3.2.2. Der VwGH hat im Zusammenhang mit dem Gesichtspunkt einer Verfolgung aus „Gründen der Religion“ zusammengefasst bereits ausgesprochen, dass die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Menschenrechtspakte das Recht auf Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit verkünden. Dies beinhaltet die Freiheit des Menschen seine Religion zu wechseln und die Freiheit, ihr öffentlich oder privat Ausdruck zu verleihen. Nach Kälin betrifft religiöse Verfolgung Maßnahmen, welche eine Organisation gegen ihre Gegner bei Konflikten über die richtige Anschauung in Fragen des Verhältnisses des Menschen zu (einem) Gott ergreift. Im Gemeinsamen Standpunkt des Rates der Europäischen Union vom 04.03.1996 betreffend die harmonisierte Anwendung der Definition des Begriffs Flüchtling in Artikel eins, der GFK ist der Begriff der „Religion“ in einem weiten Sinn aufzufassen und umfasst theistische, nichttheistische oder atheistische Glaubensüberzeugungen. Eine Verfolgung aus religiösen Gründen kann danach auch dann vorliegen, wenn maßgebliche Eingriffe eine Person betreffen, die keinerlei religiöse Überzeugung hat, sich keiner bestimmten Religion anschließt oder sich weigert, sich den mit einer Religion verbundenen Riten und Gebräuchen ganz oder teilweise zu unterwerfen. In diesem Sinn gilt auch nach der Rechtsprechung in der Schweiz als religiöse Verfolgung das Vorgehen des Staates gegen Atheisten, Ungläubige etc., um sie für ihre Ungläubigkeit zu bestrafen oder zu einem bestimmten Glauben zu zwingen vergleiche VwGH 21.09.2000, 98/20/0557 mwN).

Die Verfolgung aus Gründen der Religion, wozu auch atheistische Glaubensüberzeugungen zählen, kann zur Gewährung von Asyl führen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Asylwerber auf Grund seiner atheistischen Lebensweise im Herkunftsstaat tatsächlich Gefahr läuft, verfolgt zu werden. Dies setzt allerdings voraus, dass der Asylwerber seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht, die er auch im Herkunftsstaat leben wird. Die Tatsache, dass einem Asylwerber im Herkunftsstaat etwa auf Grund eines Gesetzes über Apostasie eine Todes- oder Freiheitsstrafe droht, kann für sich genommen eine asylrelevante Verfolgung darstellen, sofern eine solche Strafe in dem Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird vergleiche grundlegend VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395; VwGH 3.9.2021, Ra 2020/14/0290, mwN).

Wie der Verwaltungsgerichtshof anlässlich der Prüfung eines behaupteten Religionswechsels und von Scheinkonversionen wiederholt ausgesprochen hat, ist die Glaubwürdigkeit der inneren Überzeugung der Konversion in einer Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände einschließlich Zeugenaussagen und religiöser Aktivitäten der betroffenen Person zu beurteilen (VwGH 12.9.2023, Ra 2022/19/0237, mwN). Dies gilt entsprechend auch für das Vorbringen einer Apostasie aus innerer Überzeugung.

In seinem Urteil vom 4. Oktober 2018, Bahtiyar Fathi, C-56/17, hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) jüngst präzisiert, dass eine "schwerwiegende Verletzung" der Religionsfreiheit vorliegen muss, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt, damit die betreffenden Handlungen als Verfolgung im asylrechtlichen Sinne vergleiche Artikel 9, Absatz eins und 2 der Statusrichtlinie) gelten können. Dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn die Person, die internationalen Schutz beantragt, aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in ihrem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Artikel 6, der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Die Tatsache, dass einem Asylwerber im Herkunftsstaat etwa aufgrund eines Gesetzes über Apostasie eine Todes- oder Freiheitsstrafe droht, kann für sich genommen eine "Verfolgung" im Sinne von Artikel 9, Absatz eins, der Statusrichtlinie darstellen, sofern eine solche Strafe in dem Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird (Rn. 94 bis 96).

In diesem Urteil hat der EuGH zudem ausgeführt, dass neben der individuellen Lage und den persönlichen Umständen des Antragstellers u.a. dessen religiöse Überzeugungen und die Umstände ihres Erwerbs, die Art und Weise, in der der Antragsteller seinen Glauben bzw. Atheismus versteht und lebt, sein Verhältnis zu den doktrinellen, rituellen oder regulatorischen Aspekten der Religion, der er nach eigenen Angaben angehört bzw. den Rücken kehren will, seine etwaige Rolle bei der Vermittlung seines Glaubens oder auch ein Zusammenspiel von religiösen Faktoren und identitätsstiftenden, ethnischen oder geschlechtsspezifischen Faktoren zu berücksichtigen sind (EuGH 4. Oktober 2018, Bahtiyar Fathi, C-56/17, Rn. 88).

Überdies ist auf das Urteil des EuGH vom 5. September 2012, Y und Z, C-71/11 und C-99/11, hinzuweisen, wonach eine begründete Furcht des Antragstellers vor Verfolgung vorliegt, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling können die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten, auf diese religiösen Betätigungen zu verzichten. Nichts Anderes kann gelten, wenn die "religiösen Betätigungen" darin liegen, den im Herkunftsstaat vorgeschriebenen Glauben nicht leben zu wollen, sondern sich – eben gerade durch das Unterlassen (erwarteter) religiöser Betätigungen – zu seiner Konfessionslosigkeit zu bekennen (VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395).

3.2.3. Der BF1 konnte, wie in der Beweiswürdigung ausgeführt, glaubhaft darlegen, dass er vollkommen vom Islam abgefallen ist sowie ein gefestigtes und reflektiertes atheistisches Weltbild aufweist, was in einem extremen Gegensatz zu der in Iran vorherrschenden politischen und religiösen Auffassung steht. Die atheistische Lebensführung ist zu einem wesentlichen Bestandteil der Identität des BF1 geworden. Es kann von ihm nicht erwartet werden dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und religiösen Normen zu entgehen.

Der BF1 versuchte zudem bereits vor seiner Ausreise, andere vom Atheismus zu überzeugen und geriet ins Visier der iranischen Behörden.

Aus den Länderfeststellungen geht hervor, dass Nicht-Muslime nach dem Gesetz nicht missionieren oder versuchen dürfen, einen Muslim zu einem anderen Glauben zu bekehren. Das Gesetz betrachtet diese Aktivitäten als Bekehrungsversuche, die mit dem Tod bestraft werden können. Der Abfall vom Islam, Apostasie (Farsi: ertedad) fällt in den Bereich der sog. Hadd-Strafen der Sharia, die allgemein mit der Todesstrafe geahndet werden – so die Angeklagten Männer sind, für Frauen ist bei Apostasie eine lebenslange Haftstrafe (bis zur Reue und Rückkehr zum Islam) vorgesehen. Missionarische Tätigkeit – d. h. jegliches nicht-islamisches religiöses Agieren in der Öffentlichkeit – ist verboten und wird geahndet. Missionierung kann im Extremfall mit dem Tod bestraft werden

Personen, die sich zum Atheismus bekennen, können willkürlich festgenommen, inhaftiert, gefoltert und anderweitig misshandelt werden. Sie laufen Gefahr, wegen "Apostasie" (Abfall vom Glauben) zum Tode verurteilt zu werden. Dieser Bedrohung ist der BF1 im vorliegenden Fall jedenfalls ausgesetzt, weil er sich aus freier persönlicher Überzeugung, von Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit getragen, vom (islamischen) Glauben abgewendet hat, deshalb bereits ins Visier der iranischen Behörden geraten ist und wegen seiner innerlich identitätsprägenden Abkehr vom Islam auch in Zukunft gewillt ist, seine Konfessionslosigkeit weiterhin zu leben.

Die Verfolgung ist auch nicht etwa auf einen bestimmten Landesteil beschränkt, da dem BF1 eine Verfolgung aufgrund seines Abfalls vom (islamischen) Glauben durch die iranischen Behörden im gesamten Herkunftsstaat droht.

Die iranische Regierung übt im gesamten Staatsgebiet die Herrschaftsgewalt aus und die BF1 wäre somit in keiner Region vor staatlicher Verfolgung sicher. Es ist daher hinsichtlich des dargestellten Verfolgungsrisikos davon auszugehen, dass keine inländische Fluchtalternative besteht.

Da auch keiner der in Artikel eins, Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt, ist dem BF1 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

3.2.4. Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005 ist Familienangehöriger wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise bestanden hat, sowie der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits vor der Einreise bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat.

Stellt ein Familienangehöriger iSd Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005 von einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser gemäß Paragraph 34, Absatz eins, AsylG 2005 als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes. Die Behörde hat gemäß Paragraph 34, Absatz 2, AsylG 2005 auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist (Paragraph 2, Absatz 3, Asylg 2005) und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (Paragraph 7, AsylG 2005).

Gemäß Paragraph 34, Absatz 4, AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Absatz 2 und 3 des Paragraph 34, AsylG 2005 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.

Die BF2 ist die Ehefrau des BF1 und war bereits vor der gemeinsamen Einreise nach Österreich mit dem BF1 verheiratet. Die BF3 ist ihre gemeinsame minderjährige Tochter. Die BF2 und BF3 sind damit Familienangehörige des BF1 im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005.

Ein in Paragraph 6, AsylG 2005 genannter Asylausschlussgrund ist im Verfahren für die BF2 und BF3 nicht hervorgekommen.

Da dem BF1 – wie oben dargelegt – der Status des Asylberechtigten zu gewähren war, war dieser Status gem. Paragraph 34, Absatz 2, AsylG 2005 auch seiner Ehefrau und seiner minderjährigen Tochter, den BF2 und BF3, zuzuerkennen.

3.2.5. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrages auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2024:W242.2268521.1.00