Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

04.07.2024

Geschäftszahl

W124 2269080-1

Spruch


W124 2269080-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Felseisen als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , römisch 40 geb., StA. Somalia, vertreten durch die BBU GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom römisch 40 , Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am römisch 40 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß Paragraph 3, AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am römisch 40 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am römisch 40 erfolgte die Erstbefragung des BF vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Rahmen welcher er angab, somalischer Staatsangehöriger zu sein, der Volksgruppe der „Somali“ anzugehören und sich zum Islam zu bekennen. Er sei in „ römisch 40 “ geboren und habe in römisch 40 , Somalia, seine Wohnsitzadresse gehabt. Seine Muttersprache sei Somalisch, welche er in Wort und Schrift beherrsche. Er habe sechs Jahre die Grundschule besucht und keine Berufsausbildung erhalten, jedoch zuletzt als Landwirt gearbeitet. Seine Mutter und zwei Schwestern würden in Somalia leben, sein Vater sei bereits verstorben. römisch 40 habe er den Entschluss zur Ausreise aus seinem Herkunftsstaat gefasst. Er sei im Dezember römisch 40 mit dem Flugzeug in die Türkei gereist und über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich eingereist sei vergleiche AS 25f).

Zu seinen Fluchtgründen gab er an, er habe Somalia verlassen, weil die Terrormiliz Al Shabaab ihn mit dem Tod bedroht habe. Sie hätten ihn beschuldigt über die Gruppe zu spionieren. Dies nur deshalb, weil er seinen Onkel, der bei der Regierung gearbeitet hätte, besucht habe. Er wolle nicht sterben und sei deshalb aus Somalia geflohen. Im Fall einer Rückkehr habe er Angst von der Terrormiliz getötet zu werden vergleiche AS 35).

2. Am römisch 40 wurde ein Informationsersuchen nach Artikel 34 der Dublin III-Verordnung an Griechenland gerichtet, woraufhin am römisch 40 eine Antwort der griechischen Behörden einlangte. Darin wurde bekannt gegeben, dass der BF unter der Identität „ römisch 40 , römisch 40 geb., StA. Somalia“ am römisch 40 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, der am römisch 40 in erster Instanz abgewiesen worden sei vergleiche AS 47ff).

3. In weiterer Folge wurde der BF am römisch 40 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) einvernommen.

In dieser gab er zu seinem Fluchtgrund zusammengefasst an, dass es ab und zu Vorfälle wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit gegeben habe, aber nicht viele. Sein Clan habe als Minderheit rassistische Sprüche oder auch Erniedrigungen ertragen müssen. Zudem sei er eines Tages krank geworden, weshalb er seinen in römisch 40 als Polizist arbeitenden Onkel väterlicherseits besucht habe und im Krankenhaus gewesen sei. Nach seiner Rückkehr in seinen Herkunftsort seien er und sein Vater von Al Shabaab in ein Militärlager gebracht worden. Man habe sie dort zwei Tage eingesperrt, bis ihm von einem Gericht vorgeworfen worden sei, dass er seinen Onkel besucht habe. Sie würden ihm daher vorwerfen, dass er als Spion arbeite.

Seinem Vater hätten sie vorgeworfen, dass er den Beschwerdeführer unterstützt habe. Al Shabaab habe dann mit dem Telefon des Vaters des Beschwerdeführers dessen Onkel angerufen und ihn unter Drohungen zur Zusammenarbeit aufgefordert, was dieser verweigert habe. Daraufhin seien beide zum Tode verurteilt worden. Man habe sie in ein Gefängnis gebracht. Der Beschwerdeführer habe aber nach ein paar Tagen fliehen können. Zum Besuch durch Al Shabaab gab der BF an, dass diese auf dem Kopf bedeckt gewesen seien. Er und sein Vater seien auf dem Boden gesessen. Al Shabaab hätte eine Taschenlampe auf sie gehalten sowie sie mit dem Stock geschlagen und ihre Hände zusammengebunden bevor sie mit ihnen gesprochen hätten. Anschließend seien sie in ein Auto geführt worden. Seine Mutter und Schwestern seien nicht anwesend gewesen, da sie die Ziegen weggebracht hätten. Seine Flucht sei möglich gewesen, da ein Junge auf die Idee gekommen sei, während dem Nachtdienst ein Fenster, ohne Glas bzw. Gitterstäbe zu öffnen, durch welches sie raus und schließlich weggerannt seien. Sein Vater sei vor dem Dorf getötet worden, da Al Shabaab die Leute mit Zwang zusammenführe, damit alle es sehen würden. Der Beschwerdeführer habe sich nicht an die staatlichen Behörden gewandt, da sein Onkel ihm gesagt habe, dass er nicht wisse ob er ihn schützen könne. Auch seine Mutter sei bedroht worden, wenn sie den Ort verlassen würden, würden sie Probleme bekommen. Der Anschlag, bei dem sein Onkel gestorben sei, habe sich gegen das Bildungsministerium gerichtet. Es habe ihn erwischt, da er gerade dort gewesen sei. Er habe durch seine Mutter und die Medien hiervon erfahren vergleiche AS 63ff).

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom römisch 40 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkte römisch II. und römisch III.).

Zu Spruchpunkt römisch eins. wurde im Wesentlichen dargelegt, dass der BF nicht glaubhaft gemacht habe, dass er einer Verfolgung durch Al Shabaab ausgesetzt gewesen sei. So habe er bei seiner Erstbefragung wesentliche Umstände seiner Fluchtgeschichte nicht erwähnt. Sein Vorbringen sei zudem an mehreren näher dargelegten Stellen nicht plausibel und unschlüssig. Außerdem sei es in Mogadischu zu keinen Verfolgungshandlungen gegen ihn gekommen, ein weiterer Aufenthalt dort wäre ihm daher möglich gewesen. Da der BF sein eigenes Fluchtvorbringen nicht habe glaubhaft machen können, sei auch die Ermordung seines Vaters durch Al Shabaab nicht glaubhaft. Das Attentat, bei dem der Onkel des BF getötet worden sei, habe sich zudem auch nicht gegen ihn, sondern gegen das Bildungsministerium gerichtet. Demnach sei er zufällig Opfer eines Anschlages geworden. Da Al Shabaab nicht in ganz Somalia herrsche und der Beschwerdeführer in Mogadischu seine Ausreise habe organisieren können, habe er seine Ausreise geplant. Dies wäre ihm nicht möglich gewesen, wenn er Somalia wegen Furcht vor Verfolgung verlassen hätte. Außerdem gehöre sein Clan den Madhiban an. Eine konkrete Verfolgung habe er nicht angegeben vergleiche AS 81ff).

5. Mit fristgerechter Beschwerde vom römisch 40 wurde Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheides vom BF im Wege seiner Vertretung angefochten. Begründend wurde nach einer Kurzdarstellung des Sachverhaltes zusammengefasst ausgeführt, dass das Bundesamt Verfahrensvorschriften verletzt habe. So seien mangelhafte Ermittlungen und Befragungen durchgeführt worden. Die belangte Behörde habe es unterlassen Ermittlungen zur Tätigkeit des Onkels des BF bei der Polizei anzustellen. Der BF gehöre zur sozialen Gruppe der Familie und zur Zielgruppe regierungsfeindlicher Gruppierungen. Auch zum Erschießen seines Vaters sowie dass er aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan keinen Schutz erhalten könne, seien keine ausreichenden Ermittlungen durchgeführt worden. Auch die im Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig, sowie teilweise unrichtig und würden sich nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers befassen. Das Vorbringen des BF finde in diversen Berichten Deckung, weshalb ihm Asyl zuzuerkennen gewesen sei. Aus verschiedenen anderen Berichten sei zudem abzuleiten, dass ihm keine innerstaatliche Fluchtalternative nach Mogadischu zukomme.

Auch die Beweiswürdigung stelle sich als mangelhaft dar. Bei gesetzmäßiger Führung des Ermittlungsverfahrens, hätte das BFA das Vorbringen zu den entscheidungsrelevanten Tatsachen erhoben und dem BF nach einer mängelfreien Beweiswürdigung die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen müssen.

Im gegenständlichen Fall sei der somalische Staat nicht schutzfähig- und willig. Außerdem sei aus den Länderinformationen klar zu entnehmen, dass Personen, die nationalen und regionalen Behörden angehören würden, einem erhöhten Risiko für gezielte Anschläge durch Al Shabaab ausgesetzt seien. Gegenständlich sei der Onkel des BF Polizist und bei einem Selbstmordanschlag durch Al Shabaab getötet worden. Die Angaben des BF in der Einvernahme würden sich mit der Erstbefragung decken. Die Annahme, des Bundesamtes, dass Al Shabaab ihn unmittelbar nach seiner Ankunft im Dorf hätte anhalten müssen, sei unzutreffend und unschlüssig. Dem BF drohe Verfolgung aufgrund einer „Sippenhaft“, wonach eine Person (allein) aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung werde. Zudem sei das BFA nicht ausreichend darauf eingegangen, dass der BF Angehöriger eines Minderheitenclans sei. Dies stellte einen weiteren Risikofaktor für eine Verfolgung in Somalia dar. Weiters mangele es an einer ganzheitlichen Würdigung des individuellen Vorbringens. Bei entsprechender Würdigung und einem Abgleich mit den Länderinformationen hätte die Behörde zu dem Schluss kommen müssen, dass die geschilderte Verfolgungsgefahr objektiv nachvollziehbar und sehr wohl eine akute Gefahr gegeben sei. Zudem könne nicht ausgeschlossen werden, dass der BF bei einer Rückkehr nach Somalia mit unverhältnismäßigen Strafen sanktioniert werde vergleiche AS 207ff).

6. Die Beschwerdevorlage langte am römisch 40 beim Bundesverwaltungsgericht ein vergleiche OZ 1).

7. Am römisch 40 fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt. Diese erfolgte unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Somalisch sowie in Anwesenheit der Vertretung des BF. Das Bundesamt ist entschuldigt nicht erschienen vergleiche OZ 4).

Die Verhandlung nahm im Wesentlichen folgenden Verlauf vergleiche OZ 5):

„(…)

R: Was ist Ihre Muttersprache?

BF: Meine Muttersprache ist Somalisch.

R an die Dolmetscherin: In welcher Sprache übersetzen Sie für den Beschwerdeführer?

D: Somalisch.

R befragt den Beschwerdeführer, ob er die Dolmetscherin gut verstehe, dies wird bejaht.

R befragt den Beschwerdeführer, ob dieser geistig und körperlich in der Lage ist der heutigen Verhandlung zu folgen bzw. ob irgendwelche Hindernisgründe vorliegen. Nun wird der Beschwerdeführer befragt, ob er gesund ist oder ob bei ihm (Krankheiten) und /oder Leiden vorliegen. Diese Fragen werden vom Beschwerdeführer dahingehend beantwortet, dass keine Hindernisgründe oder chronische Krankheiten und Leiden vorliegen. Der Beschwerdeführer ist in der Lage der Verhandlung in vollem Umfang zu folgen.

BF gibt an, dass er gesund ist, mir geht es gut und nehme keine Medikamente.

Dem Beschwerdeführer wird dargelegt, dass er am Verfahren entsprechend mitzuwirken hat bzw. auf die Fragen wahrheitsgemäß zu antworten hat. Andernfalls dies sich entsprechend im Erkenntnis im Bundesverwaltungsgerichtes auswirken würde.

R: Haben Sie noch neue Beweismittel, die Sie beim BFA oder bzw. bei der Polizei noch nicht vorgelegt haben?

BF: Nein.

Eröffnung des Beweisverfahrens

Zum bisherigen Verfahren:

Die Partei verzichtet ausdrücklich auf die Verlesung des Akteninhaltes (vorgelegter Verwaltungsakt des BFA und Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes), dieser wird jedoch vom R der Reihe nach erläutert und zur Akteneinsicht angeboten.

Die Partei verzichtet auf eine Akteneinsicht.

R erklärt diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift.

R weist Beschwerdeführer auf die Bedeutung dieser Verhandlung hin. Der Beschwerdeführer wird aufgefordert nur wahrheitsgemäße Angaben zu machen und belehrt, dass unrichtige Angaben bei der Entscheidungsfindung im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen sind. Ebenso wird auf die Verpflichtung zur Mitwirkung einer Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes hingewiesen und dass auch mangelnde Mitwirkung bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen ist.

Beginn der Befragung:

R: Wie heißen Sie und wann und wo sind Sie geboren?

BF: Ich heiße römisch 40 , geboren am römisch 40 , im Ort römisch 40 , in der Region römisch 40 , in Somalia.

R: Wo haben Sie in Somalia von Ihrer Geburt an bis zu Ihrer Ausreise in welchen Städten, Orten, in welchen Zeiträumen gelebt? Geben Sie dies bitte chronologisch an:

BF: Von Geburt an bis Dezember römisch 40 verbrachte ich im Ort römisch 40 Dann bin ich nach römisch 40 gegangen, wo ich nur ungefähr eine Woche verbrachte, danach habe ich das Land Richtung Türkei verlassen.

R: Welchen Clan bzw. Sub Clan, Sub Sub Clan bzw. Sub Sub Sub Clan gehören Sie an?

BF: Clan Madhiban, Sub Clan römisch 40 , Sub Sub Clan römisch 40 , Sub Sub Sub Clan römisch 40 .

R: Wie viele Geschwister hat Ihr Vater?

BF: Eine Schwester und einen Bruder.

R: Wo lebt die Schwester Ihres Vaters?

BF: Verstorben.

R: Wann?

BF: Als ich noch klein war. Das wurde mir so erzählt.

R: Wo lebt der Bruder Ihres Vaters?

BF: Er ist auch bereits verstorben.

R: Wann?

BF römisch 40 .

R: An was ist er verstorben?

BF: Er ist bei einem Anschlag von Al Shabaab ums Leben gekommen. Das Ziel des Anschlages war das Unterrichtsministerium in römisch 40 . Mein Onkel und andere Personen sind dabei auch ums Leben gekommen.

R: Warum hat sich Ihr Onkel zu diesem Zeitpunkt dort aufgehalten?

BF: Er war auf der Straße, er war ein Polizist.

R: Was waren die anderen Personen, die dabei ums Leben gekommen sind?

BF: Es waren Zivilisten.

R: Mit wem haben Sie an der Heimatadresse gelebt?

BF: Mit meinen Eltern und meinen zwei Schwestern.

R: Wie alt sind Ihre beiden Schwestern?

BF: 14 und 15 Jahre alt.

R: Wie geht es Ihren Familienangehörigen?

BF: Es geht Ihnen gut. Ich meine, gesundheitlich geht es Ihnen gut, außer meiner Mutter, die manchmal Selbstgespräche führt.

R: Wo wohnen Ihre Familienangehörigen?

BF: In römisch 40 .

R: In Ihrem Elternhaus?

BF: Ja.

R: Wie bestreitet Ihre Familie ihren Lebensunterhalt?

BF: Sie züchten Tiere. Die Familie züchtet Tiere.

R: Wie haben Sie selbst Ihren Lebensunterhalt in Somalia bestritten?

BF: Als Landwirt. Ich habe auf unserem Feld gearbeitet.

R: Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihren Familienangehörigen kommuniziert?

BF: Vorige Woche.

R: Was war der Inhalt dieses Gespräches?

BF: Ich habe die Familie gefragt, wie es Ihnen geht. Die Schwestern erzählten mir, dass sie noch dort leben und weiter Tiere züchten. Sie erzählten mir auch, dass meine Mutter nicht in der Lage sei, mit mir zu telefonieren. Sie würde Selbstgespräche führen.

R: Wurde darüber hinaus noch etwas besprochen?

BF: Nein.

R: Sind Sie mit Ihren Familienangehörigen in regelmäßigen Kontakt?

BF: Ja, mit meinen Schwestern.

R: Sind Sie mit Hilfe eines Schleppers aus Somalia ausgereist?

BF: Ja. Mein Onkel hat das Geld bezahlt.

R: Wie viel hat er dafür bezahlt?

BF: Ich weiß nicht wieviel die Reise von Somalia aus kostet, aber mein Onkel hat 3.000 USD für die Reise von Griechenland bis nach Österreich bezahlt.

R: Woher hat Ihr Onkel so viel Geld?

BF: Ich weiß nicht.

R: Haben Sie das Geld zurückbezahlt?

BF: Mein Onkel ist verstorben.

R: Gehen Sie arbeiten?

BF: Zurzeit nicht, ich habe 1,5 Monate gearbeitet und jetzt lerne ich.

R: Als was haben Sie gearbeitet?

BF: Als Abwäscher und als Reinigungskraft.

R: Was lernen Sie?

BF: Deutschkurs.

R: Wie lange haben Sie in Somalia in der Landwirtschaft gearbeitet?

BF: Ich schätze 5 Jahre, es war nicht lange.

R: Haben Sie in Griechenland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt?

BF: Ja.

R: Wurde über Ihren Antrag auf internationalen Schutz in Griechenland darüber abgesprochen?

BF: Die Antwort war nein. Zwei Jahre lang war ich in einem Flüchtlingslager, dann fragte ich, wie weit mein Verfahren gediehen ist. Dann habe ich die Antwort bekommen, dass sie keinen Flüchtlingsstatus für mich haben. Dann hatte ich keinen Anspruch mehr auf die Grundversorgung.

R: Ist über Ihren Antrag auf den Flüchtlingsstatus abgesprochen worden oder nicht?

BF: Ich wurde dort befragt, aber darauf habe ich keine Antwort bekommen.

R: Haben Sie von der Behörde eine Entscheidung bekommen?

BF: Nein, ich wurde vom Lager rausgeschmissen.

R: Wiederholung der Frage.

BF: Nein, ich habe nichts bekommen.

R: Haben Sie den Antrag auf internationalen Schutz in Griechenland mit dem gleichen Namen wie in Österreich gestellt?

BF: Ja.

R: Mit dem gleichen Geburtsdatum?

BF: Ja.

R: Wie lange hat Ihr Onkel als Polizist gearbeitet?

BF: Ich weiß nicht.

R: Wann hat er mit der Arbeit als Polizist begonnen?

BF: Ich weiß nicht. Seitdem ich ihn gesehen habe, war er bereits Polizist.

R: Seit wann haben Sie ihn gesehen?

BF: Als ich nach römisch 40 gekommen bin, habe ich gesehen, dass er ein Polizist ist.

R: Wann sind Sie nach Mogadischu gekommen?

BF: Am römisch 40 .

R: Haben Sie zuvor gewusst, dass Ihr Onkel Polizist ist?

BF: Nein, habe ich nicht.

R: Haben Sie zuvor mit Ihren Eltern über Ihren Onkel gesprochen?

BF: Nein.

R: Hat Ihr Onkel Sie in Ihrem Elternhaus bzw. Ihre Familie besucht?

BF: Nein, nie.

R: Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Onkel?

BF: Gut. Wir hatten einen guten Kontakt.

R: Seit wann hatten Sie den guten Kontakt?

BF: Er hatte einen guten Kontakt zu meinem Vater. Er hat meinem Vater immer gesagt, dass er mir Grüße ausrichten soll.

R: Seit wann hat Ihr Vater Grüße von Ihrem Onkel ausrichten lassen?

BF: Ich weiß es nicht. Als ich in diesem Dorf römisch 40 war. Wann es genau angefangen hat, weiß ich nicht.

R: Wie oft waren Sie bei Ihrem Onkel in römisch 40 ?

BF: Einmal… nein, es wird zweimal sein.

R: Wann waren Sie das erste Mal bei Ihrem Onkel in römisch 40 ?

BF: Zweimal habe ich ihn im Dezember römisch 40 getroffen. Das erste Mal war am römisch 40 und das zweite Mal auch um diese Zeit. Wann genau weiß ich nicht.

R: Wie lange waren Sie das erste Mal bei Ihrem Onkel in römisch 40 ?

BF: Das war auch im Dezember römisch 40 . An den genauen Tag kann ich mich nicht erinnern.

R: Wiederholung der Frage.

BF: Eine Woche.

R: Wie lange waren Sie das zweite Mal bei Ihrem Onkel in römisch 40 ?

BF: Eine Woche und einige Tage, schätze ich.

R: Was haben Sie das erste Mal in der ersten Woche bei Ihrem Onkel in römisch 40 gemacht?

BF: Beim ersten Mal bin ich wegen der medizinischen Versorgung nach römisch 40 gegangen. Da hat mich mein Onkel aufgenommen.

R: Wie sind Sie beim ersten Mal im Dezember römisch 40 zu Ihrem Onkel nach römisch 40 gelangt?

BF: Mit einem Minibus.

R: Wie lang war der Minibus von Ihrem Heimatort nach römisch 40 unterwegs?

BF: 1,5 Tage.

R: Ist der Minibus durchgefahren oder wurde eine Pause gemacht?

BF: Er hat angehalten und Pause eingelegt.

R: Haben Sie irgendwo übernachtet während dieser Fahrt?

BF: Ja, eine Nacht.

R: Wo haben Sie da übernachtet?

BF: Im Freien.

R: Wie viel Zeitraum ist zwischen dem ersten Aufenthalt einer Woche und dem zweiten Aufenthalt einer Woche in römisch 40 gelegen?

BF: Dazwischen sind weniger als 10 Tage gelegen. Nach dem ersten Mal bin ich nach römisch 40 zurück.

R: Warum wurden Sie medizinisch behandelt?

BF: Ich hatte Malaria.

R: Wieso sind Sie ein zweites Mal zu Ihrem Onkel nach römisch 40 gefahren?

BF: Weil ich vor der Al Shabaab geflüchtet bin.

R: Von wo sind Sie beim zweiten Mal weggefahren?

BF: Mit einem Flugzeug bin ich in römisch 40 gelandet. Ich bin von römisch 40 abgeflogen. Von meinem Heimatort bin ich dann mit einem Fahrzeug nach römisch 40 gefahren.

R: Wie weit ist römisch 40 von Ihrem Heimatort entfernt?

BF: Ich schätze 30 Kilometer.

R: Von wem wird Ihr Heimatort bzw. Heimatregion beherrscht?

BF: Von der Al Shabaab.

R: An welchem Wochentag sind Sie von Ihrem Heimatort nach römisch 40 gefahren?

BF: Ich kann mich nicht erinnern, ich kann es nicht genau sagen. Ich war durcheinander.

R: Um wieviel Uhr sind Sie von Ihrem Heimatort weggefahren?

BF: Um 2 Uhr in der Nacht.

R: Wann sind Sie in römisch 40 angekommen?

BF: Weniger als 40 Minuten sind wir gefahren, denke ich.

R: Wann sind Sie dort angekommen?

BF: Es dürfte um 3 Uhr gewesen sein, ich weiß es nicht, ich hatte keine Uhr.

R: Wenn Sie sagen „Wir sind gefahren“, wer ist aller gefahren?

BF: Ich und ein Clanangehöriger.

R: Ist Ihr Clanangehöriger mit Ihnen nach römisch 40 geflogen oder hat er Sie nur zu diesem Flughafen gefahren?

BF: Er hat mich zu einem Bekannten nach römisch 40 gebracht und dieser Bekannte brachte mich zum Flughafen.

R: War dieser Bekannte auch ein Clanangehöriger?

BF: Nein.

R: Wie lange haben Sie sich bei diesem Bekannten aufgehalten?

BF: Nicht einmal einen Tag. In der Nacht wurde ich zu ihm gebracht und am nächsten Tag, um ca. 10 Uhr hat er mich zum Flughafen gebracht.

R: Ist es während der Fahrt von Ihrem Elternhaus nach römisch 40 zu irgendwelchen Vorfällen Ihnen gegenüber gekommen?

BF: Nein.

R: Sind Sie auf der Fahrt von Ihrem Elternhaus nach römisch 40 von irgendjemanden verfolgt worden?

BF: Ich habe niemanden gesehen.

R: Haben Sie bzw. Ihr Clanangehöriger oder der Bekannte des Clanangehörigen Vorkehrungen getroffen, für den Fall, dass Sie von der Al Shabaab angetroffen werden würden?

BF: Nein. Dieser Clanangehöriger hat mich gerettet. Er hat gemeint, er würde sich darum kümmern.

R: Was heißt: „Er würde sich darum kümmern“?

BF: Er sagte, er würde mich retten und ich solle keine Angst haben. Er kennt sich aus.

R: Hat dieser Clanangehörige über eine entsprechende Macht verfügt, dass er sagen konnte, er würde sie retten und sie sollen keine Angst haben?

BF: Körperlich war er stark und er kennt Leute. Er selbst hat keine besondere Macht gehabt.

R: Wenn Sie sagen „Er kennt Leute“? Was meinen Sie damit?

BF: Ich meine damit, dass er Leute kennt, die der Al Shabaab angehören und kennt normale Zivilisten. Er konnte zwischen ihnen unterscheiden.

R: Hat er auf die Al Shabaab einen Einfluss gehabt, kannte er dort Leute?

BF: Nein. Ich weiß es nicht.

R: Hat es von der Fahrt von diesem Bekannten des Clanangehörigen, von dessen Unterkunft zum Flughafen irgendwelche Vorfälle gegeben?

BF: Nein.

R: Wie sind Sie dann vom Flughafen in römisch 40 zu Ihrem in römisch 40 lebenden Onkel gekommen?

BF: Mein Onkel hat mich vom Flughafen mit seinem Auto abgeholt und mich zu ihm nach Hause geholt.

R: Wie lange waren Sie mit dem Auto unterwegs?

BF: Ca. 40 Minuten. Die Flugdauer hat ca. 3 Stunden gedauert.

R: Wer hat den Flug bezahlt?

BF: Der Bekannte des Clanangehörigen hat das bezahlt. Er hat alles erledigt.

R: Warum hat der Bekannte des Clanangehörigen für Sie den Flug bezahlt?

BF: Weil mein Clanangehöriger mit ihm gesprochen hat und der Bekannte meinen Onkel kennt.

R: Wird Ihre Familie von diesem Clanangehörigen bzw. anderen Clanangehörigen unterstützt?

BF: Nein.

R: Ist es während der Fahrt vom Flughafen in römisch 40 zur Unterkunft Ihres Onkels zu irgendwelchen Vorfällen Ihnen gegenüber gekommen?

BF: Nein.

R: Sie haben zuerst gesagt, Sie waren beim zweiten Mal mehr als eine Woche bei Ihrem Onkel in römisch 40 , was heißt das?

BF: Ich weiß es nicht, ich war durcheinander. Jedenfalls eine Woche.

R: Haben Sie bzw. Ihr Onkel Vorkehrungen getroffen, dass Sie auf der Fahrt vom Flughafen römisch 40 zur Unterkunft Ihres Onkels in römisch 40 von Mitgliedern der Al Shabaab angetroffen werden würden?

BF: Er hat mir dazu nichts gesagt.

R: Sie selbst?

BF: Ich hatte Angst, ich habe mich auf meinen Onkel verlassen. Ich habe ihn später gefragt, wann er mich wegbringen würde.

R: Ist es während Ihres zweiten Aufenthaltes in römisch 40 bei Ihrem Onkel Ihnen gegenüber zu irgendwelchen Vorfällen gekommen?

BF: Nein, mein Onkel wurde angerufen und informiert, dass mein Vater von der Al Shabaab getötet wurde.

R: Am wievielten Tag Ihres Aufenthaltes bei Ihrem Onkel in römisch 40 ist das gewesen?

BF: Am 6. Tag, denke ich. Ich war bereits 6 Tage bei ihm.

R: Haben Sie bzw. Ihr Onkel Vorkehrungen getroffen, für den Fall, dass die Al Shabaab während Ihres Aufenthaltes in römisch 40 auftauchen würde?

BF: Nein. Man kann sagen, dass mein Onkel in einer Gegend gewohnt hat, in der auch andere Polizisten ihre Unterkunft gehabt haben. Deshalb hat mein Onkel gemeint, dass ich dort bleiben solle, bis ich das Land verlasse.

R: Wie sind Sie von der Unterkunft in römisch 40 zum Flughafen gekommen?

BF: Mein Onkel hat mich von seiner Unterkunft zum Flughafen nach römisch 40 gebracht, mit seinem Auto.

R: Wie lange waren Sie da unterwegs?

BF: Ca. 40 Minuten.

R: Wann sind Sie von Ihrem Onkel weggefahren?

BF: Ich hatte keine Uhr.

R: Wann ist Ihr Flug von römisch 40 weggegangen?

BF: Um 12 Uhr mittags.

R: Ist es auf der Fahrt von Ihrem Onkel zum Flughafen zu irgendwelchen Vorfällen gekommen?

BF: Mir ist nichts passiert.

R: Warum sind Sie nicht länger bei Ihrem Onkel in römisch 40 verblieben?

BF: Mein Onkel sagte mir von Anfang an, dass ich nur eine kurze Zeit bei ihm verbringen werde, weil er für mein Leben nicht garantieren kann.

R: Hat Ihr Onkel seine Kollegen darüber verständigt, dass Sie von der Al Shabaab in Gefahr sind?

BF: Ich weiß es nicht, er hat mir darüber nichts erzählt.

Die Verhandlung wird von 10:32 Uhr bis 10:49 Uhr unterbrochen.

R: Warum haben Sie Probleme mit der Al Shabaab gehabt?

BF: Weil ich meinen Onkel getroffen habe, der Polizist bei der somalischen Regierung war.

R: Für was war Ihr Onkel als Polizist zuständig?

BF: Er war Verkehrspolizist, er hat den Verkehr geregelt. Er hat den Verkehr anstelle einer Ampel geregelt.

R: Wieso sind Sie zu Ihrem Onkel gefahren, wenn die Al Shabaab gegen Personen ist, die für die somalische Regierung arbeiten?

BF: Als ich zu ihm das erste Mal gekommen bin, wusste ich nicht, dass er als Polizist arbeitet. Ich brauchte Hilfe, weil ich medizinische Hilfe benötigt habe.

R: Wann haben die Probleme mit der Al Shabaab Ihnen gegenüber konkret begonnen?

BF: Nachdem ich nach römisch 40 zurückgekehrt bin.

R: Wieso sind Sie nicht das erste Mal gleich bei Ihrem Onkel geblieben?

BF: Ich war dort nur wegen der medizinischen Versorgung und ich bin einfach zu meinem Heimatort zurückgekehrt. Ich habe nicht erwartet, dass ich deswegen Probleme bekommen würde.

R: Hat Ihre Familie vor diesem Zeitpunkt mit der Al Shabaab schon Probleme wegen der Tätigkeit Ihres Onkels als Polizist gehabt?

BF: Ja, sie haben von uns Tiere genommen und sie haben uns einen großen Teil der Ernte weggenommen.

R: Woher hat die Al Shabaab gewusst, dass Ihr Onkel als Polizist arbeitet?

BF: Ich weiß es nicht. Das hat mich selbst gewundert. Deshalb frage ich mich auch.

R: Warum sind Sie dann zu Ihrem Onkel nach römisch 40 gefahren, wenn Ihre Familie bereits in der Vergangenheit für die Tätigkeit Ihres Onkels als Polizist der Al Shabaab etwas bezahlen musste, indem sie z.B. einen großen Teil der Ernte diesen abführen musste?

BF: Sie haben uns das nicht wegen der Tätigkeit des Onkels weggenommen, das sind die Probleme, die uns Al Shabaab gemacht haben. Es gibt so etwas, das die Al Shabaab „Zakat“ nennt.

R: Welches Verhältnis hat Ihr Vater zu Ihrem Onkel gehabt?

BF: Sie hatten ein gutes Verhältnis und deshalb einen guten Kontakt.

R: Was meinen Sie mit „einem guten Kontakt“?

BF: Ich meine damit, dass sie als Brüder Kontakt gehabt haben.

R: Ist es in der Vergangenheit in Ihrem Heimatdorf/in Ihrer Heimatregion zu ähnlichen Vorfällen gekommen, wie jenen, der Ihnen passiert ist?

BF: Ich habe das nicht gesehen.

R: Wiederholung der Frage.

BF: Habe ich nicht gehört.

R: Inwiefern haben sich Ihnen gegenüber die Probleme mit der Al Shabaab dargestellt?

BF: Psychisch hat mich das belastet. Ich hatte große Sorgen, sie haben meinen Vater getötet. Meine Mutter leidet jetzt deshalb.

R: Wiederholung der Frage.

BF: Sie haben mich zum Tode verurteilt, sie wollen mich umbringen.

R: Haben Sie konkret Probleme mit der Al Shabaab gehabt?

BF: Ja, als sie von mir Tiere genommen haben, haben sie mich immer davor geschlagen. Sie sind zu mir gekommen, während ich die Pflanzen am Feld gegossen habe und haben einfach die Ernte mitgenommen. Sie haben mit mir darüber nicht gesprochen und haben manchmal die ganze Ernte mitgenommen. Sie haben das beste Tier mitgenommen.

R: Haben Sie außer diesen Vorfällen noch Probleme mit der Al Shabaab gehabt?

BF: Sie sind immer wieder gekommen und haben dasselbe gemacht.

R: Hat es sonst noch Probleme mit der Al Shabaab gegeben?

BF: Sie haben mich zum Tode verurteilt. Sie haben mich einmal festgenommen und in ihr Gefängnis gebracht und mich geschlagen.

R: Wann wurden Sie festgenommen?

BF: Am römisch 40 .

R: Was war das für ein Wochentag?

BF: Weiß ich nicht, ich kann mich nicht daran erinnern.

R: War das Anfang, Mitte oder Ende der Woche?

BF: Ich war unter Schock, ich kann mich nicht erinnern, aber das Datum weiß ich.

R: Können Sie mir genau beschreiben, was an diesem Tag passiert ist?

BF: Sie sind zu uns nach Hause gekommen. Nachgefragt: die Al Shabaab.

R: Wie viele Leute?

BF: Ich weiß es nicht, es waren viele. Sie haben unsere Unterkunft umgeben.

R: Was heißt „es waren viele“?

BF: Ich weiß es nicht, es waren aber weniger als 20.

R: Wann sind sie gekommen?

BF: Am Nachmittag. Nachgefragt: am frühen/späten Nachmittag? Bei der Dämmerung. Es war finster und die Al Shabaab waren vermummt.

R: Mit was waren Sie vermummt?

BF: Mit schwarzem Stoff. Sie haben eine eingeschaltete Taschenlampe gegen uns gerichtet. Mein Vater und ich waren alleine zu Hause. Ich war in der Nähe von der Türe.

R: Von welcher Türe?

BF: Ich war in der Nähe von der Türe, welche beim Zaun angebracht war. Sie haben mich sofort geschlagen und danach auf den Bauch gelegt. Sie haben mir die Augen verbunden. Mein Vater hat auch geschrien und dann haben sie uns in ein Auto gesteckt.

R: Wann hat man Ihnen die Augen verbunden?

BF: Nachdem sie mich geschlagen haben und auf den Bauch gelegt haben, haben sie mich gefesselt, die Hände nach hinten gerichtet und dann die Augen verbunden.

R: Waren Sie schon im Auto oder waren Sie noch vor dem Auto, als man Ihnen die Augen verbunden hat?

BF: Im Auto haben sie mir die Augen verbunden.

R: Ist Ihr Vater im selben Auto wie Sie gesessen?

BF: Nein, es waren zwei verschiedene Autos.

R: Wie viele Personen haben sich in Ihrem Auto, in dem Sie gesessen sind, befunden?

BF: Ich weiß es nicht, die Augen waren verbunden, das konnte ich nicht merken.

R: Wo haben Sie im Auto Platz nehmen müssen?

BF: Hinten, das war ein Transporter auf der Ladefläche.

R: Waren noch andere Personen auf der Ladefläche?

BF: Nein, nur ich. Als sie mich dorthin gelegt haben, habe ich niemanden anderen gesehen.

R: Sind Sie während der Fahrt, als Sie auf der Ladefläche gelegen sind, bewacht worden?

BF: Ich habe es nicht gesehen und nicht gespürt.

R: Haben Sie etwas gehört?

BF: Ich habe Stimmen gehört.

R: Wie viele Stimmen haben Sie gehört?

BF: Für mich waren es zwei Personen, die sich miteinander unterhalten haben.

R: Über was haben sich diese zwei Personen unterhalten?

BF: Über das Essen.

R: Die ganze Fahrt?

BF: Manchmal sind sie kurz stehen geblieben, haben miteinander gescherzt.

R: Wie lange waren Sie von Ihrem Elternhaus bis zu diesem Gefängnis unterwegs?

BF: 10 Minuten zu Fuß.

R: Sind Sie mit dem Auto gefahren oder sind Sie zu Fuß gegangen?

BF: Mit dem Auto haben sie mich dorthin gebracht. Die Leute aus dem ländlichen Bereich gehen oft zu Fuß.

R: Wie lange sind Sie mit dem Auto von Ihrem Heimatdorf bis zu diesem Gefängnis unterwegs gewesen?

BF: Mit dem Auto ca. 5 Minuten, nicht länger.

R: War das Auto schnell unterwegs oder ist es langsam gefahren?

BF: Ich weiß es nicht, ich habe nur gespürt, dass das Auto fährt.

R: Sind Sie die ganze Zeit während der Fahrt auf der Ladefläche gelegen?

BF: Ja.

R: Konnten Sie sich orientieren, während dieser Fahrt?

BF: Nein.

R: Was ist passiert, als das Auto im Gefängnis stehen geblieben ist?

BF: Sie haben mich vom Auto heruntergebracht.

R: Wie?

BF: Sie haben mich zu Boden geschmissen.

R: Was war das für ein Auto?

BF: Meine Augen waren verbunden, aber ich habe mitbekommen, dass es ein Transporter, ein Jeep gewesen ist.

R: Haben Sie sich, als Sie von der Ladefläche auf den Boden geschmissen wurden, verletzt?

BF: Ja.

R: Inwiefern wurden Sie verletzt?

BF: Schmerzen habe ich wegen dieses Stoßes verspürt.

R: Wo wurden Sie verletzt? Inwiefern haben Sie sich verletzt?

BF: Ich hatte keine Risswunden. Durch diesen Stoß hatte ich Schmerzen.

R: Was ist dann passiert, nachdem man Sie am Boden geschmissen hat?

BF: Bei meinen Beinen wurden die Fesseln entfernt, meine Augen und meine Hände blieben verbunden. Sie haben mich dann in ein Zimmer geführt. Dort wurden meine Hände entfesselt.

R: Wurde auch die Augenbinde entfernt?

BF: Ja.

R: Wie groß war das Gelände dieses Gefängnisses?

BF: Es war nicht groß.

R: Was heißt „es war nicht groß“?

BF: Es gab dort kleine Zimmer und eine Mauer. Eine Person war bereits in dem Zimmer, in dem ich eingesperrt worden bin.

R: War das gesamte Gelände dieses Gefängnisses mit einer Mauer umgeben?

BF: Ja.

R: Wie hoch war die Mauer?

BF: Mit Rechnungen kenne ich mich nicht gut aus. Sie war aus Ziegel.

R: Wie hoch war die Mauer?

BF: Die Mauer war ungefähr so hoch, wie bis zum Griff des Fensters im Verhandlungssaals.

R: Waren auf diesem Gelände Wachposten positioniert?

BF: Am Abend und in der Nacht gab es Wächter.

R: Waren sie bewaffnet?

BF: Ja, man hat es gespürt. Oft hatten sie Stöcke.

R: Waren sie mit Feuerwaffen bewaffnet?

BF: Eine Waffe, die man sehen konnte, wie z.B. ein Gewehr, hatten sie nicht. Es hat sein können, dass sie Pistolen getragen haben.

R: Wie lange waren Sie in diesem Gefängnis? Wie lange mussten Sie sich dort aufhalten?

BF: Zwei Tage.

R: Wer außer Ihnen, war in diesem Zimmer, in dem Sie eingesperrt worden sind, noch?

BF: Ein junger Mann, etwas älter als ich.

R: Warum hat man diesen Mithäftling miteingesperrt?

BF: Er erzählte mir, dass er sich mit einem Al Shabaab gestritten hätte. Es sei dann handgreiflich geworden. Er hat dem Al Shabaab Mann einen Faustschlag gegen den Halsbereich versetzt. Dadurch ist der Al Shabaab Mann verstorben. Er hatte einen Schraubenzieher in der Hand, mit dem hat er den Al Shabaab Mann erstochen.

R: Wann haben Sie das letzte Mal Ihren Vater gesehen?

BF: Am römisch 40 Dezember. Da wurden wir beide aus der Haft herausgeholt und vor ein Al Shabaab Gericht gestellt.

R: Wenn Sie sagen „Ihr Vater und Sie wurden vor ein Al Shabaab Gericht gestellt“, hat in diesem Zusammenhang eine Verhandlung stattgefunden?

BF: Ja.

R: Welchen Eindruck hat Ihr Vater Ihnen gegenüber gemacht?

BF: Ihm wurde vorgeworfen, dass er mich zu meinem Onkel geschickt hat.

R: Wiederholung der Frage.

BF: Er war schockiert und hatte Angst.

R: Konnten Sie mit ihm während der Verhandlung reden?

BF: Nein.

R: Wie lange hat die Verhandlung gedauert?

BF: Nicht lange. Ca. 30 Minuten.

R: Wo hat diese Verhandlung stattgefunden?

BF: Im Gefängnis gibt es ein Gericht. Dort hat es stattgefunden.

R: Wiederholung der Frage.

BF: Im Hof des Gefängnisses.

R: War das während der Verhandlung bewacht?

BF: Nein.

R: Es waren keine Wachen während der Verhandlung anwesend?

BF: Die Al Shabaab waren in diesem Hof.

R: Waren diese bewaffnet?

BF: Einer hatte ein Gewehr und sie hatten ihre Uniform an.

R: Wie oft haben Sie Ihren Vater während des Gefängnisaufenthaltes gesehen?

BF: Nur vor dem Gericht, sonst nicht. Wir waren in getrennten, verschiedenen Räumen.

R: Wie viele Personen haben sich im Raum Ihres Vaters befunden?

BF: Ich glaube mein Vater war mit einer Person eingesperrt. Die Räume sind eng. Es gibt nicht mehr Platz für mehrere Personen.

R: Warum haben Sie während des Aufenthaltes im Gefängnis keinen Kontakt zu Ihrem Vater gehabt?

BF: Wir konnten es nicht, weil wir in verschiedenen Zimmern eingesperrt waren.

R: Haben Sie sich orientieren können, als Sie im Gefängnis eingesperrt waren? Haben Sie sich örtlich orientieren können?

BF: Ja, ich habe es erkannt, als ich zur Toilette musste.

R: Durften Sie alleine zur Toilette gehen?

BF: Ja. Ich durfte alleine zur Toilette gehen. Bis zur Toilette hat man mich begleitet.

R: Wer hat Sie begleitet?

BF: Ein vermummtes Mitglied der Al Shabaab.

R: Wie haben Sie sich in diesem Gefängnis örtlich orientieren können?

BF: Ich kannte das Gefängnis schon. Ich wurde einmal zuvor schon in Haft genommen.

R: Wann war das?

BF: Ich war damals noch so jung. Das genaue Datum kann ich nicht angegeben.

R: Was heißt „ich war damals noch so jung“?

BF: 15 oder so.

R: Wie lange wurden Sie beim ersten Mal angehalten?

BF: Das erste Mal wurde ich ein Monat angehalten.

R: Wieso wurden Sie ein Monat lang angehalten?

BF: Damals hat Al Shabaab ein 8jähriges Kind zu mir geschickt, um den „Zakat“ von den Tieren zu bekommen. Ich habe abgelehnt dem Kind das Tier zu geben. Ich habe mit ihm geschimpft. Ich habe ihm gesagt, er sollte gehen und dann habe ich ihn gestoßen.

R: Wieso hat man sie nach einem Monat wieder freigelassen?

BF: Sie haben mich einfach freigelassen. Vielleicht deshalb, weil sie von uns viele Tiere genommen haben.

R: Wurde ein Urteil Ihnen bzw. Ihrem Vater gegenüber während der Verhandlung ausgesprochen?

BF: Ja, sie haben uns zum Tode verurteilt, in dem sie uns erschießen.

R: Wieso sind Sie nicht länger als zwei Tage in diesem Gefängnis verblieben?

BF: Ich weiß es nicht.

R: Warum hat die Al Shabaab das Urteil nicht vollstreckt?

BF: Ich weiß es nicht. Sie haben gesagt, dass ich und mein Vater zu Tode verurteilt werden. Damit ist die Sache erledigt. Dann haben sie uns wieder in die Gefängniszellen gesteckt. Bei der Al Shabaab ist es üblich, dass diese Leute bei den Hinrichtungen versammeln. Es wird dafür ein bestimmter Termin dafür festgesetzt. Vielleicht hat das Gericht deswegen mit der Vollstreckung gezögert.

R: Hat das Gericht bei der Verkündung des Todesurteiles ein bestimmtes Datum festgelegt?

BF: Nein, üblicherweise wird das Datum der Hinrichtung nicht erwähnt.

R: Wie oft waren Sie schon bei solch einer Verhandlung dabei?

BF: Persönlich nur einmal, bei einem Al Shabaab Gericht.

R: Wussten Sie als Sie im Gefängnis waren, in welche Richtung Ihr Heimatdorf liegt?

BF: Ja.

R: In welche Richtung? Norden, Osten, Westen, Süden?

BF: Vorne.

R: Vorne kann alles sein.

BF: Ich kenne mich damit nicht aus.

R: Nach was haben Sie sich orientiert? Nach dem Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang?

BF: Das Dorf war Richtung Sonnenaufgang.

R: Wie weit musste die Sonne aufgegangen sein, dass Sie die richtige Richtung erkannt haben?

BF: Wenn ich draußen im Hof war, konnte ich den Sonnenaufgang sehen.

R: Wann waren Sie draußen? Wann wurden Sie nach draußen gebracht, wenn Sie in der Zelle waren?

BF: Wenn ich zur Toilette musste.

R: Sind Sie immer zum Sonnenaufgang zur Toilette gegangen?

BF: Je nachdem, wenn man es spürt, muss man zur Toilette.

R: Wie groß war der Raum/die Zelle, in dem/der Sie untergebracht gewesen sind?

BF: Es war ein sehr kleines Zimmer. Es war ungefähr entlang der Verhandlungstür bis zu dem im Verhandlungssaal stehenden vierten Sessel.

R: War die Zelle ungefähr so breit, wie die Verhandlungstüre?

BF: So ungefähr ja. Es war sehr eng. Da konnte man nicht leben.

R: Haben Sie nach draußen sehen können?

BF: Nur, wenn man die Tür aufgemacht hat.

R: War es ansonsten dunkel im Raum?

BF: Das Zimmer hatte ein Licht.

R: War das Licht eingeschaltet?

BF: Ja, man konnte ein- und ausschalten.

R: War das Zimmer bewacht?

BF: Nein.

R: Warum war die Gefängniszelle nicht bewacht?

BF: Es war mit einem Schloss versperrt. Die Wächter waren draußen.

R: War die Gefängniszelle bzw. Zimmer bewacht?

BF: Ja. Draußen.

R: Wie viele Wächter haben das Zimmer bewacht?

BF: Das merkt man nicht, man kann es nicht sehen.

R: Wieso waren Sie nur zwei Tage in diesem Zimmer/Gefängniszelle?

BF: Ich weiß es nicht, es war so. Dann haben sie mich herausgeholt.

R: Was haben Sie gemacht, nachdem man sie nach diesen zwei Tagen herausgeholt hat.

BF: Ich und mein Vater wurden zu dem Gericht gebracht.

R: Sie haben zuerst gesagt, sie sind wieder in die Zelle nach der Verhandlung gebracht worden und haben sich insgesamt zwei Tage im Gefängnis befunden haben. Warum sind Sie nicht länger als zwei Tage im Gefängnis geblieben?

BF: Dann ist mir die Flucht gelungen.

R: Wie ist Ihnen dann die Flucht gelungen?

BF: Der Mithäftling war gescheit. Er sagte mir, dass wir beide zum Tode verurteilt sind. Wir sollten die Flucht versuchen. Wir haben durch das Fenster geschaut. Da war niemand und dann sind wir durch das Fenster geflüchtet.

R: Wie groß war dieses Fenster?

BF: Es war nicht so groß, aber man konnte durch dieses Fenster flüchten. Es war kleiner als dieses Fenster im Verhandlungsraum. Wir sind dann gelaufen und über die Mauer gesprungen.

R: Wie sind Sie über die Mauer gesprungen?

BF: Die Mauer war nicht richtig glatt. Die Mauer war aus Ziegel und Steinen. Deshalb konnte man rauf klettern.

R: Haben die Wachposten auf Sie geschossen?

BF: Nein, es war in der Nacht, sie haben geschlafen.

R: Haben alle Wachposten in der Nacht geschlafen?

BF: In dieser Nacht gab es wenige Wächter.

R: Wie haben Sie sich vergewissert, dass es in dieser Nacht wenig Wächter gegeben hat?

BF: In dieser Nacht hat man wenig Stimmen gehört.

R: Sind Sie von Al Shabaab Männern verfolgt worden, als Sie die Flucht ergriffen haben?

BF: Ich habe keine Verfolgung wahrgenommen.

R: In welche Richtung sind Sie gelaufen?

BF: Richtung Sonnenaufgang. Der Mithäftling ist in eine andere Richtung geflüchtet.

R: Warum ist der Mithäftling in eine andere Richtung geflüchtet?

BF: Bei der Flucht war es nicht ausgemacht, in welche Richtung wir laufen. Jeder ist in eine Richtung gelaufen. Wir hatten Angst.

R: Wie lange sind Sie dann gelaufen?

BF: Ich schätze mindestens 10 Minuten.

R: Wohin sind Sie gelaufen?

BF: Zu der Unterkunft eines Clanangehörigen.

R: Wo hat sich diese Unterkunft dieses Clanangehörigen befunden?

BF: Im selben Dorf, wo ich gewohnt habe, aber in Richtung der Felder.

R: Hatten Sie Angst dort von Leuten der Al Shabaab erwartet zu werden?

BF: Ich bin einfach geflüchtet. Ich habe mir keine Gedanken gemacht.

R: Haben Sie sich darauf vorbereitet, dass Sie die Al Shabaab erwischen würde? Was hätten Sie dann gemacht?

BF: Nichts. Sie hätten mich so oder so getötet, weil sie mich zum Tode verurteilt haben. Deshalb bin ich einfach geflüchtet.

R: Wie lange sind Sie dann bei diesem Clanangehörigen geblieben?

BF: Sehr kurz. Nur so lange, wie wir das Gespräch geführt haben. Nicht einmal 10 Minuten.

R: Was haben Sie nach den 10 Minuten gemacht?

BF: Das Auto war vor seinem Wohnsitz abgestellt und er sagte, wir fahren jetzt los.

R: Wohin sind Sie dann gefahren?

BF: Er hat mich nach römisch 40 gebracht.

R: Was ist mit Ihrem Vater passiert?

BF: Er war noch in Haft.

R: Wie lange?

BF: Nachdem ich geflüchtet bin, war er weitere 6 Tage im Gefängnis.

R: Was ist dann passiert?

BF: Nachdem ich nach römisch 40 gekommen bin, erzählte mir der Onkel, dass mein Vater erschossen worden ist.

R: An welchem Tag Ihres Aufenthaltes hat er Ihnen das erzählt?

BF: Am 6. Tag.

R: Woher hat Ihr Onkel diese Information gehabt, dass Ihr Vater erschossen worden ist?

BF: Meine Mutter war bei der Hinrichtung anwesend. Dann hat sie meinen Onkel darüber informiert.

R: Wo hat die Hinrichtung stattgefunden?

BF: Im Dorf römisch 40 .

R: Warum nicht im Gefängnis?

BF: Die Al Shabaab ist so, die Leute sollen die Hinrichtung beobachten.

R zu Regierungsvorlage, Haben Sie eine Frage an den BF?

Regierungsvorlage, Nein.

R: Wollen Sie noch eine Stellungnahme abgeben?

Regierungsvorlage, Ich verweise auf die Beschwerde vom römisch 40 .

R: Wollen Sie das Protokoll rückübersetzt haben oder reicht es, wenn Ihre Vertretung das Protokoll durchliest?

BF: Es reicht, wenn die Vertretung das Protokoll durchliest.

(…)“

8. Mit Parteiengehör vom römisch 40 wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt zu den beiliegenden Länderinformationen Somalia in der Version 6 bis spätestens zum römisch 40 , 12 Uhr bei Gericht einlangend, schriftlich Stellung zu nehmen.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF

1.1.1. Der BF ist somalischer Staatsangehöriger, bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam und ist dem Clan der Clan Madhiban, Sub Clan römisch 40 , Sub Sub Clan römisch 40 , Sub Sub Sub Clan römisch 40 . zugehörig. Er stammt aus römisch 40 , in der Region römisch 40 . Seine Muttersprache ist Somalisch.

Am römisch 40 stellte der BF einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom römisch 40 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen. Gleichzeitig wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.

1.1.2. Das Fluchtvorbringen des BF, wonach er einer Bedrohung aufgrund seines für die somalische Polizei in römisch 40 tätig gewesenen Onkels aufgrund dessen ihm Spionagetätigkeiten unterstellt worden seien oder aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem Minderheitsclan ausgesetzt sei, ist nicht glaubhaft.

Es ist nicht wahrscheinlich, dass der BF im Fall der (hypothetischen) Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Bedrohung durch Al-Shabaab oder aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem Minderheitsclan ausgesetzt wäre.

Es kann insgesamt nicht festgestellt werden, dass der BF im Herkunftsstaat aus politischen Gründen, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität oder wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe von staatlicher Seite oder von privaten Dritten verfolgt wird.

1.2. Feststellungen zur allgemeinen Situation in Somalia

Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst - und in noch geringeren Teilen vom Islamischen Staat in Somalia - während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 1.12.2023).

Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind Hargeysa, Berbera, Burco, Garoowe und – in gewissem Maße – Dhusamareb sichere Städte. Alle anderen Städte variieren demnach von einem Grad zum anderen. Auch Kismayo selbst ist sicher, aber hin und wieder gibt es Anschläge. Bossaso ist im Allgemeinen sicher, es kommt dort aber zu gezielten Attentaten. Dies gilt auch für Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle sind Baidoa, Jowhar und Belet Weyne diesbezüglich innerhalb des Stadtgebietes wie Kismayo zu bewerten (BMLV 1.12.2023). Laut einer anderen Quelle sind alle Hauptstädte der Bundesstaaten relativ sicher (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).

Eine Quelle gibt die Lage mit Stand 23.1.2023 folgendermaßen wieder:

Eine andere Quelle vermittelt ein ähnliches Bild und verortet auch "violent events linked to al Shabaab" für das Jahr 2022:

1.           Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Die Sicherheitslage bleibt volatil (BS 2022a), mit durchschnittlich 234 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat (Zeitraum Feber-Juni 2023). Insgesamt gab es im Zeitraum 8.2.-7.6.2023 935 Vorfälle, davon 355 mit terroristischem Hintergrund. Al Shabaab führt immer wieder komplexe Angriffe durch, so etwa am 19. und 22.4. in Bud Bud und Masagway (Galgaduud) und am 26.5. in Buulo Mareer (Lower Shabelle). U.a. bei Sprengstoffanschlägen kommen Menschen ums Leben oder werden verletzt (UNSC 15.6.2023). Weiterhin führt der Konflikt zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (ÖBN 11.2022). Im o.g. Zeitraum waren 11 % der davon Betroffenen Zivilisten. Die Zahl an terroristischen Vorfällen war im ersten Quartal 2023 überdurchschnittlich. Am meisten von Sprengsätzen betroffen waren in diesem Zeitraum Mogadischu/Benadir, Lower Shabelle, Hiiraan und Lower Juba. Mogadischu wird immer wieder auch von indirektem Feuer der al Shabaab getroffen (UNSC 15.6.2023). Im Zusammenhang mit der laufenden Offensive am meisten betroffen sind Middle Shabelle, Mudug, Galgaduud und Hiiraan (ACAPS 17.8.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023). Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt (ÖBN 11.2022), während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet (AA 15.5.2023).

In den vergangenen Jahren wurden Offensiven gegen al Shabaab durchgeführt, die sich zunächst aus militärischer Sicht als erfolgreich erwiesen haben. Anfängliche territoriale Erfolge bringen aber oft eine weitaus schwierigere Herausforderung mit sich: die Stabilisierung eroberter Gebiete. Das Versäumnis, befreite Gebiete wirksam zu stabilisieren, hat wiederholt zum Rückzug von Regierungskräften geführt. Und das Versäumnis, gespaltene Gemeinschaften zu versöhnen, hat dazu geführt, dass auch in Absenz von al Shabaab neue Konflikte entstehen konnten. So wurde al Shabaab etwa im Rahmen der Operation Badbaado in Lower Shabelle in den Jahren 2019–2020 aus mehreren Städten vertrieben. Drei Jahre danach kämpft die Bundesregierung aber immer noch darum, die befreiten Gebiete zu stabilisieren. Hilfsleistungen und staatliche Dienstleistungen bleiben unzureichend und oberflächlich (Sahan/SWT 4.8.2023). Generell hat es die Bundesregierung nach wie vor nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten (BMLV 1.12.2023). Ein Experte merkt allerdings an, dass sich sowohl die Verwaltung der Bundesregierung als auch die Bundesarmee verbessert haben, und dadurch bei der Bevölkerung der Widerstandswille gegen al Shabaab gewachsen ist (AQ21 11.2023).

ATMIS hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete (BS 2022a). Die somalische Regierung und ATMIS können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren (AA 20.10.2023).

Generell ist die Regierung nicht in der Lage für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS, aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen (BMLV 9.2.2023; vergleiche BS 2022a). Dabei wurde ATMIS im Juni 2023 um 2.000 Mann reduziert, die nächste Truppenreduktion um 3.000 Mann steht mit Ende Dezember 2023 an. Die Ausbildung neuer Soldaten für die Bundesarmee machte 2023 gute Fortschritte, es mussten aber auch hohe Verluste hingenommen werden. Das größte Problem derzeit ist neben der Truppenstärke die fehlende Ausrüstung (schwere Waffen, Luftkomponente, etc.) (BMLV 1.12.2023). Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist das Szenario, wonach al Shabaab bei einem Abzug von ATMIS das Land übernimmt, nicht mehr plausibel (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine weitere Quelle gibt an, dass die Bundeskräfte nach einem Abzug von ATMIS nicht kollabieren werden, und al Shabaab nicht nach Mogadischu zurückkehren wird (Think/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle erklärt, dass es für al Shabaab nun sehr schwer geworden ist, die Bundesregierung zu überrennen (AQ21 11.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass nur bei völligem Wegfall jeglicher externen Unterstützung der Fall eintreten könnte, dass die Bundesregierung zusammenbricht (BMLV 1.12.2023).

Macawiisley-Offensive: Gegen Ende der Amtsperiode von Ex-Präsident Farmaajo war al Shabaab stärker denn je (Bryden/TEL 8.11.2021). Insgesamt konnte die Gruppe unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS sogar Geländegewinne erzielen (HIPS 8.2.2022). Die Situation war lange Zeit statisch (THLSC 20.3.2023). Doch seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten im Mai 2022 und dem Beschluss der USA, wieder Truppen in Somalia zu stationieren, haben die militärischen Operationen gegen al Shabaab zugenommen (UNSC 10.10.2022). Die im August 2022 begonnene neue Offensive baut auf die gestiegene Unzufriedenheit bzw. Entfremdung der Lokalbevölkerung in einigen Gebieten Zentralsomalias mit al Shabaab. Die Gruppe hat lokale Clans genötigt, Buben zu übergeben, hat trotz der anhaltenden Dürre weiterhin Steuern eingetrieben, hat zu gewaltsamen Maßnahmen und Kollektivstrafen gegriffen (ICG 21.3.2023) und lokale Clans gezwungen, der Gruppe Frauen und Mädchen zuzuführen. Letztendlich hat sich al Shabaab im Zuge der Dürre als wenig hilfreich erwiesen (Sahan/SWT 23.9.2022).

Mehrere Subclans Zentralsomalias haben al Shabaab schon zuvor Widerstand geleistet (ICG 21.3.2023) - laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 bereits ab 2018 (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Manche Clans haben später aber Abkommen mit al Shabaab geschlossen, was zu einer Form der Koexistenz geführt hat. So wurde al Shabaab etwa bei den Hawiye / Habr Gedir / Saleban, die in Galmudug leben, toleriert. Aufgrund der politischen Streitigkeiten in Mogadischu konnte al Shabaab in Zentralsomalia expandieren. 2019 forderte die Gruppe junge männliche Rekruten. Dies war für die streng im Sufismus verankerten Saleban zuviel. Die Verweigerung der Rekrutierungen stieß eine Konfliktspirale an (ICG 21.3.2023), lokale (Clan-)Milizen, die Macawiisley, begannen eine Revolte gegen al Shabaab (Sahan/SWT 23.9.2022). Als Letztere den Hauptort der Saleban, Baxdo, im Juni 2022 angriff, töteten Saleban-Milizen schätzungsweise 70 Kämpfer der al Shabaab. Ein anderes Beispiel sind die Hawiye / Hawadle in Hiiraan, die nie gute Beziehungen zu al Shabaab hatten. Als Letztere 2021 die Straße von Belet Weyne nach Galmudug unterbrach, und Belet Weyne damit von mehreren Seiten abgeschnitten war, wuchs der Zorn der Lokalbevölkerung (ICG 21.3.2023). Die Unterdrückung der Hawadle und anderer Clans durch al Shabaab bildete also das Rückgrat der erfolgreichen Offensive (Sahan/SWT 13.9.2023).

Während vorherige Offensiven immer von ATMIS bzw. AMISOM geführt worden waren, handelte es sich dieses Mal um eine somalische Offensive. An der Spitze des Kampfes standen die Macawiisley. Sie kennen das Terrain und die Bevölkerung und sind motiviert für ihr eigenes Gebiet zu kämpfen (Economist 3.11.2022; vergleiche Sahan/SWT 4.8.2023, ICG 21.3.2023). Diese lokalen Milizen, die von den UN "community defence forces" genannt werden (UNSC 15.6.2023) und die sich v.a. aus Hawiye zusammensetzen, haben in ihrem Kampf gegen al Shabaab die Bundesregierung um Hilfe gerufen (Detsch/FP 23.8.2023). Nach anderen Angaben wurde die erfolgreiche Offensive der Clans von der Bundesregierung mehr oder weniger "gekapert" (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Die Bundesarmee bot und bietet den Macawiisley Aufklärung, Informationen und Versorgung, ATMIS und die USA sowie türkische Drohnen geben Luftunterstützung (Economist 3.11.2022; vergleiche ICG 21.3.2023, Researcher/STDOK/SEM 4.2023, IO-D/STDOK/SEM 4.2023); u.a. kamen auch die Spezialeinheiten Danaab und Gorgor zum Einsatz (IO-D/STDOK/SEM 4.2023).

Jedenfalls befand sich al Shabaab in der Defensive. Koordinierte Bundes- und regionale Kräfte eroberten zusammen mit den Macawiisley rasch Teile des von al Shabaab kontrollierten Territoriums, darunter mehrere Städte und wichtige Routen (Sahan/SWT 7.6.2023). Es konnten die größten territorialen Gewinne seit Mitte der 2010er-Jahre erzielt werden. Bundesarmee und lokale Milizen haben al Shabaab aus signifikanten Teilen Zentralsomalias vertrieben (ICG 21.3.2023; vergleiche Economist 3.11.2022, Sahan/SWT 13.9.2023). Die Offensive wird als größter Erfolg seit der vollständigen Einnahme von Mogadischu im Jahr 2011 erachtet (Detsch/FP 23.8.2023). Die Gebietsgewinne wurden in der ersten Phase der Offensive - bis etwa Jänner 2023 - erzielt. Al Shabaab wurde aus mehreren Gebieten in den Regionen Middle Shabelle, Hiiraan, Galgaduud und Mudug vertrieben und verlor die Kontrolle über mehrere strategische Städte wie die Hafenstadt Xaradheere (Mudug), Ceel Dheere, Adan Yabaal (BBC 15.6.2023; vergleiche ICG 21.3.2023), Galcad und Runirgod (Galgaduud und Middle Shabelle). Diese Städte wurden fast 15 Jahre lang von al Shabaab kontrolliert und leisteten einen erheblichen Beitrag zu ihren Finanzen (BBC 15.6.2023). Zudem verlor die Gruppe die Kontrolle über Orte wie Tedan, Rage Ceele, Gulane, Darusalaam und Mabah (Sahan/SWT 15.9.2023). Insgesamt hat die Bundesregierung mehr als 100 Orte einnehmen können (ACLED 15.9.2023) - insgesamt ein Drittel des Gebietes der Gruppe (VOA/Maruf 28.3.2023). Während früher vorwiegend Städte erobert wurden, hat man diesmal außerdem versucht, al Shabaab auch aus dem Zwischengelände zu vertreiben (BBC 15.6.2023). Die Möglichkeit dazu war durch die Teilnahme von Clanmilizen und Ältesten gegeben (Sahan/SWT 4.8.2023).

Die Gruppierung der al Shabaab in Galmudug und Hiiraan wurde von jener im Süden getrennt (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Zudem hält al Shabaab derzeit keine Räume oder Orte mehr an der Küste in Galmudug oder HirShabelle, allerdings wird diese auch nicht lückenlos von der Regierung kontrolliert (BMLV 1.12.2023). Trotzdem ist dies hinsichtlich von Waffenlieferungen aus dem Jemen und dem Iran von Bedeutung (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Durch die Gebietsgewinne seitens der Regierung wurde al Shabaab von lukrativen Handelsrouten abgedrängt (Economist 3.11.2022). Die Gruppe kann nun teilweise nicht mehr einfach aus dem ländlichen Raum heraus zu Hauptrouten vordringen und diese blockieren oder Konvois angreifen. Insgesamt wurde die Zahl an Angriffen reduziert: Al Shabaab selbst hat angegeben, im Zeitraum Oktober 2022 bis Jänner 2023 monatlich durchschnittlich 153 Anschläge und Angriffe durchgeführt zu haben; im Zeitraum Feber bis April 2023 waren es demnach hingegen durchschnittlich nur 104 (BBC 15.6.2023). Für den Zeitraum Juli-Oktober 2023 werden folgende Zahlen für Süd-/Zentralsomalia angegeben: 150 Gefechte und 60 Vorfälle mit Sprengstoff monatlich. Im November gab es aufgrund der Regenfälle einen merklichen Rückgang von 50 % (BMLV 1.12.2023).

Eine Darstellung der Offensive mit Stand 9.4.2023:

Operation Black Lion (OBL): Die sogenannte Frontline States Task Force ist eine regionale Initiative von Nachbarstaaten Somalias. Diese ist mit ATMIS übereingekommen, die Zusammenarbeit im Kampf gegen al Shabaab zu verstärken (ATMIS 6.8.2023; vergleiche GO 9.8.2023). Am 1.2.2023 verkündeten der somalische Präsident und die sogenannten "Frontstaaten" (Kenia, Äthiopien, Dschibuti) eine Einigung zur Entsendung zusätzlicher Truppen dieser Länder. Damit hätte die von der Regierung geplante OBL unterstützt werden sollen (Sahan/SWT 3.7.2023; vergleiche UNSC 15.6.2023). Diese sollte sich auf Jubaland und insbesondere auf Middle Juba konzentrieren. In der Vergangenheit ging es maßgeblich um die Eindämmung von al Shabaab; im Raumen von OBL steht deren Vernichtung im Vordergrund (GO 9.8.2023; vergleiche Detsch/FP 23.8.2023). Al Shabaab soll so weit dezimiert bzw. ihr die relevanten finanziellen Pfründe ausgetrocknet werden, dass die Gruppe für Somalia und die Nachbarstaaten keine Gefahr mehr darstellt. Damit soll gleichzeitig der Abzug von ATMIS ermöglicht werden (ATMIS 6.8.2023; vergleiche IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Die Regierung versucht, für OBL ein gemeinsames Kommando von Bund und Bundesstaaten einzurichten (GN 28.8.2023).

Tatsächlich waren bis Anfang Juli 2023 hinsichtlich einer neuen Offensive kaum Fortschritte zu beobachten (Sahan/SWT 3.7.2023), die Frontlinie verblieb für Monate statisch (Sahan/STDOK/SEM 4.2023), "they took a break" (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Der tatsächliche Zeithorizont für künftige Offensiven ist ungewiss (BMLV 14.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 1.9.2023). Somalia hat sich diesbezüglich von den Nachbarstaaten abhängig gemacht (AQ21 11.2023). Es bleibt unklar, ob Kenia, Äthiopien und Dschibuti – wie im Jänner 2023 vereinbart – tatsächlich zusätzliche Truppen für eine nächste Phase der Offensive entsenden werden (GN 28.8.2023; vergleiche IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Dschibuti hat bereits erklärt, nur mit Material und Gerät unterstützen zu wollen. Kenia wird Truppen keinesfalls östlich des Juba einsetzen und nur mitmachen, wenn Äthiopien dies auch tut; Äthiopien wiederum kann aufgrund der internen Probleme u.U. gar keine Truppen freimachen (BMLV 14.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 1.9.2023). Zudem sind die Clans am Juba in Südsomalia weniger organisiert, schlechter bewaffnet und auch in geringerem Maße bereit, den Kampf gegen al Shabaab aufzunehmen (Detsch/FP 23.8.2023; vergleiche ICG 21.3.2023, Economist 3.11.2022). Viele dieser Clans befinden sich tendenziell auf der Seite von al Shabaab - wenn auch teils durch Nötigung (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). In diesem Sinne ist die Regionalregierung auch weitaus weniger bereit, die Clans im selben Maß zu bewaffnen, wie dies in HirShabelle oder Galmudug der Fall war (BMLV 1.12.2023). Die Kräfte im SWS sind zu schwach, um eine Offensive führen zu können. Ein Experte erklärt, dass eine neue Offensive bei gleichzeitigem Auffüllen von durch ATMIS geräumten Stützpunkten auf keinen Fall möglich sein wird. Neu aufgestellte Brigaden der Bundesarmee sind qualitativ nicht in der Lage, sich gegen al Shabaab zu verteidigen. Folglich kann OBL in Südsomalia erst stattfinden, wenn die Offensive in Zentralsomalia beendet und al Shabaab dort besiegt ist (BMLV 14.9.2023).

Trend: Nach den Erfolgen der Macawiisley-Offensive hat man es wieder nicht geschafft, erobertes Gebiet ausreichend abzusichern. Dort wo die Bundesarmee in Richtung neuer Ziele abgerückt ist, konnte al Shabaab teils schnell wieder an Einfluss gewinnen (Sahan 22.3.2023). Ein Grund dafür ist das Fehlen von Darawish-Kräften, die mit lokalen Gegebenheiten und der Lokalbevölkerung vertraut sind (Sahan 22.3.2023; vergleiche Sahan/SWT 9.8.2023, INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Generell stehen keine bzw. zu wenige leistungsfähige und verlässliche Truppen zur Verfügung, um diese Orte zu halten, wenn die Angriffstruppen weiterziehen (BMLV 1.12.2023). Die Macawiisley erfüllen eine wichtige Hilfsfunktion, man kann sich jedoch nicht darauf verlassen, dass sie als wirksame Haltetruppe in neu eroberten Gebieten dienen (Sahan/SWT 9.8.2023). Zudem könnten sie sich selbst zum Problem entwickeln: Sie sind schwer zu kontrollieren (IO-D/STDOK/SEM 4.2023) und können jahrelang schwelende Clankonflikte befeuern (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).

Gleichzeitig ist es kontraproduktiv, al Shabaab nur mit militärischer Gewalt zu bekämpfen, weil die Gruppe in vielen Bereichen als Pseudostaat agiert. Da al Shabaab nämlich Güter und Dienste zur Verfügung stellt, besteht nach Angriffen auf die Gruppe die Gefahr, dass lebenswichtige Hilfe und öffentliche Dienste gestört und dadurch vulnerable Gemeinschaften im Stich gelassen werden (Rollins/HIR 27.3.2023). Zudem kennen viele Menschen dort kein anderes System, als jenes von al Shabaab. Viele erachteten die Gruppe als Befreier. Sie haben so lange unter al Shabaab gelebt, dass es großer Anstrengungen bedarf, um die Gehirnwäsche rückgängig zu machen und eine Akzeptanz der neuen Verhältnisse zu erlangen. Doch das geschieht nicht automatisch, es braucht dafür die Zurverfügungstellung gewisser Dienste (DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Tatsächlich gibt es keine Kapazitäten, um die befreiten Gebiete zu administrieren (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023, Sahan/STDOK/SEM 4.2023), und man hat es versäumt, eine adäquate Verwaltung für neu eingenommene Gebiete vorzubereiten (AQ21 11.2023). Vor Ort gibt es entweder überhaupt keine Verwaltungsstrukturen mehr oder aber eine rudimentäre Verwaltung über die Clans (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Vielen Gemeinden, die "befreit" worden sind, werden keine sinnvollen grundlegenden Dienstleistungen zur Verfügung gestellt. Die Bundesarmee hat zwar eine Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln aufgebaut – dies aber zusätzlich zu ihrer bereits bestehenden Doppelfunktion, nämlich Gebiete zu räumen und zu halten (Sahan/SWT 9.8.2023). So geben mehrere Quellen der FFM Somalia 2023 an, dass das Hauptproblem der Offensive die Nachhaltigkeit ist (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Researcher/STDOK/SEM 4.2023, UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023, DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Die neu befreiten Gebiete brauchen Stabilität (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die Menschen dort brauchen Rechtsstaatlichkeit, Wasser, Infrastruktur, medizinische Versorgung, Lehrer - zumindest all das, was zuvor von al Shabaab geboten worden ist (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Bei einem Vakuum und ohne funktionierende Verwaltung (Sahan/STDOK/SEM 4.2023) sowie einer Überdehnung der Regierungskräfte kann al Shabaab bald wieder Raum gewinnen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Doch auch bis etwas aufgebaut werden kann, müssen die Gebiete gehalten werden (DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023).

Nach anderen Angaben tut die Regierung ihr bestes, um die Bevölkerung zumindest in einigen Gebieten mit Medikamenten und Nahrungsmittelhilfe zu versorgen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle hat die Regierung verstanden, dass sie nicht alleine mit militärischen Mitteln gewinnen kann (GO 25.8.2023). Sie stützt sich bei ihrer Offensive daher wesentlich auf Clans, um die Unterstützung lokaler Gemeinden zu mobilisieren (GO 25.8.2023; vergleiche ACAPS 17.8.2023). Zudem werden Gemeinden und Älteste eingebunden, und es wird versucht, grundlegende Dienste zur Verfügung zu stellen (GO 25.8.2023). So wurde etwa in Galmudug ein Programm zur Rehabilitierung von Schulen in neu eroberten Gebieten eingerichtet, die Städte Ceel Dheere, Galcad und Xaradheere stehen dabei im Fokus (Halqabsi 27.8.2023). In wichtigen Orten, wie Adan Yabaal (Middle Shabelle) und Maxaas (Hiiraan) gibt es Stabilisierungsmaßnahmen (z.B. Installation von Solarleuchten, Bau von Verwaltungsgebäuden), in anderen neu eingenommenen Gebieten, darunter Xaradheere und Ceel Dheere (Galgaduud), Verteilung von Hilfsgütern und Wassertransporte (UNSC 15.6.2023).

Die Beziehungen der Bundesregierung zu manchen im Kampf gegen al Shabaab erfolgreichen Clans (v.a. die Hawadle) haben sich aufgrund politischer Verwerfungen abgekühlt. Al Shabaab konnte daraus Vorteile ziehen und hat mit einigen Clanmilizen in HirShabelle und Galmudug Abkommen ausgehandelt. Während al Shabaab nun versucht, den einen Teil der Hawiye gegen die Bundesregierung zu mobilisieren (v.a. Habr Gedir Mohamud Hirab, Murusade und Abgal Wacaysle), versucht die Bundesregierung, den anderen Teil (z.B. Habr Gedir) gegen al Shabaab in Stellung zu bringen (ACLED 15.9.2023). Al Shabaab hat versucht sich anzupassen – etwa im Umgang mit der Lokalbevölkerung. Die Gruppe setzt nun mehr auf Anreize als auf Zwang und Erpressung. Bereits Ende Dezember 2022 wurde mit Teilen der Saleban ein neues Abkommen geschlossen (ICG 21.3.2023). Gleichzeitig schürt al Shabaab unter den Clans Angst, dass fremde Clanmilizen über sie herzufallen drohen. Diese Propaganda dient auch als Rekrutierungsmittel, z.B. bei den Murusade in Zentralsomalia (BMLV 14.9.2023). Spannungen in neu eroberten Gebieten haben teils zu Kampfhandlungen zwischen Clans geführt (AQ21 11.2023).

Dahingegen konnte auch der Präsident neue Clankräfte mobilisieren. Zudem haben sich mehrere Brigaden der Bundesarmee neu organisiert. Insgesamt steht eine äußerst komplexe Säuberungsoffensive in Zentralsomalia bevor, die durch die Gebietsverluste Ende August noch komplizierter geworden ist (Sahan/SWT 13.9.2023). Denn die Front der Offensive im südlichen Galmudug ist Ende August 2023 zusammengebrochen (Sahan/SWT 1.9.2023). Schon seit Anfang 2023 (Ende der ersten Phase der Offensive) mussten die Regierungstruppen erhebliche Rückschläge hinnehmen, dadurch wurde die zweite Phase der Offensive verzögert (Sahan/SWT 7.6.2023). Ein verheerender Angriff der al Shabaab auf Kräfte der Bundesarmee im Dorf Osweyne hat einen kaskadenartigen Rückzug der Armee aus mehreren strategisch relevanten Städten ausgelöst – darunter Bud Bud, Galcad und Wabxo. Auch aus Ceel Buur hat sich die Armee zurückgezogen, al Shabaab ist dort wieder eingezogen (Sahan/SWT 1.9.2023; vergleiche ACLED 15.9.2023) und hat die Kontrolle über Teile der verlorenen Gebiete wiedererlangt. Teils haben sich Sicherheitskräfte und Clanmilizen aus Angst vor Angriffen der al Shabaab zurückgezogen (ACLED 15.9.2023). Anderswo haben sich Clanmilizen aufgrund politischer Querelen zurückgezogen, etwa aus einigen Orten in Hiiraan (ACAPS 17.8.2023). Der Konkurrenzkampf zwischen den Clans um die Kontrolle über befreite Gebiete in Teilen von HirShabelle löste etwa wochenlange angespannte Auseinandersetzungen und in einigen Fällen tödliche Zusammenstöße aus. Viele befreite Gebiete sind mittlerweile wieder in einen Zustand der Halbanarchie zurückgekehrt, ohne dass eine klare Autorität erkennbar wäre. Dies hat die Armee überdehnt, und sie hat dadurch auch die Kontrolle über mehrere FOBs verloren (Sahan/SWT 9.8.2023).

Auch die FOBs von ATMIS haben bisher entscheidend zum Halten und zur Sicherung einiger von al Shabaab befreiter Gebiete beigetragen (Sahan/SWT 23.6.2023; vergleiche ACAPS 17.8.2023). ATMIS ist maßgeblich an der Kontrolle des Territoriums beteiligt. Zudem bietet die Mission Munition sowie medizinische und logistische Unterstützung. römisch fünf.a. in städtischen Gebieten fungiert ATMIS als Haltetruppe und ist für die Sicherheit der somalischen Führung und der Wirtschaftsquellen des Landes, einschließlich Häfen und Flughäfen, maßgeblich verantwortlich. Dahingegen konzentrieren sich die somalischen Sicherheitskräfte auf das Vordringen in weniger besiedelte Gebiete. ATMIS wird aber Stück für Stück reduziert. Ein fortgesetzter Abzug der Mission verringert die Fähigkeit der somalischen Kräfte, zurückeroberte Gebiete zu halten und zu kontrollieren. Bei einer Ausweitung der Offensive verringert sich diese Fähigkeit noch weiter, weil die Zahl der zu sichernden Standorte zunimmt. Daher ist mit einer Intensivierung der Angriffe durch al Shabaab zu rechnen (ACAPS 17.8.2023). Die Bundesarmee ist zunehmend überdehnt (Sahan/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Mit Ende September wäre ATMIS planmäßig um 3.000 Mann auf 14.626 reduziert worden (ATMIS 27.8.2023), sechs Stützpunkte wären davon betroffen gewesen (BMLV 1.12.2023). Am 19.9.2023 hat Somalia bei den UN allerdings eine 90-tägige vorübergehende "technische Pause" beim Abzug von ATMIS erbeten, damit Mogadischu sich von den jüngsten Rückschlägen auf dem Schlachtfeld erholen und sich neu organisieren kann (Sahan/SWT 25.9.2023). Dieser Aufschub ist gewährt worden. Demnach muss ATMIS bis Ende des Jahres 2023 3.000 Mann abziehen (BMLV 1.12.2023). Die entsprechende Finanzierung ist allerdings unklar (AQ21 11.2023).

Dementsprechend ist die Hoffnung, dass bald ein größerer Vorstoß in den Süden Somalias möglich sein würde, ist dadurch geschwunden (Sahan/SWT 1.9.2023). Es wird geschätzt, dass die Regierung in den letzten Monaten über 3.000 Soldaten verloren hat (Sahan/SWT 25.9.2023). Jedenfalls hat ein Mangel an Kräften der Regierung dazu geführt, dass sich al Shabaab in einigen der befreiten Gebiete wieder einrichtet, was wiederum Versuche, eine Zivilverwaltung und grundlegende Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, erschwert (Sahan/SWT 22.5.2023). Zudem hat al Shabaab auf die Offensive mit Terror reagiert. Alleine im Jänner 2023 detonierte die Gruppe in Städten Zentralsomalias zwölf in Fahrzeugen verbaute Sprengsätze (ICG 21.3.2023). Insgesamt ist die Offensive dort am erfolgreichsten, wo der Widerstand der Lokalbevölkerung gegen al Shabaab am größten ist. Dort wo der lokale Widerstand geringer ist, tun sich die Regierungskräfte in der Offensive ungleich schwerer. In diesem Sinne kann die gesamte Offensive als eine Serie von Kriegen zwischen einzelnen Clans und al Shabaab charakterisiert werden, wobei die Regierungskräfte die Clans unterstützen (ICG 21.3.2023).

Insgesamt ist also die Offensive seit Anfang 2023 zum Stillstand gekommen (Sahan/SWT 4.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 23.6.2023). Al Shabaab hat diese Pause genutzt, um sich zu konsolidieren (Weiss/LWJ 6.10.2023), um Rekrutierung und Ausbildung zu intensivieren, Erpressungsaktivitäten auszuweiten und Angriffe auf hochwertige Ziele zu verstärken (Sahan/SWT 3.7.2023; vergleiche ACLED 30.6.2023). Die Gruppe hat flexibel auf die Offensive reagiert: Kämpfer und Waffen wurden aus bedrohten Gebieten abgezogen und dort gesammelt, wo lokale Gemeinden der Gruppe positiv gegenüberstehen (BBC 15.6.2023). Die übliche Ramadan-Offensive wurde 2023 nicht durchgeführt, um Kräfte für die anstehenden Kämpfe aufzusparen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Laut zweier Quellen ist al Shabaab nun stärker als zuvor (BMLV 1.12.2023; vergleiche Sahan/SWT 3.7.2023). Die letzten Monate waren geprägt von zusätzlichen Rekrutierungen, wobei al Shabaab gleichzeitig größere Verluste vermeiden konnte – anders als die Bundesarmee. Selbst während der intensiven Phase der Gefechte erlitt die Gruppe geringere Verluste als ihr Gegner (BMLV 1.12.2023). Im September 2023 hat al Shabaab so viele Selbstmordattentate versucht und ausgeführt wie in keinem Monat zuvor: 14, drei davon wurden vereitelt. Die Hälfte der Attentate ereignete sich in Zentralsomalia (Weiss/LWJ 6.10.2023).

Al Shabaab überrannte einen Stützpunkt von Danaab in Galcad (Galmudug) und einen Stützpunkt der Bundesarmee in Janay Abdale in der Nähe von Kismayo (Sahan/SWT 3.7.2023). Zudem griff die Gruppe im Mai 2023 den ugandischen ATMIS-Stützpunkt in Buulo Mareer an, Dutzende Soldaten wurden getötet (BBC 15.6.2023; vergleiche Soufan 3.7.2023). Am 7.6.2023 führte al Shabaab einen (weniger erfolgreichen) Angriff gegen äthiopische Truppen in Doolow. Am 9.6.2023 stürmten Kämpfer das Pearl Beach Hotel in Mogadischu, der erste größere Angriff dort innerhalb von drei Monaten. Mindestens 15 Menschen kamen dabei ums Leben (BBC 15.6.2023). Alles deutet darauf hin, dass es al Shabaab in den letzten Monaten gelungen ist, mehr Waffen und Munition zu erbeuten als in den vier Jahren zuvor (Sahan/SWT 3.7.2023). Gleichzeitig haben politische Streitigkeiten eine weitere Offensive der Bundesregierung verzögert (ACLED 15.9.2023; vergleiche ACAPS 17.8.2023). Am 13.7.2023 hat al Shabaab die Kontrolle über den Stützpunkt der Bundesarmee und jubaländischer Darawish in Geriley (Gedo) übernommen. Dieser Stützpunkt, der nur 12 km von der kenianischen Grenze entfernt liegt, war nur zwei Wochen vorher von ATMIS (Kenia) geräumt und an die Bundesarmee übergeben worden. Der Stützpunkt war von den Kenianern fast ein Jahrzehnt lang besetzt worden (Sahan/SWT 21.7.2023). Bemannt werden übergebene FOBs von in Uganda, Eritrea oder Ägypten schlecht ausgebildeten neuen Brigaden, die nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen. Von den bisher übergebenen FOBs wurden Stand Mitte September bereits sechs von al Shabaab vernichtet. Dieses Vorgehen hat System, denn solche Stützpunkte wieder aufzubauen und aufzufüllen – mit Männern, Ausrüstung und Material – ist für die Bundesarmee mit sehr großem Aufwand verbunden (BMLV 14.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 25.9.2023). Al Shabaab hat also im August 2023 eine eigene Offensive begonnen, um die Gewinne der Bundesarmee wieder aufzulösen. Dazu hat die Gruppe auch einen Brückenkopf am Ostufer des Shabelle eingerichtet (Rafal R./X 9.4.2023).

Zentralsomalia aus Sicht des ISW vom 4.10.2023:

Durch Konflikte Vertriebene: Mitte November wurde angegeben, dass 2023 über 1,5 Millionen Menschen zu Vertriebenen im Land geworden sind, 473.000 davon aufgrund von Dürre und 419.000 aufgrund von Überschwemmungen. Ca. 600.000 wurden durch Konflikte vertrieben. Die meisten neuen IDPs aufgrund von Konflikten gab es - abseits von Somaliland - 2023 bis Mitte November in den Regionen Galgaduud (101.000), Mudug (82.000), Lower Shabelle (53.000) und Middle Shabelle (48.000). Dahingegen wurden in Benadir/Mogadischu (800), Bari (1.000) und Hiiraan (2.000) deutlich weniger Menschen neu vertrieben (UNHCR 2023).

Al Shabaab [siehe auch Al Shabaab] stand gemäß Aussagen des Experten Rashid Abdi vom November 2022 mit dem Rücken zur Wand. Die Gruppe hatte viele Gebiete verloren und stand gleichzeitig einer Revolte mehrere Clans gegenüber. Damit befand sich auch das Wirtschaftsimperium al Shabaab unter Druck (GN 5.11.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Die Gruppe hatte in den ersten Monaten der Offensive zig Millionen US-Dollar und laut einer Quelle 1.200 (Gorfayn 27.3.2023), laut somalischen Regierungsangaben vom Juni 2023 sogar 3.000 getötete und 3.700 verletzte Kämpfer zu verkraften. Laufende Erfolge von al Shabaab lassen hinsichtlich dieser Zahlen allerdings Skepsis aufkommen (BBC 15.6.2023). Trotz der nominell hohen Verluste, die al Shabaab durch Luftangriffe und Gefechte zugefügt worden sind, hat die Gruppe jedenfalls keinen Mangel an Kämpfern. Zumindest ist es nicht gelungen, Angriffe von al Shabaab auf Militärstützpunkte einzudämmen. Sie ist auch immer noch in der Lage, Angriffe in Mogadischu, gegen Stützpunkte der ATMIS und über die Grenzen der ATMIS-Mitgliedsstaaten Äthiopien und Kenia hinweg zu verüben (Soufan 3.7.2023). Al Shabaab greift weiterhin regierungsnahe Kräfte und Ziele sowie Zivilisten im ganzen Land an. Die Gruppe übt Druck auf Zivilisten aus, ihre extremistische Ideologie zu unterstützen (USDOS 15.5.2023). Angegriffen werden Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, aber auch Hotels, Märkte und andere öffentliche Einrichtungen (AA 20.10.2023). In Zentralsomalia hält sich al Shabaab weiterhin im freien Gelände zwischen den Ortschaften auf und greift bei jeder Gelegenheit die Orte selbst bzw. die Bewegungen zwischen den Ortschaften an. Insgesamt haben die militärischen Kräfte der al Shabaab in Zentralsomalia zwar hohe Verluste hinnehmen müssen, sind aber bei Weitem nicht geschlagen (BMLV 1.12.2023).

Al Shabaab verwendet gewalttätige, extremistische Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Sie ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Die Gruppe bedient sich neben politischen und kriminellen Mitteln (wie Einschüchterung, Erpressung, etc.) zur Kontrolle der Bevölkerung im militärischen Bereich zur Erreichung der Ziele der gesamten Bandbreite der asymmetrischen Kriegsführung. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte Hit-and-Run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z.B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen. Al Shabaab verfolgt eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus (BMLV 1.12.2023).

Als al Shabaab an den Fronten an Boden verloren hat, steigerte die Gruppe ihre terroristischen Aktivitäten. Dadurch soll suggeriert werden, dass die Gruppe jederzeit an jedem Ort zuschlagen kann (Sahan/SWT 14.12.2022). Beim Einsatz von improvisierten Sprengsätzen ist hinsichtlich der Anzahl in den letzten Jahren keine Veränderung eingetreten. Allerdings sind die Opferzahlen seit 2020 stetig nach oben gegangen. Im Jahr 2020 wurden 501 Menschen durch improvisierte Sprengsätze getötet; 2021 waren es 669; und in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 gab es mindestens 855 Opfer (UNSC 10.10.2022). Auch die Zahl an terroristischen Vorfällen im ersten Quartal 2023 war überdurchschnittlich. Es wurden 61 Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen gezählt (höchste Zahl seit 2017), bei denen 291 Menschen ums Leben gekommen sind. Als Reaktion auf die anhaltende Offensive werden häufig Regierungs- und lokale Clanmilizen ins Visier genommen. Am meisten davon Sprengsätzen betroffen waren Mogadischu/Benadir, Lower Shabelle, Hiiraan und Lower Juba. Mogadischu ist immer wieder auch von indirektem Feuer der al Shabaab betroffen (UNSC 15.6.2023).

Während eines Großteils der Trump-Jahre konnten Kämpfer der al Shabaab aufgrund der Intensität der Luftangriffe nicht in Konvois reisen (Sahan/SWT 2.8.2023). Heute ist besorgniserregend, wie leicht sich die Gruppe in weiten Teilen Somalias bewegen kann, z.B. als sie Anfang Juli 2023 den Stützpunkt der Bundesarmee in Geriley (Gedo) angegriffen hat (Sahan/SWT 2.8.2023; vergleiche BMLV 14.9.2023). Al Shabaab ist nun wieder in der Lage, Hunderte Kräfte zu konzentrieren, um Stützpunkte der Bundesarmee oder ihrer Verbündeten zu vernichten (BMLV 14.9.2023).

Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab (AA 15.5.2023; vergleiche AA 20.10.2023, ÖBN 11.2022). Die aktuelle Offensive konzentriert sich im Wesentlichen auf die Regionen Galgaduud, Hiiraan, Middle Shabelle und Mudug. Sie soll zu einem späteren Zeitpunkt auf den SWS und Jubaland ausgeweitet werden (ACAPS 17.8.2023; vergleiche AA 15.5.2023). Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (USDOS 20.3.2023). Die Schwerpunkte sicherheitsrelevanter Vorfälle verlagern sich aber mitunter. So gibt ACLED für den Zeitraum 27.5.-23.6.2023 Lower Shabelle als Schwerpunkt an (ACLED 30.6.2023). Für Juli-September 2023 wird der Schwerpunkt der Kampfhandlungen mit Galgaduud und Middle Shabelle angegeben. Insgesamt verzeichnet ACLED im Zeitraum 22.7. bis 8.9.2023 375 sicherheitsrelevante Vorfälle. Davon war die überwiegende Mehrheit direkte Kampfhandlungen (230) und Explosionen (100) (ACLED 15.9.2023).

Gebietskontrolle: Innerhalb der letzten zehn Jahre ist es der Regierung und den Truppen von AMISOM/ATMIS gelungen, die Kontrolle über viele Teile des Landes zurückzuerlangen (THLSC 20.3.2023). Al Shabaab wurde erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖBN 11.2022). Während ATMIS und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen (USDOS 15.5.2023; vergleiche BBC 15.6.2023). Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen (USDOS 15.5.2023). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 15.5.2023). In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin. Viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. Gebessert hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle, wo auch Bewegungen zwischen den Orten möglich sind (BMLV 1.12.2023). In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen (UNSC 6.10.2021; vergleiche BMLV 1.12.2023, AQ21 11.2023). Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (HRW 12.1.2023). Als "Inseln" zu bezeichnen sind etwa Xudur, Waajid, Diinsoor, Wanla Weyne und Baraawe (BMLV 1.12.2023). In den zuletzt von der Regierung eroberten Gebieten findet sich die Bundesarmee v.a. in kritischen Teilen - etwa entlang der Hauptversorgungsrouten (Sahan/STDOK/SEM 4.2023).

Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind:

1.           das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;

2.           Jamaame und Badhaade in Lower Juba;

3.           größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;

4.           Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;

5.           der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor;

6.           Gebiete rechts und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

7.           die südliche Hälfte von Galgaduud mit der Stadt Ceel Buur (PGN 23.1.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023); nach neueren Angaben reicht das Gebiet dort nur ein Stück nach Galgaduud hinein (IO-D/STDOK/SEM 4.2023);

8.           sowie die Region Bakool abzüglich eines Streifens entlang der äthiopischen Grenze und der Städte Xudur und Waajid (BMLV 1.12.2023).

In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden. – Insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch ATMIS und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden. Immer wieder gelingt es al Shabaab, kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (BMLV 1.12.2023). Al Shabaab hat sich – in begrenztem Ausmaß – fähig gezeigt, Territorien, die bereits durch die Bundesarmee und ATMIS befreit wurden, wieder zurückzuerobern. In der Vergangenheit war das Scheitern, eroberte Territorien erfolgreich zu halten, mit dem Mangel an Polizeipräsenz in den eroberten Gebieten und der allgemein schlechten Moral in der Bundesarmee verbunden, die auf sehr geringe und oftmals verzögerte Besoldung zurückzuführen war (ÖBN 11.2022).

Andere Akteure: Kämpfe zwischen Clans und Subclans, insbesondere um Wasser- und Landressourcen sind weit verbreitet, insbesondere in den Regionen Hiiraan, Galmudug, Lower und Middle Shabelle bzw. in Regionen, in denen die Regierung oder staatliche Behörden schwach oder nicht vorhanden sind (ÖBN 11.2022). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 20.10.2023) sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen (AA 15.5.2023). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten (USDOS 20.3.2023). Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer - generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter - Gewalt verbunden sein (BMLV 1.12.2023).

Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 15.5.2023). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub („Carjacking“), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (AA 20.10.2023).

Im Zeitraum August 2022 bis Juni 2023 erwähnen die Berichter der UN nur einen Angriff des sogenannten Islamischen Staats in Somalia (ISIS), namentlich die Ermordung eines hochrangigen Beamten in Mogadischu mit einem improvisierten Sprengsatz (UNSC 16.2.2023; vergleiche UNSC 15.6.2023). ISIS ist in Puntland weiterhin präsent, verfügt jedoch nicht über die Fähigkeit, große Gebiete zu kontrollieren oder bedeutende Operationen durchzuführen (UNSC 31.7.2023).

Zivile Opfer: Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich [siehe Tabelle weiter unten]. Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an (C4/Jamal 15.6.2022; FDD/Roggio 11.10.2023). Laut einer Quelle trifft es zwar zu, dass al Shabaab bei Sprengstoffanschlägen meist nicht mutwillig Zivilisten angreift und diese Taktik im Vergleich zu anderen Gruppen gezielter anwendet; dennoch wählt sie in regelmäßigen Abständen Ziele aus, bei denen die Gruppe weiß, dass viele Zivilisten Kollateralschäden erleiden werden - etwa bei Angriffen auf Hotels, Kaffee- oder Teehäuser, Restaurants oder belebte Straßenkreuzungen (FDD/Roggio 11.10.2023). Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu den somalischen Sicherheitskräften und vermehrt auch Führungspersonen aus Clans, die sich dem Kampf gegen al Shabaab verpflichtet haben (AA 15.5.2023). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (BMLV 9.2.2023).

Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von ATMIS bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28 % der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es 20 % (Sahan/Bryden 6.4.2021).

Von der UN werden die Zahlen ziviler Opfer (Tote und Verletzte) wie folgt angegeben:

(UNSC 15.6.2023; UNSC 16.2.2023; UNSC 1.9.2022b; UNSC 13.5.2022; UNSC 8.2.2022; UNSC 11.11.2021; UNSC 10.8.2021; UNSC 19.5.2021; UNSC 17.2.2021; UNSC 13.11.2020; UNSC 13.8.2020; UNSC 13.5.2020; UNSC 13.2.2020)

Die letzte halbwegs glaubwürdige Volkszählung wurde im Jahr 1975 durchgeführt - auch diese mit signifikanten Einschränkungen (Sahan/SWT 10.5.2023). Neueste Schätzungen gehen von rund 17 Millionen Einwohnern aus (IPC 13.12.2022). In diesem Zusammenhang lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:10.235 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen].

Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v.a. durch die USA. Unter der Trump-Regierung wurden innerhalb von vier Jahren fast 220 Luftangriffe durchgeführt (Sahan/SWT 2.8.2023). Dahingegen waren es 2021 nur elf (HRW 13.1.2022) und 2022 15 (BMLV 9.2.2023). Im Zeitraum Jänner-August 2023 waren es 13 (Sahan/SWT 2.8.2023). Bei Luftangriffen auf al Shabaab und den ISIS sind zwischen 2017 und 2021 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden (HIPS 2021). Auch Kenia führt nach wie vor Luftschläge in Somalia durch, z.B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (GN 22.6.2022); und es kommt auch zu äthiopischen Luftangriffen (VOA 8.8.2022), z.B. am 30.7.2022 in der Region Bakool (SG 31.7.2022). Nach Angaben somalischer Armeevertreter sind auch türkische Drohnen bei Operationen gegen al Shabaab aktiv (VOA/Maruf 30.11.2022). Generell hat die Zahl an Luftangriffen aber erheblich abgenommen, die durchgeführten konzentrieren sich auf höherrangige Angehörige der al Shabaab (BMLV 1.12.2023).

1.           Banadir Regional Administration (BRA; Mogadischu)

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Die Sicherheitslage in Mogadischu ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass al Shabaab Angriffe auf Behörden und ihre Unterstützer verübt. Zugleich stecken hinter der Gewalt in der Stadt neben al Shabaab auch Regierungskräfte, der sogenannte Islamische Staat in Somalia (ISIS) und Unbekannte (Landinfo 8.9.2022). In der Stadt befinden sich die Polizei, die Präsidentengarde, die Bundesarmee, die National Intelligence and Security Agency (NISA), private Sicherheitskräfte und Clanmilizen in unterschiedlichem Umfang im Einsatz (Sahan/SWT 6.9.2023). Nichtstaatliche Sicherheitskräfte, darunter Clan-Milizen, üben trotz wiederholter Versuche, sie auf Linie zu bringen, erheblichen Einfluss in der Stadt aus. Die Teile dieser Patchwork-Sicherheitsarchitektur konkurrieren regelmäßig um Checkpoints und den Zugang zu Ressourcen (Sahan/SWT 6.9.2023).

Noch vor zehn Jahren kontrollierte al Shabaab die Hälfte der Stadt, die gleichzeitig Schauplatz heftiger Kämpfe war (BBC 18.1.2021; vergleiche Sahan/SWT 18.1.2022). 2011 war Mogadischu eine halb entleerte Ruinenstadt, Einschusslöcher, zerstörte Häuser und Milizen in Kampfwagen prägten das Bild. Es gab keinerlei staatliche Dienste (Sahan/SWT 18.1.2022). Seit 2014 ist das Leben nach Mogadischu zurückgekehrt (SRF 27.12.2021) und die Stadt befindet sich unter Kontrolle von Regierung und ATMIS (PGN 23.1.2023). Die Sicherheitslage hat sich in den vergangenen zehn Jahren im Allgemeinen verbessert (Sahan/SWT 6.9.2023). Immer neue Teile von Mogadischu werden wieder aufgebaut. Er herrscht große Aktivität, viel Geld wird investiert (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Nun ist Mogadischu eine pulsierende Stadt mit hohen Apartmentblocks und Einkaufszentren. Der berühmte Lido-Strand ist am Wochenende voll mit Familien. Historische Gebäude und Monumente wurden renoviert und sind der Öffentlichkeit zugänglich. Unzählige Kaffeehäuser sind aus dem Boden geschossen. Der private und der öffentliche Sektor sind aufgrund der relativen Stabilität der Stadt stark gewachsen. Sechs Banken und Dutzende internationaler Firmen haben in Mogadischu eine Niederlassung eröffnet. Es gibt Investitionsmöglichkeiten, und es sind neue Arbeitsplätze entstanden (Sahan/SWT 18.1.2022). Die Stimmung der Menschen in der Stadt ist laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 relativ positiv. Dies hat mit den Bemühungen der Regierung im Kampf gegen al Shabaab zu tun (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Nach der Wahl von Hassan Sheikh Mohamed hat sich die Atmosphäre in Mogadischu dramatisch verändert, die Stadt ist ruhiger geworden (Sahan/SWT 8.6.2022).

Generell haben sich seit 2014 die Lage für die Zivilbevölkerung sowie die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden verbessert (BMLV 9.2.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 hat sich die Sicherheitslage in der Stadt seit 2017 weiter verbessert (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer anderen Quelle der FFM ist die Lage heute ähnlich wie 2017, jedenfalls aber besser als etwa 2012-2014 (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Ein andere Quelle erklärt, dass sich die Sicherheitslage in Mogadischu im Jahr 2023 gegenüber 2022 verbessert hat und auch besser ist als 2016 oder 2017 (BMLV 14.9.2023). Mehrere lokale Quellen der norwegischen COI-Einheit beschrieben im Mai 2022 die Sicherheitsentwicklungen in der Stadt als positiv. Jedenfalls ist die Zahl an Vorfällen und Todesopfern in den vergangenen Jahren relativ stabil geblieben. Diesbezüglich muss zudem berücksichtigt werden, dass gleichzeitig die Zahl an Einwohnern deutlich gestiegen ist (Landinfo 8.9.2022). So hat UNFPA die Einwohnerzahl im Jahr 2014 mit 1,65 Millionen angegeben (UNFPA 10.2014), während die Zahl im Jahr 2022 auf fast 2,9 Millionen geschätzt wird (IPC 13.12.2022). Laut UN leben in Mogadischu nun mehr als 900.000 IDPs (Sahan/SWT 6.9.2023).

Die Stadt hat 17 Bezirke und mehrere sogenannte "residential areas", die noch nicht zu Bezirken gemacht worden sind. In jedem Bezirk gibt es eine Polizeistation, in der ganzen Stadt mit ca. 18.000 Mann ausreichend Sicherheitskräfte (Sahan/SWT 7.11.2022), davon 5.000-6.000 Polizisten. In jedem Bezirk gibt es eine Polizeistation (Sahan/SWT 6.9.2023). Seit April 2022 wird eine neue paramilitärische Einheit in Mogadischu eingesetzt (RD 10.4.2023). Dabei handelt es sich um in Uganda ausgebildete Kräfte (JOWH 10.4.2023). Diese Militärpolizei - eine Einheit der Bundesarmee - wurde mit der Stabilisierung Mogadischus beauftragt (FTL 14.4.2023; vergleiche JOWH 10.4.2023). Es kommt nun auch in Außenbezirken zu Razzien, etwa am 24.8.2023 in Heliwaa, Yaqshiid und Warta Nabadda. Dabei arbeitet die Polizei mitunter mit der Militärpolizei zusammen (Halqabsi 24.8.2023). Mit der Operation "Ciiltire" soll die Sicherheitslage in Mogadischu weiter verbessert werden. In diesem Rahmen soll auch das neue Waffengesetz (Capital Arms Control Act), das den illegalen Waffenverkauf und -Besitz in der Hauptstadt reduzieren soll, durchgesetzt werden. Involviert sind die Polizei und die Militärpolizei sowie Sicherheitskräfte der Region Benadir (Halqabsi 18.4.2023). Der Einsatz der 2.000 Mann der Militärpolizei ist ein massiver Beitrag für die Sicherheitslage in der Stadt. Die Einheit kümmert sich u.a. um die militärische Sicherung von Mogadischu (BMLV 14.9.2023). Allerdings reicht die gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte weiterhin nicht aus, um Aktivitäten der al Shabaab gänzlich zu unterbinden (BMLV 1.12.2023). Auch eine weitere Quelle vertritt die Ansicht, dass die somalischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage sind, der von al Shabaab ausgehenden Bedrohung für die gesamte Region Benadir entgegenzutreten (UNSC 10.10.2022). Unter den Sicherheitskräften herrscht mangelnde Koordination und Kommunikation, dafür aber Korruption. Und gleichzeitig erschweren fehlende Personalausweise und Register (etwa für Fahrzeuge) und Adressen die Sicherheitskontrolle (Sahan/SWT 7.11.2022). Zudem ist die Polizei nicht unbedingt effizient und diszipliniert (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023) und zudem überfordert. Sie musste in den vergangenen Jahren mit einem wachsenden Drogenmilieu und Bandenwesen sowie mit al Shabaab und einer zunehmenden Politisierung der Sicherheitskräfte unter dem Ex-Präsident Farmaajo kämpfen. Seit der Stationierung der o.g. von Uganda ausgebildeten Kräfte gibt es aber zunehmend Versuche, z.B. illegale Checkpoints zu räumen (Sahan/SWT 6.9.2023). Die Sicherheitskräfte können zudem nun großteils jene Gebiete kontrollieren, in welchen al Shabaab zuvor ungehindert agieren konnte. Zuvor verfügte die Bundesregierung nicht flächendeckend über ausreichend staatliche Institutionen hinsichtlich der Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums. Die diesbezügliche Lage hat sich gebessert (BMLV 1.12.2023).

Gleichzeitig bietet die Stadt für al Shabaab alleine aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele. Innerhalb der Stadt hat sich die Sicherheit zwar verbessert, al Shabaab kann aber nach wie vor Anschläge durchführen. Andererseits gilt es als höchst unwahrscheinlich, dass al Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. In Mogadischu besteht kein Risiko, von al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)Rekrutierung zu entziehen (BMLV 1.12.2023).

Noch im Jahr 2022 sind Quellen davon ausgegangen, dass Mogadischu im Falle eines Abzugs von ATMIS die Rückkehr von al Shabaab drohte (Robinson/TGO 27.1.2022; vergleiche Meservey/RCW 22.11.2021). Nun aber haben zwei Quellen der FFM Somalia 2023 angegeben, dass sie diese Gefahr nicht (mehr) sehen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Think/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine weitere Quelle geht nicht davon aus. Demnach ist nunmehr ein rascher Zusammenbruch des Staates nur noch dann zu erwarten, wenn jegliche externe Unterstützung eingestellt wird (BMLV 1.12.2023).

Al Shabaab kontrolliert in Mogadischu keine Gebiete (AQ21 11.2023), ist aber im gesamten Stadtgebiet präsent, das Ausmaß ist aber sehr unterschiedlich (BMLV 9.2.2023). Dabei handelt es sich um eine verdeckte Präsenz und nicht um eine offen militärische (BMLV 1.12.2023; vergleiche INGO-F/STDOK/SEM 4.2023, Landinfo 8.9.2022). In den Außenbezirken hat al Shabaab größeren Einfluss, auch die Unterstützung durch die Bevölkerung ist dort größer (BMLV 1.12.2023). Die Gruppe verfügt in Mogadischu über keine nennenswerte institutionelle Präsenz. Trotzdem erhebt die Gruppe den Zakat (islamische Steuer) von Unternehmen in der Stadt. Zudem macht al Shabaab ihre Präsenz insofern bemerkbar, dass sie ihre Form der "Moral" umsetzt. So tötete die Gruppe beispielsweise Anfang März 2023 zehn Personen, denen der Verkauf von Drogen in den Stadtbezirken Yaqshiid und Dayniile vorgeworfen worden war (Sahan/SWT 6.9.2023).

Bei allen Möglichkeiten, über welche al Shabaab verfügt, so hat die Gruppe in Mogadischu kein freies Spiel. Regierungskräfte sind in allen Bezirken der Stadt präsent – etwa mit Checkpoints; und es werden Razzien durchgeführt. Die Anzahl an Mitgliedern, Unterstützern und Ressourcen in Mogadischu sind begrenzt, und daher muss al Shabaab diesbezügliche Prioritäten setzen (Landinfo 8.9.2022). Quellen der FFM Somalia 2023 erklären: Al Shabaab ist weiter abgedrängt worden und daher kommen komplexe Angriffe seltener vor. Ein Stadtviertel nach dem anderen wurde gesichert, Häuserblock für Häuserblock durchsucht (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). An den Kontrollpunkten an Straßen wird ein großer Aufwand bei Durchsuchungen betrieben (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). In Dayniile sind keine Flaggen der al Shabaab mehr zu sehen. Die Polizei ist nun in der ganzen Stadt vertreten – auch an der Peripherie (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Die Arbeit der Regierung ist laut einer Quelle beeindruckend. Demnach antworten Menschen in der Stadt teilweise nicht mehr auf Anrufe durch al Shabaab (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Üblicherweise galt, dass al Shabaab jede Person töten konnte, die sie töten wollte. Nunmehr gilt dies laut einer Quelle nicht mehr uneingeschränkt (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine andere Quelle erklärt, dass die Fähigkeiten von al Shabaab, sich in der Stadt zu bewegen und Menschen gezielt zu töten, durch Sicherheitsmaßnahmen eingeschränkt worden sind (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Der Austausch des Personals an den Checkpoints der Regierung hat zur Einschränkung der Fähigkeiten von al Shabaab erheblich beigetragen. Zuvor bestochene und/oder infiltrierte Checkpoints wurden so für die Gruppe wertlos. Laut Expertenmeinung herrscht ein Krieg um Mogadischu, der nicht unbedingt mit Kugeln geführt wird. Die Bundesregierung versucht al Shabaab mit Maßnahmen - Checkpoints, Einschränkung der Finanzoperationen, Bekämpfung der Justiz von al Shabaab - von ihren "steuerlichen" Pfründen in der Stadt zu entkoppeln. Al Shabaab wiederum setzt sich dagegen zur Wehr. Dieser Kampf ist noch nicht entschieden (AQ21 11.2023).

Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Gruppe in Mogadischu aktiv Deserteure sucht und liquidiert (Landinfo 8.9.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Laut einer Quelle rekrutiert al Shabaab in der Stadt auch keine neuen Mitglieder (Landinfo 8.9.2022). Nach Angaben einer anderen Quelle ist aufgrund des massiven Bevölkerungsanstiegs und der zahlreichen Jugendlichen ohne Auskommen für al Shabaab ohnehin ein großes Rekrutierungspotenzial gegeben, das auch genutzt wird (BMLV 9.2.2023).

Die Zahl an Angriffen der al Shabaab ist Anfang des Jahres 2023 gefallen, Mogadischu hat eine relative ruhige Periode durchlebt. Die Stationierung neuer Sicherheitskräfte an Checkpoints am Stadtrand hat zur Abschreckung von al Shabaab beigetragen. Die Gruppe analysiert ihre neue Situation und reorganisiert sich. Die niedrige Zahl an Gewaltvorfällen in den Monaten März-Mai 2023 darf aber nicht zur Annahme verleiten, dass die Kapazitäten von al Shabaab signifikant geschädigt worden wären (AQ20 5.2023). Die relative Flaute bei Angriffen der al Shabaab in Mogadischu im ersten Halbjahr 2023 endete mit der Wiederaufnahme der Regierungsoffensive in Zentralsomalia. Die Gruppe hat ihre gezielten Angriffe auf staatsnahe Personen und Sicherheitskräfte wieder aufgenommen (Sahan/SWT 6.9.2023). Seit Mitte des Jahres 2023 kommt es wieder vermehrt zu Hit-and-Run-Angriffen auf Checkpoints der Sicherheitskräfte, v.a. aus Dayniile heraus. Damit möchte al Shabaab Präsenz zeigen. Die Gruppe ist nicht aus der Stadt verschwunden. Aber es gibt weniger Anschläge, al Shabaab spürt den Druck in Zentralsomalia (BMLV 14.9.2023). Trotzdem verbreitet die Gruppe auch weiterhin Angst (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Mogadischu ist eine Großstadt und steht zur Infiltrierung offen. Es ist schwer auszumachen, wer zu al Shabaab gehört und wer nicht (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Die Gruppe ist in der Lage, jede Person in Mogadischu ausfindig zu machen. Demnach herrscht bei den Bürgern die Angst, dass jederzeit etwas passieren könnte (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Ein Mitarbeiter einer internationalen NGO gibt an, dass er und Kollegen Drohanrufe bekommen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Die Gruppe kann immer noch den Sitz des Präsidenten mit Mörsern beschießen. Und es gibt auch weiterhin gezielte Attentate (IO-D/STDOK/SEM 4.2023) und Anschläge auf Regierungstruppen und ATMIS (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab ist also auch weiterhin in der Stadt aktiv. Die Gruppe hat zahlreiche Informanten innerhalb der Sicherheitskräfte (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023), auch relevante Verwaltungsstrukturen gelten als unterwandert (Landinfo 8.9.2022; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab verlangt von Geschäftsleuten in der Stadt die Zahlung von "Steuern" (Mohamed/VOA 9.11.2022; vergleiche Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Zwischen Mai und Juli 2022 erhielten zahlreiche Besitzer von gemauerten oder mehrstöckigen Häusern eine Zahlungsaufforderung von al Shabaab. Dabei liegt die jährliche Abgabe zwischen 100 und 300 US-Dollar. Zudem wird die Errichtung von Häusern besteuert. Für Zahlungsverzögerungen drohen Strafzahlungen (Mohamed/VOA 9.11.2022). Al Shabaab war zumindest 2022 in der Lage, nahezu im gesamten Stadtgebiet verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben und die Bevölkerung einzuschüchtern (Sahan/SWT 7.11.2022).

Zivilisten: Im Zeitraum Jänner 2020 bis November 2022 gab es mehr als 166 Vorfälle, wo Sprengsätze innerhalb der Stadt detoniert sind oder aber gefunden und entschärft werden konnten (Sahan/SWT 7.11.2022). Die Gruppe ist zudem weiterhin in der Lage, in Mogadischu auch größere Sprengstoffanschläge durchzuführen (BMLV 1.12.2023). Üblicherweise zielt al Shabaab mit Angriffen auf Sicherheitskräfte und Vertreter des Staates ["officials"] (UNSC 6.10.2021). Zivilisten stellen im Allgemeinen kein Ziel von Angriffen der al Shabaab dar (Landinfo 8.9.2022). Sie leiden auf zwei Arten an der Gewalt durch al Shabaab: Jene, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von al Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt (BMLV 9.2.2023). Und natürlich besteht für Zivilisten das Risiko, bei Anschlägen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und damit zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (BMLV 1.12.2023; vergleiche Landinfo 8.9.2022). Denn al Shabaab greift auch jene Örtlichkeiten an, die von Regierungsvertretern und Wirtschaftstreibenden sowie Sicherheitskräften frequentiert werden, z.B. Restaurants, Hotels oder Einkaufszentren (BS 2022a; vergleiche Landinfo 8.9.2022). Ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierter Ort ist kein Ziel der al Shabaab. Die Hauptziele von al Shabaab befinden sich in den inneren Bezirken: militärische Ziele, Regierungseinrichtungen und das Flughafenareal. Die Außenbezirke hingegen werden von manchen als die sichersten Teile der Stadt erachtet, da es dort so gut wie nie zu größeren Anschlägen kommt. Allerdings kommt es dort öfter zu gezielten Tötungen (BMLV 1.12.2023). 70 % der von ACLED aufgezeichneten gewalttätigen Zwischenfälle in Mogadischu im Zeitraum Jänner 2021 bis Juni 2022 richteten sich gegen militärische Ziele. Viele dieser Angriffe ereigneten sich in den Außenbezirken der Stadt. Letztendlich widmet die Gruppe Zufallsopfern aber wenig Aufmerksamkeit. Sie erachtet bei Angriffen getötete Zivilisten als Märtyrer (Landinfo 8.9.2022).

Generell unterstützt die Zivilbevölkerung von Mogadischu nicht die Ideologie von al Shabaab. Am Stadtrand ist die Unterstützung größer, die meisten Bewohner haben al Shabaab gegenüber aber eine negative Einstellung. Sie befolgen die Anweisungen der Gruppe nur deshalb, weil sie Repressalien fürchten. Al Shabaab agiert wie eine Mafia: Sie droht jenen mit ernsten Konsequenzen, welche sich Wünschen der Gruppe entgegensetzen (BMLV 1.12.2023; vergleiche FIS 7.8.2020).

Auf die Frage nach den größten Gefahren im täglichen Leben in Mogadischu erklärt eine Quelle der FFM Somalia 2023: Erstens Erpressung durch al Shabaab; die Gruppe versucht immer, an Geld zu kommen. Daher besteht immer das Risiko, von ihr einen Drohanruf oder eine bedrohliche Textnachricht zu erhalten. Zweitens besteht für einen Durchschnittsbürger zwar kein Risiko, gezielt angegriffen zu werden; aber natürlich besteht immer das Risiko, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine andere Quelle nennt dieses Risiko („wrong place, wrong time“). Demnach werden Normalbürger nicht angegriffen. Es muss immer ein bestimmtes Interesse an einer Person herrschen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Eine Quelle gibt zu bedenken, dass man sich in Mogadischu nicht so leicht verstecken, nicht einfach isolieren kann. Man besucht die Familie, geht auf den Markt oder ins Spital etc. Personen sind demnach einfach aufzuspüren (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Zum Ziel werden jene, die für die Regierung arbeiten. Diese Personen brauchen geeigneten Schutz. Auch Journalisten tragen ein höheres Risiko, insbesondere jene, die sich kritisch zu al Shabaab geäußert haben. Üblicherweise wird gezielt eine Person angegriffen, nicht aber deren Familienmitglieder (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Bewegungsfreiheit: Die Menschen wissen um die Gefahr bestimmter Örtlichkeiten und versuchen daher, diese zu meiden. Sie bewegen sich in der Stadt, vermeiden aber unnötige Wege. Für viele Bewohner der Stadt ist die Instabilität Teil ihres Lebens geworden. Sie versuchen, Gefahren auszuweichen, indem sie Nachrichten mitverfolgen und sich gegenseitig warnen (FIS 7.8.2020). An neuralgischen Punkten der Stadt befinden sich Checkpoints, allerdings weniger als früher. An den Einfahrtsstraßen wird jedes Fahrzeug kontrolliert. Insgesamt wird an diesen Straßensperren professioneller vorgegangen als noch vor einigen Jahren. Präsident Hassan Sheikh Mohamud hat die Auflösung der meisten innerstädtischen Checkpoints angeordnet. Größere Einschränkungen gibt es aktuell nur mehr bei besonderen Anlässen - dies wird mittlerweile aber im Vorfeld angekündigt (BMLV 9.2.2023). Immer wieder kommt es zu Angriffen von Regierungskräften auf Fahrer und Passagiere von Tuk-Tuks und anderen Fahrzeugen. Oft ereignen sich derartige Vorfälle an Checkpoints. Die Zugehörigkeit zu einem starken Clan oder Verbindungen zu mächtigen Personen in der Stadt können an Checkpoints oder beim Zusammentreffen mit Regierungskräften von Vorteil sein. Als starke Clans erachtet werden in Mogadischu v.a. die Hawiye / Abgaal und die Hawiye / Habr Gedir (Landinfo 8.9.2022). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass Mogadischu hinsichtlich der Clanzugehörigkeit generell als kosmopolitisch erachtet werden kann. Eine Rolle spielt der Clan allerdings bei sozialen Angelegenheiten, bei Eheschließungen, beim Ringen um Macht, in der Politik (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).

Quellen der FFM Somalia 2023 berichten: Einige Checkpoints werden von NISA kontrolliert (z.B. am Flughafen); innerhalb der Stadt aber meist von der Polizei. Die neu eingesetzte Militärpolizei unterhält Kontrollpunkte in den Vororten und Ausfallstraßen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Für normale Bürger gibt es hinsichtlich der Bewegungsfreiheit allgemein keine Probleme in Mogadischu (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Clan oder Geschlecht spielen hier keine Rolle (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-F/STDOK/SEM 4.2023, UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Frauen können sich auch problemlos alleine bewegen, nur spät in der Nacht könnte es hier zu Sicherheitsproblemen kommen. Insgesamt haben alle Menschen die gleichen Probleme: Die Freiheit wird manchmal durch Straßensperren massiv eingeschränkt – etwa an Feiertagen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023) oder wenn wichtige Delegationen in der Stadt sind. Wenn gerade kein besonderer Anlass gegeben ist, gibt es für beide Geschlechter und alle Clans Bewegungsfreiheit (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle fragen Polizisten an Checkpoints häufig um ein Trinkgeld, um die Bezahlung ihres Essens, um Zigaretten. Tatsächlich werden aber nur Autos – und hier meist die Fahrer – kontrolliert, Fußgänger und Tuk-Tuks können passieren (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Gewaltkriminalität: Es gibt Bandenwesen und Straßenkriminalität. Teile von Karaan, Heliwaa und Yaqshiid bzw. alle Ränder der Stadt sind hoher Kriminalität ausgesetzt (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Für Zivilisten besteht nach wie vor die Sorge vor Raubüberfällen und Gewalt, insbesondere nachts. Dabei ist die Ermordung von Raubopfern keine Seltenheit. Dies steht insbesondere im Zusammenhang mit dem Aufstieg von Jugendbanden (bekannt als "ciyaal weero" oder "aggressive Kinder") seit 2021 (Sahan/SWT 6.9.2023; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Diese Gangs haben ursprünglich Passagiere von Tuk-Tuks (Bajaj) tyrannisiert. Sie haben geraubt, was die Menschen gerade bei sich hatten (Sahan/SWT 27.7.2022). Viele Gang-Mitglieder nehmen auch Drogen oder trinken Alkohol (Sahan/SWT 27.7.2022; vgl.Sahan/SWT 29.8.2022). Die gestiegene Zahl an Delikten wie Diebstahl und Raub ist teilweise der Beschaffungskriminalität zuzurechnen (Sahan/SWT 29.8.2022). Diesen Gangs werden mittlerweile aber auch andere Verbrechen vorgeworfen, darunter sexuelle Übergriffe (Sahan/SWT 6.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 27.7.2022), Raubüberfälle und Morde (Sahan/SWT 27.7.2022). Gleichzeitig sind Jugendgangs nach Gebieten organisiert und reklamieren verschiedene Teile der Stadt für sich (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Sahan/SWT 29.8.2022), was zu weiterer Gewalt führt (Sahan/SWT 29.8.2022). Denn mit zunehmender Ausbreitung haben sie begonnen, sich gegenseitig zu bekämpfen. Zwar hat die Polizei bei Razzien immer wieder Gang-Mitglieder festgenommen, diese kamen aber - vermutlich durch Bestechung - immer frei, bevor ihnen der Prozess gemacht worden ist (Sahan/SWT 27.7.2022). Manche Sicherheitskräfte beteiligen sich an den Gangs, manche sind in den Drogenhandel involviert (Sahan/SWT 29.8.2022).

In Mogadischu kommt es mitunter auch zu Landkonflikten, z.B. im August 2023 in Xamar Weyne. Dort wurden in Folge von Gewalt auch mehrere Menschen vertrieben (Sahan/Gedo 7.8.2023).

Bei manchen Vorfällen ist unklar, von wem oder welcher Gruppe die Gewalt ausgegangen ist; Täter und Motiv bleiben unbekannt. Es kommt zu Rachemorden zwischen Clans, zu Gewalt aufgrund wirtschaftlicher Interessen oder aus politischer Motivation. Lokale Wirtschaftstreibende haben in der Vergangenheit auch schon al Shabaab engagiert, um Auftragsmorde durchzuführen. Mit Stand 2020 berichtet die finnische COI-Einheit: Die Bewohner haben eine hohe Hemmschwelle, um sich an die Polizei zu wenden. Das Vertrauen ist gering. Die Fähigkeit der Behörden, bei kleineren Delikten wie etwa Diebstahl zu intervenieren, ist derart gering, dass Menschen keinen Nutzen darin sehen, Anzeige zu erstatten. Hat eine Person Angst vor al Shabaab, dann kann ein Hilfesuchen bei der Polizei - aufgrund der Unterwanderung selbiger - die Gefahr noch verstärken. Die Polizei ist auch nicht in der Lage, Menschen bei gegebenen Schutzgeldforderungen seitens al Shabaab zu unterstützen (FIS 7.8.2020). Nach neueren Angaben ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei aufgrund der neu eingesetzten Kräfte gestiegen. Auch wenn diese streng genommen der Bundesarmee angehören, heben sie das Ansehen der Sicherheitskräfte. Sowohl Polizei als auch Bundesarmee bleiben aber weiterhin von al Shabaab unterwandert (BMLV 1.12.2023).

Der sogenannte Islamische Staat in Somalia (ISIS) verfügt in Mogadischu nur über sehr begrenzten Einfluss. Die Gruppe versucht u.a. auf dem Bakara-Markt Steuern einzutreiben (Landinfo 8.9.2022). Im Jänner 2022 haben Geschäftsleute auf dem Markt aus Protest dagegen für einige Tage ihre Geschäfte geschlossen (Landinfo 8.9.2022; vergleiche Sahan/SWT 17.8.2022). Die Gruppe hatte zuvor jeden Händler, der kein Schutzgeld abführt, mit dem Tod bedroht (Sahan/SWT 17.8.2022).

Vorfälle: In Benadir/Mogadischu leben nach Angaben einer Quelle 2,874.431 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2021 insgesamt 85 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei 79 dieser 85 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2022 waren es 105 derartige Vorfälle (davon 94 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und violence against civilians ergeben sich für 2022 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): 3,7.

2022 waren besonders die Bezirke Dayniile (74 Vorfälle), Hodan (39), Dharkenley (36), Yaqshiid (35), Wadajir/Medina (33) und Karaan (30), in geringerem Ausmaß die Bezirke und Hawl Wadaag (18), Heliwaa (14), Wardhiigleey (11) und Xamar Jabjab (10) von tödlicher Gewalt betroffen. Zivilisten waren 2022 v.a. in den Bezirken Dayniile (16 Vorfälle) und in geringerem Ausmaß in Dharkenley (12), Wadajir/Medina (12), Hodan (10) und Karaan (10) von gegen sie gerichteter, tödlicher Gewalt betroffen (ACLED 2023).

In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2022 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie "violence against civilians", in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt:

2.           Galmudug (Galgaduud, Teile von Mudug)

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Generell hat die Regierung von Galmudug die Kontrolle über die Städte Dhusamareb, Cadaado, Matabaan und Cabudwaaq. Die Städte Dhusamareb und Guri Ceel sind weitgehend frei von al Shabaab. In Dhusamareb befindet sich das Hauptquartier einer Division der Bundesarmee sowie eine Garnison von ATMIS-Truppen aus Dschibuti; letztere soll allerdings mittelfristig abgezogen werden. Die Städte Cadaado und Galkacyo können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (BMLV 1.12.2023). Zwei Quellen der FFM Somalia 2023 bezeichnen Dhusamareb als sicher (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Ende August 2023 ist es in mehreren Städten von Galmudug (u.a. in Galkacyo, Guri Ceel, Cabudwaaq und Balanbaale) zu öffentlichen Demonstrationen gegen al Shabaab und in Unterstützung der Regierungsoffensive gekommen (Halqabsi 28.8.2023).

Zur laufenden Offensive in Zentralsomalia siehe Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Ahlu Sunna Wal Jama’a (ASWJ): ASWJ ist eine moderate Sufi-Miliz (AA 15.5.2023). Sie griff im Mai 2022 Regierungsposten in Dhusamareb an (HIPS 24.3.2023). Die staatlichen Kräfte konnten ASWJ vertreiben und sind in Richtung Bohol nachgestoßen (UNSC 1.9.2022a), ASWJ wurde besiegt (HIPS 24.3.2023). Die Spannungen haben sich mit der (neuerlichen) mehrheitlichen Auflösung der ASWJ gelegt. Generell hat die Gruppe kein politisches Gewicht mehr (BMLV 9.2.2023). Die im Jänner 2023 erschienene Lagekarte von PGN verortet verbliebene Kräfte der ASWJ lediglich im Ort Bohol in Galgaduud (PGN 23.1.2023).

Clans: Im August 2022 kam es in den Bezirken Cabudwaaq und Cadaado zu mehrere Tage anhaltenden Kämpfen zwischen zwei Clans. Der Konflikt hatte sich um Brunnen und Weiderechte entflammt und wurde schließlich mit Unterstützung durch die Regierung von Galmudug bzw. durch die Entsendung von Sicherheitskräften beendet. Die Kämpfe forderten mehr als ein Dutzend Todesopfer (RD 28.8.2022).

Gebietskontrolle und al Shabaab: Cadaado, Dhusamareb, Cabudwaaq, Hobyo, Xaradheere und Ceel Dheere befinden sich unter Kontrolle von ATMIS und/oder Regierungstruppen (PGN 23.1.2023). Al Shabaab wurde von der Hauptverbindungsroute Belet Weyne - Dhusamareb abgedrängt und auch von der Küste und aus den Orten Ceel Huur, Hobyo und Xaradheere verdrängt. Ceel Dheere, Galcad und Xaradheere wurden alle am 16.1.2023 von Regierungskräften eingenommen (BMLV 9.2.2023). Allerdings fielen Ceel Dheere, Galcad und Ceel Buur danach wieder an al Shabaab (BMLV 1.12.2023).

Im Zentrum der Region Mudug (westlich der Linie Wisil - Miroon bzw. südlich der Achse Baxdo - Dhusamareb befinden sich noch Räume von al Shabaab. Gleiches gilt in Galgaduud für die Gebiete im Nordwesten der gedachten Linie Ceel Dheere - Galcad - Maxaas. Der Großraum Ceel Buur bis Xiindheere gilt als Gebiet der al Shabaab (BMLV 1.12.2023). Die Kontrolle von al Shabaab beschränkt sich damit auf den Bezirk und die Stadt Ceel Buur sowie auf Teile der Bezirke Ceel Dheere und Xaradheere (PGN 23.1.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023).

Galkacyo: Puntland und Galmudug haben im Juni 2020 eine Einigung erzielt, um vergangene Streitpunkte beizulegen (PGN 10.2020). Die Sicherheitslage in Galkacyo hat sich seit Anfang 2021 stabilisiert. Generell hat sich die Kooperation zwischen den Verwaltungen und Sicherheitskräften von Galmudug und Puntland wesentlich verbessert, dadurch konnten auch Mitglieder der al Shabaab in Galkacyo aufgespürt und verhaftet werden. Ob al Shabaab in Galkacyo Steuern eintreibt, ist unklar; es kommt sehr selten zu Attentaten. Die Gruppe hat dort an Kraft eingebüßt und konnte weder im Nord- noch im Südteil der Stadt die Unterstützung der Bevölkerung mobilisieren (BMLV 9.2.2023).

Eine Quelle der FFM Somalia 2023 bezeichnet Galkacyo als nicht stabil (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab verübt weiterhin Attentate in der Stadt (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vgl.INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Zwei Quellen erklären, dass sich die Situation in der Stadt gebessert hat, nicht aber am Stadtrand und in den Dörfern des Umlandes (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023). Es gibt dort immer noch Einfluss von und Angst vor al Shabaab, und auch nach wie vor Clankonflikte (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer anderen Quelle hat die Gruppe im Norden von Galmudug einen schwächeren Zugriff als im Süden des Landes (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Jedenfalls haben die politischen Probleme in Puntland auch Auswirkungen auf die Lage in Galkacyo. An der Grenze von Galmudug zu Puntland gibt es anhaltende Clankonflikte. Dies hat sich zuletzt wieder im Oktober 2023 rund um Galdogob zwischen Lelkase und Habr Gedir / Sa'ad erwiesen (BMLV 1.12.2023).

Vorfälle: In den beiden Regionen Galgaduud (689.872) und Mudug (1,317.403) leben nach Angaben einer Quelle 2,007.275 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2021 insgesamt 43 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei 28 dieser 43 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2022 waren es 51 derartige Vorfälle (davon 33 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und violence against civilians ergeben sich für 2022 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): Mudug 1,52; Galgaduud 4,49;

In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2022 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie "violence against civilians", in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt:

Al Shabaab

Letzte Änderung 2024-01-03 09:48

Zur Offensive in Zentralsomalia siehe Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Al Shabaab ist mit al-Qaida affiliiert (THLSC 20.3.2023) und wird häufig und korrekterweise als die größte zu al-Qaida zugehörige Gruppe bezeichnet (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023). Die Gruppe weist eine stärkere innere Kohärenz auf als die Bundesregierung und einige der Bundesstaaten. Al Shabaab nutzt erfolgreich lokale Missstände, um taktische Allianzen zu schmieden und Kämpfer zu rekrutieren (Sahan/SWT 27.3.2023). Die Gruppe erkennt die Bundesregierung nicht als legitime Regierung Somalias an (UNSC 10.10.2022) und lehnt die gesamte politische Ordnung Somalias, die sie als unislamisch bezeichnet, ab (Sahan/SWT 9.6.2023). Al Shabaab wendet eine Strategie des asymmetrischen Guerillakriegs an, die bisher sehr schwer zu bekämpfen war. Zudem bietet die Gruppe in den Gebieten unter ihrer Kontrolle Sicherheit und eine grundlegende Regierungsführung (Sahan/SWT 27.3.2023).

Al Shabaab ist eine mafiöse Organisation, die Schutzgelder im Austausch für Sicherheits-, Sozial- und Finanzdienstleistungen verlangt. Ihre konsequente Botschaft ist, dass die Alternative - die Bundesregierung - eigennützig und unzuverlässig ist (Sahan/SWT 25.8.2023). Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias (BMLV 9.2.2023) bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen extremen Interpretation des Islams und der Scharia in "Großsomalia" (USDOS 15.5.2023) und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia (CFR 6.12.2022). Al Shabaab ist eine tief verwurzelte, mafiöse Organisation, die in fast allen Facetten der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik integriert ist (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Die Gruppe ist vermutlich die reichste Rebellenbewegung in Afrika (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 finanziert al Shabaab die al-Qaida - und nicht anders herum (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Ausländische Kämpfer haben nur noch einen begrenzten Einfluss in der Gruppe; und die Beziehungen zur al-Qaida haben sich nachhaltig geändert (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah (BBC 15.6.2023). Al I'ttisam gilt als ideologischer Bruder von al Shabaab (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023).

Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin den größeren Teil Süd-/Zentralsomalias (BMLV 9.2.2023; vergleiche Rollins/HIR 27.3.2023) und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (BMLV 9.2.2023). Gleichzeitig ist die Zahl der unter direkter Kontrolle von al Shabaab lebenden Menschen laut einer (anonymen) Quelle drastisch zurückgegangen. Früher lebten noch rund eine Million Menschen in deren Gebieten, heute sind es - v.a. aufgrund von Abwanderungen und Flucht im Rahmen der Dürre - noch etwa 500.000 (AQ21 11.2023).

Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit (ACCORD 31.5.2021; vergleiche FP 22.9.2021). römisch fünf.a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben (FP 22.9.2021). Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (BS 2022a). [Zur Gerichtsbarkeit der al Shabaab siehe auch Süd-/Zentralsomalia, Puntland]

Im eigenen Gebiet hat die Gruppe umfassende Verwaltungsstrukturen geschaffen (AQ21 11.2023; vergleiche BS 2022a). Dort übt al Shabaab alle Grundfunktionen einer normalen Regierung aus: Sie hebt Steuern ein, bietet Sicherheit und sorgt mitunter für Sozialhilfe für bedürftige Bevölkerungsgruppen (Rollins/HIR 27.3.2023). Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten (Schwartz/HO 12.9.2021). Die Gruppe investiert daher in lokale Regierungssysteme. Al Shabaab setzt Zwang und Überredung ein, um die Treue zum Clan zu erzwingen. Im Gegenzug bietet die Gruppe ihre eigene Art von "Recht und Ordnung" sowie bescheidene Grunddienstleistungen (Sahan/SWT 30.6.2023). Durch das Anbieten öffentlicher Dienste - v.a. hinsichtlich Sicherheit und Justiz - genießt al Shabaab in einigen Gebieten ein gewisses Maß an Legitimität. Mit der Hisba verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Offensichtlich führt al Shabaab auch eine Art Volkszählung durch. Auf den diesbezüglich bekannten Formularen müssen u.a. Clan und Subclan, Zahl an Kindern in und außerhalb Somalias, Quelle des Haushaltseinkommens und der Empfang von Remissen angegeben werden (UNSC 10.10.2022). Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (AA 15.5.2023).

Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität (BMLV 9.2.2023; vergleiche JF 18.6.2021). Die Unterdrückung von Clankonflikten ist ein Bereich, in welchem die Gruppe Erfolge erzielen konnte. Z.B. wurde ein Waffenstillstand zwischen Clans in den Distrikten Adan Yabaal und Moqokori, HirShabelle, durchgesetzt; und in Galmudug hat al Shabaab Älteste bestraft, deren Clanmitglieder sich an Clankriegen beteiligt haben (SW 3.2023). Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BMLV 9.2.2023). Hinsichtlich Korruption ist die Gruppe sehr aufmerksam (AQ21 11.2023).

Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung (Bryden/TEL 8.11.2021). Al Shabaab hat etwa als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie Gesundheitszentren eingerichtet und führt sogar Schulen und Programme, um Mitglieder zur Ausbildung an Universitäten im Ausland zu schicken (Rollins/HIR 27.3.2023). Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (C4/Jamal 15.6.2022). Gemäß anderer Angaben schränkt al Shabaab die Freiheiten von Frauen und Mädchen allgemein stark ein, bietet aber in einigen Fällen eine anders nicht vorhandene Form des Schutzes vor sexueller Gewalt und Entführung (SW 3.2023).

Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiter bestehen (USDOS 20.3.2023). Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen (AQ21 11.2023; vergleiche SPC 9.2.2022). Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen (SPC 9.2.2022). Gemäß den Angaben einer Quelle der FFM 2023 hat sich al Shabaab etwa gezielt an Minderheiten gewendet, die nicht von der Regierung repräsentiert werden. Die Gruppe hat sich so im Süden die Loyalität jeder einzelnen Minderheit erkauft (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Generell steht bei Entscheidungen immer die Sicherheit des eigenen Clans als höchstes Ziel im Vordergrund. Manche Clans schließen sich freiwillig al Shabaab an; mit anderen Clans hat al Shabaab Abkommen geschlossen (AQ21 11.2023). Und wieder andere Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Suldaan, Ugaas, Wabar) und stattet Letztere mit z.B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (UNSC 6.10.2021). Dazu erklärt eine Quelle der FFM Somalia 2023, dass al Shabaab in den meisten Teilen Süd-/Zentralsomalias über 'eigene' Älteste verfügt. Es werden parallele Clanführungsstrukturen unterhalten - und zwar in allen Gebieten, in denen al Shabaab aktiv ist. Manchmal sind dann die eigentlichen Ältesten zur Flucht gezwungen. Die von al Shabaab eingesetzten Ältesten dienen der Konfliktlösung und polizeilicher Arbeit sowie dem Standeswesen (Eheschließungen, Scheidungen). Sie können vor den Gerichten der al Shabaab auch eigene Clanmitglieder vertreten. Und wenn ein Clanmitglied ein Problem mit al Shabaab hat, dann wendet es sich an den entsprechenden Ältesten, der sich wiederum an al Shabaab wendet (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft (Sahan/SWT 30.6.2022). Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel (ACCORD 31.5.2021). Die Präsenz von al Shabaab bietet besorgten Gemeinden eine Form der Schirmherrschaft und des Schutzes, welche die somalische Regierung nur sporadisch gewähren kann. Die Gruppe verspricht Vorteile und faire Behandlung für diejenigen, die ihren Geboten folgen. Allen anderen droht sie mit Vergeltung (Sahan/SWT 25.8.2023).

Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und ATMIS bzw. AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk (Maruf/Westminster 14.11.2018). Der Gouverneur von Bakool gibt im März 2023 an, dass seiner Einschätzung nach al Shabaab über mindestens 20.000 Kämpfer verfügt. Der nationale Sicherheitsberater des Präsidenten gibt die Zahl hingegen mit 10.000 von einst 14.000, die es noch vor einigen Jahren gewesen sind (VOA/Maruf 14.3.2023). Auch eine andere Quelle berichtet von 14.000 - "doppelt so viele wie noch vor drei Jahren". Allerdings finden sich demnach darunter viele zwangsrekrutierte Kinder (Detsch/FP 23.8.2023). Das US-Afrikakommando berichtet von 10.000 Kämpfern (Sahan/SWT 8.9.2023). Eine andere Quelle berichtet im von einer Stärke von 7.000-12.000 Mann (JF 31.3.2023); eine weitere Quelle bestätigt diese Zahl (BMLV 9.2.2023). Schließlich nennt eine Quelle eine Zahl von 5.000-10.000 gut bewaffneten Kämpfern (Williams/ACSS 17.4.2023) und eine letzte 7.000 "Vollzeitkämpfer" (AQ21 11.2023). Die Kämpfe der letzten Monate haben bei al Shabaab erhebliche Spuren hinterlassen. Die Angaben der Bundesregierung von angeblich 3.500 getöteten Kämpfern von al Shabaab seit Juni 2022 müssen allerdings angezweifelt werden. Zur Kompensation rekrutiert die Gruppe jedenfalls neue Kräfte (BMLV 1.12.2023). Insgesamt sind die Zahlen also sehr unterschiedlich. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass al Shabaab über zahlreiche "Teilzeitkräfte" und "Freiberufler" verfügt, die nur bei Bedarf zum Einsatz kommen. Ein Experte schätzt die Gesamtzahl allen verfügbaren Personals auf 25.000-30.000 (AQ21 11.2023).

Generell hat al Shabaab die somalische Gesellschaft dermaßen tief infiltriert, dass es schwierig oder sogar unmöglich ist, zu erkennen, wer Mitglied der Gruppe ist. Hinzugezählt werden die Kämpfer der Armee (jabahat), die Agenten des Amniyat und die Polizisten (Hisba); alle Schätzungen zur Größe von al Shabaab scheinen sich auf dieses Personal zu konzentrieren. Doch die Gruppe verfügt auch über einen beträchtlichen Kader, der nicht direkt an der Gewalt beteiligt ist, aber für die Reichweite der Organisation in Somalia gleichermaßen wichtig ist. Es handelt sich um eine komplexe Organisation, die eine Mischung aus Terroristengruppe, Rebellenorganisation, Mafia und Schattenregierung ist. Und es gibt Personal für all diese Funktionen. Al Shabaab beschäftigt u.a. Verwaltungsbeamte, Richter und Steuereintreiber. Der Amniyat verfügt neben Agenten über Doppelagenten, Quellen und Informanten, die in die Institutionen, die Wirtschaft und die ganze Gesellschaft Somalias eingedrungen sind. Einige arbeiten heimlich, in Teilzeit oder auf Ad-hoc-Basis mit der Gruppe zusammen. Sie bewegen Nachschub, überbringen Nachrichten und berichten über alles - von der Zusammenarbeit mit der Regierung bis hin zur Wirtschaftstätigkeit. Es ist unmöglich, sie zu zählen (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023).

Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen ATMIS manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyat über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BMLV 1.12.2023). Der Amniyat ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Er ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig (JF 18.6.2021). Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen (UNSC 6.10.2021; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (Maruf/Westminster 14.11.2018).

Gebiete: Al Shabaab verfügt weiterhin über ein starkes Hinterland (AQ21 11.2023). Die Gruppe wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat sie dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen (BMLV 1.12.2023). Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und - in sehr geringem Maße - Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und - in sehr geringem Maße - Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (PGN 23.1.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023).

Gemeinschaften, die unter der Kontrolle von al Shabaab stehen, werden häufig vom Rest Somalias und von der internationalen Unterstützung abgekoppelt. Die Kontrollpunkte und Blockaden der militanten Gruppe schränken den Personen- und Warenverkehr ein (Sahan/SWT 15.9.2023). In Gebieten, die an von der Regierung kontrollierte und von al Shabaab unter Blockade gestellte Städte grenzen, hat die Gruppe strenge Regeln hinsichtlich ökonomischer und beruflicher Tätigkeiten eingeführt. Al Shabaab setzt diese mit Drohungen und Gewalt durch und bestraft jene, die diese Regeln brechen (UNSC 10.10.2022).

Kapazitäten: Prinzipiell hat al Shabaab wiederholt gezeigt, dass sie gegenüber Druck anpassungsfähig und in der Lage ist, sich zurückzuziehen und neu zu formieren, bevor sie zurückschlägt (Sahan/SWT 4.8.2023). Al Shabaab ist weiterhin in der Lage, komplexe Angriffe z.B. in und um Mogadischu durchzuführen. Die Fähigkeit der Gruppe, Waffen zu beschaffen und Kämpfer neu zu verteilen, bleibt weitgehend intakt (Sahan/SWT 22.5.2023). Dabei geht die Einflusssphäre der Gruppe über jene Gebiete, die sie tatsächlich unter Kontrolle hat, hinaus (UNSC 10.10.2022). Der Amniyat hat die Politik, lokale Behörden, Betriebe und Gemeinschaften unterwandert. Dies gilt auch für die NISA (Geheimdienst) und die Polizei. Bis zu 30 % der Polizisten in Mogadischu sind demnach kompromittiert (Williams/ACSS 17.4.2023).

Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Das Einsatzgebiet von der Gruppe ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern (ACCORD 31.5.2021). Gemäß einer Quelle verfügt al Shabaab bei Clans über Verbindungsleute (Kilmurry/RUSI 1.4.2022); laut einer anderen Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus (Landinfo 21.5.2019). Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen (BMLV 1.12.2023). Al Shabaab funktioniert in nahezu ganz Südsomalia als Schattenregierung bzw. -Verwaltung (GITOC/Bahadur 8.12.2022). "Kontrolliert" wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch "exemplarische Gewalt", etwa bei Körperstrafen; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung. All das erfolgt aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (ACCORD 31.5.2021). Dort wo al Shabaab nicht in der Lage ist, ein angemessenes Maß an Gewaltandrohung glaubhaft darstellen zu können, sind die Erpressungsversuche auch weniger erfolgreich. So lehnen etwa Wirtschaftstreibende, die ausschließlich in Baidoa und Kismayo agieren, Zahlungsforderungen mitunter ab (Williams/ACSS 17.4.2023). Zudem hat die Gruppe aus vergangenen Fehlern gelernt und so die Kontrolle über einige Gebiete zurückerlangt, die sie 2022 verloren hat. Einige Übereinkommen mit Clans in Zentralsomalia wurden wieder aufgenommen. Al Shabaab hebt weiter illegale Steuern ein, ohne dabei so weit zu gehen, lokale Clans zu gewalttätigem Widerstand zu provozieren. Die Gruppe ist nun darauf bedacht, die Gemeinschaften, von denen sie abhängig ist, nicht zu sehr auszubeuten (Sahan/SWT 12.6.2023).

Al Shabaab gilt als "wohlhabend", verfügt über einen finanziellen Polster und damit auch über einen Hebel hinsichtlich Neurekrutierungen (AQ21 11.2023).

Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen ("Steuern")]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem. Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022a). Al Shabaab führt ein Register über den Besitz "ihrer" Bürger, um darauf jährlich 2,5 % Zakat zu beanspruchen (Williams/ACSS 17.4.2023). Das Steuersystem der Gruppe hat sich immer mehr entwickelt – bis hin zu Eigentumssteuern (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Schätzungen von Experten zufolge nimmt al Shabaab alleine an Checkpoints pro Jahr mehr als 100 Millionen US-Dollar ein (GITOC/Bahadur 8.12.2022; vergleiche Williams/ACSS 17.4.2023). Laut einer anderen Schätzung kann al Shabaab jährlich bis zu 120 Millionen US-Dollar generieren (VOA 17.5.2022). Nach anderen Angaben geht die US-amerikanische Regierung davon aus, dass al Shabaab alleine in Mogadischu bis zu 100 Millionen US-Dollar im Jahr einbringt (Detsch/FP 23.8.2023). Gemäß Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 lukriert die Gruppe sogar rund 180 Millionen US-Dollar pro Jahr - bei Ausgaben von nur etwa 100 Millionen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle bestätigt diese Angaben (Rollins/HIR 27.3.2023). Al Shabaab investiert einen Teil ihres Budgets in Immobilien und Klein- und Mittelbetriebe (Williams/ACSS 17.4.2023).

Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen (UNSC 6.10.2021). Die Gruppe hebt in 10 von 18 somalischen Regionen Steuern ein (Williams/ACSS 17.4.2023). Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh (BS 2022a; vergleiche UNSC 6.10.2021); sowie auf manche Dienstleistungen (HIPS 2020). Al Shabaab erhebt Steuern auf Importe (Williams/ACSS 17.4.2023). Für jeden Container, der in Mogadischu anlandet, müssen Abgaben an al Shabaab entrichtet werden. Die Gruppe erpresst Schutzgeld auf alles, was 'segelt, rollt oder sich bewegt' (Detsch/FP 23.8.2023) sowie vom Bauwesen bzw. von Baufirmen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023) und am Immobiliensektor generell (Williams/ACSS 17.4.2023). Auch Beamte und kleine Unternehmen müssen Geld abführen (Detsch/FP 23.8.2023). Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (HI 1.10.2020).

Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (WP 31.8.2019). Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen (Bryden/TEL 8.11.2021). Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat (Weiss/FDD 11.8.2021). Die Gruppe baut auf ihre Reputation der Omnipräsenz und Einschüchterung - typisch für eine mafiöse Organisation. Der Zakat wird vom Amniyat durchgesetzt – und zwar durch Einschüchterung und Gewalt. Bei Zahlungsverweigerung droht die Ermordung (Williams/ACSS 17.4.2023). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass es al Shabaab in der Vergangenheit diesbezüglich zu weit getrieben hat. In manchen Landesteilen war die Gruppe zu gierig und brachte die Bevölkerung gegen sich auf. Al Shabaab schreckt nicht davor zurück, Menschen durch Gewalt gefügig zu machen. Menschen werden entführt, Vieh weggenommen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Teilweise flieht die Bevölkerung vor der Besteuerung (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Eine Quelle gibt an, dass al Shabaab in Folge des Aufstands der Macawiisley nun einen weniger autoritären Umgang mit den Clans pflegt und sich die Gruppe demnach den Umständen angepasst hat (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Wirtschaftsmacht al Shabaab - Quellen der FFM Somalia 2023 erklären: Mit einer neuen Gesetzgebung hat die Regierung Zahlungen an al Shabaab verboten; zudem gibt es entsprechende Kampagnen gegen Zahlungen an die Gruppe (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Zusätzlich droht die Regierung den Wirtschaftstreibenden, und einige von ihnen haben in Mogadischu aufgehört, Geld an al Shabaab abführen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Die Bundesregierung bekämpft die Gruppe also auf finanzieller Ebene. Auch einige Konten von al Shabaab wurden eingefroren (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Nun versucht die Gruppe, in den Gebieten unter ihrer Kontrolle so viel wie möglich von der Bevölkerung zu erpressen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Tatsächlich gibt es bei der finanziellen Bekämpfung von al Shabaab allerdings erhebliche Schwierigkeiten (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die ganze Wirtschaft ist von al Shabaab abhängig, wenn es z.B. um den Warentransport geht (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Zudem sind die tief wurzelnden Strukturen der Gruppe im Wirtschaftsbereich Mogadischus nur schwer zu beseitigen (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die ganze Wirtschaft in der Hauptstadt zahlt Steuern an al Shabaab (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Und auch viele Menschen führen weiterhin 'Steuern' an die Gruppe ab, weil sie nicht davon ausgehen, dass die Regierung in der Lage ist, sie vor al Shabaab zu schützen. Denn bis zuletzt galt: Bei Nichtzahlung drohen Konsequenzen, z.B. die Zerstörung von Eigentum oder Betriebsmitteln. Oder aber al Shabaab sorgt dafür, dass Unternehmen keine Aufträge mehr erhalten. Wirtschaftstreibende verschweigen es üblicherweise, wenn sie Geld an al Shabaab abführen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Die Rebellion von al Shabaab hat mit 20 Jahren die durchschnittliche Lebensdauer von Rebellionen überstiegen. Möglicherweise sucht die Gruppe neue Orientierung. Al Shabaab ist kaum mehr in der Lage, die ideologische Karte zu spielen bzw. die Idee der Schaffung eines islamischen Staates zu propagieren. Sie schafft sich also ein Wirtschaftsimperium, denn al Shabaab verfügt über entsprechende Kompetenzen. Morde gegen Bezahlung scheinen für al Shabaab zum Geschäftsmodell zu werden. Zudem hat die Gruppe in vielen Sparten investiert, Reichtümer angehäuft (Sahan/STDOK/SEM 4.2023) und betreibt einige Unternehmen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Mittlerweile erscheint die Gruppe eher als "Wagner-style mafia" (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine andere Quelle erklärt, dass al Shabaab außerhalb des eigenen Gebietes wie ein Kartell bzw. wie eine Mafia agiert. Für al Shabaab ist es nicht schwierig, eine Telefonnummer zu bekommen. So kann die Gruppe jede Person erreichen. In Mogadischu rufen sie z.B. Mitarbeiter einer Quelle an und sagen: "Kommen Sie zum Ort römisch zehn und geben sie uns 2.000 US-Dollar." In anderen Gebieten hat al Shabaab einen direkteren Zugriff (IO-D/STDOK/SEM 4.2023).

Rechtsschutz, Justizwesen

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2023-03-17 07:20

Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden (AA 28.6.2022, Sitzung 5). Der Hauptgrund, weswegen Menschen Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen, ist es, dass die Regierung Einzelpersonen und Betriebe nicht ausreichend Sicherheit bieten kann (UNSC 10.10.2022, Absatz 46,). Der fehlende Zugang zu einem fairen und gerechten Justizsystem ist eines der dringendsten Probleme, mit denen Somalia auf dem Weg zu Stabilität und Wiederaufbau konfrontiert ist (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 61).

Die Rechtsordnung in Somalia richtet sich nach einer Mischung des von 1962 stammenden nationalen Strafgesetzbuches sowie traditionellem („Xeer“) und islamischem Gewohnheitsrecht (Scharia) (AA 17.5.2022; vergleiche BS 2022, Sitzung 16; USDOS 2.6.2022, Sitzung 3). Nach dem Kollaps des Staates im Jahr 1991 kollabierte in weiten Teilen des Landes auch das formelle Recht. Gleichzeitig stieg die Bedeutung von Scharia und Xeer. Die Scharia bildet die Grundlage jeder Rechtssprechung, und der Staat muss sich religiösen Normen beugen (BS 2022, Sitzung 9). Aufgrund des Versagens und der Ineffektivität der formellen staatlichen Justiz sind traditionelles Recht, islamische Rechtsprechung und Gerichte von al Shabaab häufige Quellen für Streitbeilegungen (HIPS 3.2021, Sitzung 13; vergleiche LI 16.6.2021, Sitzung 2; SPC 9.2.2022).

Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung von 2012 niedergeschrieben. Allerdings ist die Verfassungsrealität eine andere (AA 28.6.2022, Sitzung 8; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 11f), und es gibt keine strenge Trennung der Gewalten, weder auf Bundes- noch auf Bundesstaatsebene. Ebenso gibt es keine landesweite Rechtsstaatlichkeit (BS 2022, Sitzung 16). Diese wird von al Shabaab etwa durch die Einhebung von Steuern und die Durchsetzung von Urteilen eigener Gerichte untergraben. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen (HI 10.2020, Sitzung 9f). Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (ÖB 11.2022, Sitzung 10f).

Formelle Justiz - Kapazität, Qualität, Unabhängigkeit: Eine landesweite Implementierung und einheitliche Anwendung der von der somalischen Bundesregierung vorgegebenen Bestimmungen ist nicht gesichert (AA 17.5.2022). Den meisten staatlichen Gerichten mangelt es an Durchsetzbarkeit, manchmal werden Urteile gänzlich ignoriert – ohne Konsequenzen (Sahan 21.11.2022). Durchgesetzt wird formelles Recht eher noch im urbanen als im ländlichen Kontext (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 36). De facto gibt es kein funktionierendes formelles Justizsystem (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 61). Nach anderen Angaben verfügt die somalische Justiz über sehr begrenzte Kapazitäten (LI 16.6.2021, Sitzung 2). In den vergangenen zehn Jahren wurden in Mogadischu Gerichte auf Bezirksebene und einige Gerichte in anderen Städten eingerichtet (BS 2022, Sitzung 16). Es gibt nur wenige staatliche Gerichte, Menschen müssen oft weite Reisen in Kauf nehmen (Sahan 21.11.2022). Generell sind Gerichte nur in größeren Städten verfügbar (BS 2022, Sitzung 9; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 11). Der Verfassungsgerichtshof ist immer noch nicht eingerichtet worden (HIPS 3.2021, Sitzung 10).

Bestehende Gerichte verfügen oft nicht über eine ausreichende Infrastruktur, es mangelt an Standorten, Richtern und relevanter Technologie. Gleichzeitig kosten Verfahren bis zu 5.000 US-Dollar und diese können sich über Jahre hinziehen (Sahan 21.11.2022; vergleiche AJ 14.9.2022b). An allen Gerichten mangelt es dem Personal an Ausbildung (BS 2022, Sitzung 17; vergleiche LIFOS 1.7.2019, Sitzung 4). Oft werden Richter und Staatsanwälte nicht aufgrund ihrer Qualifikation ernannt (SIDRA 11.2019, Sitzung 5). Aufbau, Funktionsweise und Effizienz des Justizsystems entsprechen nicht den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes (AA 28.6.2022, Sitzung 4). Es gibt zwar einen Instanzenzug, aber in der Praxis werden Zeugen eingeschüchtert und Beweismaterial nicht ausreichend herbeigebracht und gewürdigt (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Das Justizsystem ist zersplittert und unterbesetzt (FH 2022a, F1). Die meisten der in der Verfassung vorgesehenen Rechte für ein faires Verfahren werden bei Gericht nicht angewendet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 12f). Nationales oder internationales Recht werden bei Fest- oder Ingewahrsamnahme sowie beim Vorgerichtstellen von Tatverdächtigen nur selten eingehalten (AA 28.6.2022, Sitzung 10/15; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 12f).

In den tatsächlich von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Richter einer vielfältigen politischen Einflussnahme durch staatliche Amtsträger ausgesetzt (AA 28.6.2022, Sitzung 8), und nicht immer respektiert die Regierung Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz (USDOS 12.4.2022, Sitzung 11). Das Clansystem unterminiert die Strafjustiz. Clanführer üben Macht und Einfluss aus (Sahan 16.9.2022; vergleiche Sahan 21.11.2022), und Urteile werden mitunter durch Clan- oder politischen Überlegungen seitens der Richter beeinflusst (BS 2022, Sitzung 17; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 11; FH 2022a, F2). Einige lokale Gerichte sind bei ihrer Rechtsdurchsetzung vom örtlich dominanten Clan abhängig (USDOS 12.4.2022, Sitzung 11).

Zudem spielt in der somalischen Justiz Korruption eine Rolle (Sahan 21.11.2022; vergleiche BS 2022, Sitzung 17; FH 2022a, F1). Diese behindert den Zugang zu fairen Verfahren (USDOS 12.4.2022, Sitzung 12; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Richter und Staatsanwälte verlangen mitunter Bestechungsgelder (SIDRA 11.2019, Sitzung 5). In einigen Fällen wurden Häftlinge entlassen, nachdem sich Sicherheitskräfte, Angehörige der Justizwache, Politiker oder Clanälteste für sie eingesetzt hatten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 9; vergleiche SIDRA 11.2019, Sitzung 5). Zusätzlich halten sich Behörden oft selbst nicht an gerichtliche Anordnungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 11; vergleiche FH 2022a, F1). In anderen Worten ist [Zitat] 'die somalische Justiz ein Marktplatz, an welchem Gefallen, Einfluss und Geld ausgetauscht werden' (Sahan 9.4.2021). Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen (BS 2022, Sitzung 16). Insgesamt stehen Zivilisten also ernsten Mängeln beim Rechtsschutz gegenüber (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). In der Bevölkerung herrscht die Auffassung, dass Bundes- und Regionalregierungen bislang daran scheitern, Recht zu sprechen (AJ 14.9.2022b). Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung (FH 2022a, F1).

UNODC leistet Weiterbildung für Staatsanwälte und Richter in Mogadischu (FTL 24.7.2022), und auch UNSOM trägt zur Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten bei (UNSC 1.9.2022, Absatz 71 f, f,). In Mogadischu konnten hinsichtlich der Qualität der Richter Verbesserungen beobachtet werden (Majid 26.3.2021). Seit 2016 ist es zu einer signifikanten Ausweitung von unentgeltlicher Rechtshilfe gekommen, allerdings ist das Ausmaß immer noch unzureichend (UNOHCHR 25.11.2022). UNDP unterstützt in Puntland seit 2007 das Puntland Legal Aid Centre (PLAC). Dieses hilft vulnerablen, armen und benachteiligten Menschen in IDP-Lagern und entlegenen Gegenden. Das PLAC hat Büros in Garoowe, Bossaso und Galkacyo (UNSOM 12.11.2022).

Beispiel Kismayo: In dieser Stadt gibt es zwei Bezirksgerichte, ein Obergericht und ein Berufungsgericht. Zudem existieren ein Ältestenkomitee, wohin Streitigkeiten getragen werden können (Xeer) und private Schariagerichte. Die drei Justizsysteme koordinieren sich unter dem Schirm der formellen Gerichte, endgültige Entscheidungen werden von diesen getroffen. Abseits davon wurde ein spezielles Land-Komitee geschaffen, das sich mit komplexen und sensiblen Streitigkeiten um Land befasst. Dieses Komitee verfügt über eine eigene Polizeieinheit, um Beschlüsse durchzusetzen (Majid 26.3.2021).

Formelle Justiz - Militärgerichte: Grundsätzlich sind Militärgerichte für Fälle von islamistischem Terrorismus und Milizgewalt zuständig (BS 2022, Sitzung 16). Allerdings verhandeln und urteilen sie weiterhin über Fälle jeglicher Art. Darunter fallen auch zivilrechtliche Fälle, die eigentlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen (AA 28.6.2022, Sitzung 9; vergleiche BS 2022, Sitzung 16; FH 2022a, F2; UNOHCHR 25.11.2022), bzw. wo unklar ist, ob diese in ihren Zuständigkeitsbereich fallen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3). Nach anderen Angaben widerspricht der Einsatz von Militärgerichten oftmals der Übergangsverfassung (Sahan 16.9.2022). Verfahren vor Militärgerichten entsprechen teilweise nicht den international anerkannten Standards für faire Gerichtsverfahren (AA 28.6.2022, Sitzung 9; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; HRW 13.1.2022; FH 2022a, F2: UNOHCHR 25.11.2022). Angeklagten wird nur selten das Recht auf eine Rechtsvertretung oder auf Berufung zugestanden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 13; vergleiche UNOHCHR 25.11.2022). Laut einem Bericht über ein von einem Militärgericht gegen einen Soldaten ausgesprochenen Todesurteil wurde diesem ein Monat Berufungsfrist eingeräumt (HO 4.12.2022).

Traditionelles Recht (Xeer): Das informelle Justizsystem (Scharia und Xeer) spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung von Gerechtigkeit. 90 % der Somali bevorzugen das informelle System, denn dieses ist leichter zugänglich und schneller (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 61; vergleiche SPC 9.2.2022). Durch Älteste und al Shabaab werden selbst in Mogadischu mehr Fälle abgewickelt als durch formelle Gerichte (Majid 26.3.2021). Auch für den sozialen Frieden bzw. den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist Xeer von Bedeutung (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 61; vergleiche SPC 9.2.2022). Es wird angenommen, dass Xeer schon vor islamischen oder kolonialen Ordnungen existiert hat. In der provisorischen Verfassung wird Xeer als traditioneller Konfliktlösungsmechanismus anerkannt. Im Jahr 2017 hat die Bundesregierung eine Policy zu traditioneller Konfliktlösung verabschiedet. Damit sollte die Anwendung von Xeer reguliert und auf "nicht-schwere" Verbrechen begrenzt werden. Tatsächlich ist die Anwendung des Xeer auf Strafverbrechen nicht standardisiert (USDOS 2.6.2022, Sitzung 3). Jedenfalls können etwa Mordfälle von Ältesten im Xeer abgehandelt werden, oft enden die Verhandlungen mit einer finanziellen Kompensation (Diya/Mag). Dieses System verhindert zwar oft weiteres Blutvergießen, führt aber gleichzeitig zu Straflosigkeit und unterminiert die Strafjustiz (Sahan 16.9.2022).

Im Xeer werden Vorbringen von Fall zu Fall verhandelt und von Ältesten implementiert (BS 2022, Sitzung 16). Clanälteste sehen sich örtliche Präzedenzfälle an, bevor sie die relevanten Passagen der Scharia heranziehen (USDOS 2.6.2022, Sitzung 3). Jedenfalls dient diese Art der Justiz im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 12). Xeer ist insbesondere in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Aber auch in den Städten wird Xeer oft zur Konfliktlösung – z. B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern – angewendet (SEM 31.5.2017, Sitzung 34). Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität (BFA 8.2017, Sitzung 100). Es kommt auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren. In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 7), in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 4). Es ist möglich, sich selbst bei schweren Verbrechen (Mord, Vergewaltigung) und nach einer Verurteilung durch ein staatliches Gericht im Rahmen des traditionellen Rechts freizukaufen bzw. die Strafe durch Kompensation zu tilgen (AE 7.9.2022). Frauen werden im Xeer insofern benachteiligt, als sie in diesem System nicht selbst aktiv werden können und auf ein männliches Netzwerk angewiesen sind (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14).

Clanschutz im Xeer: Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z. B. wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen (SEM 31.5.2017, Sitzung 8ff). Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan (FIS 7.8.2020, Sitzung 20). Dies gilt auch bei anderen (Sach-)Schadensfällen. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt (SEM 31.5.2017, Sitzung 8ff).

Der Ausdruck „Clanschutz“ bedeutet in diesem Zusammenhang also traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, Sitzung 31). Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei (SEM 31.5.2017, Sitzung 33). Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14). Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt (SEM 31.5.2017, Sitzung 36). Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen (GIGA 3.7.2018).

Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle (SEM 31.5.2017, Sitzung 8; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 11), denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden (SEM 31.5.2017, Sitzung 35). Die patrilineare Abstammungsgemeinschaft - der Clan - schaltet sich also in Konfliktfällen ein, etwa bei Landkonflikten, Unfällen mit Personenschaden, bei Tötungsdelikten und Vergewaltigungen (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 31).

Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler (LI 15.5.2018, Sitzung 3). Das traditionelle Justizsystem hat für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, Minderheitenclans, Behinderte und IDPs oft negative Auswirkungen (SPC 9.2.2022). Außerdem kann z. B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren (SEM 31.5.2017, Sitzung 35). Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 12). Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv (UNHRC 6.9.2017, Absatz 60,). Zusammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z.B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag (SEM 31.5.2017, Sitzung 32).

In einer Dokumentation der Deutschen Welle berichten Clan-Älteste, dass sie bzw. Sultans im ganzen Clan Geld sammeln. Bei einem Mordfall müssen z. B. 50.000 US-Dollar gesammelt werden. Die Ältesten telefonieren dann mit Clan-Mitgliedern und diese geben jeweils 5-200 US-Dollar. Die Zahlung ist dabei nicht optional, sondern verpflichtend. Bei einer Verweigerung erfolgt eine Bestrafung. Selbst zum Tode verurteilte Mörder können so gerettet werden. Diese bleiben lediglich so lange in Haft, bis der Clan des Opfers das Geld erhält (DW 3.2021). Diese Art des "Fundraising" nennt sich Qaraan (Majid 2017, Sitzung 18).

Scharia: Grundsätzlich dient die Scharia bei Entscheidungen in Familienangelegenheiten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 37). Die Gesetzlosigkeit in Süd-/Zentralsomalia hat jedoch dazu geführt, dass die Scharia nicht mehr nur in Zivil-, sondern auch in Strafsachen zum Einsatz kommt, da die Bezahlung von Blutgeld manchmal nicht mehr als ausreichend angesehen wird (SEM 31.5.2017, Sitzung 34). Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird, bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen (BS 2022, Sitzung 16f). Frauen können im Rahmen der Scharia effektiver Recht bekommen als im sehr patriarchalen und oft auch intransparenten traditionellen Recht (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 32).

Recht bei al Shabaab: In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab verfügt die Gruppe über das Gewaltmonopol – auch hinsichtlich der Durchsetzung von Gerichtsurteilen, denen mit Drohungen und Gewalt Nachdruck verliehen wird (Sahan 21.11.2022). Außerdem wird dort das Prinzip der Gewaltenteilung gemäß der theokratischen Ideologie der Gruppe nicht anerkannt (AA 28.6.2022, Sitzung 8). Al Shabaab hat in den eigenen Gebieten eine drakonische Interpretation der Scharia eingeführt (Sahan 21.11.2022; vergleiche AA 17.5.2022). Diese ersetzt auch Xeer (SEM 31.5.2017, Sitzung 33; ÖB 11.2022, Sitzung 4); nach anderen Angaben kommt Xeer fallweise zum Einsatz (USDOS 2.6.2022, Sitzung 3). Jedenfalls gibt es dort kein formelles Justizsystem (USDOS 12.4.2022, Sitzung 13). Der Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein (SEM 31.5.2017, Sitzung 33f), es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum (LI 21.5.2019a, Sitzung 3). Angehörige von Minderheiten erhalten bei Gerichten von al Shabaab eher Gerechtigkeit (Sahan 21.11.2022).

Al Shabaab hat eigene Gerichte geschaffen, die v. a. über Land- und Vertragsstreitigkeiten entscheiden, mitunter aber auch in Zivil- und Strafrechtsfällen (Sahan 21.11.2022; vergleiche VOA 17.8.2022; SG 16.8.2022). Neben zahlreichen permanenten Gerichten kommen auch mobile Gerichte in von der Regierung kontrollierten Gebieten zum Einsatz (Sahan 21.11.2022; vergleiche AJ 14.9.2022b). Diese Form der Justiz ist effektiv, aber drakonisch (BS 2022, Sitzung 10). In von al Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebstahl oder Hinrichtungen für Ehebruch (AA 28.6.2022, Sitzung 16; vergleiche Sahan 21.11.2022; AJ 14.9.2022b).

Die Gerichte von al Shabaab werden als gut effizient, effektiv, weniger oder nicht korrupt, schnell und im Vergleich fairer bzw. unparteiischer (auch von Claneinflüssen) beschrieben (Sahan 21.11.2022; vergleiche BS 2022, Sitzung 17; AA 28.6.2022, Sitzung 8) – zumindest im Vergleich zur staatlichen Rechtsprechung (FIS 7.8.2020, Sitzung 16). Al Shabaab urteilt oder vermittelt u. a. in Streitigkeiten zwischen Wirtschaftstreibenden (HI 10.2020, Sitzung 7). Die Prozesse bei al Shabaab sind rasch beendet. Manchmal revidieren Gerichte der Gruppe auch Urteile formeller Gerichte (AJ 14.9.2022b). Über die Jahre haben diese Gerichte einiges an Popularität und Akzeptanz in der Bevölkerung gewonnen – selbst in einigen von der Regierung kontrollierten Gebieten und bei einigen Angehörigen der Diaspora. Die Gerichte werden u.a. als leistbar, leicht zugänglich und durchsetzbar wahrgenommen. Verfahren, die vor staatlichen Gerichten aufgrund des großen Rückstaus oft Monate oder Jahre dauern, werden dort innerhalb weniger Tage abgewickelt (Sahan 21.11.2022). Obwohl al Shabaab Prozesskosten bzw. Gerichtsgebühren einhebt (HIPS 4.2021, Sitzung 22), bevorzugen viele Menschen ihre Gerichte – auch Personen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten (AA 28.6.2022, Sitzung 8; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 16) und selbst Soldaten und Polizisten (SG 16.8.2022). So begeben sich z.B. Streitparteien aus Mogadischu extra nach Lower Shabelle, um dort bei al Shabaab Klage einzureichen (FIS 7.8.2020, Sitzung 16; vergleiche LIFOS 1.7.2019, Sitzung 4). Denn der Rechtsprechung durch al Shabaab wird mehr Vertrauen entgegengebracht als jener der staatlichen Justiz (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14). Zudem bieten die Schariagerichte von al Shabaab manchmal die einzige Möglichkeit, überhaupt Gerechtigkeit zu erfahren (SRF 27.12.2021). So kann die Justiz von al Shabaab z. B. für benachteiligte Gruppen mit keinem oder nur eingeschränktem Zugang zu anderen Rechtssystemen anziehend wirken. So sind diese Gerichte für manche Frauen etwa die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen (UNSC 1.11.2019, Sitzung 14). Gerichte von al Shabaab hören alle Seiten, fällen Urteile und sorgen dafür, dass Urteile auch umgesetzt bzw. eingehalten werden – wo nötig mit Gewalt (FIS 7.8.2020, Sitzung 16). Al Shabaab setzt eigene Gerichtsbeschlüsse auch durch (AA 28.6.2022, Sitzung 8; vergleiche HI 10.2020, Sitzung 10), mit Gewalt und Drohungen und auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten (AA 28.6.2022, Sitzung 8; vergleiche VOA 17.8.2022). Gegen Urteile von Gerichten der al Shabaab kann Berufung eingelegt werden (AJ 14.9.2022b).

Die Bundesregierung möchte diesen Gerichten ein Ende setzen, um den Einfluss von al Shabaab zu reduzieren (Sahan 21.11.2022). Sicherheitskräfte haben damit begonnen, Menschen und Älteste, die sich an Gerichte der al Shabaab wenden bzw. mit der Gruppe kooperieren, zu verhaften (SD 26.9.2022).

Al Shabaab inhaftiert Personen für "Vergehen" wie Rauchen, Musikhören (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7; vergleiche CFR 19.5.2021), den Verkauf von Khat, das Rasieren des Bartes (CFR 19.5.2021), unerlaubte Inhalte auf dem Mobiltelefon; Fußballschauen oder -spielen und das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7). Die harsche Interpretation der Scharia wird in erster Linie in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten umgesetzt, dort, wo die Gruppe auch über eine permanente Präsenz verfügt. In anderen Gebieten liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Einhebung von Steuern (LI 20.12.2017, Sitzung 3).

Es gilt das Angebot einer Amnestie für Kämpfer der al Shabaab, welche ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für diese Amnestiemöglichkeit gibt es aber keine rechtliche Grundlage (AA 28.6.2022, Sitzung 16). Allerdings wird üblicherweise ehemaligen Kämpfern im Austausch für Informationen über al Shabaab eine Amnestie gewährt (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 24).

Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und -Durchsetzung zumeist in den Händen von v.a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen (AA 28.6.2022, Sitzung 8). Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (AA 28.6.2022, Sitzung 16).

Sicherheitsbehörden

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Ausländische Kräfte

Letzte Änderung 2023-03-17 07:41

Im April 2022 hat die African Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) von der African Union Mission in Somalia (AMISOM) übernommen, nachdem dies vom UN Security Council (RVI 9.6.2022; vergleiche UNSC 13.5.2022, Absatz 62,) und zuvor vom Sicherheitsrat der Afrikanischen Union so beschlossen wurde (UNSC 13.5.2022, Absatz 62,). AMISOM war zuvor seit 2007 in Somalia aktiv (ISS 29.3.2022). Das Mandat von ATMIS umfasst die Umsetzung des Somali Transition Plans und die Übertragung der Verantwortung für die Sicherheit an somalische Kräfte und Institutionen mit Ende 2024 (RVI 9.6.2022). Das vorläufige Mandat von ATMIS erstreckt sich auf ein Jahr (UNSC 13.5.2022, Absatz 62,) und ist mehr oder weniger mit jenem von AMISOM ident (RVI 9.6.2022; vergleiche ACLED 14.4.2022). Das militärische Mandat umfasst: die Ausführung gezielter Operationen in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften, um al Shabaab und andere terroristische Gruppen zu bekämpfen; in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften Städte zu halten und die dort ansässige Bevölkerung zu schützen und die Sicherheit zu gewährleisten; Hauptversorgungsrouten zu sichern und einzunehmen; die Kapazitäten somalischer Sicherheitskräfte zu entwickeln, damit diese Ende 2024 die Verantwortung übernehmen können (ATMIS 2022a).

Auch hinsichtlich der Truppenstärke ist ATMIS mit AMISOM vergleichbar, die Aufstellung soll aber ein mobileres und agileres Vorgehen gegen al Shabaab gewährleisten (RVI 9.6.2022; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 8; ISS 29.3.2022). ATMIS bzw. AMISOM gelten als mächtigster Gegner der al Shabaab (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 6). Die Truppe trägt einerseits seit Jahren die Führung im Kampf gegen al Shabaab und andererseits schützt sie die Bundesregierung (BBC 18.1.2021), die in großem Maße von den Kräften der ATMIS abhängig ist (BS 2022, Sitzung 4; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 9; BBC 18.1.2021).

ATMIS ist in fünf Sektoren geteilt: Sektor 1 (Mogadischu und Umland; Lower Shabelle / Uganda); Sektor 2 (Middle und Lower Juba / Kenia); Sektor 3 (Bakool, Bay und Gedo / Äthiopien); Sektor 4 (Hiiraan und Galgaduud / Dschibuti); Sektor 5 (Middle Shabelle / Burundi); Sektor 6 (Teile von Lower Juba und Lower Shabelle / Kenia und Äthiopien) (NMG 25.10.2022). ATMIS hat eine militärische, eine polizeiliche und eine zivile Komponente. Truppenstellerstaaten für die militärische Komponente sind gegenwärtig Uganda, Burundi, Dschibuti, Kenia und Äthiopien mit einem Mandat für 18.586 Mann (ATMIS 2022a; vergleiche ATMIS 2022b). Die Stärke beträgt seit Feber 2020: Äthiopien: 3.902; Burundi: 3.715; Dschibuti: 1.691; Kenia: 3.654; Uganda: 5.513; Hauptquartier: 111. Seit Ende 2020 verfügt AMISOM bzw. ATMIS über eine zusätzliche Luftkomponente von vier Hubschraubern, die von Uganda gestellt werden. Diese dienen v. a. für Verbindung, Versorgung und medizinische Notfälle. Insgesamt verfügt ATMIS über sieben militärische Luftfahrzeuge, zwölf wären autorisiert (BMLV 9.2.2023). Bis Ende 2022 war eigentlich ein Abzug von 2.000 Mann projektiert (ATMIS 2022a). Der UN Sicherheitsrat hat im Dezember 2022 allerdings einem Aufschub dieses Teilabzugs zugestimmt, dieser wurde auf Ende Juni 2023 verschoben (Xinhua 22.12.2022). Danach soll ATMIS Stück für Stück abgezogen werden, die letzten 9.586 Mann dann Ende 2024 (BMLV 9.2.2023; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 8).

ATMIS wird maßgeblich von der EU finanziert (ÖB 11.2022, Sitzung 8; vergleiche NMG 25.10.2022; Halbeeg 7.7.2022). Seit 2007 hat die EU fast 2,3 Mrd. Euro für AMISOM bzw. ATMIS ausgegeben und wird die Truppe - und maßgeblich den Sold - auch weiterhin maßgeblich finanzieren (TET 7.7.2022; vergleiche Halbeeg 7.7.2022) während die UN für logistische Unterstützung sorgt (ISS 29.3.2022; vergleiche UNSC 1.9.2022, Absatz 82 f, f,). Die Ausbildung für ATMIS erfolgt laufend auch im Rahmen der Einsatzvorbereitung in den Herkunftsländern und in Somalia, maßgeblich durch Großbritannien, die USA, Frankreich und die EU. In manchen Gebieten kooperiert ATMIS eng mit lokalen Milizen oder anderen Kräften (BMLV 9.2.2023).

Im Land befindet sich auch eine auf 1.040 Polizisten mandatierte ATMIS-Polizeikomponente unterschiedlicher afrikanischer Teilnehmerstaaten (Uganda, Nigeria, Ghana, Sierra Leone, Kenia und Sambia) (ATMIS 2022c). ATMIS bietet spezielle Ausbildung und Beratung für die somalische Polizei, unterstützt diese bei Patrouillen und beim Schutz relevanter Infrastruktur; und bei der Bekämpfung gewaltsamer Extremisten und im Falle sozialer Unruhen (ATMIS 14.7.2022). Außerdem sind die ATMIS-Polizisten hinsichtlich der strategischen Führung und der Erstellung von Policies von großer Bedeutung (NMG 25.10.2022).

Neben ATMIS sind in Somalia noch andere militärische Kräfte aus dem Ausland aktiv, u.a. TURKSOM (türkisches Ausbildungszentrum in Mogadischu); die Kapazitätsbildungsmission der EU; die britische Mission Tangham; und Truppen der USA (UNSC 10.10.2022, Absatz 98,). Zur Zahl der bilateral auf somalischem Territorium operierenden äthiopischen Truppen gibt es unterschiedlichste Angaben. Denn Äthiopien hat auch diese Truppenteile mit dem grünen Barett von ATMIS ausgestattet. Eine Quelle berichtet von geschätzten 3.500 Mann in Gedo, Hiiraan und Galmudug (BMLV 9.2.2023). Eine andere Quelle berichtet von 2.000 äthiopischen Truppen, die nach einem Vorstoß von al Shabaab nach Äthiopien wieder verstärkt worden sind. Hunderte Soldaten wurden demnach in die Region Gedo entsandt (VOA 8.8.2022).

Zuvor abgezogene äthiopische Truppen wurden zumindest an der Grenze durch rund 1.500 Mann Liyu Police aus dem äthiopischen Somali Regional State ersetzt (BMLV 9.2.2023). Eine andere Quelle spricht von mehreren Tausend Mann - außerhalb des ATMIS-Kontingents Äthiopiens (VOA 20.7.2022). Damit ist die Liyu Police wieder verstärkt in Somalia aktiv (MM 3.8.2022). Liyu-Stützpunkte finden sich etwa in Yeed, Ato und Washaaqo. Die Liyu-Police dient den bilateral in Somalia befindlichen äthiopischen Streitkräften als Grenzschutz und zur Sicherung des Nachschubs (VOA 20.7.2022).

Die USA haben die Eliteeinheit Danaab ausgebildet (BBC 1.6.2022). Allerdings wurden die US-Truppen abgezogen, dieser Abzug war mit Mitte Jänner 2021 offiziell abgeschlossen (PGN 2.2021, Sitzung 12f). 2022 wurde die Entscheidung zum Abzug revidiert. Nun sollen wieder bis zu 500 Soldaten in Somalia stationiert werden (BBC 1.6.2022; vergleiche AQ10 5.2022), um somalische Truppen auszubilden, zu beraten und auszurüsten. Sie werden in Bali Doogle stationiert – samt Drohnen und Hubschraubern (AQ10 5.2022). Zusätzlich befinden sich im Land 50 Soldaten aus Großbritannien. Diese führen ein Trainingsprogramm für somalische Kräfte in Baidoa durch (BMLV 9.2.2023; vergleiche PGN 12.2021). Es gibt Hinweise darauf, dass die Türkei in Somalia auch über Kampfdrohnen verfügt (UNSC 10.10.2022, Absatz 96,), die auch gegen al Shabaab eingesetzt werden (VOA 30.11.2022).

Somalische Kräfte

Letzte Änderung 2023-03-17 07:48

Der Sicherheitssektor ist sehr relevant, 80 % der öffentlichen Stellen befinden sich in diesem Bereich, zwei Drittel der Staatsausgaben (AA 28.6.2022, Sitzung 9). - Nach anderen Angaben fließen jedenfalls mehr als die Hälfte dorthin (HIPS 4.2021, Sitzung 20). Der Sicherheitssektor präsentiert sich nach wie vor als Mischung aus Truppen auf Clanbasis und neuen, durch externe Akteure wie die Türkei ausgebildeten Verbänden (BMLV 9.2.2023). Die Gesamtzahl der Sicherheitskräfte wird 2021 mit ca. 40.000 angegeben (HIPS 4.2021, Sitzung 28). Nach anderen Angaben sind die Sicherheitskräfte unter der Regierung von Präsident Farmaajo mithilfe externer Unterstützung stark expandiert. Demnach hat Somalia mit 53.000 Mann auf Bundesebene und ca. 23.000 auf Ebene der Bundesstaaten mehr staatliches Sicherheitspersonal als notwendig und finanzierbar ist. Trotzdem ist die Aufnahme und Ausbildung weiterer 22.500 Soldaten in Planung (Sahan 29.6.2022).

Der Bundesregierung ist es nicht gelungen, das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen (BS 2022, Sitzung 6), obwohl in den vergangenen Jahren Milliarden an US-Dollar in die Ausbildung und Ausrüstung von tausenden Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeitern investiert worden sind. Trotzdem sind die Sicherheitskräfte Somalias auch nach 15 Jahren immer noch schwach und werden für politische Zwecke eingesetzt (HIPS 4.2021, Sitzung 4/8). Die Kräfte des Bundes werden als in „alarmierender Weise disfunktional“ beschrieben (Bryden 8.11.2021). Die somalischen Sicherheitskräfte sind jedenfalls noch zu schwach und schlecht organisiert, um selbstständig - ohne internationale Unterstützung - die Sicherheit im Land garantieren zu können (BMLV 9.2.2023; vergleiche SRF 27.12.2021).

Sie sind stark fragmentiert (AA 28.6.2022, Sitzung 10; vergleiche HIPS 4.2021, Sitzung 4/8), für die militärische Organisation gibt es kein zentrales Kommando (HIPS 3.2021, Sitzung 16). Zudem sind die Sicherheitskräfte von al Shabaab unterwandert (BMLV 9.2.2023; vergleiche GO 25.3.2021; AQ10, 5.2022), und die Loyalität vieler Sicherheitskräfte liegt eher beim eigenen Clan bzw. der patrilinearen Abstammungsgruppe als beim Staat (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29). Zudem wurde der Sicherheitssektor unter dem ehemaligen Präsidenten Farmaajo darauf getrimmt, dass nicht al Shabaab bekämpft, sondern politische Rivalen unterdrückt werden konnten. Loyale und unterqualifizierte Personen wurden auf relevante Stellen gehoben, die Führung der Sicherheitskräfte politisiert (Sahan 29.6.2022). Seither hat sich die Koordination von Aktivitäten und Operationen des Sicherheitsapparats gebessert, wie die Operationen gegen al Shabaab in Zentralsomalia gezeigt haben (BMLV 9.2.2023).

Zivile Kontrolle, Verantwortlichkeit, Ansehen: Es mangelt an effektiver Kontrolle ziviler Behörden über die Sicherheitskräfte (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1) bzw. entziehen sich Aktionen der staatlichen Sicherheitskräfte oftmals der zivilen Kontrolle. Dies gilt insbesondere für die NISA. Gleichzeitig bekennt sich die Regierung zu ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen (AA 28.6.2022, Sitzung 21/9). Bei der Polizei wurde das Police Oversight Committee (POC) eingerichtet, das durch Polizisten begangenen Vergehen nachgehen soll (UNOHCHR 25.11.2022). Die justizielle Verantwortlichkeit einzelner Mitglieder der Sicherheitsorgane ist zumeist schwach bis inexistent (AA 28.6.2022, Sitzung 9). Denn auch wenn die Regierung Schritte unternimmt, um öffentlich Bedienstete - v.a. Polizisten und Soldaten - zu bestrafen, bleibt Straflosigkeit die Norm (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Obwohl es eigene Militärgerichte gibt, bleiben Vergehen durch Armeeangehörige häufig ungeahndet (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Allerdings gibt es immer wieder Beispiele, wo Sicherheitskräfte zur Verantwortung gezogen werden [siehe Kapitel Folter].

Die Ausbildung im Menschenrechtsbereich wird zwar international unterstützt; es muss aber weiterhin davon ausgegangen werden, dass der Mehrzahl der regulären Kräfte die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen ihres Handelns nur äußerst begrenzt bekannt sind. Dies gilt insbesondere für regierungsnahe Milizen (AA 28.6.2022, Sitzung 9). Maßnahmen zur Verhinderung willkürlicher Verhaftungen werden weder von der Polizei noch von der NISA oder militärischen Institutionen beachtet. Zudem wird deren Arbeit von Korruption unterminiert (FH 2022a, F2). Da die Sicherheitskräfte gegenüber der Zivilbevölkerung oft auch als Gewalt- und nicht als Sicherheitsakteure auftreten (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29), genießen sie insgesamt keinen guten Ruf bei der Bevölkerung (AA 28.6.2022, Sitzung 10; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29).

Polizei: Die nationale Polizei untersteht dem Ministerium für innere Sicherheit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1). Neben der Bundespolizei führt jeder Bundesstaat eigene regionale Polizeikräfte. Die Kräfte sind jeweils dem Bundes- bzw. dem bundesstaatlichen Ministerium für innere Sicherheit unterstellt (SIDRA 12.2022, Sitzung 14). Die genaue Größe der somalischen Polizei ist unbekannt. Laut offiziellen Angaben stehen 11.000 Polizisten auf der Gehaltsliste des dafür zuständigen Ministeriums für innere Sicherheit. Die große Mehrheit dieser Polizisten versieht ihren Dienst in Mogadischu und Umgebung (HIPS 4.2021, Sitzung 7). Nach anderen Angaben umfasst die Polizei mittlerweile 37.000 Mann, wovon ungefähr die Hälfte der Bundespolizei zuzurechnen ist (Sahan 29.6.2022).

Weitere verfügbare Zahlen hierzu [inkl. Polizei einzelner Bundesstaaten]:

●             Benadir/Mogadischu: Stand September 2021 - ca. 11.000 Mann;

●             Galmudug: mindestens 700;

●             HirShabelle: ca. 600;

●             Jubaland: Stand vom August 2017 - 500-600; allerdings bildet Kenia jedes Halbjahr 100-200 neue Polizisten aus;

●             South West State: Zwischen 1.000 bis 1.100 (BMLV 9.2.2023).

Im Bereich der Polizeiausbildung bestehen Trainingsschulen von ATMIS und UNSOM, bilaterale Initiativen (v. a. zur Ausbildung von Polizeikräften in Mogadischu), Unterstützung durch UNDP und UNODC sowie IOM (ÖB 11.2022, Sitzung 9). Im Joint Police Programme unterstützen die UN, die EU, Deutschland und Großbritannien den Aufbau der Polizei. So haben z. B. die UN die Führungsausbildung für 500 höherrangige Polizisten aus Süd-/Zentralsomalia und Puntland unterstützt (UNSC 1.9.2022, Absatz 68,). ATMIS hat im Zeitraum 2009-2022 8.167 Polizisten in Somalia ausgebildet (FTL 17.9.2022; vergleiche ATMIS 25.8.2022), und zwar in Jubaland, HirShabelle, dem SWS und Mogadischu, auf regionaler und Bundesebene. Die Ausbildung umfasst u. a. auch Menschenrechte und Prävention von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt. Zudem wurden Polizeistationen neu gebaut oder renoviert und Ausrüstung zur Verfügung gestellt (ATMIS 25.8.2022). In Jubaland hat Anfang Oktober der fünfte Lehrgang von 150 Polizisten die Grundausbildung abgeschlossen. Die Ausbildung erfolgte durch ATMIS in Kismayo und umfasste u. a. auch Menschenrechte, geschlechtsspezifische Themen, öffentliche Ordnung und Tatortuntersuchungen (RD 4.10.2022). Überhaupt unterstützt ATMIS die somalische Polizei auch bei der Ausbildung hinsichtlich Menschenrechten. So wurden etwa im Dezember 2022 zwei Dutzend Polizisten als Trainer ausgebildet, die ihrerseits 300 Polizisten in HirShabelle hinsichtlich Menschenrechten ausbilden sollen (ATMIS 28.12.2022). Die UN unterstützen den Aufbau der Polizei im Bundesstaat HirShabelle (FTL 18.9.2022). Über das Joint Police Programme werden Kapazitäten für die Somali Police Force aufgebaut. Im Berichtszeitraum Feber bis Mai 2022 erwähnt der Bericht des UN-Sicherheitsrats die Ausbildung von 300 Polizisten für Jubaland und von 400 für Galmudug. Außerdem wurden zwölf neue Polizeistationen in Jubaland, HirShabelle, Benadir, Galmudug und Puntland ausgestattet (UNSC 13.5.2022, Absatz 69,). Polizisten werden u. a. auch in Ruanda ausgebildet bzw. weitergebildet. So durchliefen sechs somalische Polizisten den Police Senior Command and Staff Course in Ruanda (RD 15.7.2022). Auch Dschibuti bildet in Kooperation mit Italien Polizisten aus (RD 12.12.2022). UNODC führt Ausbildungslehrgänge für Polizisten durch, diese Maßnahme wird von den USA finanziert (FTL 19.11.2022).

Polizeikapazitäten: Die Strafverfolgungsbehörden sind schwach (SPC 9.2.2022). Es gibt kein zentrales Strafregister. Dies erschwert es den Sicherheitskräften, Untersuchungen durchzuführen. Polizeistationen führen handschriftliche „Vorfallsbücher“ („occurrence books“) (Sahan 16.9.2022). Die Bezahlung erfolgt meist nur unregelmäßig, dies fördert die Korruption (AA 28.6.2022, Sitzung 9). Im Fall einer kriminalitätsbedingten Notlage fehlen weitgehend funktionierende staatliche Stellen, die Hilfe leisten könnten. Die Polizei verfügt zwar über einige Kapazitäten, hat aber auch Probleme, sich an den Menschenrechten zu orientieren. Dass die Bevölkerung die Polizei nicht unbedingt als eine Kraft erachtet, welche sie schützt, scheint sich in manchen größeren Städten langsam zu ändern. Dort wurden Polizeikräfte lokal – und die lokale Clandynamik berücksichtigend – rekrutiert. Das hat zu Verbesserungen geführt. Dies betrifft etwa Kismayo, Jowhar oder Belet Weyne (BMLV 9.2.2023). In Einzelfällen funktioniert auch die Kooperation unterschiedlicher Polizeieinheiten in Süd-/Zentralsomalia. So wurde etwa im Dezember 2022 in Mogadischu ein Mann verhaftet, der von der Polizei in Gedo wegen einer Vergewaltigung gesucht worden war (HO 26.12.2022). In HirShabelle wird die Polizei in erster Linie in den größeren Städten und an Checkpoints entlang von nach Jowhar führenden Hauptverbindungsstraßen zum Einsatz gebracht (ATMIS 25.8.2022).

Die Türkei hat die paramilitärische Polizei-Spezialeinheit Haramcad (Gepard) ausgebildet und mit modernen Waffen, Ausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen ausgestattet (Bryden 8.11.2021; vergleiche Sahan 29.6.2022). Haramcad umfasst ca. 1.200 Mann (Sahan 29.6.2022). Diese Einheit wird allgemein als fähig erachtet, wurde allerdings von der Regierung Farmaajo u. a. eingesetzt, um interne Gegner auf Linie zu bringen (HIPS 2021, Sitzung 28). Damals war die Einheit dem Kommando der NISA (siehe unten) unterstellt, nunmehr steht sie wieder unter dem Kommando der Polizei (BMLV 9.2.2023).

Armee: Das Verteidigungsministerium ist für die Kontrolle der Armee verantwortlich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1). Es wurde versucht, diverse Milizen zu einer Armee unter Führung der Bundesregierung zu fusionieren (Reuters 19.2.2021). Die Regierungstruppen bestehen hauptsächlich aus Clanmilizen (LI 8.9.2022; vergleiche Robinson 27.1.2022), deren Loyalität in erster Linie beim eigenen Clan liegt (LI 8.9.2022); bzw. waren viele militärische Einheiten der Bundesarmee ursprünglich Clanmilizen (WP 10.12.2022). Anders ausgedrückt ist die Linie zwischen der Bundesarmee und Clanmilizen sehr schmal. Ein Soldat kann an einem Tag im Interesse des Landes arbeiten und am nächsten im Interesse seines Clans oder einer politischen Gruppe (BBC 1.6.2022). Jedenfalls zeigt die Bundesarmee nur wenige Merkmale einer effektiven Armee im westlichen Sinne. Ausländische Militärhilfe ist stark an Eigennutz gebunden, unterschiedliche politische Akteure werden gegeneinander ausgespielt. Als Resultat bietet sich ein Bild von einerseits Brigaden auf Clanbasis, die den Großteil der Truppen stellen und eigentlich dem eigenen Clan zur Verfügung stehen; und andererseits durch vom Ausland unterstützten, nur teilweise mit der Bundesarmee verbundenen Kräften wie Danaab (USA), Gorgor (Türkei), Haramcad, Gashaan, sowie von Eritrea (Robinson 27.1.2022), den Vereinten Arabischen Emiraten, Katar, Großbritannien, der EU, Uganda, Kenia, Dschibuti und anderen Staaten ausgebildeten Kräften. Folglich sieht man auf der Straße auch ein breites Spektrum an Uniformen und Waffen (BBC 1.6.2022).

Korruption ist verbreitet (FH 2022a, F2). Soldaten werden durch Nepotismus aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit befördert und/oder um ihre Loyalität zu erlangen. Dies zerstört die Moral der Sicherheitskräfte und lenkt ihre Loyalität in Richtung der Clans (HIPS 4.2021, Sitzung 4/28). Der chronische Nepotismus in der Bundesarmee wirkt sich hinsichtlich der Moral der Soldaten verheerend aus (HIPS 4.2021, Sitzung 14). Einige Kommandanten nehmen Bestechungsgelder an oder kooperieren mit al Shabaab (Sahan 3.3.2021). Im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Präsident Farmaajo und der Opposition 2021 haben sich Auflösungstendenzen verstärkt. Die Sicherheitskräfte und die Armee hatten sich entlang von Clanlinien fragmentiert (TNH 20.5.2021; vergleiche Sahan 4.5.2021).

Besoldung: Soldaten verdienen etwa 100 US-Dollar im Monat (BMLV 9.2.2023). Es kommt vor, dass Soldaten nur sehr unregelmäßig bezahlt werden, dies fördert die Korruption. Diese, sowie Misswirtschaft und finanzielle Einschränkungen beeinträchtigen die Wirksamkeit der Armee (AA 28.6.2022, Sitzung 9f). Die Einführung der biometrischen Registrierung aller Soldaten der Bundesarmee hat die davor bestehende Korruption eingeschränkt, aber nicht eliminiert (HIPS 4.2021, Sitzung 15). Generell erfolgt nunmehr die (elektronische) Bezahlung der Soldaten viel regelmäßiger, doch selbst hier kommt es mitunter zu Verzögerungen. Die Spezialeinheit Danab wird und wurde von den USA finanziert und regelmäßig bezahlt (BMLV 9.2.2023).

Der Armee mangelt es zudem an Ausbildung und Ausrüstung (FP 22.9.2021; vergleiche HIPS 4.2021, Sitzung 20), obwohl die Bundesarmee im vergangenen Jahrzehnt von zahlreichen Akteuren diesbezüglich Unterstützung erhalten hat - namentlich von Burundi, Dschibuti, Äthiopien, Italien, Kenia, dem Sudan, der Türkei, den VAE, Uganda, Großbritannien, den USA, der AU, der EU und den UN (Williams 2019, Sitzung 2ff). Selbst in Katar (FTL 5.7.2022; vergleiche BBC 1.6.2022) und in Eritrea wurden Soldaten ausgebildet (BMLV 9.2.2023). Alleine Großbritannien hat seit 2016 mehr als 2.000 somalische Soldaten ausgebildet (UKG 18.8.2022). Die Türkei hat bis 2022 5.000 Soldaten für die Einheit Gorgor und zudem hunderte Offiziere und Unteroffiziere ausgebildet. Die USA haben knapp 2.000 Kräfte von Danaab ausgebildet und weitere 350 Rekruten zur Ausbildung aufgenommen (VOA 30.11.2022). Die vielen externen Akteure, welche sich am Aufbau somalischer Sicherheitskräfte beteiligen, arbeiten notorisch unkoordiniert, und einige Akteure – etwa Kenia und Äthiopien – verfolgen darüber hinaus nationale Interessen (HIPS 4.2021, Sitzung 24ff). Die somalischen Streitkräfte haben keine Übersicht über ihre eigenen Lagerbestände. Und obwohl Somalia in den letzten Jahren Tausende Waffen beschafft hat, sind nach wie vor nicht alle Soldaten mit einer Waffe ausgestattet (BMLV 9.2.2023). Dabei nennt die somalische Regierung als Grund für die mangelnde Effektivität der eigenen Truppen das nach wie vor aufrechte Waffenembargo der Vereinten Nationen. Aufgrund des Embargos können weder schwere Waffen noch Fluggerät angeschafft werden (UNSC 10.10.2022, Absatz 95,).

Die Nationale Armee wird von der AU, der EU, den USA sowie anderen Ländern, wie Türkei und Israel in der Besoldung, Bewaffnung und beim Training unterstützt (ÖB 11.2022). Die USA haben Armee- und Regionalkräfte ausgebildet, die Spezialeinheit Danaab aufgestellt und Anti-Terrorismus-Kapazitäten gestärkt; die EU führt ihre Ausbildungsmission EUTM weiter (BS 2022, Sitzung 40). Die Türkei unterstützt die Bundesarmee materiell und bildet in einem eigens erbauten Stützpunkt (TURKSOM) auch Soldaten aus (HIPS 2021, Sitzung 28). Die UN-Agentur UNSOS unterstützt 11.649 Angehörige der Sicherheitskräfte logistisch (UNSC 1.9.2022, Absatz 87,).

Armee/Stärke: Die Regierung nennt unterschiedliche Zahlen: 24.000 oder 28.000 (HIPS 4.2021, Sitzung 7). Eine andere Quelle nennt eine Zahl von 19.000-20.000 Mann - ohne die 5.000 in Eritrea ausgebildeten, deren Verwendung weiterhin unklar ist (BMLV 9.2.2023). Eine andere Quelle nennt diesbezüglich mehr als 25.000 - ohne die Spezialeinheit Gorgor; mit Letzterer umfasst die Bundesarmee demnach fast 30.000 Soldaten (Sahan 29.6.2022). Insgesamt sind in den vergangenen 15 Jahren von externen Akteuren Schätzungen zufolge mehr als 100.000 Soldaten ausgebildet worden (HIPS 4.2021, Sitzung 7).

Spezialeinheiten: Danab (Blitz) - von den USA ausgebildet, ausgerüstet und betreut (HIPS 8.2.2022, Sitzung 5; vergleiche BBC 1.6.2022; Williams 2019, Sitzung 2/9) - ist die einzige Einheit, bei welcher bei der Rekrutierung nicht der Clan, sondern militärische Erfahrung und Können eine Rolle spielen (BMLV 9.2.2023; vergleiche Williams 2019, Sitzung 2/9). Es handelt sich um eine bestens ausgebildete (HIPS 8.2.2022, Sitzung 5) und um die schlagkräftigste Einheit in Somalia (Robinson 27.1.2022; vergleiche HIPS 4.2021, Sitzung 26f). Diese Truppe umfasst etwa 1.500-1.600 Mann (BMLV 9.2.2023; vergleiche BBC 23.11.2022; WP 10.12.2022) und war in der Offensive an fast allen Frontabschnitten in Hiiraan, Middle Shabelle und Galgaduud aktiv (BMLV 9.2.2023). Es ist geplant, die Mannzahl von Danab zu verdoppeln (BBC 23.11.2022). Danab-Soldaten werden regelmäßig bezahlt. Es gibt dort fixe Quoten, um dafür zu sorgen, dass die Soldaten aus allen unterschiedlichen Clans stammen. Danab hat nunmehr 1.500 Soldaten (WP 10.12.2022).

Eine weitere Spezialeinheit ist die von der Türkei ausgebildete und mit modernen Waffen, Ausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen ausgestattete Gorgor (Adler) (Bryden 8.11.2021; vergleiche Robinson 27.1.2022; HIPS 2021, Sitzung 28). Diese Einheit wird nicht geschlossen eingesetzt, sondern ist in Mogadischu, Dhusamareb, Belet Xaawo und mehreren Orten in Lower Shabelle im Einsatz (BMLV 9.2.2023). Die Einheit umfasst nunmehr mehr als 5.000 (Sahan 29.6.2022), nach anderen Angaben 5.500 Mann in vermutlich 10 Bataillonen (BMLV 9.2.2023). Danab wird zunehmend als apolitisch erachtet (WP 10.12.2022). Sowohl Danab als auch Gorgor ist es gelungen, Clanrivalitäten innerhalb ihrer Reihen aufzulösen und gleichzeitig effektive Anti-Terror-Operationen durchzuführen (Sahan 16.11.2022).

Sowohl Danab als auch Gorgor sind nun wieder klar der Armee unterstellt (BMLV 9.2.2023).

Regionale Kräfte: Die Bundesstaaten haben ihre eigenen Sicherheitsapparate (HIPS 3.2021, Sitzung 16). Unklar ist, inwiefern diese Kräfte in die zur Bundesregierung gerechneten Kräfte eingegliedert sind bzw. dorthin zugeordnet werden. Beim Operational Readiness Assessment wurden 2019 in Jubaland, Galmudug, SWS und Puntland fast 20.000 Personen registriert, welche zu "Regionalkräften" (auch Darawish) gezählt werden (UNSC 15.5.2019, Absatz 45,). Unter Darawish werden in Somalia grundsätzlich alle organisierten bewaffneten Kräfte verstanden, die außerhalb der Clanmilizen zu finden sind. Im neueren Kontext werden damit v. a. Sicherheitskräfte der Bundesstaaten bezeichnet (BMLV 9.2.2023). Darawish werden nunmehr auch national ausgebildet. So haben im Feber 2020 die ersten 300 von 1.750 Darawish ihre – u. a. von AMISOM bzw. ATMIS und EUTM gestaltete – Ausbildung in Mogadischu abgeschlossen (AMISOM 14.2.2020). Kenia kooperiert mit den Sicherheitskräften Jubalands (BS 2022, Sitzung 41) und bildet diese aus. Äthiopien (BMLV 9.2.2023) und Großbritannien bilden Sicherheitskräfte des SWS aus (AQ7 2.2022) und auch Dschibuti beteiligt sich am Aufbau lokaler Darawish Forces (UNSC 13.5.2022, Absatz 68,).

Milizen, die nicht Teil der somalischen Sicherheitskräfte sind, aber loyal zu Regionalregierungen stehen, sind Teil des Spektrums. Oft haben sie in der Vergangenheit das Sicherheitsvakuum gefüllt, wo staatliche Kräfte aufgrund ihrer Schwäche nicht dazu in der Lage waren (RD 28.8.2022). In Teilen von Galgaduud – etwa im Bezirk Baxdo – organisieren sich zunehmend lokale Gemeinden und Milizen im Widerstand gegen al Shabaab. Diese werden dabei von der Armee unterstützt (SD 14.9.2022). Auch in Hiiraan wird versucht, den gesellschaftlichen Widerstand gegen al Shabaab zu fördern (RD 15.9.2022).

Die Macawiisely – benannt nach den langen Gewändern der somalischen Nomaden – wurden ursprünglich nur bei Bedarf mobilisiert. Es gab keine permanenten Stützpunkte, keine organisierte Führung, keine regulären Kräfte und keine externe Unterstützung. Mit der zunehmenden Terrorisierung der Zivilbevölkerung in Teilen von Galmudug und HirShabelle hat ihre Bedeutung zugenommen. In der Verteidigung der eigenen Heimat und der eigenen Familien mit eigenen Mitteln und Waffen, greifen diese Milizen al Shabaab an und konnten dabei auch schon einige Erfolge verzeichnen (GF 14.9.2022). Ein signifikanter Teil der Macawiisley besteht folglich aus Personen, die keine Soldaten oder professionellen Milizionäre sind, sondern Viehzüchter und Nomaden (Sahan 23.9.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Diese lokalen Milizen stellen eine zur SNA parallele und durch die FGS aufgrund ihrer Clan-basierten Strukturen nicht kontrollierbare bewaffnete Macht dar (ÖB 11.2022, Sitzung 9). Zudem sind die Macawiisley aufgrund von Zwängen hinsichtlich der Erwerbstätigkeit nicht unbegrenzt für den Kampf verfügbar (BMLV 9.2.2023).

Zudem verfügen alle politischen Kräfte über eigene Kampftruppen (AA 28.6.2022, Sitzung 12). Einzelne Politiker, Unternehmen und Hilfsorganisationen haben eigenes Sicherheitspersonal (HIPS 3.2021, Sitzung 16).

NISA (National Intelligence and Security Agency): Die NISA ist vergleichbar mit einem Inlandsgeheimdienst. Sie hat die Aufgabe als Sicherheitspolizei vornehmlich gegen al Shabaab vorzugehen (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29), bzw. ist sie auch für den Staatsschutz zuständig und mit exekutiven Vollmachten ausgestattet. Die exekutiven Einheiten der NISA sind zwar 2018 formal in die Polizei integriert worden. Trotzdem bleibt die NISA mit exekutiven Vollmachten ausgestattet und übt weiterhin eine aktive Rolle in der Terrorismusbekämpfung aus, die über eine rein nachrichtendienstliche Tätigkeit hinausgeht. Es kommt auch immer wieder zu Zusammenstößen mit anderen Sicherheitskräften. Außerdem führt die NISA Razzien durch und nimmt Menschen fest und unterliegt wenigen bis keinen Aufsichts- und Kontrollmechanismen (AA 28.6.2022, Sitzung 10f). Am 6.2.2023 erhielt der bereits im Jahr 2013 offiziell aufgestellte Dienst mit dem im Parlament verabschiedeten NISA-Gesetz eine rechtliche Grundlage (BMLV 9.2.2023). Das in Somalia befindliche Personal der NISA umfasst 5.000 (Sahan 29.6.2022), nach anderen Angaben von 3.200 Mann (BMLV 9.2.2023), wovon die Masse in Mogadischu und Teile im SWS, in HirShabelle und Galmudug eingesetzt sind (BMLV 9.2.2023).

Die NISA verfügt über eigene Spezialeinheiten: die in Eritrea ausgebildeten Dufaan (Sturm) (Sahan 5.5.2021; vergleiche UNSC 6.10.2021) mit einer Stärke von mindestens 450 Mann (UNSC 6.10.2021) und fehlender gesetzlicher Verankerung und Verantwortlichkeit (Sahan 10.6.2022). Auch die Einheit Ruuxaan (Geister) (BMLV 9.2.2023) sowie die von den USA ausgebildeten und als Anti-Terror-Einheiten eingesetzten Waran (Speer) und Gashaan (Schild) gehört zum NISA (Bryden 8.11.2021).

Puntland: Insgesamt beläuft sich die Stärke der Streit- und Sicherheitskräfte Puntlands (Darawish, Polizei, Puntland Maritim Police Force / PMPF und andere) auf rund 10.000-12.000 Mann (BMLV 9.2.2023). Die PMPF wird weiterhin von den Vereinten Arabischen Emiraten unterstützt (Sahan 20.6.2022). PMPF ist zuständig für die Verhinderung und Bekämpfung von Piraterie, illegalem Fischfang und anderen Straftaten entlang der puntländischen Küste (RD 30.11.2022b). Diese Einheit stellt eine signifikante Ressource im Kampf gegen Extremisten und Waffenschmuggler dar (UNSC 6.10.2021). Die Spezialeinheit Puntland Security Force (PSF) dient als Anti-Terrorismuseinheit, wird von den USA ausgebildet und unterstützt (HIPS 8.2.2022, Sitzung 19; vergleiche GITOC 19.4.2022) - für den Kampf gegen al Shabaab und ISIS. Nach Angaben einer Quelle standen die PSF niemals wirklich unter dem Kommando der puntländischen Regierung. Jedenfalls wurden die PSF nach den Auseinandersetzungen Ende 2021 in die Puntland Intelligence Security Force (PISF), die eng mit der PMPF zusammenarbeitet, und die Puntland Security Commando Force (PSCF) geteilt (UNSC 10.10.2022, Sitzung 61). Die Bossaso Port Maritime Police Unit hingegen schützt den Hafen von Bossaso. Sowohl diese als auch die PMPF werden on der EU-Mission EUCAP u. a. mit Ausbildungsmaßnahmen unterstützt (RD 30.11.2022b). Ausstehende Soldzahlungen sind nach wie vor ein wiederkehrendes Problem, das zwar punktuell zu Störungen des öffentlichen Lebens durch Straßenblockaden führen kann. Diese Störungen dauern gewöhnlich aber nicht mehr als einige Stunden an (BMLV 9.2.2023). Insgesamt hat die puntländische Regierung ein gewisses Problem, an allen Orten wirklich Sicherheit zu gewähren (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 30).

Allgemeine Menschenrechtslage

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2023-03-17 08:13

In der somalischen Verfassung ist der Schutz der Menschenrechte ebenso verankert wie die prägende Rolle der Scharia als Rechtsquelle (AA 28.6.2022, Sitzung 20).

Trotzdem werden Grund- und Menschenrechte regelmäßig und systematisch verletzt. Im Wettstreit stehende, politische Akteure in Süd-/Zentralsomalia sind in schwere und systematische Menschenrechtsverbrechen involviert (BS 2022, Sitzung 18; vergleiche AI 29.3.2022). Die schwersten Menschenrechtsverletzungen sind: willkürliche und ungesetzliche Tötungen durch Kräfte der somalischen Bundesregierung; Entführungen und Verschwindenlassen; Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten; Folter und andere grausame Behandlung; harte Haftbedingungen; willkürliche und politisch motivierte Verhaftungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1f; vergleiche BS 2022, Sitzung 34). Al Shabaab ist für die Mehrheit der schweren Menschenrechtsverletzungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche UNSC 6.10.2021) und für den größten Teil ziviler Todesopfer verantwortlich (BS 2022, Sitzung 34). Es gibt aber auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Kräfte der Bundesregierung und von Regionalregierungen. Auch Clanmilizen sind für Vergehen verantwortlich - darunter Tötungen, Entführungen und Zerstörung zivilen Eigentums (UNSC 6.10.2021).

Bei Kämpfen unter Beteiligung von ATMIS, Regierung, Milizen und al Shabaab kommt es zur Tötung, Verletzung und Vertreibung von Zivilisten sowie zu anderen Kriegsverbrechen, welche durch alle Konfliktbeteiligten verübt werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 2). Es gibt zahlreiche Berichte, wonach die Regierung und ihre Handlanger Personen willkürlich und außergesetzlich töten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Nach anderen Angaben stellen extralegale Tötungen bei den Sicherheitskräften kein strukturelles Problem dar (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Jedenfalls werden Sicherheitskräfte beschuldigt, Zivilisten bei Streitigkeiten um Land, bei Checkpoints, bei Zwangsräumungen und anderen Gelegenheiten willkürlich angegriffen zu haben (BS 2022, Sitzung 18). In solchen Fällen ist aufgrund des dysfunktionalen Justizsystems häufig von Straflosigkeit auszugehen (AA 28.6.2022, Sitzung 22).

Für die meisten Tötungen sind aber al Shabaab und Clanmilizen verantwortlich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; vergleiche AI 29.3.2022). Im Zeitraum 7.5. bis 23.8.2022 kamen landesweit 419 Zivilisten ums Leben oder wurden verletzt. Für 88 Opfer trug dabei al Shabaab, für 249 Unbekannte, für 30 Clanmilizen, für 46 staatliche Sicherheitskräfte und für sechs die Liyu Police die Verantwortung (UNSC 1.9.2022, Absatz 52,). Im Zeitraum 1.2. bis 6.5.2022 sind es vergleichsweise insgesamt 428 Opfer gewesen (UNSC 13.5.2022, Absatz 51,). In den vergangenen Jahren war die Zahl an zivilen Opfern stetig zurückgegangen. Gemäß verfügbarer Zahlen der UN ist aber 2022 bereits im November das Jahr mit den höchsten Zahlen an getöteten (613) und verletzten (948) Zivilisten seit dem Jahr 2017. Dabei wurden bei Sprengstoffanschlägen 315 Menschen getötet und 686 verletzt. Von diesen Anschlägen können mindestens 94 Prozent al Shabaab angelastet werden. Die restlichen Opfer wurden durch staatliche Kräfte, Milizen und Unbekannte verursacht (UNOHCHR 14.11.2022).

Es gibt mehrere Berichte über von der Regierung gesteuertes, politisch motiviertes Verschwindenlassen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen durch Bundes- und Regionalbehörden sowie durch alliierte Milizen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 9; vergleiche BS 2022, Sitzung 16). Die Regierung verwendet bei derartigen Verhaftungen oft den Vorwurf der Mitgliedschaft bei al Shabaab (USDOS 12.4.2022, Sitzung 10).

Generell ist Straflosigkeit die Norm. Die Regierung macht zumindest einige Schritte, um öffentlich Bedienstete – vor allem Sicherheitskräfte – strafrechtlich zu verfolgen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2).

Al Shabaab verletzt in den Gebieten unter ihrer Kontrolle systematisch Grundrechte (BS 2022, Sitzung 19). Die Gruppe ist für die Mehrheit schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Al Shabaab verübt terroristische Anschläge gegen Zivilisten; begeht Morde und Attentate; entführt Menschen, begeht Vergewaltigungen und vollzieht grausame Bestrafungen; Bürgerrechte und Bewegungsfreiheit werden eingeschränkt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Die Gruppe rekrutiert Kindersoldaten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche HRW 13.1.2022). Al Shabaab entführt Menschen und nimmt Geiseln (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Die Entführung und Verhaftung von Zivilisten erfolgt, um Regelbrüche zu ahnden oder Kollaboration zu erzwingen. Von Ende 2020 bis September 2021 wurden 13 derartige Entführungen dokumentiert, betroffen waren 155 Zivilisten – u. a. Älteste, Wirtschaftstreibende und Jugendliche (UNSC 6.10.2021). Nachdem sich al Shabaab bei schweren Kämpfen im Bereich Siigale Degta (Lower Shabelle) am 8.3.2022 zurückziehen musste, kehrte die Gruppe noch am selben Tag in das Dorf zurück. Al Shabaab beschuldigte die Gemeinde der Spionage und Kollaboration mit der Bundesarmee, tötete mindestens einen Mann und entführte 33 Dorfbewohner (darunter neun Frauen). Der Verbleib dieser Menschen ist bis heute ungeklärt (UNSC 10.10.2022, Sitzung 86).

Al Shabaab verhängt in ihren Gebieten Körperstrafen. So werden sexuelle Vergehen mitunter mit Auspeitschen, Diebstahl mit Amputation und Spionage mit dem Tode bestraft (UNSC 6.10.2021). Al Shabaab richtet regelmäßig und ohne ordentliches Verfahren Menschen hin, denen Kooperation mit der Regierung, internationalen Organisationen oder westlichen Hilfsorganisationen vorgeworfen wird (AA 28.6.2022, Sitzung 16), bzw. Zivilisten, die zu Abtrünnigen oder Spionen deklariert werden (BS 2022, Sitzung 19). Al Shabaab übt teils Rache an der Bevölkerung von Gebieten, die zuvor „befreit“ aber danach von al Shabaab wieder eingenommen worden waren. Die Gruppe wendet u. a. auch das Mittel von Zwangsvertreibungen an, um sich an sich widersetzenden oder nicht die eigenen Regeln befolgenden Bevölkerungsgruppen zu rächen. Bei derartigen Kollektivstrafen wurden z. B. im ersten Halbjahr 2021 im SWS und in Galmudug mehr als 11.000 Familien vertrieben (UNSC 6.10.2021). Mitunter kommt es bei al Shabaab auch zu Zwangsarbeit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46).

Haftbedingungen

Letzte Änderung 2023-03-17 08:25

Eine Absenz medizinischer Versorgung, unzureichende Ernährung und Mangel an Trinkwasser werden aus Gefängnissen aus ganz Somalia gemeldet (UNOHCHR 25.11.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 7; AA 28.6.2022, Sitzung 15; SW 1.2022). Es herrscht Überbelegung (UNOHCHR 25.11.2022). Zum Teil sind die Haftbedingungen lebensbedrohlich. Vollzugsbeamten mangelt es an Wissen und beruflichen Fähigkeiten (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Auch in Somaliland sind Haftanstalten gemäß einer Quelle überbelegt und die Bedingungen dort sind hart (FH 2022b, F3). Nach anderen Angaben genügen die Haftbedingungen in Hargeysa und Garoowe (Puntland) internationalen Standards (ÖB 11.2022, Sitzung 17).

Es kommt zu überlanger Untersuchungshaft, Folter ist nach Angaben einer Quelle üblich. Meist werden Männer und Frauen getrennt inhaftiert, Minderjährige und Erwachsene sowie Untersuchungshäftlinge und Verurteilte hingegen nicht (SW 1.2022). Nach anderen Angaben werden Minderjährige nur manchmal nicht von Erwachsenen getrennt in Haft gehalten (UNOHCHR 25.11.2022).

Besser sind die Bedingungen in neu errichteten Haftanstalten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7). Unterstützung von UNDP, UNODC und IKRK beim Gefängnisaufbau und der Schulung von Gefängnispersonal in allen Regionen schafft langsam Abhilfe (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Ausbildung erfolgt etwa im Zeitraum Ende 2021 bis Feber 2022 in den Bereichen Menschenrechte und Verwaltung für Gefängnispersonal in Kismayo, Baidoa, Hargeysa und Garoowe (UNSC 8.2.2022, Absatz 67,). Insgesamt unterstützt UNODC landesweit rund zehn Haftanstalten bei der Verbesserung der Situation in den Haftanstalten (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Auch UNSOM trägt zur Ausbildung von Gefängnispersonal bei (UNSC 1.9.2022, Absatz 71 f, f,), und Somalia kooperiert mit dem IKRK, um die Haftbedingungen zu verbessern (UNOHCHR 25.11.2022). Oppositionspolitiker, die im Juni und Juli 2022 mehrere Wochen im Mandera-Gefängnis in Hargeysa in Haft gesessen waren, lobten das Gefängnispersonal und die Versorgung (HO 6.7.2022).

Das Committee on Human Rights des parlamentarischen Oberhauses führt in Haftanstalten Überprüfungen durch. Allerdings gibt es keine systematische Aufsicht über die Haftanstalten – weder durch nationale noch durch internationale Beobachter (UNOHCHR 25.11.2022). Es ist gesetzlich vorgesehen, dass Häftlinge bei den Justizbehörden Beschwerden vorbringen dürfen, und dies geschieht auch. Die Behörden arbeiten aktiv mit internationalen Organisationen und Beobachtern zusammen. UNODC kann regelmäßig Haftanstalten besuchen und dort auch mit Ausbildungsmaßnahmen und bei der Infrastruktur unterstützend tätig werden. Auch UNICEF und UNSOM können Häftlinge besuchen. Somaliland gestattet unabhängigen Beobachtern von NGOs Zutritt zu Haftanstalten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 8). Ein Zusammenschluss an NGOs hat im Zeitraum November 2018 bis März 2021 in Baidoa, Kismayo und Mogadischu 1.026 Besuche in Gefängnissen, Polizeistationen und anderen Haft- bzw. Anhalteeinrichtungen durchgeführt (SW 1.2022).

Al Shabaab hält Personen in den Gebieten unter ihrer Kontrolle in Haft, teils für verhältnismäßig geringfügige Vergehen und unter inhumanen Bedingungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7). Die Haftbedingungen in Haftanstalten von al Shabaab (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7; vergleiche UNOHCHR 25.11.2022) und in von traditionellen Autoritäten geführten Gebieten sind oft hart und lebensbedrohlich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7).

Todesstrafe

Letzte Änderung 2023-03-17 08:26

In allen Landesteilen wird die Todesstrafe verhängt und vollzogen, deutlich seltener [im Gegensatz zu Gebieten von al Shabaab] in Gebieten unter der Kontrolle der jeweiligen Regierung – und dort nur für schwerste Verbrechen (AA 28.6.2022, Sitzung 21). Allerdings kommt es dort auch nach Verfahren, die nicht internationalen Standards genügen, zur Ausführung der Todesstrafe (AA 28.6.2022, Sitzung 15; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; HRW 13.1.2022). Die von Bundes- aber auch von Regionalbehörden verhängten Todesurteile werden oft innerhalb weniger Tage vollstreckt; in manchen Fällen wird Verurteilten eine bis zu dreißigtägige Berufungsfrist eingeräumt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3/12f).

Im Jahr 2021 wurden in ganz Somalia mindestens 27 Todesurteile verhängt und mindestens 21 Todesurteile vollstreckt (AI 24.5.2022). 21 Urteile und unmittelbare Vollstreckungen erfolgten am 27.6.2021 in Puntland. Dort wurden wegen Al-Shabaab-Terrorismus Verurteilte durch ein Erschießungskommando exekutiert (AI 24.5.2022; vergleiche UNSC 10.8.2021, Absatz 43 ;, HRW 13.1.2022). Im Zeitraum Feber bis Mai 2022 wurden in Puntland zwei Angehörige der al Shabaab, fünf ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte und ein Zivilist zum Tod verurteilt. In Jubaland wurden zwei ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte exekutiert (UNSC 13.5.2022, Absatz 53,). Schon Anfang Jänner 2022 waren in Puntland vier Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren zum Tode verurteilt worden (STC 11.2.2022). Die Zahl der im Gefängnis sitzenden zum Tode Verurteilten ist unklar (UNOHCHR 25.11.2022).

In Somaliland wurde die Todesstrafe nach einem neunjährigen Moratorium 2016 wieder eingeführt. 2020 wurden dort 12 Menschen exekutiert (AA 28.6.2022, Sitzung 16/22), Anfang des Jahres 2022 wurden vier ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte exekutiert (UNSC 13.5.2022, Absatz 53,). In Somaliland ist es möglich, zum Tode Verurteilte bis zur letzten Minute hin durch Verhandlungen freizukaufen. Üblicherweise dient als Kompensation das Äquivalent von hundert Kamelen. Dass derartige Einigungen noch in letzter Minute kurz vor der Exekution vorkommen, ist nicht unüblich (AE 7.9.2022).

In den von al Shabaab kontrollierten Gebieten kommt es zu öffentlichen Exekutionen, v. a. nach Spionagevorwürfen (USDOS 2.6.2022, Sitzung 6) oder wegen Blasphemie (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6). Die Todesstrafe wird auch wegen Ehebruchs und "Kooperation mit den Feinden des Islam" (d. h. mit der Regierung, ATMIS, UNO oder Hilfsorganisationen) verhängt (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Al Shabaab hat alleine im Zeitraum Mai-Juli 2021 19 Zivilisten öffentlich hingerichtet – 18 davon wegen vorgeblicher Spionage und eine Person wegen Mordes (UNSC 10.8.2021, Absatz 42,). Exekutionen durch al Shabaab werden öffentlich vollzogen (AA 28.6.2022, Sitzung 22), manchmal werden Menschen zum Zuschauen gezwungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6).

Religionsfreiheit

Letzte Änderung 2023-03-17 08:28

Die somalische Bevölkerung bekennt sich zu über 99 % zum sunnitischen Islam (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Eine Konversion zu einer anderen Religion bleibt in einigen Gebieten verboten und gilt als sozial inakzeptabel. Nur eine sehr kleine Minderheit hängt tatsächlich einer anderen Religion oder islamischen Richtung an (USDOS 2.6.2022, Sitzung 2). Die auf einige Hundert geschätzten (ÖB 11.2022, Sitzung 4) Christen praktizieren ihren Glauben nicht in der Öffentlichkeit (FH 2022a, D2).

Somalis folgten traditionell der Shafi’i-Schule des islamischen Rechts, geführt von mehreren dominanten Sufi-Orden bzw. Sekten (turuuq) (Bryden 8.11.2021). Der Sufismus hat sich in Ostafrika in den vergangenen 200 Jahren ausgebreitet und in Somalia eigene Formen angenommen (AQ11 10.7.2022). Trotz des aggressiven Vordringens des importierten Salafismus’ schätzen viele Somali nach wie vor ihren Sufi-Glauben und ihre Sufi-Bräuche (Bryden 8.11.2021). Als Sufi-Hochburgen gelten Galgaduud und Hiiraan (Sahan 14.10.2022). Allerdings macht sich seit 20 Jahren der Einfluss des Wahhabismus und damit der Vormarsch einer konservativen Auslegung des Islams bemerkbar (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Salfafisten, al Quaida und al Shabaab verabscheuen die Sufi-Interpretation des Islam (AQ11 10.7.2022).

Gebiete unter Regierungskontrolle

Letzte Änderung 2022-07-26 09:59

Somalia ist seinem verfassungsmäßigen Selbstverständnis nach ein islamischer Staat, der nicht vorrangig auf religiöse Vielfalt und Toleranz ausgelegt ist (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Die Verfassungen von Somalia, Puntland und Somaliland bestimmen den Islam als Staatsreligion. Das islamische Recht (Scharia) wird als grundlegende Quelle der staatlichen Gesetzgebung genannt (AA 28.6.2022, Sitzung 14f; vergleiche BS 2022, Sitzung 9; USDOS 2.6.2022, Sitzung 1ff), alle Gesetze müssen mit den generellen Prinzipien der Scharia konform sein. Auch die Verfassungen der anderen Bundesstaaten erklären den Islam zur offiziellen Religion (USDOS 2.6.2022, Sitzung 1ff).

Der Übertritt zu einer anderen Religion ist gesetzlich nicht explizit verboten, wohl aber wird die Scharia entsprechend interpretiert. Blasphemie und "Beleidigung des Islam" sind Straftatbestände (USDOS 2.6.2022, Sitzung 2f). Nach anderen Angaben ist es Muslimen verboten, eine andere Religion anzunehmen (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Jedenfalls sind Missionierung bzw. die Werbung für andere Religionen laut Verfassung verboten (FH 2022a, D2; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 15). Andererseits bekennt sich die Verfassung zu Religionsfreiheit (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Auch sind dort ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion (FH 2022a, D2) sowie die freie Glaubensausübung festgeschrieben (USDOS 2.6.2022, Sitzung 2).

Unabhängig von staatlichen Bestimmungen und insbesondere jenseits der Bereiche, in denen die staatlichen Stellen effektive Staatsgewalt ausüben können, sind islamische und lokale Traditionen und islamisches Gewohnheitsrecht weit verbreitet (28.6.2022, Sitzung 15). Es herrscht ein starker sozialer Druck, den Traditionen des sunnitischen Islam zu folgen. Eine Konversion vom Islam zu einer anderen Religion wird als sozial inakzeptabel erachtet. Jene, die unter dem Verdacht stehen, konvertiert zu sein, sowie deren Familien müssen mit Belästigungen seitens ihrer Umgebung rechnen (USDOS 2.6.2022, Sitzung 7).

Gebiete von al Shabaab

Letzte Änderung 2023-03-17 08:29

In Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist die Praktizierung eines moderaten Islams sowie anderer Religionen untersagt (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Al Shabaab setzt in den von ihr kontrollierten Gebieten gewaltsam die eigene Interpretation des Islam und der Scharia durch (FH 2022a, D2; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 6). Al Shabaab drangsaliert, verletzt oder tötet Menschen aus unterschiedlichen Gründen, u. a. dann, wenn sich diese nicht an die Edikte der Gruppe halten (USDOS 2.6.2022, Sitzung 1). Eltern, Lehrer und Gemeinden, welche sich nicht an die Vorschriften von al Shabaab halten, werden bedroht. Zudem droht al Shabaab damit, jeden Konvertiten zu exekutieren (USDOS 2.6.2022, Sitzung 6). Auf Apostasie steht die Todesstrafe (FH 2022a, D2). Scheinbar gilt dies auch für Blasphemie, denn am 5.8.2021 wurde ein 83-Jähriger in der Nähe der Stadt Ceel Buur (Galmudug) von al Shabaab durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Dem urteilenden Gericht zufolge hatte der Mann gestanden, den Propheten beleidigt zu haben (BAMF 9.8.2021; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 6). Christen droht Verfolgung, die diesbezügliche Situation hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Al Shabaab will Christen in Somalia gezielt auslöschen (ÖB 11.2022, Sitzung 4).

In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab sind Politik und Verwaltung von religiösen Dogmen geprägt (BS 2022, Sitzung 10). Al Shabaab verbietet dort generell "un-islamisches Verhalten" - Kinos, Fernsehen, Musik, Internet, das Zusehen bei Sportübertragungen, der Verkauf von Khat, Rauchen und weiteres mehr. Es gilt das Gebot der Vollverschleierung (USDOS 2.6.2022, Sitzung 7; vergleiche CFR 19.5.2021). Allerdings scheint al Shabaab bei der Durchsetzung derartiger Normen zunehmend pragmatisch zu sein (ICG 27.6.2019, Sitzung 7).

Minderheiten und Clans

Letzte Änderung 2023-03-17 08:31

Zu Clanschutz siehe auch Kapitel Rechtsschutz / Justizwesen

Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen (SPC 9.2.2022). Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2022, Sitzung 10). Selbst relative starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan 30.9.2022).

Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessenvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des Xeer. Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler. Al Shabaab installiert oft Älteste, welche die Gruppe repräsentieren. Er wird so zum Bindeglied zwischen der Gemeinschaft und al Shabaab. So werden zuvor legitime Strukturen in Geiselhaft genommen (Sahan 26.10.2022).

In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56) und für ökonomische sowie politische Partizipation (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56; vergleiche BS 2022, Sitzung 23). Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2022, Sitzung 23). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UNOCHA 14.3.2022).

Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Weder das traditionelle Recht (Xeer) (SEM 31.5.2017, Sitzung 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, Sitzung 42; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen (ÖB 11.2022, Sitzung 4). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, Sitzung 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, Sitzung 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, Sitzung 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14).

Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel (ÖB 11.2022, Sitzung 3). Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten (ÖB 11.2022, Sitzung 3; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 31f; FH 2022a, B4). Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert (FH 2022a, B4). Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen (SPC 9.2.2022). So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (ÖB 11.2022, Sitzung 4).

Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 14; FH 2022a, F4). Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (AA 28.6.2022, Sitzung 14). Zudem sind die Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen weniger gut ausgebaut, und sie verfügen über geringere Ressourcen (Sahan 24.10.2022) und erhalten weniger Remissen (Sahan 24.10.2022; vergleiche SPC 9.2.2022). Die mächtigen Gruppen erhalten den Löwenanteil an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird (Sahan 24.10.2022). Dementsprechend stehen Haushalte, die einer Minderheit angehören, einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u.a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (UNOCHA 14.3.2022).

Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).

Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt (BS 2022, Sitzung 19; vergleiche ÖB 11.2022 Sitzung 6). Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet (DI 6.2019, Sitzung 11; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Al Shabaab hat sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Gruppen zunutze gemacht (Sahan 24.10.2022). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022). Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab beitreten (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Missstände treiben ganze Gemeinden in die Arme von al Shabaab. Sie suchen ein taktisches Bündnis – haben dabei aber keine dschihadistische Vision, sondern wollen ihre Rivalen ausstechen. Al Shabaab nimmt derartige Spannungen gerne auf und verwendet sie für eigene Zwecke (Sahan 30.9.2022). Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (ÖB 11.2022, Sitzung 4f).

Bevölkerungsstruktur

Letzte Änderung 2022-07-26 10:05

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar (AA 28.6.2022, Sitzung 11/14). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UNOCHA 14.3.2022; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44; vergleiche SEM, 31.5.2017, Sitzung 12). Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, Sitzung 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 5).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2022, Sitzung 34). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017, Sitzung 8).

Die sogenannten "noblen" Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:

●             Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

●             Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

●             Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

●             Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.

●             Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 10). Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (BS 2020, Sitzung 9).

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017, Sitzung 25). In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (FIS 7.8.2020, Sitzung 38ff).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LI 4.4.2016, Sitzung 9). Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (BS 2022, Sitzung 25).

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Ethnische Minderheiten, aktuelle Situation

Letzte Änderung 2023-03-17 08:32

Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums (SEM 31.5.2017, Sitzung 11). Die soziale Stellung der einzelnen ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich (SEM 31.5.2017, Sitzung 14). Sie werden aber als minderwertig (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44) und mitunter als Fremde erachtet (SPC 9.2.2022). So können Angehörige ethnischer Minderheiten auf Probleme stoßen - bis hin zu Staatenlosigkeit - wenn sie z. B. in einem Flüchtlingslager außerhalb Somalias geboren wurden (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Generell sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt, wie dies Anfang der 1990er der Fall war (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Dies gilt auch für Mogadischu. Allerdings sind dort all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, Sitzung 3). In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (UNFPA/DIS 25.6.2020).

Nach anderen Angaben drohen ethnischen Minderheiten Stigmatisierung, soziale Absonderung, Verweigerung von Rechten und ein niedriger sozialer, ökonomischer und politischer Status (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44), Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ressourcen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v. a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig wie für die Älteren (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff).

Die Bantu sind die größte Minderheit in Somalia (SEM 31.5.2017, Sitzung 12f; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 41). Es gibt zahlreiche Bantu-Gruppen bzw. -Clans, wie z. B. Gosha, Makane, Kabole, Shiidle, Reer Shabelle, Mushunguli, Oji oder Gobaweyne; pejorativ werden sie auch Adoon (Sklaven) oder Jareer (Kraushaar) genannt. Traditionell leben sie als sesshafte Bauern in den fruchtbaren Tälern der Flüsse Juba und Shabelle (SEM 31.5.2017, Sitzung 12f; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Von den ca. 900.000 IDPs, die sich im Großraum Mogadischu aufhalten (Stand 2020), sind rund 700.000 Bantu (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff).

Die Bantu werden überall in Somalia rassistisch stigmatisiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25) und diskriminiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25; vergleiche BS 2022, Sitzung 9; USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; GIGA 3.7.2018). Die meisten Somali schauen auf die sesshaften Bantu, die zum Teil einst als Sklaven ins Land gekommen waren, herab (SEM 31.5.2017, Sitzung 14; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Sie sind das dramatischste Beispiel für die Schlechterbehandlung durch dominierende Gruppen (Sahan 30.9.2022) und werden als Bürger zweiter Klasse erachtet (BS 2022, Sitzung 9) und befinden sich am untersten Ende der Gesellschaft (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 9f). Auch in IDP-Lagern werden sie diskriminiert, Bantu-Frauen mangelt es dort an Schutz durch die traditionelle Clanstruktur (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche LIFOS 19.6.2019, Sitzung 8). 80 % der Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt finden sich unter ihnen (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff). Überhaupt befinden sich Bantu in einer vulnerablen Situation, da zuvor bestehende Patronageverhältnisse (welche Schutz gewährleisteten) im Bürgerkrieg erodiert sind. Dadurch haben Bantu heute kaum Zugang zum Xeer (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 9f). Bantu sind besonders schutzlos (ÖB 11.2022, Sitzung 4; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 42). Andererseits sind einige Bantu-Gruppen mit lokal mächtigen Clans Allianzen eingegangen, um sich dadurch zu schützen (FIS 7.8.2020, Sitzung 44).

Mischehen werden stigmatisiert (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 7). Im September 2018 wurde ein Bantu in Mogadischu in Zusammenhang mit einer Mischehe getötet. Allerdings war dies ein sehr außergewöhnlicher Vorfall, über welchen viele Somali ihre Entrüstung äußerten (NLMBZ 3.2019, Sitzung 43). Al Shabaab hingegen hat zahlreiche Kinder der Bantu entführt oder zwangsrekrutiert. Trotzdem genießt die Gruppe bei dieser Minderheit größere Unterstützung (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 7ff). Die meisten Fußsoldaten von al Shabaab, die aus Middle Shabelle stammen, gehören zu Gruppen mit niedrigem Status – etwa zu den Bantu. Al Shabaab hat diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (Ingiriis 2020).

Einem Bericht zufolge sind aus den USA deportierte somalische Bantu - manchmal schon am Flughafen in Mogadischu - von Bewaffneten entführt worden, um Lösegeld zu erpressen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Benadiri ist ein Dachbegriff für verschiedene voneinander unabhängige urbane Minderheiten, die in den Küstenstädten des Südens leben (z. B. Mogadischu, Merka, Baraawe) und sich traditionell im Handel betätigen. Sie haben eine gemischte Abstammung aus Somalia, Arabien, Persien, Indien und Portugal (SEM 31.5.2017, Sitzung 13f; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Vor 1991 hatten sie einen privilegierten Status. Ohne bewaffnete Miliz waren sie im Bürgerkrieg aber schutzlos. Heute werden Benadiri gemeinhin als Händler respektiert (SEM 31.5.2017, Sitzung 13f). In Mogadischu stellen die Benadiri die zweitgrößte Minderheitengruppe. Einige von ihnen haben es geschafft, reich zu werden (FIS 7.8.2020, Sitzung 41ff). Im Gegensatz zu den Bantu kommt ihnen kein geringerer Status zu, Mischehen sind kein Problem (LI 14.6.2018, Sitzung 17). Auch von Sicherheitsproblemen wird (in Mogadischu) nicht berichtet (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45). Vielen Reer Xamar (Teil der Benadiri) ist es gelungen, ihre vormaligen Immobilien im Bezirk Xamar Weyne (Mogadischu) durch Zahlungen zurückzuerhalten. Dort stellen sie auch die Bevölkerungsmehrheit (LI 21.5.2019b, Sitzung 2f).

Die Bajuni sind ein kleines Fischervolk, das auf den Bajuni-Inseln im Süden Somalias sowie in Kismayo (SEM 31.5.2017, Sitzung 14; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57) aber auch entlang der kenianischen Küste bis Lamu lebt. Der UNHCR zählt die Bajuni zu den Benadiri (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57).

Kinder von Mischehen der al-Shabaab: Einige somalische Mädchen und Frauen haben ausländische Kämpfer (z.B. aus Europa, USA, Asien) der al Shabaab geheiratet. Die aus solchen Ehen hervorgegangenen Kinder sind teils leicht zu identifizieren (ICG 27.6.2019, Sitzung 9).

Berufsständische Minderheiten, aktuelle Situation

Letzte Änderung 2023-03-17 08:32

Berufsständische Gruppen unterscheiden sich weder durch Abstammung noch durch Sprache und Kultur von der Mehrheitsbevölkerung (SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff). Sie sind somalischen Ursprungs, wurden aber von den traditionellen Clan-Lineages ausgeschlossen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Im Gegensatz zu den „noblen“ Clans wird ihnen nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf Prophet Mohammed zurückverfolgen zu können (SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff). Ihre traditionellen Berufe werden als unrein oder unehrenhaft erachtet (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45; SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff) - etwa Jäger, Lederverarbeiter, Schuster, Friseure, Töpferinnen, traditionelle Heiler oder Hebammen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45). Diese Gruppen stehen damit auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie in der Gesellschaft. Sie leben verstreut in allen Teilen des somalischen Kulturraums, mehrheitlich aber in Städten. Ein v. a. im Norden bekannter Sammelbegriff für einige berufsständische Gruppen ist Gabooye, dieser umfasst etwa die Tumal, Madhiban, Muse Dheriyo und Yibir (SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff). Ein anderer Sammelbegriff ist Midgan (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57).

Diskriminierung: Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye (SEM 31.5.2017, Sitzung 43f). In Mogadischu sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Gewalt ausgesetzt. Allerdings sind all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, Sitzung 3).

Die berufsständischen Kasten werden zudem diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse erachtet (BS 2022, Sitzung 9). Zu ihrer Diskriminierung trägt bei, dass sie sich weniger strikt organisieren und sie viel ärmer sind. Daher sind sie nur in geringerem Maß in der Lage, Kompensation zu zahlen oder Blutrache anzudrohen (GIGA 3.7.2018; vergleiche SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Insgesamt ist die soziale Stufe und die damit verbundene Armut für viele das Hauptproblem. Hinzu kommt, dass diese Minderheiten in der Regel eine tendenziell schlechtere Kenntnis des Rechtssystems haben. Der Zugang berufsständischer Gruppen zur Bildung ist erschwert, weil an ihren Wohnorten z. B. Schulen fehlen. Außerdem verlassen viele Kinder die Schule früher, um zu arbeiten. Viele Familien sind auf derartige Einkommen angewiesen. Die meist schlechtere Bildung wiederum führt zur Benachteiligung bei der Arbeitssuche, bei der die Clanzugehörigkeit ohnehin oft zu Diskriminierung führen kann. Da berufsständische Gruppen nur über eine kleine Diaspora verfügen, profitieren sie zudem in geringerem Ausmaß von Remissen als Mehrheitsclans (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff).

Dennoch sind vereinzelt auch Angehörige berufsständischer Gruppen wirtschaftlich erfolgreich. Auch wenn sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht stellen, finden sich einzelne Angehörige in den Regierungen, im Parlament und in der Wirtschaft (SEM 31.5.2017, Sitzung 49).

Mischehe: In dieser Frage kommt es weiterhin zu einer gesellschaftlichen Diskriminierung, da Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen meist nicht akzeptieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Mehrheitsfrau einen Minderheitenmann heiratet. Der umgekehrte Fall ist weniger problematisch (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Aufgrund dieses teils starken sozialen Drucks (FH 2022a, G3) kommen Mischehen äußerst selten vor (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff; vergleiche FIS 5.10.2018, Sitzung 26). Diesbezüglich bestehen aber regionale Unterschiede: Im Clan-mäßig homogeneren Norden des somalischen Kulturraums sind Mischehen seltener und gleichzeitig stärker stigmatisiert als im Süden (ÖB 11.2022, Sitzung 4; vergleiche SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Hawiye und Rahanweyn sehen die Frage der Mischehe weniger eng. Außerdem ist der Druck auf Mischehen insbesondere in ländlichen Gebieten ausgeprägt (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). In Mogadischu sind Mischehen möglich (FIS 5.10.2018, Sitzung 26). Auch al Shabaab hat Hindernisse für Mischehen beseitigt, in ihren Gebieten kommt es zunehmend zu solchen Eheschließungen (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Die Gruppe hat Fußsoldaten, die zu Gruppen mit niedrigem Status gehören, dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (Ingiriis 2020).

Eine Mischehe führt so gut wie nie zu Gewalt oder gar zu Tötungen. Seltene Vorfälle, in denen es etwa in Somaliland im Zusammenhang mit Mischehen zu Gewalt kam, sind in somaliländischen Medien dokumentiert (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Trotzdem können diese Ehen negative Folgen für die Ehepartner mit sich bringen – insbesondere, wenn der Mann einer Minderheit angehört (ÖB 11.2022, Sitzung 4). So kommt es häufig zur Verstoßung des aus einem "noblen" Clan stammenden Teils der Eheleute durch die eigenen Familienangehörigen. Letztere besuchen das Paar nicht mehr, kümmern sich nicht um dessen Kinder oder brechen den Kontakt ganz ab; es kommt zu sozialem Druck (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Diese Art der Verstoßung kann vor allem in ländlichen Gebieten vorkommen. Eine Mischehe sorgt auf jeden Fall für Diskussionen und Getratsche, nach einer gewissen Zeit wird sie aber meist akzeptiert (FIS 5.10.2018, Sitzung 26).

Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose

Letzte Änderung 2022-06-13 09:42

Auch Angehörige starker Clans können zu Minderheiten werden. Dies ist dann der Fall, wenn sie in einem Gebiet leben, in dem ein anderer Clan dominant ist. Dies kann Einzelpersonen oder auch ganze Gruppen betreffen. So sehen sich beispielsweise die Biyomaal als exponierter Dir-Clan in Südsomalia manchmal in dieser Rolle. Generell gerät eine Einzelperson immer dann in die Rolle der Minderheit, wenn sie sich auf dem Gebiet eines anderen Clans aufhält. Sie verliert so die mit ihrer Clanzugehörigkeit verbundenen Privilegien. Die Position als "Gast" ist schwächer als jene des "Gastgebers". Im System von "hosts and guests" sind Personen, die sich außerhalb des eigenen Clanterritoriums niederlassen, gegenüber Angehörigen des dort ansässigen Clans schlechter gestellt. In Mogadischu gelten etwa Angehörige der Isaaq, Rahanweyn und Darod als "Gäste". Dieses System gilt auch für IDPs (SEM 31.5.2017, Sitzung 11f/32f).

Diskriminierung: In den meisten Gegenden schließt der dominante Clan andere Gruppen von einer effektiven Partizipation an Regierungsinstitutionen aus. Diskriminierung erfolgt etwa auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Gerichtsverfahren (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Angehörige eines (Sub-)Clans können in von einem anderen (Sub-)Clan dominierten Gebiete auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, insbesondere in Konfliktsituationen bezüglich Unfällen, Eigentum oder Wasser (AA 18.4.2021, Sitzung 12). In Mogadischu ist es im Allgemeinen schwierig, Menschen die dort aufgewachsen sind, nach Clans zu differenzieren. Es gibt keine äußerlichen Unterschiede, auch der Akzent ist der gleiche. Selbst anhand von Namen lassen sich die Menschen nicht einmal ethnisch zuordnen, da vor allem arabische Namen verwendet werden (UNFPA/DIS 25.6.2020).

Ashraf und Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status aus der von ihnen angegebenen Abstammung von der Tochter des Propheten; die Sheikhal aus einem vererbten religiösen Status. Beide Clans werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Die Sheikhal sind außerdem eng mit dem Clan der Hawiye/Hirab assoziiert und nehmen sogar einige Sitze der Hawiye im somalischen Parlament ein. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil-Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (EASO 8.2014, Sitzung 46f/103).

Für eine Person ohne Clanidentität ist gesellschaftlicher Schutz nicht vorhanden. Dies führt nicht automatisch zu Misshandlung, fördert aber die Vulnerabilität. Sollte eine Person ohne Clanidentität und ohne Ressourcen zurückkehren, wird es im gegenwärtigen somalischen Kontext für diese physisch und wirtschaftlich sehr schwierig, zu überleben (ACCORD 29.5.2019, Sitzung 2f). Allerdings gibt es laut Experten bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri 3.5.2021).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit sowie Religionszugehörigkeit des BF und zu seinen muttersprachlichen Sprachkenntnissen beruhen auf seinen diesbezüglich gleichbleibenden Angaben im verwaltungsbehördlichen Verfahren vergleiche AS 25f, AS 67f und AS 210) und teilweise auch auf seinem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vergleiche OZ 5, Sitzung 4). Ebenso brachte er gleichbleibend im Laufe des Asylverfahrens vor, der berufsständischen Gruppe der Ashraf anzugehören vergleiche AS 67 AS 210; OZ 5, Sitzung 4), was auch vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid festgestellt wurde vergleiche AS 100). Auch zu seiner Herkunft machte der BF übereinstimmende Angaben im Laufe des Verfahrens vergleiche AS 25 und 29, AS 68 sowie OZ 5, Sitzung 4).

Ferner beruhen die Feststellungen zur Antragstellung auf internationalen Schutz sowie zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auf dem unbestrittenen Akteninhalt, insbesondere jedoch auf der Niederschrift der Erstbefragung vom römisch 40 vergleiche AS 25ff) sowie dem Bescheid des Bundesamtes vom römisch 40 vergleiche AS 81ff.).

2.2. Zu den Flucht- und Verfolgungsgründen des BF

2.2.1. Aufgrund seines in der mündlichen Verhandlung erhaltenen persönlichen Eindrucks sowie der im Verwaltungsakt einliegenden Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahme des BF vor dem Bundesamt geht der zur Entscheidung berufene Richter des Bundesverwaltungsgerichtes davon aus, dass dem BF hinsichtlich seines vorgetragenen Fluchtvorbringens, wonach Al Shabaab den BF sowie seinen Vater nach dem Besuch seines für die somalische Polizei in römisch 40 tätig gewesenen Onkels aufgesucht und inhaftiert hätte, woraufhin beide nach der Verweigerung des Onkels mit Al Shabaab zusammenzuarbeiten aufgrund des Vorwurfes der Spionage zum Tode verurteilt worden wären, es dem BF jedoch gelungen sei zu fliehen, sein Vater aber getötet worden sei sowie auch, dass er aufgrund seiner Clanzugehörigkeit bedroht gewesen sei, keine Glaubwürdigkeit zukommt, zumal seine diesbezüglichen Angaben mehrere Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten aufweisen.

2.2.2. Der BF verstrickte sich bereits hinsichtlich seines ersten Besuches bei seinem als Polizist in römisch 40 arbeitenden Onkel in einen Widerspruch. Demnach gab er in der Einvernahme an, dass er ihn besucht habe, da er etwas Ähnliches wie Malaria gehabt habe vergleiche AS 73), in der Verhandlung vor dem BVwG behauptete er jedoch ausdrücklich, dass er an Malaria erkrankt gewesen sei Sitzung 8 in OZ 5). Zumal die Fluchtgeschichte im Wesentlichen mit seiner Erkrankung und dem Besuch seines Onkels, aufgrund dessen ihm von Al Shabaab vorgeworfen worden sei als Spion zu arbeiten, begonnen habe, ist nicht nachvollziehbar, warum er seine Krankheit im Verfahren nicht einheitlich vorgebracht hat.

2.2.3. Weiters gab er den Vorfall bei ihm zu Hause, wonach er und sein Vater von Al Shabaab entführt worden wären, unterschiedlich an.

In der Einvernahme behauptete der BF konkret dazu befragt, dass er und sein Vater zu Hause gesessen seien. Die Widersacher seien am Kopf bedeckt gewesen und hätten ihnen mitgeteilt, dass sie von Al Shabaab seien. Der BF und sein Vater seien am Boden gesessen und hätte man mit einer Taschenlampe auf sie geleuchtet. Bevor sie zu reden begonnen hätten, hätten sie den BF mit einem Stock geschlagen und ihm beide Hände zusammengebunden. Bei seinem Vater habe sich das Gleiche ereignet. Sie hätten sie dann zu einem Auto geführt und sie dort hineingedrängt (AS 74). In der Verhandlung gab er hierzu im Wesentlichen an, dass viele Leute von Al Shabaab ihre Unterkunft umgeben hätten, nachgefragt dazu meinte er aber unter 20. Sie seien vermummt gewesen und hätten die Taschenlampe gegen sie gerichtet. Der BF und sein Vater seien alleine zu Hause gewesen. Er sei in der Nähe der Tür gewesen. Al Shabaab hätte ihn sofort geschlagen und ihn auf den Bauch gelegt. Sie hätten ihm die Augen verbunden. Auch sein Vater habe laut geschrien, dann seien sie ins Auto gesteckt worden. Auf Nachfrage erläuterte er zudem, dass er gefesselt worden und seine Hände nach hinten gerichtet worden seien, nachdem Al Shabaab ihn geschlagen und auf den Bauch gelegt habe. Dann seien seine Augen verbunden worden, nachdem er bereits im Auto gewesen sei. Er und sein Vater seien in zwei verschiedenen Autos transportiert worden vergleiche Sitzung 12f in OZ 5). Da es sich hierbei um einen wesentlichen Umstand der Fluchtgeschichte des BF handelt ist nicht nachvollziehbar, warum er nicht bereits vor der belangten Behörde angab, dass sein Haus von zahlreichen Al Shabaab Männern umstellt worden sei. Vielmehr gab er hierzu keine Angaben an, sondern lediglich von jenen, die in das Haus gekommen seien. Im Übrigen ließ er vor dem BFA auch unerwähnt, dass die Männer ihn auf den Bauch gelegt hätten, nachdem er von ihnen geschlagen worden sei, sowie seine Augen verbunden worden wären. Vor dem BVwG verlor er hingegen wiederum kein Wort darüber, dass auch sein Vater geschlagen und dessen Hände zusammengebunden worden seien. Hätte sich ein vom BF geschilderter Vorfall tatsächlich ereignet, so ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er sich an die Wesentlichem Umstände dessen erinnern hätten können und er diese im Verfahren einheitlich schildern hätte können.

2.2.4. Ferner lässt auch die Schilderung der Fahrt vom Haus des BF zu jenem Ort, an dem er festgehalten worden sei, Zweifel aufkommen. Diesbezüglich brachte er in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor, dass sich zwei Personen, die mit ihm mitgefahren seien, während der Fahrt über Essen unterhalten hätten. Nachgefragt, ob dies während der gesamten Fahrt der Fall gewesen sei, meinte er, dass sie manchmal kurz stehengeblieben seien und miteinander gescherzt hätten. Weiter hierzu befragt, wie lange er von seinem Elternhaus bis zu diesem Gefängnis unterwegs gewesen sei, meinte er, dass es zehn Minuten zu Fuß gewesen seien. Auf die Frage, ob er mit dem Auto gefahren oder zu Fuß gegangen sei, führte er nunmehr aus, dass er gefahren sei, aber Leute aus dem ländlichen Bereich zu Fuß gehen würden. Mit dem Auto seien es nicht mehr als fünf Minuten gewesen. Er wisse nicht, ob das Auto schnell oder langsam gefahren sei. Er habe nur gespürt, dass es fahre. Während der gesamten Fahrtzeit sei der BF auf der Ladefläche gelegen vergleiche Sitzung 13f in OZ 5). Für das Bundesverwaltungsgericht ist im Hinblick der Schilderung des BF demnach nicht nachvollziehbar bzw. hervorgekommen, warum die Männer auf einer lediglich fünfminütigen Fahrt „manchmal“, demnach also mehrmals, kurz angehalten hätten. Selbst unter der Annahme, dass dies dem Verkehr bzw. der Infrastruktur geschuldet gewesen wäre, so ist es für das BVwG nicht nachvollziehbar, dass im gegenständlichen Fall der BF nicht einzuschätzen vermochte, ob das Auto schnell oder langsam unterwegs gewesen sei, obwohl er sich während der Fahrt auf der Ladefläche befunden haben soll. Selbst wenn man davon ausgeht, dass seine Augen verbunden gewesen wären, so hätte er dies jedenfalls unter den vom BF geschilderten Umständen merken müssen. Sein Vorbringen ist daher auch an dieser Stelle keineswegs plausibel. Darüber hinaus ist es für das BVwG nicht nachvollziehbar, dass sich dieser noch an das genaue Datum der Festnahme von Seiten der Mitglieder der Al Shabaab zu erinnern vermag vergleiche Sitzung 12 in OZ 5), anderseits aber keine Angaben zum Wochentag des die Flucht auslösenden Ereignisses machen konnte und nicht einmal in der Lage war das behauptete Ereignis am Wochenbeginn oder Wochenende einzuordnen. Dass sich der BF wegen eines dabei erlittenen Schockes nicht mehr an den Wochentag zu erinnern vermag, ist im Hinblick der konkreten Angabe des Datums des Ereignisses nicht nachvollziehbar.

2.2.5. Darüber hinaus steigerte der BF sein Vorbringen auch gravierend, indem er vor dem BVwG erstmals behauptete, dass er auf den Boden geschmissen worden sei, als das Auto beim Gefängnis stehen geblieben sei. Auf mehrfache Nachfrage gab er schließlich an, dass er sich hierbei auch verletzt und Schmerzen verspürt habe. Er habe keine Risswunden davongetragen, aber durch den Stoß Schmerzen verspürt vergleiche Sitzung 14f in OZ 5). Schwer verständlich ist, dass er hiervon nicht bereits in der Einvernahme erzählt hat, insbesondere vor dem Hintergrund, dass er dort auch konkret zu dem Vorfall bei ihm zu Hause befragt wurde und er betreffend seine Ankunft im Gefangenenlager nur noch darauf verwies, dass er und sein Vater eingesperrt worden seien vergleiche AS 74). Es ist jedoch anzunehmen, dass er spätestens an dieser Stelle von einem derart ruppigen Umgang mit ihm erzählt hätte, auch wenn er keine Risswunde davongetragen habe, sondern „nur“ Schmerzen verspürt habe.

2.2.6. Des Weiteren tätigte der BF auch zu seinem und dem Gefängnisaufenthalt seines Vaters widersprüchliche Angaben. In der Einvernahme brachte er vor, dass er seinen Vater zuletzt bei der Gerichtsverhandlung gesehen habe, bei welcher die beiden zum Tode verurteilt worden seien. Laut seinem Vater sei der Raum, in welchem dieser gewesen sei, voll gewesen. Mit ihm seien viele andere dort gemeinsam gesessen. Befragt dazu, woher er dies wisse, meinte er, dass er dies gesehen habe, als Al Shabaab Mitglieder den Vater des BF in einen Raum gebracht und hierfür die Tür aufgemacht hätten. Dadurch habe er dies gesehen. Er selbst sei in einen anderen Raum gebracht worden vergleiche AS 75f). Vor dem BVwG gab der BF hierzu in Widerspruch an, dass er glaube, dass sein Vater mit nur einer Person eingesperrt gewesen sei. Die Räume seien sehr eng gewesen und habe es nicht mehr Platz für mehrere Personen gegeben. Er habe während des Gefängnisaufenthaltes keinen Kontakt zu seinem Vater gehabt, da sie in verschiedenen Zimmern eingesperrt gewesen seien vergleiche Sitzung 15 in OZ 5). Im Hinblick der Ausführungen des BF geht somit bereits aus dem Vorbringen in der Einvernahme nicht hervor, ob der BF nun gesehen habe, mit wie vielen Personen sein Vater eingesperrt gewesen sei oder ob sein Vater ihm hiervon doch erzählt habe („laut seinem Vater“). Dies wiederum ist auch insbesondere vor dem Hintergrund nicht aufklärbar, als er auch in der Verhandlung vorbrachte, dass er mit seinem Vater während der Verhandlung nicht habe reden können vergleiche Sitzung 15 in OZ 5). Ferner handelt es sich um einen maßgeblichen Widerspruch, wenn er einerseits angibt, dass sein Vater mit vielen anderen dort gemeinsam gesessen sei, er andererseits jedoch vor dem BVwG meint, dass dieser nur mit einer Person eingesperrt und kein Platz für mehr Personen vorhanden gewesen sei.

Ungereimtheiten ergeben sich überdies auch im Hinblick des Zeitpunktes der Vollstreckung des von den Al Shabaab verhängten Todesurteiles gegen den BF. So führte der BF hinsichtlich des Grundes der Nichtvollstreckung dieses Urteiles u.a. zunächst aus, dass dafür ein bestimmter Termin festgesetzt werden würde und das Gericht deswegen vielleicht mit der Vollstreckung gezögert hätte, während er in der Folge angab, dass üblicherweise das Datum der Hinrichtung bei der Verkündung des Urteiles nicht erwähnt werden würde. Woher der BF zu dieser Information gelangt sein will, lässt sich für das Bundesverwaltungsgericht allerdings nicht nachvollziehen, als der BF eigenen Angaben nach lediglich bei seiner Verhandlung vor dem Al Shabaab Gericht anwesend gewesen sein will.

2.2.7. Ferner ergeben sich auch im Vergleich zwischen Einvernahme und Verhandlung Diskrepanzen betreffend seine Flucht aus dem Gefängnis. Vor der belangten Behörde behauptete er, dass er zum Glück durch das Land in die Richtung gelaufen sei, wo er eine Person seiner Clanangehörigkeit getroffen habe. Er habe diesem mitgeteilt, dass er eben vor Al Shabaab geflohen sei. Der Mann habe ihm dann gesagt, dass er dem BF helfen und sagen könne, wo er hingehen müsse, wobei er nicht bei ihm übernachten könne. Die Person habe ihn unterstützt. Er sei nach römisch 40 gegangen vergleiche AS 75 und 73). In der Beschwerdeverhandlung gab der BF hingegen an, dass er zu seinem Dorf Richtung Sonnenaufgang gelaufen sei, welchen er sehen habe können, wenn er im Hof gewesen sei, insbesondere wenn er zur Toilette gemusst habe. Er sei zur Unterkunft eines Clanangehörigen gerannt, der im selben Dorf, wie er gewohnt habe, aber in Richtung der Felder. Er sei nur kurz, ca. zehn Minuten, dort gewesen bis dieser gesagt habe, dass er kommen solle, da sie jetzt losfahren würden. So sei er nach römisch 40 gelangt vergleiche Sitzung 8 und 18ff in OZ 5). Auch diesbezüglich erscheint schwer verständlich, dass der BF eine derart wesentliche Situation im Rahmen seiner Flucht im Laufe des Verfahrens nicht einheitlich wiedergeben konnte, zumal er vor dem BFA lediglich vorbrachte, dass der Mann mit derselben Clanzugehörigkeit, wie der BF, angeboten habe ihm zu sagen, wo er hin müsse, während er ihn, laut seinem Vorbringen vor dem BVwG, sogar vorbrachte, dass er ihn nach römisch 40 gefahren habe, jedoch wiederum nicht mehr erwähnte, dass der Mann ihm mitgeteilt habe, dass er nicht dort schlafen könne.

2.2.8. Im Übrigen gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung einleitend befragt zu seinem Onkel an, dass er weder wisse wie lange, noch ab wann dieser begonnen habe, als Polizist in römisch 40 zu arbeiten. Vor seinem Besuch bei diesem habe er nicht einmal gewusst, dass er Polizist sei. Er habe auch nie mit seinen Eltern über seinen Onkel gesprochen. Dies erscheint jedoch vor dem Hintergrund, dass sein Vater mit dem Onkel ein sehr gutes Verhältnis gehabt habe und sein Onkel dem Vater des BF immer ausgerichtet habe, dass er ihm Grüße ausrichten solle, sowie dass auch der BF einen guten Kontakt zu ihm gehabt habe, keinesfalls nachvollziehbar vergleiche Sitzung 6f in OZ 5).

2.2.9. Darüber hinaus kann aus der Ermordung des Onkels des BF ebenso keine für diesen bestehende Gefährdung abgeleitet werden, zumal er im Verfahren stringent selbst vorbrachte, dass dieser bei einem Anschlag gegen das Bildungsministerium ermordet worden sei und es ihn deshalb erwischt habe, da er gerade dort gewesen sei vergleiche AS 77, im Wesentlichen auch Sitzung 4 in OZ 5). Dass der Onkel bei einem Selbstmordattentat gestorben sei, steht somit in keinem kausalen Zusammenhang zum Fluchtvorbringen des BF.

2.2.10. Vor dem BVwG gab er außerdem zu seinen Familienangehörigen an, dass es ihnen gesundheitlich gut gehe, außer seiner Mutter, die Selbstgespräche führe. Sie würden nach wie vor im Elternhaus des BF in römisch 40 wohnen und ihren Lebensunterhalt mit dem Züchten von Tieren verdienen. Der letzte Kontakt habe vorige Woche bestanden. Neben eben dargestellten Informationen sei nichts besprochen worden vergleiche Sitzung 4f in OZ 5). Dass seine Mutter von Al Shabaab bedroht worden sei, sie Probleme bekommen würden (siehe Einvernahme, AS 76), wenn sie den Ort verlassen würden, erwähnte der Beschwerdeführer in der Verhandlung nicht mehr. Zumal offenbar die Familie des BF seinen Angaben nach an ihrem Herkunftsort weiterhin problemlos lebt und ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften kann, spricht dies ebenso gegen die Glaubhaftigkeit der vorbrachten Fluchtgründe des BF. Dies auch in Anbetracht dessen, dass eine Bedrohung seiner Mutter zweifelhaft erscheint, da er seine diesbezüglichen Angaben in der Verhandlung relativierte, indem er hiervon nicht mehr erzählte.

2.2.11. Der Vollständigkeit halber wird angeführt, dass das BVwG nicht verkennt, dass der BF vorgebracht hat, dass er bereits einmal mit ca. 15 Jahren von Al Shabaab inhaftiert worden und einen Monat angehalten worden sei, da er einem Kind verweigert habe diesem „Zakaht“ zu zahlen und es geschimpft habe. Er sei nach einem Monat aber einfach freigelassen werden, vielleicht deshalb, weil Al Shabaab viele Tiere von ihnen genommen hätte vergleiche Sitzung 17 in OZ 5). Eine hieraus abgeleitete Gefährdung machte der BF jedoch nicht geltend, weshalb daher auch nicht näher darauf einzugehen war.

2.2.12. Ebenso wenig ist eine Verfolgungsgefahr wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit im Verfahren hervorgekommen, zumal sich eine solche aus den Länderinformationen nicht ergibt (siehe auch Kapitel „Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose“). Denn die Madhiban, der Hauptclan dem der BF angehört, sowie die Tumal, Muse Dheriyo und Yibir werden unter dem Sammelbegriff der „Gabooye“ zusammengefasst. Für diese hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal „normal“ die Schule besuchen konnten, jedoch gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye.

2.2.13. Zusammengefasst ist festzuhalten, dass der BF die Gründe für das Verlassen seines Herkunftsstaates aufgrund der aufgezeigten Widersprüche bzw. Unstimmigkeiten insgesamt nicht hinreichend glaubhaft darstellen konnte.

2.2.14. Abschließend wird der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass allfälligen dem Beschwerdeführer drohenden, nicht asylrelevanten Gefährdungen, durch die bereits von der belangten Behörde erfolgte Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ausreichend Rechnung getragen wurde.

2.3. Zu den Feststellungen zum Herkunftsstaat

Die verfahrenswesentlichen Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur Situation in Somalia stammen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation „Somalia“, Version 6, Datum der Veröffentlichung: römisch 40 , beruhen auf den dort angeführten Quellen und wurden mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom römisch 40 dem BF im Wege seiner Vertretung zur Kenntnis gebracht. Die Länderfeststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen und stellen angesichts der bisherigen Ausführungen im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens des BF dar. Der BF bzw. seine Rechtsvertretung sind diesen Berichten nicht entgegengetreten.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides:

3.1.1. Paragraph 3, Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.

[…]“

3.1.2. Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.

Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.1.3. Im vorliegenden Fall ist es dem BF nicht gelungen, objektiv begründete Furcht vor aktueller Verfolgung in gewisser Intensität darzutun. Wie bereits in der Beweiswürdigung unter Punkt römisch II.2.2. ausgeführt, hat der BF nicht glaubhaft gemacht, dass er einer Bedrohung durch Al-Shabaab aufgrund seines in römisch 40 für die somalische Polizei tätig gewesenen Onkels ausgesetzt gewesen sei und dem BF nun von Al-Shabaab eine feindliche politische Gesinnung unterstellt wird. Auch eine Verfolgungsgefahr in asylrelevanter Intensität wegen der Clanzugehörigkeit des BF machte der BF nicht glaubhaft.

3.1.4. Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (VwGH 25.09.2020, Ra 2019/19/0407; mwN).

In Ermangelung von den BF individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte dieser Rechtsprechung des VwGH zu prüfen, ob der BF im Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale unabhängig von individuellen Aspekten einer gezielten Verfolgung ausgesetzt wäre.

Muslimen (sunnitischer Islam) droht als Angehörigen der größten Glaubensgemeinschaft und traditionellen Hauptreligionen Somalias keine Verfolgung. Mit über 99% gehört die somalische Bevölkerung fast ausschließlich dem sunnitischen Islam, so wie auch der BF, an.

Hinweise, dass dem BF aus sonstigen Gründen im Fall der Rückkehr nach Somalia aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen die reale Gefahr einer Verfolgung droht, sind im Verfahren im Übrigen nicht hervorgekommen.

3.1.5. Insgesamt war daher das Vorbringen des BF nicht geeignet, eine mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung aus asylrelevanten Gründen darzutun, weshalb es dem BF insgesamt nicht gelungen ist, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Folglich war die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stützen, die bei den jeweiligen Erwägungen wiedergegeben wurde. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2024:W124.2269080.1.00