Bundesverwaltungsgericht
02.07.2024
W135 2280589-1
W135 2280589-1/6E
W135 2280588-1/6E
W135 2280591-1/6E
W135 2280590-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Ivona GRUBESIC über die Beschwerden von 1.) römisch 40 , geb. römisch 40 , 2.) römisch 40 , geb. römisch 40 , 3.) römisch 40 , geb. römisch 40 , und 4.) römisch 40 , geb. römisch 40 , alle StA. Syrien, die minderjährigen Zweit- und Viertbeschwerdeführenden gesetzlich vertreten durch die Mutter, römisch 40 , alle vertreten durch römisch 40 , gegen die Spruchpunkte römisch eins. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.09.2023, 1.) Zl. römisch 40 , 2.) Zl. römisch 40 , 3.) Zl. römisch 40 und 4.) Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
Die Erstbeschwerdeführerin römisch 40 ist die Mutter der minderjährigen Zweit- römisch 40 und Viertbeschwerdeführenden römisch 40 sowie der zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährigen Drittbeschwerdeführerin römisch 40 . Die Beschwerdeführenden stellten nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 12.06.2023 Anträge auf internationalen Schutz.
Am 13.06.2023 fanden vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftlichen Erstbefragungen der Erst- bis Drittbeschwerdeführenden statt. Dabei gab die Erstbeschwerdeführerin an, sie habe Syrien vor einer Woche illegal in die Türkei verlassen, weil sie nicht möchte, dass ihre Kinder (Sohn und zwei Töchter) zum Militärdienst eingezogen würden. Ebenso würden Kinder entführt. Es gebe auch keine gute Schuldbildung und keine Sicherheit. Ihr Ehemann sei herzkrank, dieser habe auch gewollt, dass sie in Sicherheit leben. Das seien alle ihre Fluchtgründe. Zu ihren Rückkehrbefürchtungen befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, sie habe Angst um das Leben ihrer Kinder. Der Zweitbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen an, er habe Angst, vom Militär eingezogen zu werden. Die Drittbeschwerdeführerin führte befragt zu ihren Fluchtgründen aus, sie wolle hier in Österreich eine Ausbildung machen und ihre Träume verwirklichen. Des Weiteren sei es in Syrien sehr gefährlich, da Frauen entführt würden. Die Fragen, ob ihnen im Falle einer Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe, die Todesstrafe oder sonstige Sanktionen drohen würden, verneinten die Erst- bis Drittbeschwerdeführenden.
Am 11.09.2023 wurde die Erstbeschwerdeführerin durch die nunmehr belangte Behörde, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie an, Angehörige der Volksgruppe der Kurden und sunnitische Muslima zu sein. Sie habe bis zu ihrer Eheschließung im Dorf römisch 40 in römisch 40 gelebt, anschließend sei sie nach römisch 40 übersiedelt, wo sie bis zur Ausreise mit ihrem Mann und ihren Kindern gelebt habe. Ihr Mann lebe ebenso wie eine ihrer Schwestern in römisch 40 , einer ihrer Brüder lebe in römisch 40 . Ihr Mann habe erneut geheiratet, sie seien aber nicht geschieden worden. Zu ihren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin an, die Leute und Kinder seien entführt worden, dort herrsche Krieg, es habe keine Sicherheit mehr für sie und ihre Kinder gegeben. Sie möchten in Sicherheit leben. Ihre Tochter sei 18 bzw. 17,5 Jahre alt und es würden sowohl die Mädchen als auch die Jungen zum Militär einberufen. Die Frage, ob sie selbst oder ein Familienangehöriger je Probleme mit Behörden und/oder Dritten gehabt habe, verneinte die Erstbeschwerdeführerin. Auch die Frage, ob eines ihrer Kinder einberufen worden sei, verneinte die Erstbeschwerdeführerin, gab in diesem Zusammenhang aber an, sie (gemeint wohl: die bewaffneten Gruppierungen bzw. Kriegsparteien) würden versuchen, die Kinder in der Schule zu überzeugen, dass sie am Krieg teilnehmen. Auch die weitere Frage, ob sie oder ihre Familienangehörigen politisch aktiv oder im Heimatland Mitglieder einer politischen Organisation oder eines politischen Vereins (gewesen) seien, verneinte die Erstbeschwerdeführerin für sich und ihre Kinder. Zu ihren Rückkehrbefürchtungen gab sie an, sie habe dort niemanden mehr, ihr Mann sei verheiratet und würde sich nicht um sie kümmern. Für sie habe das Familienleben geendet, sie werde sich nicht scheiden lassen, sie werde aber auch nicht mit ihrem Ehemann leben. Im Rahmen ihrer Einvernahme verzichtete die Erstbeschwerdeführerin auf die Einvernahme ihrer Kinder und gab an, sie habe alle Gründe für sich selbst und ihrer Kinder vorgebracht. Weitere Ausreisegründe hätten ihre Kinder nicht.
Die Beschwerdeführenden legten im Verfahren vor dem BFA Personalausweise der Erst- bis Drittbeschwerdeführenden im Original (diese wurden im Rahmen von Überprüfungen als echt befunden) vor.
Mit Bescheiden der belangten Behörde vom 14.09.2023 wurden die Anträge der Beschwerdeführenden auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführenden der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkte römisch II.) und ihnen gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 befristete Aufenthaltsberechtigungen für jeweils ein Jahr erteilt (Spruchpunkte römisch III.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführenden hätten Syrien aufgrund des Krieges verlassen. Eine Zwangsrekrutierung der Zweit- bis Viertbeschwerdeführenden hätten sie hingegen nicht glaubhaft machen können. So habe die Erstbeschwerdeführerin keine näheren Angaben machen können, welche auf eine tatsächliche Gefährdung der Kinder schließen lassen würden, dies insbesondere vor dem Hintergrund der Angaben, wonach eine offizielle Einberufung nicht erfolgt sei. Ebenso ergebe sich auch aus den herangezogenen Länderberichten keine systematische Zwangsrekrutierung von Frauen oder generell von Kurdinnen und Kindern in Syrien. Eine drohende Zwangsrekrutierung durch kurdische Milizen könne daher nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Doch bestehe ein Abschiebehindernis, fußend auf der momentan instabilen Sicherheitslage in Syrien, weshalb den Beschwerdeführenden der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen sei.
(Lediglich) gegen die Spruchpunkte römisch eins. dieser Bescheide erhoben die Beschwerdeführenden mit Eingabe vom 12.10.2023 fristgerecht gemeinsame Beschwerde. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, die Beschwerdeführenden fürchten mit zunehmenden Alter immer mehr eine Entführung oder Zwangsrekrutierung der Zweit- bis Viertbeschwerdeführenden, dies sowohl vom syrischen Regime als auch von oppositionellen Gruppierungen. Der Mann der Erstbeschwerdeführerin habe kurz nach der Ausreise eine andere Frau geheiratet, weshalb die Erstbeschwerdeführerin keinen Kontakt mehr zu ihm habe und im Falle einer Rückkehr auch nicht mehr mit ihm zusammenleben würde. Sie wäre daher de facto eine alleinstehende Frau und als solche – ebenso wie ihre Töchter – einem besonderen Risiko geschlechterspezifischer Gewalt ausgesetzt. Darüber hinaus habe sich die Behörde nicht ausreichend mit der Situation von Kindern in Syrien sowie der Gefahr einer drohenden Rekrutierung auseinandergesetzt und auch keine Überlegungen hinsichtlich der Berücksichtigung des Kindeswohls getroffen. Des Weiteren genüge bereits die Asylantragstellung in Europa, um in Syrien schwerwiegende Verfolgungshandlungen befürchten zu müssen.
Die belangte Behörde legte die (gemeinsame) Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten am 02.11.2023 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.06.2024 eine mündliche Verhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Die Erst- bis Drittbeschwerdeführenden wurden im Beisein ihrer Rechtsvertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Kurmanji zu ihren Fluchtgründen befragt und wurde ihnen Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Syrien Stellung zu nehmen. Die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführenden gab in diesem Zusammenhang an, auf die Gefahr einer Zwangsrekrutierung Minderjähriger sei bereits in der Beschwerde hingewiesen worden. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass sowohl das syrische Regime als auch die kurdischen Streitkräfte junge Männer ab 18 Jahren zur Ableistung des Militärdienstes verpflichten würden. Der Zweitbeschwerdeführer habe mittlerweile das 17. Lebensjahr erreicht, weshalb eine Prognoseentscheidung bezüglich einer möglichen zwangsweisen Einziehung anzustellen sei (VfGH vom 27.11.2023, E 2533/2023, und vom 28.11.2023, E 1106/2023).
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zu den Personen der Beschwerdeführenden:
Die Beschwerdeführenden führen die im Spruch ersichtlichen Personalien. Die Identität der Viertbeschwerdeführerin steht nicht zweifelsfrei fest. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der Zweit- bis Viertbeschwerdeführenden.
Die Beschwerdeführenden sind syrische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Kurden und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der Beschwerdeführenden ist Kurdisch-Kurmanji.
Die Erstbeschwerdeführerin ist mit dem Vater der Zweit- bis Viertbeschwerdeführenden verheiratet.
Die Erstbeschwerdeführerin ist in römisch 40 im Dorf römisch 40 geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach ihrer Eheschließung im Alter von etwa 21 Jahren zog die Erstbeschwerdeführerin zu ihrem Ehemann nach römisch 40 , wo auch die Zweit- bis Viertbeschwerdeführenden geboren wurden und sie bis zu ihrer Ausreise aus Syrien gelebt haben.
Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. der Vater der Zweit- bis Viertbeschwerdeführenden lebt nach wie vor in römisch 40 . Darüber hinaus lebt auch eine Schwester der Erstbeschwerdeführerin in römisch 40 und einer ihrer Brüder ist in römisch 40 aufhältig.
Als Herkunftsregion der Beschwerdeführenden ist die Stadt römisch 40 und deren umliegende Umgebung anzusehen. Das Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden liegt im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet. Das Herkunftsgebiet steht – mit Ausnahme der bestehenden „Sicherheitsquadrate“, in denen die syrische Zentralregierung die Kontrolle ausübt – aktuell unter der Kontrolle der kurdischen Autonomiebehörden.
Die Beschwerdeführenden verließen Syrien etwa im Juni 2023 und reisten zunächst in die Türkei, bevor sie über mehrere unbekannte Länder nach Österreich reisten und hier am 12.06.2023 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.
Die Erst- bis Drittbeschwerdeführenden sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Die Viertbeschwerdeführerin ist noch nicht strafmündig.
Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführenden:
Im Falle einer Rückkehr nach Syrien in ihre Herkunftsregion droht den Zweit- und Viertbeschwerdeführenden als aktuell Minderjährige und der bereits volljährigen Drittbeschwerdeführerin nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine reale Gefahr der Verfolgung bzw. der Zwangsrekrutierung seitens der kurdischen Milizen oder der syrischen Zentralregierung.
Auch wäre der Zweitbeschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien – nach Erreichen des wehrfähigen Alters – nicht einer Einberufung und Einziehung zum Militärdienst der syrischen Armee ausgesetzt. Die Herkunftsregion des Beschwerdeführers steht nicht im Einfluss- oder Kontrollgebiet der syrischen Zentralregierung, sondern unter der Kontrolle der kurdischen Autonomiebehörden, und ist auch ohne Kontakt zu den syrischen Behörden erreichbar.
In der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“, in der sich die Herkunftsregion der Beschwerdeführenden befindet, sind Männer, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben, zum „Wehrdienst“ verpflichtet. Der im Jahr 2008 geborene, nunmehr 16-jährige Zweitbeschwerdeführer unterliegt daher aktuell noch nicht der „Wehrpflicht“ in der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“.
Darüber hinaus würden die kurdischen Autonomiebehörden dem Zweitbeschwerdeführer – nach Erreichen des wehrfähigen Alters – im Falle einer Verweigerung, den Dienst in den „Selbstverteidigungseinheiten“ zu leisten, keine oppositionelle oder politische Gesinnung unterstellen und würde dem Zweitbeschwerdeführer auch keine unverhältnismäßige Strafe drohen. Ebenso wäre eine Weigerung des Zweitbeschwerdeführers, den „Wehrdienst“ in der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ abzuleisten, auch nicht Ausdruck einer politischen oder oppositionellen Gesinnung.
Der Zweitbeschwerdeführer hat sich in Syrien nicht politisch betätigt. Er hat im gesamten Verfahren auch keine oppositionelle Einstellung gegenüber der SDF vorgebacht. Den Wehrdienst möchte er nicht leisten, weil er nicht kämpfen möchte. Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der „Selbstverteidigungspflicht“ erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz. Wenn der Zweitbeschwerdeführer im Falle seiner hypothetischen Rückkehr versuchen sollte, diesem Dienst zu entgehen, wird er mit der Verlängerung der „Wehrpflicht“ um einen Monat bestraft und allenfalls einer vorhergehenden Haft im Ausmaß von ein bis zwei Wochen. Der Zweitbeschwerdeführer ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zur Beteiligung an Kampfhandlungen verpflichtet. Er ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verlegung an die Front ausgesetzt und muss sich nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit an der Begehung von Menschenrechtsverletzungen beteiligen.
Des Weiteren droht den Zweit- und Viertbeschwerdeführenden im Falle einer Rückkehr nicht konkret und individuell die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt aufgrund ihrer Minderjährigkeit.
Den Erst-, Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen droht bei einer Rückkehr nach Syrien auch nicht alleine aufgrund ihres Geschlechtes konkret und individuell die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt.
Ebenso droht den Beschwerdeführenden auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund ihrer illegalen Ausreise und ihrer Asylantragstellungen bzw. einer ihnen hierdurch allfällig unterstellten oppositionellen Haltung. Nicht jedem Rückkehrer, der sich im Ausland aufgehalten und dort einen Asylantrag gestellt hat, wird eine oppositionelle Gesinnung unterstellt.
Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Syrien basieren auf nachstehenden Quellen:
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 27.03.2024 (LIB)
UNHCR Erwägungen zum Schutzbedarf von syrischen Staatsangehörigen aus März 2021 (UNHCR)
EUAA Country Guidance: Syria aus April 2024 (EUAA)
Politische Lage
Letzte Änderung 2024-03-08 10:59
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 Prozent des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023). Solange das militärische Engagement von Iran, Russland, Türkei und USA auf bisherigem Niveau weiterläuft, sind keine größeren Veränderungen bei der Gebietskontrolle zu erwarten (AA 2.2.2024).
Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen (AA 2.2.2024). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus (FH 9.3.2023). In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus (AA 2.2.2024). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).
Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen (AA 2.2.2024). Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vergleiche SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon (CMEC 16.5.2023; vergleiche Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren (AA 2.2.2024). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen (AA 2.2.2024).
Regional positionierte sich das Regime seit Ausbruch der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023 öffentlich an der Seite der Palästinenser und kritisierte Israel, mit dem sich Syrien formell weiterhin im Kriegszustand befindet, scharf (AA 2.2.2024).
Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien
Letzte Änderung 2024-03-08 11:12
2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) gekommen sein, deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine 'zweite Front' in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrîn, 'Ain al-'Arab (Kobanê) und die Jazira/Cizîrê von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017).
Im November 2013 - etwa zeitgleich mit der Bildung der syrischen Interimsregierung (SIG) durch die syrische Opposition - rief die PYD die sogenannte Demokratische Selbstverwaltung (DSA) in den Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê aus und fasste das so entstandene, territorial nicht zusammenhängende Gebiet unter dem kurdischen Wort für "Westen" (Rojava) zusammen. Im Dezember 2015 gründete die PYD mit ihren Verbündeten den Demokratischen Rat Syriens (SDC) als politischen Arm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) (SWP 7.2018). Die von den USA unterstützten SDF (TWI 18.7.2022) sind eine Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheitengruppen (USDOS 20.3.2023), in dem der militärische Arm der PYD, die YPG, die dominierende Kraft ist (KAS 4.12.2018). Im März 2016 riefen Vertreter der drei Kantone (Kobanê war inzwischen um Tall Abyad erweitert worden) den Konstituierenden Rat des "Demokratischen Föderalen Systems Rojava/Nord-Syrien" (Democratic Federation of Northern Syria, DFNS) ins Leben (SWP 7.2018). Im März 2018 (KAS 4.12.2018) übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrîn mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022). Im September 2018 beschloss der SDC die Gründung des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) auf dem Gebiet der drei Kantone (abzüglich des von der Türkei besetzten Afrîn). Darüber hinaus wurden auch Gebiete in Deir-ez Zor und Raqqa (K24 6.9.2018) sowie Manbij, Takba und Hassakah, welche die SDF vom Islamischen Staat (IS) befreit hatten, Teil der AANES (SO 27.6.2022).
Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet 'belohnt' zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 20.3.2023). Türkische Vorstöße auf syrisches Gebiet im Jahr 2019 führten dazu, dass die SDF zur Abschreckung der Türkei syrische Regierungstruppen einlud, in den AANES Stellung zu beziehen (ICG 18.11.2021). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren (ÖB Damaskus 1.10.2021). Mit Stand Mai 2023 besteht kein entsprechender Vertrag zwischen den AANES und der syrischen Regierung (Alaraby 31.5.2023). Unter anderem wird über die Verteilung von Öl und Weizen verhandelt, wobei ein großer Teil der syrischen Öl- und Weizenvorkommen auf dem Gebiet der AANES liegen (K24 22.1.2023). Normalisierungsversuche der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und der syrischen Regierung wurden in den AANES im Juni 2023 mit Sorge betrachtet (AAA 24.6.2023). Anders als die EU und USA betrachtet die Türkei sowohl die Streitkräfte der YPG als auch die Partei PYD als identisch mit der von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und daher als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 2.2.2024).
Die Führungsstrukturen der AANES unterscheiden sich von denen anderer Akteure und Gebiete in Syrien. Die "autonome Verwaltung" basiert auf der egalitären, von unten nach oben gerichteten Philosophie Abdullah Öcalans, der in der Türkei im Gefängnis sitzt [Anm.: Gründungsmitglied und Vorsitzender der PKK]. Frauen spielen eine viel stärkere Rolle als anderswo im Nahen Osten, auch in den kurdischen Sicherheitskräften. Lokale Nachbarschaftsräte bilden die Grundlage der Regierungsführung, die durch Kooptation zu größeren geografischen Einheiten zusammengeführt werden (MEI 26.4.2022). Es gibt eine provisorische Verfassung, die Lokalwahlen vorsieht (FH 9.3.2023). Dies ermöglicht mehr freie Meinungsäußerung als anderswo in Syrien und theoretisch auch mehr Opposition. In der Praxis ist die PYD nach wie vor vorherrschend, insbesondere in kurdisch besiedelten Gebieten (MEI 26.4.2022), und der AANES werden autoritäre Tendenzen bei der Regierungsführung und Wirtschaftsverwaltung des Gebiets vorgeworfen (Brookings 27.1.2023; vergleiche SD 22.7.2021). Die mit der PYD verbundenen Kräfte nehmen regelmäßig politische Opponenten fest. Während die politische Vertretung von Arabern formal gewährleistet ist, werden der PYD Übergriffe gegen nicht-kurdische Einwohner vorgeworfen (FH 9.3.2023). Teile der SDF haben Berichten zufolge Übergriffe verübt, darunter Angriffe auf Wohngebiete, körperliche Misshandlungen, rechtswidrige Festnahmen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie willkürliche Zerstörung und Abriss von Häusern. Die SDF haben die meisten Vorwürfe gegen ihre Streitkräfte untersucht. Einige Mitglieder der SDF wurden wegen Missbrauchs strafrechtlich verfolgt, jedoch lagen dazu keine genauen Zahlen vor (USDOS 20.3.2023).
Sicherheitslage
Türkische Militäroperationen in Nordsyrien
Letzte Änderung 2024-03-08 12:27
[…]
"Operation Friedensquelle" (türk. "Barış Pınarı Harekâtı")
Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mithilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive, einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 10.10.2019). Der UN zufolge wurden innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Im Hinterland begannen IS-Zellen, Anschläge zu organisieren (GEG 3.4.2023). Medienberichten zufolge sind in dem Gefangenenlager ʿAyn Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (Standard 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (Zeit 10.10.2019). Auch im Zuge der türkischen Militäroperation "Friedensquelle" kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022).
Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der "türkischen Aggression" entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichteten (Standard 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernahmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (WP 14.10.2019). Seitdem verblieben die Machtverhältnisse [mit Stand April 2023] weitgehend unverändert (GEG 3.4.2023). Die syrischen Regierungstruppen üben im Gebiet punktuell Macht aus, etwa mit Übergängen zwischen einzelnen Stadtvierteln (z. B. Stadt Qamischli im Gouvernement Al-Hassakah) (AA 29.3.2023). Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine "Sicherheitszone" in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra's al-ʿAyn ein (SWP 1.1.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.5.2020). […]
Nordost-Syrien (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) und das Gebiet der SNA (Syrian National Army)
Letzte Änderung 2024-03-08 15:02
Besonders volatil stellt sich laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amt die Lage im Nordosten Syriens (v. a. Gebiete unmittelbar um und östlich des Euphrats) dar. Als Reaktion auf einen, von der Türkei der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) zugeschriebenen, Terroranschlag mit mehreren Toten in Istanbul startete das türkische Militär am 19.11.2022 eine mit Artillerie unterstützte Luftoperation gegen kurdische Ziele u. a. in Nordsyrien. Bereits zuvor war es immer wieder zu vereinzelten, teils schweren Auseinandersetzungen zwischen türkischen und Türkei-nahen Einheiten und Einheiten der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) sowie Truppen des Regimes gekommen, welche in Abstimmung mit den SDF nach Nordsyrien verlegt wurden. Als Folge dieser Auseinandersetzungen, insbesondere auch von seit Sommer 2022 zunehmenden türkischen Drohnenschlägen, wurden immer wieder auch zivile Todesopfer, darunter Kinder, vermeldet (AA 29.3.2023). Auch waren die SDF gezwungen, ihren Truppeneinsatz angesichts türkischer Luftschläge und einer potenziellen Bodenoffensive umzustrukturieren. Durch türkische Angriffe auf die zivile Infrastruktur sind auch Bemühungen um die humanitäre Lage gefährdet (Newlines 7.3.2023). Die Angriffe beschränkten sich bereits im 3. Quartal 2022 nicht mehr nur auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfanden; im Juli und August 2022 trafen türkische Drohnen Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobanê, Tell Abyad, Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und Hassakah (CC 3.11.2022). Bereits im Mai 2022 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine vierte türkische Invasion seit 2016 angekündigt (HRW 12.1.2023). Anfang Oktober 2023 begannen die türkischen Streitkräfte wieder mit der Intensivierung ihrer Luftangriffe auf kurdische Ziele in Syrien, nachdem in Ankara ein Bombenanschlag durch zwei Angreifer aus Syrien verübt worden war (REU 4.10.2023). Die Luftangriffe, die in den Provinzen Hasakah, Raqqa und Aleppo durchgeführt wurden, trafen für die Versorgung von Millionen von Menschen wichtige Wasser- und Elektrizitätsinfrastruktur (HRW 26.10.2023; vergleiche AA 2.2.2024).
Der Think Tank Newslines Institute for Strategy and Policy sieht auf der folgenden Karte besonders die Gebiete von Tal Rifa'at, Manbij und Kobanê als potenzielle Ziele einer türkischen Offensive. Auf der Karte sind auch die Strecken und Gebiete mit einer Präsenz von Regime- und pro-Regime-Kräften im Selbstverwaltungsgebiet ersichtlich, die sich vor allem entlang der Frontlinien zu den pro-türkischen Rebellengebieten und entlang der türkisch-syrischen Grenze entlangziehen. In Tal Rifa'at und an manchen Grenzabschnitten sind sie nicht präsent:

Quelle: Newlines 7.3.2023
Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen (CMEC 2.10.2020) [Anm.: Siehe hierzu Unterkapitel türkische Militäroperationen in Nordsyrien im Kapitel Sicherheitslage]. Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der 'Syrian National Army' (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB Damaskus 1.10.2021). […]
SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad-Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022). Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS (PBS 22.2.2022), und die Region gilt als "Hauptschauplatz für den Aufstand des IS" (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022).
Die kurdischen YPG stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation IS in Syrien vorgehen (AA 29.11.2021). In Reaktion auf die Reorganisation der Truppen zur Verstärkung der Front gegen die Türkei stellten die SDF vorübergehend ihre Operationen und andere Sicherheitsmaßnahmen gegen den Islamischen Staat ein. Dies weckte Befürchtungen bezüglich einer Stärkung des IS in Nordost-Syrien (Newlines 7.3.2023). Die SDF hatten mit Unterstützung US-amerikanischer Koalitionskräfte allein seit Ende 2021 mehrere Sicherheitsoperationen durchgeführt, in denen nach eigenen Angaben Hunderte mutmaßliche IS-Angehörige verhaftet und einzelne Führungskader getötet wurden (AA 2.2.2024).
Der IS führt weiterhin militärische Operationen in der AANES durch. Die SDF reagieren auf die Angriffe mit routinemäßigen Sicherheitskampagnen, unterstützt durch die Internationale Koalition. Bisher konnten diese die Aktivitäten des IS und seiner affiliierten Zellen nicht einschränken. SOHR dokumentierte von Anfang 2023 bis September 2023 121 Operationen durch den IS, wie bewaffnete Angriffe und Explosionen, in den Gebieten der AANES. Dabei kamen 78 Personen zu Tode, darunter 17 ZivilistInnen und 56 Mitglieder der SDF (SOHR 24.9.2023). […]
Türkische Angriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens (Zenith 11.2.2022). Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich heute in einer zunehmend prekären politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (TWI 15.3.2022). Wie in anderen Bereichen üben die dominanten Politiker der YPG, der mit ihr verbündeten Organisationen im Sicherheitsbereich sowie einflussreiche Geschäftsleute Einfluss auf die Wirtschaft aus, was verbreiteten Schmuggel zwischen den Kontrollgebieten in Syrien und in den Irak ermöglicht (Brookings 27.1.2023). Angesichts der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Nordosten Syriens haben die SDF zunehmend drakonische Maßnahmen ergriffen, um gegen abweichende Meinungen im Land vorzugehen und Proteste zum Schweigen zu bringen, da ihre Autorität von allen Seiten bedroht wird (Etana 30.6.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem gegen den niedrigen Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.8.2021) sowie gegen steigende Treibstoffpreise (AM 30.5.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im Gouvernement Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem Asayish [Anm: Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion] in die Proteste eingriffen (al-Sharq 27.8.2021; vergleiche AM 30.5.2021). Die Türkei verschärft die wirtschaftliche Lage in AANES absichtlich, indem sie den Wasserfluss nach Syrien einschränkt (KF 5.2022). Obwohl es keine weitverbreiteten Rufe nach einer Rückkehr des Assad-Regimes gibt, verlieren einige Einwohner das Vertrauen, dass die kurdisch geführte AANES für Sicherheit und Stabilität sorgen kann (TWI 15.3.2022).
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 2024-03-11 06:47
Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 11.1.2024). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie "verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 2.2.2024). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 2.2.2024). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 2.2.2024). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 2.2.2024).
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren (AA 2.2.2024).
Eine realistische Möglichkeit zur Einforderung einer strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte besteht nicht. Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 2.2.2024).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten (darunter laut SNHR drei Todesfälle durch Folter im Jahr 2022), Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die Berichte dazu betreffen u. a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Folteropfer der SDF starben im Zeitraum Januar 2014 bis Juni 2022 SNHR zufolge mindestens 83 Menschen durch Folter, darunter ein Kind und zwei Frauen (SNHR 26.6.2022).
Anmerkung: Für weitere Informationen zu den Arten und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen siehe auch das Kapitel zur Sicherheitslage sowie besonders die Kapitel zur Menschenrechtslage und zur Todesstrafe sowie das Kapitel Haftbedingungen. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst.
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung 2024-03-11 06:50
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Die Dauer des Wehrdienstes beträgt 18 Monate bzw. 21 Monate für jene, die die fünfte Klasse der Grundschule nicht abgeschlossen haben (PAR 1.6.2011). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 2.2.2024). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022). Einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge sollen Männer auch unabhängig ihres Gesundheitszustandes eingezogen und in der Verwaltung eingesetzt worden sein (NMFA 8.2023). […]
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 2.2.2024). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 2.2.2024; vergleiche ICWA 24.5.2022). […]
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).
Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten (STDOK 8.2017; vergleiche DIS 7.2023). Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vergleiche AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 2.2.2024).
Rekrutierungspraxis
Es gibt, dem Auswärtigen Amt zufolge, zahlreiche glaubhafte Berichte, laut denen wehrpflichtige Männer, die auf den Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (AA 2.2.2024). Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 2.2.2024; vergleiche NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vergleiche NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gibt es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 2.2.2024).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vergleiche ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Hausdurchsuchungen finden dabei v.a. eher in urbanen Gebieten statt, wo die SAA stärkere Kontrolle hat, als in ruralen Gebieten (DIS 1.2024). Mehrere Quellen berichteten im Jahr 2023 wieder vermehrt, dass Wehr- und Reservedienstpflichtige aus ehemaligen Oppositionsgebieten von der syrischen Regierung zur Wehrpflicht herangezogen wurden, um mehr Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen bzw. um potenzielle Oppositionskämpfer aus diesen Gebieten abzuziehen (NMFA 8.2023; vergleiche DIS 7.2023). Eine Quelle des Danish Immigration Service geht davon aus, dass Hausdurchsuchungen oft weniger die Rekrutierung als vielmehr eine Erpressung zum Ziel haben (DIS 1.2024).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vergleiche FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023). […]
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (al-Morabat al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Dies wird auch von SNHR bestätigt, die ebenfalls angeben, dass die Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist (ACCORD 7.9.2023). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o. Ä.] anerkennt (EB 15.8.2022). […]
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Der syrische Präsident erließ einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vergleiche SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vergleiche NMFA 5.2022). Ein weiterer Beschluss wurde im Dezember 2023 erlassen, wonach Reserveoffiziere, die mit 31.01.2024 ein Jahr oder mehr aktiv ihren Wehrdienst abgeleistet haben, ab 1.2.2024 nicht mehr einberufen werden. Dieser Beschluss beendet ebenfalls die Einberufung von Unteroffizieren und Reservisten, die mit 31.1.2024 sechs Jahre oder mehr aktiven Wehrdienst geleistet haben (SANA 4.12.2023).
Die Rekruten werden während des Wehrdienstes im Allgemeinen nicht gut behandelt. Der Umgang mit ihnen ist harsch. Nur wer gute Verbindungen zu höheren Offizieren oder Militärbehörden hat oder wer seine Vorgesetzten besticht, kann mit einer besseren Behandlung rechnen. Außerdem ist die Bezahlung sehr niedrig und oft ist es den Rekruten während des Wehrdienstes nicht gestattet, ihre Familien zu sehen (DIS 1.2024).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022), wie in der Badia-Wüste, wo es noch zu Konfrontationen mit dem IS kommt (DIS 7.2023). Alle Eingezogenen können laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. (EUAA 2.2023; vergleiche DIS 7.2023). Ihr Einsatz hängt laut EUAA vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab (EUAA 2.2023). Andere Quellen hingegen geben an, dass die militärische Qualifikation oder die Kampferfahrung keine Rolle spielt, beim Einsatz von Wehrpflichtigen an der Front (DIS 7.2023). Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023; vergleiche NMFA 8.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus den Berichten nicht hervor.] […]
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung 2024-03-12 13:44
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Rechtsexperten der Free Syrian Lawyers Association (FSLA) mit Sitz in der Türkei beurteilen, dass das syrische Regime die Verweigerung des Militärdienstes als schweres Verbrechen betrachtet und die Verweigerer als Gegner des Staates und der Nation behandelt. Dies spiegelt die Sichtweise des Regimes auf die Opposition wie auch jede Person wider, die versucht, sich seiner Politik zu widersetzen oder ihr zu entkommen (STDOK 25.10.2023). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021). Ein für eine internationale Forschungsorganisation mit Schwerpunkt auf den Nahen Osten tätiger Syrienexperte, der allerdings angibt, dazu nicht eigens Forschungen durchgeführt zu haben, geht davon aus, dass das syrische Regime möglicherweise am Anfang des Konflikts, zwischen 2012 und 2014, Wehrdienstverweigerer durchwegs als oppositionell einstufte, inzwischen allerdings nicht mehr jeden Wehrdienstverweigerer als oppositionell ansieht (STDOK 25.10.2023). Gemäß Auswärtigem Amt legen einige Berichte nahe, dass Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ebenfalls Verhören und Repressionen der Geheimdienste ausgesetzt sein könnten (AA 2.2.2024).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 2.2.2024; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vergleiche AA 2.2.2024). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Artikel 102, bei Überlaufen zum Feind und gemäß Artikel 105, bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 2.2.2024).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vergleiche DIS 5.2020). […]
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vergleiche Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für Wehrdienstentzug ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter) (Üngör 15.12.2021). Dem hingegegn gibt ein von EUAA interviewter Experte an, dass Wehrdienstverweigerer, die von der syrischen Regierung gefasst werden, der Militärpolizei übergeben werden und schließlich in Trainingslager zur Ausbildung und Stationierung gesendet werden (EUAA 10.2023). Bis zum Beginn einer Wehrdienstausbildung, die normalerweise im April und September geplant sind, bleibt der Wehrdienstverweigerer bei der Militärpolizei (NMFA 8.2023). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021). Auch einige Quellen des Danish Immigration Service geben an, dass Wehrdienstverweigerer mit einer Haftstrafe von bis zu neun Monaten rechnen müssen. Andere Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichteten, dass Wehrdienstverweigerer direkt zum Wehrdienst eingezogen, ohne vorher inhaftiert zu werden. Wer an einem Checkpoint als Wehrdienstverweigerer erwischt wird, wird dem Geheimdienst übergeben. Ein Wehrdienstverweigerer, der nicht aus anderen Gründen gesucht wird, wird dem Militär zur Ableistung des Wehrdienstes übergeben. Wehrdienstverweigerer werden meist direkt an die Front geschickt (DIS 1.2024). Wehrdienstverweigerer aus den Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, werden dabei mit größerem Misstrauen betrachtet und mit größerer Wahrscheinlichkeit inhaftiert oder verhaftet (NMFA 8.2023).
Bei militärischer Desertion gibt es Fälle, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Mehrere Quellen berichten, dass Deserteure verfolgt und mit einer Haftstrafe bestraft werden und dann ihren Wehrdienst ableisten müssen (DIS 1.2024). Eine Quelle berichtet im Jahr 2020, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Dem gegenüber berichtet ein vom Danish Immigraton Service 2023 interviewter Experte, dass Deserteure aus ehemaligen Oppositionsgebieten, sowie Überläufer, die sich an Handlungen gegen das Regime beteiligt haben, zum Tode verurteilt werden könnten. SNHR berichtet, dass Deserteure ein bestimmtes Zeitlimit, wie beispielsweise ein Jahr haben, um sich freiwillig den Behörden stellen und straffrei davonkommen zu können. Wer sich innerhalb der Frist nicht meldet, wird in Abwesenheit verurteilt (DIS 1.2024). Überläufer, die sich freiwillig stellen, würden vor ein Militärgericht gestellt und müssen entweder nach Ableistung einer Haftstrafe oder, wenn eine Amnestie erlassen wurde, sofort den verbleibenden Wehrdienst in der Einheit, aus der sie desertierten, absolvieren (EUAA 10.2023). Das Omran Center for Strategic Studies wiederum gibt an, dass kein Unterschied zwischen Deserteuren und Überläufern gemacht wird. Die Haftstrafe für Wehrpflichtige und Reservisten, die desertiert sind, beträgt bis zu neun Monate. Wer ein zweites Mal desertiert wird bis zu zwei Jahre inhaftiert, wer ein drittes Mal desertiert für fünf Jahre (DIS 1.2024). Ein Syrienexperte, der von EUAA interviewt wurde, gibt an, dass die Behandlung von Deserteuren und Überläufern abhängig ist von einerseits der Art ihrer Flucht und andererseits den Strafen, die vorgesehen sind in den Artikeln 100 und 104 im Strafgesetzbuch (EUAA 10.2023). Anfang September verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden (AA 2.2.2024).
Manche Quellen berichten, dass Wehrdienstverweigerung und Desertion für sich genommen momentan nicht zu Repressalien für die Familienmitglieder der Betroffenen führen. Hingegen berichten mehrere andere Quellen von Repressalien gegenüber Familienmitgliedern von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, wie Belästigung, Erpressung, Drohungen, Einvernahmen und Haft. Eine Quelle berichtete sogar von Folter. Betroffen sind vor allem Angehörige ersten Grades (DIS 1.2024). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z. B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vergleiche DIS 1.2024). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020; vergleiche DIS 1.2024). Insbesondere die politische oder militärische Haltung gegenüber der Syrischen Regierung wirkt sich auf die Art der Behandlung der Familie des Deserteurs bzw. Wehrdienstverweigerer aus. Familien von Deserteuren sind dabei einem höheren Risiko ausgesetzt als jene von Wehrdienstverweigerern (DIS 1.2024).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023). […]
Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen
Letzte Änderung 2024-03-13 15:01
Neben der Gefährdung durch sexualisierte Gewalt und Kampfhandlungen bleibt die Zwangsrekrutierung von Kindern im Syrienkonflikt durch verschiedenste Parteien ein zentrales Problem. Neben Somalia und Nigeria zählte Syrien 2020 laut UNICEF zu den Ländern mit den höchsten Rekrutierungsquoten von Kindersoldaten. Als Verantwortliche benennen die Vereinten Nationen insbesondere die Terrororganisation Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), bewaffnete Gruppierungen der ehemaligen Free Syrian Army (FSA), die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sowie in geringerem Maße regimenahe Milizen (AA 29.3.2023). Der im Juni 2022 veröffentlichte Jahresbericht des Generalsekretärs an die UN-Generalversammlung über Kinder in bewaffneten Konflikten berichtet über die Rekrutierung und den Einsatz von insgesamt 1.296 Kindern (1.258 Buben und 38 Mädchen) im Konflikt in Syrien zwischen Januar und Dezember 2021. Dem Bericht zufolge wurden 1.285 der Kinder im Kampf eingesetzt. 569 verifizierte Fälle werden der Syrian National Army (SNA) zugeschrieben, 380 der HTS, 220 der YPG und den mit der YPG verbundenen Frauenschutzeinheiten (YPJ) und 46 den regimenahen Kräften und Milizen, neben anderen Akteuren (UNGA 23.6.2022; vergleiche USDOS 20.3.2023). Der UN zufolge wurde die Mehrheit der Minderjährigen auch in bewaffneten Konflikten eingesetzt und nur eine kleine Minderheit in nicht kämpferischen Rollen, beispielsweise als Köche oder für Reinigungsarbeiten (UNSC 27.10.2023).
Im August 2021 hat die syrische Regierung ein Kinderschutzgesetz, Gesetz Nr. 21 von 2021 erlassen. Das Gesetz verbietet die Rekrutierung oder Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und allen anderen damit verbundenen Aktivitäten (OSS 18.1.2023; vergleiche UNSC 27.10.2023). Auch das Gesetz Nr. 11/2013 kriminalisiert alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 Jahren durch die syrischen Streitkräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen (USDOS 29.7.2022).
Laut einem Bericht des US-amerikanischen Außenministeriums vom Juli 2022 hat die Regierung jedoch keine Bemühungen gezeigt, den Einsatz von Kindersoldaten durch Regierungs- und regierungstreue Milizen, bewaffnete Oppositionsgruppen und terroristische Organisationen zu verfolgen. Die Regierung berichtet nicht von der Untersuchung, Verfolgung oder Verurteilung von verdächtigten Menschenhändlern, noch werden Regierungsmitarbeiter, die an Menschenhandel, inklusive der Rekrutierung von Kindern, beteiligt waren, überprüft, verfolgt oder verurteilt. Die Regierung führt weiterhin Verhaftungen und Inhaftierungen durch und misshandelt Opfer von Menschenhandel schwer - inklusive Kindersoldaten - und bestraft diese für illegale Taten, zu denen sie von Menschenhändlern gezwungen werden. Sie inhaftiert regelmäßig Kinder für die vermeintliche Verbindung zu bewaffneten Gruppen, vergewaltigt, foltert und exekutiert. Sie zeigt keine Bemühungen, diesen Kindern irgendwelche Schutzdienste zur Verfügung zu stellen. Die Regierung schützt Kinder auch nicht vor der Rekrutierung und dem Einsatz durch bewaffnete Oppositionsgruppen und Terrororganisationen (USDOS 29.7.2022). Dem gegenüber steht ein Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, wonach Vertreter der Syrischen Regierung im Jahr 2022 an Awareness-Workshops über Kinder im Konflikt teilgenommen haben und die Regierung sich mit den Vereinten Nationen auf einen handlungsorientierten Dialog zur Beendigung und Vermeidung von sowie Reaktion auf schwere Verbrechen gegen Minderjährige durch das Syrische Regime oder mit ihm verbundene Gruppierungen geeinigt haben (UNSC 27.10.2023). In einem Bericht gibt das Syrian Network for Human Rights (SNHR) an, dass das syrische Regime für fast 65% der Fälle von rekrutierten Minderjährigen verantwortlich ist und führt weiter aus, dass das Regime auf verschiedene Arten der Rekrutierung zurückgreift, weil Kinder weniger kostspielig sind als Erwachsene. Das Regime würde dabei allerdings nicht offiziell vorgehen, also nicht durch die offiziellen Streit- und Sicherheitskräfte rekrutieren, sondern dies auf inoffiziellen Wegen durchführen, beispielsweise über lokale oder ausländische Milizen, wie die regierungstreuen Milizen, die als National Defence Forces (NDF) oder "Shabiha" bekannt sind, die Kinder direkt in ihren Hauptquartieren rekrutieren (SNHR 20.11.2023). Das wird auch vom Danish Immigration Service bestätigt. Wonach die SAA nicht direkt Kinder rekrutiert, aber dem Verteidigungsministerium unterstehende Milizen, sowie insbesondere auch die Gruppe Wagner (DIS 1.2024). Manche bewaffneten Gruppen, die für die syrische Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF rekrutieren zwangsweise Kinder im Alter von sechs Jahren. Der Iran rekrutierte im Iran minderjährige Afghanen - darunter auch Zwölfjährige - unter Androhung von Abschiebung nach Afghanistan sowie iranische Minderjährige für schiitische Milizen in Syrien. Jabhat an-Nusra und der sogenannte Islamische Staat (IS) haben Kinder auch als menschliche Schutzschilder, Selbstmordattentäter, Scharfschützen und Henker eingesetzt. Bewaffnete Gruppierungen haben auch Kinder für Zwangsarbeit oder als Informanten eingesetzt, wodurch diese Vergeltungsschlägen und extremer Bestrafung ausgesetzt waren (USDOS 29.7.2022).
Praxis in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien"
Laut den Vereinten Nationen und dem SNHR wurden zwischen Januar 2014 und September 2020 mindestens 911 Kinder durch die YPG zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023). Im Juni 2019 wurde von den Syrian Democratic Forces (SDF) [Anm.: YPG und YPJ sind Kernbestandteile der SDF] und dem Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte ein Aktionsplan zur Beendigung und Verhinderung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern unter 18 Jahren unterzeichnet. 2020 beschloss der Exekutivrat der Selbstverwaltung [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] die Einrichtung von Kinderschutzbüros und es gibt anhaltende Bemühungen der SDF, der Praxis der Rekrutierung von Kindern ein Ende zu setzen (UNHRC 7.2.2023; vergleiche SNHR 20.11.2023; vergleiche AA 2.2.2024). Allerdings schreibt das Auswärtige Amt, dass die Praxis nach wie vor nicht eingestellt worden zu sein scheint (AA 2.2.2024).
Seit Inkrafttreten des Abkommens zwischen den SDF und den Vereinten Nationen im Jahr 2019 wurden rund 700-750 Kinder aus den Diensten der SDF entlassen (DIS 6.2022). Einem Bericht der UN zufolge waren es im Zeitraum von 1.7.2020 bis 30.9.2022 278 Kinder, die aus dem Dienste der SDF entlassen wurden und in weiteren 1.025 Fällen wurde die Rekrutierung durch die SDF verhindert, zumindest eigenen Angaben der SDF gemäß. Besonders im Jahr 2021 verzeichnet die UN in ihrem Bericht eine positive Entwicklung. Die SDF nahmen eine Resolution an, wonach ihre Trainings internationalem Recht entsprechen müssen sowie zur Errichtung eines Komitees zur Einhaltung internationaler Regulierungen zum Schutz von Minderjährigen. Des Weiteren eröffneten die SDF neun Büros zum Schutz Minderjähriger in bewaffneten Konflikten (UNSC 27.10.2023). Dennoch wurde im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von der Rekrutierung von Kindern in die SDF berichtet (UNHRC 7.2.2023). Die UN spricht ebenfalls von Rückschlägen in der Einhaltung dieses Plans im Jahr 2022. So wurden beispielsweise die Büros zum Schutz Minderjähriger in bewaffneten Konflikten im Mai 2022 geschlossen und erst im April 2023 wieder geöffnet (UNSC 27.10.2023). SNHR verzeichnete einen Anstieg an Rekrutierungen Minderjähriger und berichtet, dass die Rekrutierung Minderjähriger zu einer systematischen Policy der SDF gehören und viele Unterorganisationen an Rekrutierungen von Kindern beteiligt sind und sogar viele Schulen der AANES. Insbesondere nach Angriffen auf die von der SDF kontrollierten Gebiete steigt laut SNHR die Zahl an rekrutierten Minderjährigen an, weil die SDF die verlorenen Kräfte kompensieren möchten (SNHR 20.11.2023). Bezüglich der Frage, wie es zu Rekrutierungen, bzw. möglichen Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen für die SDF kommt, gibt es verschiedene Erklärungen, darunter die schlechte Wirtschaftslage, welche das Gehalt der SDF attraktiv macht (DIS 6.2022). SNHR berichtet dazu von einigen Fällen, die zwangsrekrutiert wurden durch Entführungen aus Schulen oder direkt von der Straße (SNHR 20.11.2023). Einige Familien wandten sich an die Kinderschutzbüros, um Fälle zu melden, in denen Kinder im Alter von 14 Jahren rekrutiert wurden, aber ihnen wurde gesagt, dass keine Maßnahmen ergriffen werden könnten, da die Kinder von der Bewegung der kurdischen Revolutionären Jugend entführt worden seien. Trotz Anfragen von Familien blieb der Verbleib einiger rekrutierter Kinder unbekannt (UNHRC 7.2.2023).
Menschenrechtsorganisationen, darunter das Syria Justice and Accountability Center (SJAC), dokumentierten die Rekrutierung von Kindern durch die Revolutionäre Jugend, eine mit den SDF verbundene Organisation, die Jugendliche auf den Dienst bei der YPG und den Asayish, dem internen Sicherheits- und Geheimdienst der AANES, vorbereitet. Einige Minderjährige, die für Kampfeinsätze rekrutiert wurden, waren unter fünfzehn Jahre alt, eine Praxis, die nach Angaben von SJAC ein Kriegsverbrechen darstellt. Medienberichten zufolge erfolgt die Rekrutierung häufig über den Unterricht in Fächern wie Musik oder Sport, der von der Revolutionären Jugend durchgeführt wird. In diesen Klassen werden die Kinder schrittweise in der Ideologie der Organisation geschult, und in vielen Fällen werden sie dann in militärischen Ausbildungslagern untergebracht, ohne dass die Eltern über den Verbleib ihrer Kinder informiert werden. Andere werden unter dem Vorwand einer Anstellung angelockt (SJAC 3.2023). Die SDF und Asayish scheinen Rekrutierungen von Minderjährigen durch die Revolutionäre Jugend nicht zu verhindern. Ein Mitarbeiter des Kinderschutzbüros erklärte, dass das Büro nicht auf die Beschwerden über die Revolutionäre Jugend eingehen kann, da es nur für die SDF zuständig sei (DIS 6.2022). SJAC dokumentierte auch mehrere Fälle, in denen die Revolutionäre Jugend und andere SDF-Mitglieder die Familien von rekrutierten und vermissten Kindern einschüchterten und belästigten, wenn sie versuchten, Informationen über ihre Kinder zu erhalten (SJAC 3.2023).
Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien
Letzte Änderung 2024-03-27 11:04
Anmerkung, Rekrutierungspraktiken durch die PKK oder die Revolutionäre Jugend, einem mutmaßlichen Teil der PKK, die nicht unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallen, werden hier nicht thematisiert. Informationen zu diesem Thema können u. a. dem Bericht "Syria - Military recruitment in Hasakah Governorate" des Danish Immigration Service (DIS) vom Juni 2022 entnommen werden.
Wehrpflichtgesetz der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien"
Auch aus den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens gibt es Berichte über Zwangsrekrutierungen. Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat, Partei der Demokratischen Union] dominierte "Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsah, dass jede Familie einen "Freiwilligen" im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in den YPG [Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten] dient (AA 2.2.2024). Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur "Selbstverteidigungspflicht", das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männer über 18 Jahren im Gebiet der AANES ableisten müssen (EB 15.8.2022; vergleiche DIS 6.2022). Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit (ANHA, 4.9.2021). Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist nun in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war (DIS 6.2022). Mit Stand September 2023 war das Dekret noch immer in Kraft (ACCORD 7.9.2023).
Die Wehrpflicht gilt in allen Gebieten unter der Kontrolle der AANES, auch wenn es Gebiete gibt, in denen die Wehrpflicht nach Protesten zeitweise ausgesetzt wurde [Anm.: Siehe weiter unten]. Es ist unklar, ob die Wehrpflicht auch für Personen aus Afrin gilt, das sich nicht mehr unter der Kontrolle der "Selbstverwaltung" befindet. Vom Danish Immigration Service (DIS) befragte Quellen machten hierzu unterschiedliche Angaben. Die Wehrpflicht gilt nicht für Personen, die in anderen Gebieten als den AANES wohnen oder aus diesen stammen. Sollten diese Personen jedoch seit mehr als fünf Jahren in den AANES wohnen, würde das Gesetz auch für sie gelten. Wenn jemand in seinem Ausweis als aus Hasakah stammend eingetragen ist, aber sein ganzes Leben lang z.B. in Damaskus gelebt hat, würde er von der "Selbsverwaltung" als aus den AANES stammend betrachtet werden und er müsste die "Selbstverteidigungspflicht" erfüllen. Alle ethnischen Gruppen und auch staatenlose Kurden (Ajanib und Maktoumin) sind zum Wehrdienst verpflichtet. Araber wurden ursprünglich nicht zur "Selbstverteidigungspflicht" eingezogen, dies hat sich allerdings seit 2020 nach und nach geändert (DIS 6.2022; vergleiche NMFA 8.2023).
Ursprünglich betrug die Länge des Wehrdiensts sechs Monate, sie wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert (DIS 6.2022). Artikel zwei des Gesetzes über die "Selbstverteidigungspflicht" vom Juni 2019 sieht eine Dauer von zwölf Monaten vor (RIC 10.6.2020). Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen. In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je nach Gebiet entschieden wird. Beispielsweise wurde der Wehrdienst 2018 aufgrund der Lage in Baghouz um einen Monat verlängert. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 2017 um je zwei Monate ausgeweitet. Die Vertretung der "Selbstverwaltung" gab ebenfalls an, dass der Wehrdienst in manchen Fällen um einige Monate verlängert wurde. Wehrdienstverweigerer können zudem mit der Ableistung eines zusätzlichen Wehrdienstmonats bestraft werden (DIS 6.2022).
Nach dem abgeleisteten Wehrdienst gehören die Absolventen zur Reserve und können im Fall "höherer Gewalt" einberufen werden. Diese Entscheidung trifft der Militärrat des jeweiligen Gebiets. Derartige Einberufungen waren den vom DIS befragten Quellen nicht bekannt (DIS 6.2022).
Einsatzgebiet von Wehrpflichtigen
Die Selbstverteidigungseinheiten [Hêzên Xweparastinê, HXP] sind eine von den SDF separate Streitkraft, die vom Demokratischen Rat Syriens (Syrian Democratic Council, SDC) verwaltet wird und über eigene Militärkommandanten verfügt. Die SDF weisen den HXP allerdings Aufgaben zu und bestimmen, wo diese eingesetzt werden sollen. Die HXP gelten als Hilfseinheit der SDF. In den HXP dienen Wehrpflichtige wie auch Freiwillige, wobei die Wehrpflichtigen ein symbolisches Gehalt erhalten. Die Rekrutierung von Männern und Frauen in die SDF erfolgt dagegen freiwillig (DIS 6.2022).
Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der "Selbsverteidigungspflicht" erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen wie auch jenes in al-Hasakah, wo es im Jänner 2022 zu dem Befreiungsversuch des sogenannten Islamischen Staats (IS) mit Kampfhandlungen kam). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z. B. bei den Kämpfen gegen den IS 2016 und 2017 in Raqqa (DIS 6.2022).
Rekrutierungspraxis
Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen jährlich durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim "Büro für Selbstverteidigungspflicht" ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des Wehrdiensts dokumentiert wird - z. B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird (DIS 6.2022). Das Wehrpflichtgesetz von 2014 wird laut verschiedenen Menschenrechtsorganisationen mit Gewalt durchgesetzt. Berichten zufolge kommt es auch zu Zwangsrekrutierungen von Jungen und Mädchen (AA 2.2.2024).
Wehrdienstverweigerung und Desertion
Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB Damaskus 12.2022). Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem Wehrdienst Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die "Militärpolizei" unter seiner Adresse. Die meisten sich der "Wehrpflicht" entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (DIS 6.2022).
Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das "Selbstverteidigungspflichtgesetz" auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 2.2.2024), während der DIS nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der "Wehrpflicht" um einen Monat bestraft würden - zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft "für eine Zeitspanne". Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Ähnliches berichteten ein von ACCORD befragter Experte, demzufolge alle Wehrdienstverweigerer nach dem Gesetz der Selbstverteidigungspflicht gleich behandelt würden. Die kurdischen Sicherheitsbehörden namens Assayish würden den Wohnort der für die Wehrpflicht gesuchten Personen durchsuchen, an Checkpoints Rekrutierungslisten überprüfen und die Gesuchten verhaften. Nach dem Gesetz werde jede Person, die dem Dienst fernbleibe, verhaftet und mit einer Verlängerung des Dienstes um einen Monat bestraft (ACCORD 6.9.2023). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts. Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB Damaskus 12.2022). Einem von ACCORD befragten Syrienexperten zufolge hängen die Konsequenzen für die Wehrdienstverweigerung vom Profil des Wehrpflichtigen ab sowie von der Region, aus der er stammt. In al-Hasakah beispielsweise könnten Personen im wehrpflichtigen Alter zwangsrekrutiert und zum Dienst gezwungen werden. Insbesondere bei der Handhabung des Gesetzes zur Selbstverteidigungspflicht gegenüber Arabern in der AANES gehen die Meinungen der Experten auseinander. Grundsätzlich gilt die Pflicht für Araber gleichermaßen, aber einem Experten zufolge könne die Behandlung je nach Region und Zugriffsmöglichkeit der SDF variieren und wäre aufgrund der starken Stammespositionen oft weniger harsch als gegenüber Kurden. Ein anderer Experte wiederum berichtet von Beleidigungen und Gewalt gegenüber arabischen Wehrdienstverweigerern (ACCORD 6.9.2023).
Bei Deserteuren hängen die Konsequenzen abseits von einer Zurücksendung zur Einheit und einer eventuellen Haft von ein bis zwei Monaten von den näheren Umständen und eventuellem Schaden ab. Dann könnte es zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht kommen (DIS 6.2022).
Eine Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen besteht nicht (DIS 6.2022; vergleiche EB 12.7.2019).
Aufschub des Wehrdienstes
Das Gesetz enthält Bestimmungen, die es Personen, die zur Ableistung der "Selbstverteidigungspflicht" verpflichtet sind, ermöglichen, ihren Dienst aufzuschieben oder von der Pflicht zu befreien, je nach den individuellen Umständen. Manche Ausnahmen vom "Wehrdienst" sind temporär und kostenpflichtig. Frühere Befreiungen für Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs und von NGOs sowie von Lehrern gelten nicht mehr (DIS 6.2022). Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen vom Wehrdienst befreit wurden (EB 12.7.2019). Im Ausland (Ausnahme: Türkei und Irak) lebende, unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallende Männer können gegen eine Befreiungsgebühr für kurzfristige Besuche zurückkehren, ohne den "Wehrdienst" antreten zu müssen, wobei zusätzliche Bedingungen eine Rolle spielen, ob dies möglich ist (DIS 6.2022).
Proteste gegen die "Selbstverteidigungspflicht"
Im Jahr 2021 hat die Wehrpflicht besonders in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die Einberufungskampagnen der SDF gewehrt. Proteste im Mai 2021 richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht Menschen wurden am 1.6.2021 in Manbij (Menbij) bei einem Protest getötet, dessen Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war. Am 2.6.2021 einigten sich die SDF, der Militärrat von Manbij und der Zivilrat von Manbij mit Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten auf eine deeskalierende Vereinbarung, die vorsieht, die Rekrutierungskampagne einzustellen, während der Proteste festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen (COAR 7.6.2021). Diese Einigung resultierte nach einer Rekrutierungspause in der Herabsetzung des Alterskriteriums auf 18 bis 24 Jahre, was später auf die anderen Gebiete ausgeweitet wurde (DIS 6.2022). Im Sommer 2023 kam es in Manbij zu Protesten gegen die SDF insbesondere aufgrund von Kampagnen zur Zwangsrekrutierung junger Männer in der Stadt und Umgebung (SO 20.7.2023).
Militärdienst von Frauen
Frauen können freiwilligen Militärdienst in den kurdischen Einheiten [YPJ - Frauenverteidigungseinheiten] (AA 2.2.2024; vergleiche DIS 6.2022) oder in den Selbstverteidigungseinheiten (HXP) leisten (DIS 6.2022). Es gibt Berichte von Zwangsrekrutierungen von Frauen (AA 2.2.2024; vergleiche SNHR 26.1.2021) und minderjährigen Mädchen (Savelsberg 3.11.2017; vergleiche HRW 11.10.2019; vergleiche SNHR, 25.11.2023).
Anmerkung, Siehe Kapitel "Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen" für Informationen zur Rekrutierung von Minderjährigen durch Einheiten im Gebiet der AANES.
Rekrutierung für den nationalen syrischen Wehrdienst
Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der Selbstverwaltung befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien (DIS 6.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z. B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Laut mehreren von ACCORD für eine Anfragebeantwortung interviewten Experten gibt es de facto keine Möglichkeit des syrischen Regimes, in den von den SDF kontrollierten Gebieten zu rekrutieren, obwohl es teilweise Patrouillen des syrischen Regimes in der AANES gibt. Lediglich in jenen Gebieten, die von den Regierungstruppen kontrolliert werden, können die Personen auch rekrutiert werden (ACCORD 24.8.2023). Ebenso gibt der Syrienexperte van Wilgenburg an, dass die Kontrollpunkte der syrischen Armee nicht die Befugnis haben, Menschen in den Städten zu kontrollieren, sondern der Abschreckung der Türkei dienen (van Wilgenburg 2.9.2023). Dem widerspricht SNHR, das ebenfalls von ACCORD befragt wurde mit der Angabe, dass das syrische Regime an Checkpoints und Kontrollpunkten sehr wohl auf vom Regime gesuchte Wehrpflichtige zugreifen könnte und würde und diese in die von der Regierung kontrollierten Gebiete eskortieren würde (ACCORD 24.8.2023).
Anmerkung, Siehe Abschnitt "Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle" im Kapitel "Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst" für Informationen zur Rekrutierungspraxis der Syrian Arab Army (SAA) in Nordostsyrien.
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2024-03-12 16:09
Neben der Gefährdung durch militärische Entwicklungen, Landminen und explosive Munitionsreste, welche immer wieder zivile Opfer fordern, bleibt auch die allgemeine Menschenrechtslage in Syrien äußerst besorgniserregend (AA 2.2.2024). Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2022). Die im August 2011 vom UN-Menschenrechtsrat eingerichtete internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien (Commission of Inquiry, CoI) benennt in ihrem am 13.9.2023 veröffentlichten Bericht (Berichtszeitraum Januar bis Juni 2023) zum wiederholten Male teils schwerste Menschenrechtsverletzungen, identifiziert Trends und belegt diese durch die Dokumentation von Einzelfällen. Nach Einschätzung der CoI dürfte es im Berichtszeitraum in Syrien weiterhin zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen sein. Dazu gehörten u. a. gezielte und wahllose Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele (z. B. durch Artilleriebeschuss und Luftschläge) sowie Folter. Darüber hinaus seien willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen, „Verschwindenlassen“, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten, dokumentiert. Obwohl die UN-Kommission die Verantwortung in absoluten Zahlen betrachtet für die große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten sieht, wurden erneut für alle Konfliktparteien und alle Regionen des Landes Menschenrechtsverstöße dokumentiert (AA 2.2.2024).
Regierungsgebiete
Die CoI geht davon, dass die syrische Regierung weiterhin Morde, Folter und Misshandlungen begeht, die sich gegen Personen in Haft richten, darunter auch Praktiken, welche zum Tod in der Haft führen. Hinzukommen willkürliche Haft und Verschwindenlassen. Die UN-Kommission sieht hierin ein Muster von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Im Berichtszeitraum wurden auch Fälle umfassender Verletzungen von Prozessrechten und des Rechts auf ein faires Verfahren im syrischen Justizstrafsystem dokumentiert (UNCOI 7.2.2023). Nach Einschätzung der UN-Kommission liegt die Verantwortung für die - in absoluten Zahlen betrachtet - große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften des syrischen Regimes und seinen Verbündeten. Darüber hinaus verweist die CoI auf massive Behinderungen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, sowohl durch die Verweigerung des Zugangs nach Syrien als auch durch erhebliche Sicherheitsbedenken für die zu Befragenden. In ihrem Bericht von September 2022 vermerkte die CoI eine Verschärfung des staatlichen Vorgehens gegen die Zivilgesellschaft. Herauszuheben sind ein im April 2022 verabschiedetes Gesetz gegen Cyberkriminalität, welches für regierungs- und verfassungskritische Äußerungen im Internet Haftstrafen von sieben bis 15 Jahren vorsieht und welches laut dem jüngsten Bericht der CoI vom August 2023 weiter zur Anwendung kommt (AA 2.2.2024). Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führen etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töten (USDOS 20.3.2023).
Personen, welche glaubwürdig in Gewaltverbrechen involviert sind, Organisationen innerhalb oder verbunden mit der syrischen Regierung sowie auch der sogenannte Islamische Staat unterliegen weiterhin Sanktionen durch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Großbritannien (HRW 11.1.2024). Die syrische Regierung nutzt die Erdbebenkatastrophe unterdessen, um für ein Ende westlicher Sanktionen zu werben (BAMF 13.2.2023). Die umfassenden Sanktionen gegen Syriens Machthaber, Unternehmer und Institutionen haben bislang nicht dazu geführt, dass Verhaltensänderungen eingetreten, politische Zugeständnisse erfolgt oder Menschenrechtsverletzungen abgestellt worden wären (SWP 4.2020). [Zu den Aus- und Nebenwirkungen der breiter gefassten Sanktionen auf die syrische Wirtschaft siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 wurden international nicht anerkannt und inmitten einer repressiven Ausgangslage und von Anschuldigungen von Wahlbetrug weder als fair noch frei eingestuft. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien - auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 20.3.2023). - Siehe auch Kapitel Politische Lage und zur Muslimbruderschaft siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen).
Die systematische Verfolgung von Oppositionsgruppen und anderen regimekritischen/-feindlichen Akteuren dauert unverändert an. Der Einsatz für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes und die Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien werden vom Regime regelmäßig als „terroristische Aktivitäten“, „Verschwörung gegen den Staat“, „Hochverrat“ oder ähnlich gravierende Verbrechen behandelt und entsprechend geahndet. In der Anwendungspraxis der regimekontrollierten syrischen Justiz reicht der Verdacht hierauf aus, um willkürlich vor Militärgerichtshöfen oder gesonderten Gerichtshöfen der Anti-Terror-Gesetzgebung von 2012 verfolgt zu werden, in denen im Grunde keinerlei Rahmenbedingungen eines fairen Rechtsverfahrens bestehen. Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu missbraucht, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Personen mit Verbindungen zu lokalen Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 20.3.2023). Gemäß dem Bericht der CoI von September 2022 sollen Mitarbeitende von zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen (NRO) verhaftet, die NROs selbst streng reguliert oder ohne ordentliches Verfahren aufgelöst und ihre Ressourcen eingefroren worden sein. Es bleibt dabei, dass sich die Risiken politischer Oppositionstätigkeit nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung beschränken. Die seit Beginn des Konflikts dokumentierten zahllosen Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, sexualisierter Gewalt, Folter und Tötung im Gewahrsam der Sicherheitskräfte sowie Mordanschlägen, stehen immer wieder in offensichtlichen Zusammenhängen zu regimekritischen Tätigkeiten der Betroffenen. Gewaltsame Unterdrückung jeglichen Widerspruchs bleibt das Mittel der Wahl für den Machterhalt des Regimes (AA 2.2.2024).
Weiterhin besteht laut deutschem Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert (AA 2.2.2024). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren, oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024). Außerdem sind Fälle von verhafteten Personen wegen ihres Kontakts zu Verwandten oder Freunden in von der Opposition kontrollierten Gebieten bekannt, bzw. wegen des Reisens zwischen den Gebieten der Regierung und anderer Organisationen. Es gibt auch Beispiele für Verhaftungen zwecks Rekrutierung (SNHR 17.1.2023).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Ungeachtet des in der syrischen Verfassung verankerten Verbots von Folter wenden Polizei, Justizvollzugsorgane und vor allem Sicherheits- und Geheimdienste systematisch Folterpraktiken an. Der bei Weitem größte Teil dokumentierter Anwendung von Folter wurde in Einrichtungen des Regimes begangen. Besonders hoch ist dabei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung, inklusive sexualisierter Gewalt, in den Verhöreinrichtungen der Sicherheitsdienste. Die CoI und das SNHR dokumentierten indes Fälle von Folter für den gesamten Konfliktzeitraum einschließlich des Berichtszeitraums auch durch oppositionelle bewaffnete Gruppierungen und terroristische Organisationen. Laut dem jüngsten Bericht von SNHR zu Folter von Juni 2022 und daran anschließenden Erhebungen sind seit Beginn des Konflikts mindestens 15.301 Menschen unter Folter zu Tode gekommen (AA 2.2.2024).
Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie (HRW 11.1.2024). Willkürliche Verhaftungen mit häufig daran anschließender Isolationshaft und sogenanntes „Verschwindenlassen“ von Personen bleiben im Syrienkonflikt ein allgegenwärtiges Phänomen. Ungefähr 87 Prozent dieser Fälle werden dem syrischen Regime zugeschrieben. Bei den Fällen von „Verschwindenlassen“, deren Zahl seit Beginn des Konflikts auf über 110.000 geschätzt wird, handelt es sich um Personen, deren Spuren sich bereits vor einer - nie erfolgten - offiziellen Bestätigung der Inhaftierung verliert. In aller Regel erhalten Angehörige jedoch nur in Ausnahmefällen Gewissheit, häufig erst nach Entlassung aus der Haft oder durch plötzlich erteilte Todesmeldungen, die jedoch nicht in jedem Fall belastbar sind. Wiederholt kam es nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen zu Fällen, in denen für tot erklärte Personen aus der Haft entlassen wurden (AA 2.2.2024). Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Dieses macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021). Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu verwendet, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Auch die genannten Amnestiedekrete führten nicht zu einem Rückgang willkürlicher Verhaftungen. Für die erste Jahreshälfte 2023 dokumentierte das SNHR bereits 1.047 solche Fälle. Einige dieser Verhaftungen seien durch Regimekräfte an der syrisch-libanesischen Grenze erfolgt, nachdem die Betroffenen durch libanesische Sicherheitskräfte dorthin verbracht worden waren. Willkürliche Verhaftungen gehen dabei von einer Vielzahl von Akteuren aus, insbesondere der Polizei, einer Vielzahl von konkurrierenden Geheimdiensten sowie von staatlich organisierten Milizen. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt auch, dass es auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung zu Verhaftungen kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen auch nach Ablauf der verhängten Strafmaße verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Die VN und das Rote Kreuz haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (AA 2.2.2024).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 20.3.2023). Es kommt auch weiterhin zu Beschlagnahmungen von Eigentum und Einschränkungen des Zugangs für Rückkehrende in ihre Herkunftsgebiete (HRW 11.1.2024). […]
Die Verfassung garantiert nominell die Pressefreiheit, aber in der Praxis werden die Medien stark eingeschränkt, und JournalistInnen, die kritisch über den Staat berichten, sind Ziele der Zensur sowie von Verhaftungen, Folter und Tod in Gefangenschaft. Alle Medien benötigen eine Erlaubnis des Innenministeriums. Private Medien im Regierungsgebiet gehören generell Personen mit Verbindungen zum Regime (FH 9.3.2023).
Schwerste Repressionen gegen Medienschaffende blieben in Syrien alltäglich. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (RSF) steht Syrien 2022 auf Rang 171 von 180. JournalistInnen sind in Syrien allgemein gefährdet, besonders durch Regimekräfte und extremistische Gruppen (AA 2.2.2024). Laut dem Committee to Protect Journalists (CPJ) wurden zwischen 2011 und 2022 142 MedienmitarbeiterInnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Weitere fünf wurden verhaftet und acht Personen gelten mit Stand Dezember 2022 als vermisst (FH 9.3.2023). […]
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
Die Zahl der Übergriffe und Repressionen durch nichtstaatliche Akteure einschließlich der de-facto-Autoritäten im Nordwesten und Nordosten Syriens bleibt unverändert hoch. Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend. In den Gebieten, die durch regimefeindliche bewaffnete Gruppen kontrolliert werden, kommt es auch durch einige dieser Gruppierungen regelmäßig zu Übergriffen und Repressionen (AA 2.2.2024). In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UNCOI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlastet. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u. a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Im Fall von Free Syrian Army, HTS, bzw. Jabhat an-Nusra, sowie besonders vom IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNCOI 11.3.2021). […]
Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter Angriffe auf Wohngebiete, willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Versammlungs- und Redefreiheit wie auch die willkürliche Zerstörung von Häusern. Die SDF untersuchen die meisten gegen sie vorgebrachten Klagen, und einige SDF-Mitglieder werden wegen Misshandlungen angeklagt, wozu aber keine Statistiken vorliegen (USDOS 20.3.2023). Die SDF führten im Jahr 2023 willkürliche Verhaftungen von Zivilisten, darunter Journalisten durch (HRW 11.1.2024). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023). Im Nordosten Syriens dokumentierte die CoI im Berichtszeitraum mehrere Todesfälle in den Zentralgefängnissen von Hasakeh und Raqqa und stellt fest, dass diese möglicherweise auf schlechte Behandlung oder Folter zurückzuführen sein könnten. Laut SNHR seien im Gewahrsam der SDF / Partei der Demokratischen Union (PYD) seit März 2011 insgesamt 96 Menschen durch Folter zu Tode gekommen. Kontakte der Botschaft berichteten zudem von Repressionen durch die kurdische sogenannte „Selbstverwaltung“ (AANES) gegen politische Gegner, wie z.B. Angehörige von Oppositionsparteien. Daneben kritisiert die CoI in ihrem jüngsten Bericht auch die, ihrer Einschätzung nach, menschenrechtswidrige Inhaftierung und Behandlung zehntausender IS-Affiliierter in nordostsyrischen Haftanstalten und lagerähnlichen Camps (AA 2.2.2024). Obwohl der Spielraum der Redefreiheit etwas größer ist, als in Gebieten unter Kontrolle der Regierung oder extremistischer Gruppierungen, schränkt die PYD und einige andere Oppositionsfraktionen Berichten zufolge auch die Redefreiheit ein. So suspendierte die PYD-geführte Verwaltung im Februar 2022 die Lizenz der im Nordirak ansässigen Rudaw-Mediengruppe unter dem Vorwurf der Falschinformation und Aufhetzung. Mitte März 2022 verlangte dieselbe Verwaltung von JournalistInnen den Beitritt zur Union of Free Media, welche sich unter ihrem Einfluss befindet (FH 9.3.2023).
Haftbedingungen
Letzte Änderung 2024-03-13 15:41
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.3.2023). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind überdies stark überfüllt. Es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind (USDOS 20.3.2023). Diese Lage geht mit grassierenden Krankheiten (AA 2.2.2024), und mit einer entsprechend hohen Sterberate einher (USDOS 20.3.2023). Die hygienischen Zustände sind laut Auswärtigem Amt "katastrophal". Dies gilt generell, jedoch in besonderem Maße für diejenigen Gefängnisse, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind (AA 2.2.2024), und laut US-Außenministerium insbesondere in Hafteinrichtungen der Sicherheits- und Nachrichtendienste (USDOS 20.3.2023).
Besondere Bedürfnisse von Frauen werden kaum oder gar nicht berücksichtigt. Berichten zufolge müssen Frauen in Gefängnissen ohne jegliche Unterstützung entbinden und für ihre Kinder sorgen. Eine Versorgung mit Milch oder Hygieneartikeln erfolgt allenfalls durch Besucher, sofern sie in der entsprechenden Haftanstalt erlaubt sind (AA 2.2.2024).
Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen [Anm.: zu Hinrichtungen und Tod durch Folter - siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtlichen Tötungen sowie Folter und unmenschliche Behandlung] von Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt. Neben gewaltsamen Todesursachen ist eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auch auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 2.2.2024). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren (AA 2.2.2024).
Anmerkung: Weitere Informationen zu den Hafteinrichtungen (z. B. Saydnaya Gefängnis) sowie dortigen Zuständen und Menschenrechtsverletzungen befinden sich besonders in den Kapiteln je zu Folter und Todesstrafe. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst. Mehr zu Art und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen durch die jeweiligen bewaffneten Gruppen ist auch im Kapitel zur Sicherheitslage zu ihren jeweiligen Gebieten nachlesbar.
Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen
Letzte Änderung 2024-03-13 16:00
Todesfälle in der Haft und standrechtliche Hinrichtungen wurden in Hafteinrichtungen aller Parteien dokumentiert (UNHRC 17.11.2021). Keine der Konfliktparteien in Syrien veröffentlicht Informationen über den Verbleib von Gefangenen und die Gründe für ihre Verhaftung, noch stellen sie Dokumentationen zu den Urteilen zur Verfügung - auch nicht bei Verhängung der Todesstrafe. Daher ist der Großteil der Familien nicht über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert, zumal die große Mehrheit der Gefangenen "verschwunden" wird (SNHR 2.2.2023).
Gebiete unter Regimekontrolle
Die syrische Strafgesetzgebung sieht für Mord, schwere Drogendelikte, Terrorismus, Hochverrat und weitere Delikte (AA 2.2.2024), wie auch zum Beispiel die Zerstörung öffentlicher Gebäude und Transport- sowie Kommunikationswege, die Todesstrafe vor (UNHRC 17.11.2021). In der juristischen Praxis wird der Begriff Hochverrat sehr weit gefasst und kann schon bei wahrgenommener Dissidenz erfüllt sein. Dies dient nicht zuletzt politischen Zwecken: Politische Gegner, bewaffnete Rebellen oder die humanitär tätigen syrischen „Weißhelme“ werden weitgehend unterschiedslos als „Terroristen“ eingestuft und sind damit von der Todesstrafe bedroht. Nach Definition des Regimes können bereits die Belieferung von Gebieten unter Kontrolle der Opposition mit humanitären Gütern oder die medizinische Behandlung von Oppositionellen mit der Todesstrafe geahndet werden. Urteile wegen Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft, auf welche ebenfalls die Todesstrafe steht, werden seit einigen Jahren in der Regel in zwölfjährige Freiheitsstrafen umgewandelt (AA 2.2.2024). Seit dem Beschluss eines Gesetzes gegen Folter am 30.3.2022 steht auch auf Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit Vergewaltigung die Todesstrafe. Allerdings ist laut der United Nations Independent International Commission of Inquiry Folter und Misshandlung in Haft in Syrien systematisch - auch im Saydnaya-Gefängnis und mehreren anderen Haftanstalten der syrischen Nachrichtendienste (HRW 12.1.2023).
Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien (so zuletzt Legislativdekret 7/2022) verringern ausgesprochene Todesurteile zum Teil auf lebenslange harte Strafarbeit oder stellen eine Freilassung in Aussicht. In der Rechtspraxis kommen die Amnestien aufgrund großzügig ausgelegter Ausnahmetatbestände und prozeduralen Hindernissen jedoch nur in Einzelfällen zur Anwendung, dabei oftmals infolge der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Amtsträger im Justiz- und Sicherheitswesen (AA 2.2.2024).
Eine quantitative Bewertung von verhängten Todesurteilen bzw. deren Vollstreckung ist auch im Berichtszeitraum nicht möglich, da seit Beginn des bewaffneten Konflikts keine offiziellen Zahlen zu vollstreckten Todesurteilen mehr veröffentlicht werden. Erschwert wird die Erfassung von vollstreckten Todesurteilen durch Tötungen und Hinrichtungen von Inhaftierten ohne Anklage oder Urteil. Die United Nations Independent International Commission of Inquiry (CoI) dokumentierte auch im Sonderbericht zur Haftsituation in Syrien sowie in späteren Berichten eine hohe Zahl von Fällen solcher außergerichtlichen Hinrichtungen in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 2.2.2024). Die Todesstrafe wird oftmals ohne vorangegangenes faires Verfahren und im Geheimen vollstreckt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Ein Überprüfungsausschuss, dessen Mitglieder von Präsident Assad eingesetzt werden, ist befugt, die von syrischen Strafgerichten verhängten Todesstrafen zu überprüfen, nicht aber die der Sondergerichte wie Anti-Terrorismus-, Militär- und Feldgerichte (STJ 7.6.2022)
Es gibt zahlreiche Berichte über Todesfälle in Regierungsgewahrsam durch Hinrichtungen ohne fairen Prozess, durch Folter oder durch andere Formen der Misshandlung, wie etwa Mangelernährung und fehlende medizinische Versorgung, namentlich z. B. in der Haftanstalt des Mezzeh Flughafens, in den Abteilungen 215 und 235 des Militärnachrichtendiensts und im Saydnaya Gefängnis (USDOS 20.3.2023).
Landesteile außerhalb der Regierungskontrolle
In den oppositionellen Gebieten variieren gesetzliche und gerichtliche Abläufe je nach Ort und dominierender bewaffneter Gruppe. Lokalverwaltungen übernehmen diese Zuständigkeiten teils unter Anwendung von Gewohnheitsrecht, aus der Scharia abgeleitet, teils unter Heranziehung nationaler Gesetze. […]
Das selbst ernannte Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) hat die Todesstrafe im Jahr 2016 abgeschafft (NMFA 5.2022).
Religionsfreiheit
Letzte Änderung 2023-07-17 13:11
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich Alawiten, Ismailiten und (Zwölfer) Schiiten machen zusammen 13 % aus, die Drusen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 %, wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 Jesiden (USDOS 2.6.2022).
Bereits vor dem Konflikt wuchs die Bedeutung von religiösen Stiftungen, um fehlende staatliche soziale und wirtschaftliche Leistungen auszugleichen. Im Zuge des Konfliktes verstärkte sich diese Rolle abermals. Religiöse Netzwerke in oppositionellen Gebieten, die in Verbindung mit bewaffneten Fraktionen stehen, wurden quasi Organe der Lokalverwaltung und übernahmen Aufgaben, wie z. B. die Verteilung von Hilfsgütern, Sozialleistungen, Bildung, Verwaltung von Bäckereien und die Verwaltung von Flüchtlingslagern. Begleitend zu diesen sozialen Diensten gab es klare Bemühungen um religiöse Indoktrination, z. B. die Vereinheitlichung der Verschleierung, die Verbreitung des Korans und den Betrieb von Waisenhäusern (in denen sich das Leben um religiöse Lehren und das Auswendiglernen des Korans dreht). Auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten wurden religiösen Akteuren, die vom Staat als vertrauenswürdig erachtet wurden, beispiellose Vorrechte innerhalb ihrer Gemeinschaften eingeräumt. Sie übernahmen kommunale Aufgaben, um den Zerfall staatlicher Strukturen und Leistungen auszugleichen, wie beispielsweise die Stromversorgung durch private Stromgeneratoren (CMEC 19.3.2019).
Gebiete unter Regierungskontrolle
Der gesetzliche Rahmen gilt nur in den Gebieten unter Regierungskontrolle, und selbst hier gibt es oft einen Niedergang von Recht und Ordnung, welcher Milizen, die oft hauptsächlich aus einer einzigen Religionsgruppe bestehen, eine dominante Position ermöglicht. Die regierende Ba’ath-Partei pflegt ihre Selbstdarstellung als Beschützerin der religiösen Minderheiten. Einerseits kooptierte sie die religiösen Minderheiten unabhängig von deren politischen Ansichten und andererseits dämonisierte sie Millionen sunnitischer Protestierender als angebliche TerroristInnen statt als BürgerInnen, die politische, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit suchten. Konfessionalistische Staatsrhetorik hat daher zur Vertiefung der Gräben zwischen den Religionsgemeinschaften beigetragen (USDOS 2.6.2022).
In Syrien gibt es keine offizielle Staatsreligion, wobei die Verfassung jedoch vorsieht, dass der syrische Präsident Muslim sein muss und dass die islamische Rechtsprechung eine Hauptquelle der Gesetzgebung darstellt. In Angelegenheiten des Personenstandsrechtes fallen alle Bürger unter die Gesetzgebung ihrer jeweiligen religiösen Gruppe (Christentum, Islam oder Judentum). Alle Religionsgemeinschaften sind gesetzlich verpflichtet, sich bei den Behörden registrieren zu lassen (USDOS 2.6.2022). Seit 2006 existiert ein eigenes Personenstandsgesetz für Katholiken (Dekret Nr. 31/2006 vom 18.6.2006) (ÖB Damaskus 1.10.2021). Zur Klärung von Fragen des Familienstandes verlangt die Regierung daher von ihren Bürgern, ihre Glaubenszugehörigkeit zu einer dieser drei Religionen Anmerkung, Christentum, Islam oder Judentum - siehe oben) registrieren zu lassen. Die Religionszugehörigkeit, abgesehen von der jüdischen Religionszugehörigkeit, wird nicht im Pass und auf dem Personalausweis vermerkt (USDOS 2.6.2022). Es ist nicht möglich, 'keine Religion' zu registrieren oder eine zivile Ehe zu schließen (Eijk 2013).
Das Regime erlaubt den verschiedenen Konfessionen ihren Glauben zu praktizieren, solange ihre religiösen Aktivitäten nicht als politisch subversiv erachtet werden. Die Regierung überwacht Moscheen und die Ernennung von muslimischen Religionsführern (FH 9.3.2023).
Das Gesetz schränkt Missionierung ein. Es verbietet die Konversion vom Islam zu anderen Religionen (FH 9.3.2023, vergleiche USDOS 2.6.2022), erkennt die Konversion zum Islam jedoch an. Das Strafgesetz verbietet "das Verursachen von Spannungen zwischen religiösen Gemeinschaften". Der gesellschaftliche Druck und religiöse Konventionen führen außerdem dazu, dass Konversionen, insbesondere vom Islam zum Christentum, relativ selten sind, und viele KonvertitInnen sind gezwungen, innerhalb des Landes umzuziehen oder Syrien zu verlassen, um ihre neue Religion offen praktizieren zu können (USDOS 2.6.2022). […]
Die syrische Gesetzgebung stellt Blasphemie unter Strafe. Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), zum Beispiel, konnte in ihrem Fünfjahresbericht (Zeitraum 2014-2018) jedoch keine Fälle einer diesbezüglichen Anwendung dokumentieren (USCIRF 2020). Die Gesetze zu Blasphemie und andere Strafbestände werden jedoch zur Einschränkung der Redefreiheit sowie gegen als oppositionell wahrgenommene JournalistInnen herangezogen (USDOS 20.3.2023). […]
Gebiete außerhalb der Regierungskontrolle
In den Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle wenden irreguläre Gerichte und lokale Autoritäten eine Bandbreite inoffizieller Gesetzbücher mit diversen Vorgaben für Religionsfreiheit an (USDOS 2.6.2022). Die Dominanz extremistischer Gruppen in den Oppositonsgebieten Westsyriens bedroht die freie Andachtsausübung der lokalen Bevölkerung und der IDPs. Der sogenannte Islamische Staat (IS) ist weiterhin als Terror- und Guerillagruppe aktiv. Er verfolgt religiöse Aktivitäten, die nicht mit seiner Interpretation von sunnitischem Islam übereinstimmen (FH 9.3.2023). […]
In den [Anm.: nordöstlichen, nicht staatlich anerkannten kurdisch] selbstverwalteten Gebieten des Landes sind Konversionen und interreligiöse Ehen in Form von Zivilehen erlaubt (UNHRC 1.11.2021). Das staatliche syrische Familienrecht erkennt diese Heiraten insbesondere dann nicht an, wenn sie einen Verstoß gegen das Ehehindernis aufgrund von Religionsverschiedenheit darstellen. Inwieweit letztere Kategorie auch Frauen jesidischen Glaubens umfasst, ist unklar (FNO 2018).
Ethnische und religiöse Minderheiten
Letzte Änderung 2023-07-17 13:20
Anmerkung, Einige der angeführten Minderheiten sind ethno-religiöse Minderheiten (z. B. armenische Christen, kurdische Jesiden) oder sie verfügen über kulturell bedingte eigene Interpretationen des Islams im Alltag (z. B. viele sunnitische Kurden). Dazu kommen winzige weitere Minderheiten, welche in den üblichen Überblickaufzählungen gar keine Erwähnung finden. Nähere Informationen zu einzelnen Minderheiten können nach Bedarf im Rahmen von Anfragebeantwortungen geboten werden.
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich AlawitInnen, IsmailitInnen und (Zwölfer) SchiitInnen machen zusammen 13 % aus, die DrusInnen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 %, wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 JesidInnen (USDOS 2.6.2022).
Die alawitische Gemeinschaft [Anm.: zu der Bashar al-Assad gehört] genießt in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil weiterhin einen privilegierten politischen Status, auch durch die Dominanz in den Führungspositionen im Militär sowie den Sicherheits- und Geheimdiensten, wobei auch bei Alawiten gilt, dass, so wie bei Angehörigen den anderen Religionsgemeinschaften, nur diejenigen, welche zum inneren Machtzirkel um Bashar al-Assad gehören, politischen Einfluss besitzen. Auch einige Sunniten gehören zur politischen Elite (USDOS 2.6.2022). Familien und Netzwerke mit Verbindungen zur herrschenden Elite werden in Rechtsangelegenheiten bevorzugt behandelt und sind disproportional oft AlawitInnen, während AlawitInnen ohne solche Verbindungen weniger wahrscheinlich von solchen Vorteilen profitieren. Die bewaffnete Opposition ist hingegen in der überwältigenden Mehrheit arabisch-sunnitisch, und Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe sind wahrscheinlich Diskriminierung durch den Staat ausgesetzt, wenn sie nicht enge Verbindungen zum Regime genießen (FH 9.3.2023).
Daher lässt sich die konfessionalistische Dimension des Regimes besser als ein alawitisch-dominiertes säkulares Regime beschreiben, das auf Loyalitäten basierend auf regionale, tribale und familiäre Verbindungen sowie auf gesellschaftliche Kohäsion ('asabiya) aufbaut. Diese Kohäsion bezieht sich auf ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit einer beschränkten Zahl an AlawitInnen aus der alawitischen Gemeinschaft, aber nicht auf die Religionsgemeinschaft als Ganzes. Als Folge der konfessionellen Polarisierung, die durch das Regime selbst gefördert wurde, wie auch durch seine islamistischen und jihadistischen Feinde, waren viele AlawitInnen gezwungen, sich aus Angst vor sunnitisch-arabischen Vergeltungsschlägen auf die Seite des Regimes zu stellen (Al-Majalla 15.3.2023).
In einer Diktatur wie in Syrien kommt die Repression überall in den Gebieten unter der Kontrolle des Regimes zur Anwendung - auch in den ländlichen Gebieten mit alawitischer Bevölkerungsmehrheit. AlawitInnen unter Oppositionsverdacht werden im Allgemeinen inhaftiert, schwer unter Druck gesetzt oder getötet. Alawitische OpponentInnen der Assad-Herrschaft [Anm.: seit 1970] waren gelegentlich in einer schlimmeren Lage als sunnitische Oppositionelle, weil sie potenziell eine größere Bedrohung durch ihre Zugehörigkeit zur alawitischen Gemeinschaft darstellen (Al-Majalla 15.3.2023). So werden Berichten zufolge auch weiterhin alawitische oppositionelle AktivistInnen Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord durch die Regierung. AlawitInnen werden zudem aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen (USDOS 30.3.2023).
Im Zuge des Bürgerkriegs kam es zu verschiedenen konfessionalistischen Exzessen, welche die Möglichkeiten für eine Versöhnung zwischen den Kriegsparteien untergraben. Es gab Berichte über Massaker, konfessionalistische Säuberungsaktionen wie auch Entführungen und sexuelle Gewalt gegen AlawitInnen und ChristInnen und umgekehrt von Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft gegen Mitglieder der sunnitschen Bevölkerungsgruppe (Al-Majalla 15.3.2023).
Religiöse bzw. interkonfessionelle Faktoren spielen auf allen Seiten des Konfliktes eine Rolle, doch fließen auch andere Faktoren im Kampf um die politische Vormachtstellung mit ein. Die Gewalt seitens des Regimes gegen Oppositionsgruppen aber auch Zivilisten weist sowohl konfessionelle Elemente als auch Elemente ohne konfessionellen Bezug auf. Beobachtern zufolge ist die Vorgehensweise der Regierung gegen Oppositionsgruppen, welche die Vormachtstellung der Regimes bedrohen, nicht in erster Linie konfessionell motiviert, doch zeigt sie konfessionelle Auswirkungen (USDOS 10.6.2020). So versucht die syrische Regierung, konfessionell motivierte Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten vor Angriffen von gewalttätigen sunnitisch-extremistischen Gruppen darstellt. Manche Rebellengruppen bezeichnen sich in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Muslime und haben Beobachtern zufolge eine fast ausschließlich sunnitische Unterstützerbasis (USDOS 2.6.2022). Der Einsatz von schiitischen Kämpfern durch den Iran, z. B. aus Afghanistan, um gegen die mehrheitlich sunnitische Opposition vorzugehen, verstärkt zusätzlich die konfessionellen Spannungen. Laut Experten stellen die Regierung und ihre Verbündeten Russland und Iran die bewaffnete Opposition und oppositionelle Protestierende sowie humanitäre Hilfsorganisationen auch als konfessionalistisch motiviert dar, indem sie diese mit extremistischen islamistischen Gruppen und Terroristen in Zusammenhang bringen, welche die religiösen Minderheiten sowie die säkulare Regierung eliminieren wollen (USDOS 10.6.2020).
Im Allgemeinen bestehen in Gebieten, die unter Regierungskontrolle stehen, keine Hindernisse für religiöse Minderheiten, insbesondere nicht für Christen. Schätzungen zufolge leben nur mehr 3 % (vor dem Konflikt über 10 %) Christen im Land; viele sind seit Ausbruch des Konflikts geflohen – ihre Rückkehr scheint unwahrscheinlich. In Rebellengebieten, die von sunnitischen Fraktionen kontrolliert werden, ist die Religionsausübung zwar möglich, aber nur sehr eingeschränkt. Zusätzlich erschwert wird die Situation der Christen dadurch, dass sie als regierungsnahe wahrgenommen werden. Sowohl aufseiten der regierungstreuen als auch aufseiten der Opposition sind alle religiösen Gruppen vertreten. Aufgrund ihrer starken Dominanz in der Regierung und im Sicherheitsapparat werden Alawiten aber grundsätzlich als regierungstreu wahrgenommen, während sich viele Sunniten (sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung, vor Beginn des Konflikts waren es 72 %) in der (auch bewaffneten) Opposition finden. Aufgrund dieser Zugehörigkeit zur Opposition ist die Mehrheit der politischen Gefangenen und Verschwundenen sunnitisch. Bei der militärischen Rückeroberung der syrischen Armee von Gebieten wie Homs oder Ost-Ghouta wurden sunnitisch dominierte Viertel stark in Mitleidenschaft gezogen. Dadurch wurden viele Sunniten aus diesen Gebieten vertrieben und faktisch ein demografischer Wandel dieser Gebiete herbeigeführt. Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Die Situation von Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten ist von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich und hängt insbesondere von den Akteuren ab, die das Gebiet kontrollieren, von den Ansichten und Wahrnehmungen dieser Akteure gegenüber Angehörigen anderer religiöser und ethnischer Minderheitengruppen sowie von den spezifischen Konfliktentwicklungen in diesen Gebieten (UNHCR 3.2021). Im Zuge des Konflikts wurden Mitglieder religiöser Minderheiten wie auch SunnitInnen Ziel von verschiedenen Gruppen, welche von der UNO, den USA und anderen als Terrorgruppen eingestuft worden waren - darunter auch HTS, in Form von Morden, Entführungen, physischen Misshandlungen und Haft. Tausende tote und verschwundene ZivilistInnen waren die Folge (USDOS 2.6.2022).
Die syrische Regierung, kurdische Truppen, von der Türkei unterstützte oppositionelle Milizen und islamistisch-extremistische Gruppen haben alle versucht, die ethnische Zusammensetzung ihrer Gebiete zu verändern. Sie haben ZivilistInnen gezwungen, bei ihrer jeweiligen religiösen oder ethnischen Gemeinschaft Zuflucht zu suchen, was zu demografischen Änderungen durch den Bürgerkrieg beiträgt (FH 9.3.2023).
Die sunnitisch-arabische Zivilbevölkerung traf die Hauptlast der Angriffe der alawitisch-geführten Regierung und ihrer Milizen. Von 2018 bis 2019 vertrieb das Regime 900.000 ZivilistInnen - meist sunnitische AraberInnen - aus den zurückeroberten Oppositionsgebieten durch Bombardierungen und Belagerungen in die Provinz Idlib (FH 9.3.2023).
Ende 2019 führte das türkische Militär eine Offensive in Nordost-Syrien durch, um eine Pufferzone zur Zurückdrängung seiner kurdischen Gegner aus dem Gebiet zu schaffen [siehe auch die jeweiligen relevanten Unterkapitel im Kapitel Sicherheitslage] (FH 9.3.2023). Mitglieder religiöser und ethnischer Minderheiten, besonders vertriebene KurdInnen, JesidInnen und ChristInnen, z. B. in der Stadt Afrin, berichteten von Menschenrechtsverletzungen und Marginalisierung (USDOS 2.6.2023). Von der Türkei unterstützte Milizen wurden in Folge beschuldigt, Grundstücke und Häuser zu enteignen (FH 9.3.2023). Sie begingen u. a. auch Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigung und Plünderungen von Privatbesitz - besonders in kurdischen Gebieten - wie auch Vandalenakte gegen jesidische religiöse Stätten. Bezüglich in und um Afrin werden zusätzlich besonders auch Tötungen und willkürliche Verhaftungen von ZivilistInnen genannt. Besonders oft waren JesidInnen Ziel der Taten. Weiterhin werden von pro-türkischen Milizen verschleppte jesidische Frauen vermisst. Berichten zufolge leben in Afrin nur mehr 5.000 JesidInnen, während vor der türkischen Invasion von 2018 25.000 JesidInnen in 22 Dörfern ansässig waren (USDOS 2.6.2022).
Sunnitisch-islamistische und jihadistische Gruppen verfolgen oft religiöse Minderheiten und Muslime, welche sie der Pietätlosigkeit oder der Apostasie beschuldigen (FH 9.3.2023). Verschiedene islamistische Gruppen in Idlib legen Medienberichten zufolge ChristInnen die Anwendung der Scharia auf wie auch die Jizya, eine Steuer für Nicht-Muslime, um sie dazu zu zwingen, ihre Häuser zu verlassen. Die HTS verstärkte demnach den Druck auf ChristInnen in Idlib durch solche Restriktionen wie auch durch eine Erhöhung von Mieten von Häusern und Geschäften, weil die HTS den Immobilienbesitz von ChristInnen als Kriegsbeute ansieht. Die HTS beging zudem weitere Arten von Misshandlungen/Machtmissbrauch ('abuses') auf Basis der konfessionellen Identität der Betroffenen (USDOS 12.5.2021). Für das Jahr 2021 werden weiterhin solche Restriktionen der HTS gegen ChristInnen in Idlib Stadt berichtet. Es wurde bekannt, dass HTS im Zeitraum Ende 2018 bis Ende 2019 Hunderte Immobilien, darunter mindestens 550 Häuser und Geschäfte in der Provinz Idlib, die vertriebenen ChristInnen gehörten, beschlagnahmt hatte (USDOS 2.6.2022).
Das Schicksal von 8,648 Personen, die vom IS seit 2014 verschleppt wurden, bleibt unbekannt (USDOS 2.6.2022). Nach Schätzung der Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen tötete oder entführte der sogenannte Islamische Staat (IS) allein mehr als 9.000 JesidInnen. Die UNO bewertete dies als "Kampagne des Genozids" (USDOS 10.6.2020), wobei der IS ab 2014 ungefähr 6.000 großteils jesidische, aber auch christliche und turkmenische Frauen und Mädchen im Irak verschleppte (USDOS 10.6.2020). Diese wurden nach Syrien gebracht und als Sexsklavinnen verkauft, in nominelle Heiraten mit IS-Kämpfern gezwungen oder dienten als 'Geschenke' für IS-Kommandanten. Von diesen Frauen und Kindern ist weiterhin der Verbleib von 2.763 Menschen unbekannt (USDOS 2.6.2022).
Trotz der territorialen Niederlage des IS berichteten Medien und NGOs, dass seine extremistische Ideologie weiterhin stark im Land präsent ist (USDOS 12.5.2021). Im Jahr 2022 nahmen gewalttätige Übergriffe durch IS-Überreste zu. Menschenrechtsorganisation berichten, dass diese häufig Zivilisten, Personen, welche der Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften verdächtig sind, und Gruppen, die vom IS als Apostaten gesehen werden, ins Visier nehmen (USDOS 2.6.2022). Siehe dazu auch das Kapitel Sicherheitslage.
Kurdische Milizen werden beschuldigt, arabische und turkmenische Gemeinschaften vertrieben zu haben (FH 9.3.2023). Im Jahr 2021 vertrieben christlichen Anführern zufolge türkische Bombardierungen in Nordost-Syrien ChristInnen und andere Minderheiten aus Tel Tamer und umgebenden Dörfern südöstlich des Gebiets der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' (siehe auch Kapitel Sicherheitslage) (USDOS 2.6.2022).
KurdInnen
Letzte Änderung 2024-03-12 15:55
Anmerkung, Nähere Informationen z. B. zur Lage von Ajanib und Maktumin, inkl. Zugang zu Dokumenten, Bildung und Arbeit sowie bzgl. Bedingungen für die Beantragung der Staatsbürgerschaft, können im Rahmen von Anfragebeantwortungen zur Verfügung gestellt werden.
Im Jahr 2011, kurz vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs, lebten zwischen zwei und drei Millionen Kurden in Syrien. Damit stellten sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Heute dürfte die absolute Zahl der Kurden im Land aufgrund von Flucht und Vertreibung deutlich niedriger sein. Die Lebensumstände waren für die Kurden in Syrien lange Zeit noch kritischer als in der Türkei und im Iran (SWP 1.2019). Die Behörden schränkten den Gebrauch der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, in Schulen und am Arbeitsplatz ein und verboten kurdischsprachige Publikationen und kurdische Feste (HRW 26.11.2009). Jegliche Bemühungen der Kurden, sich zu organisieren [Anm.: mit Ausnahme der zeitweisen Förderung der PKK als außenpolitisches Instrument] oder für ihre politischen und kulturellen Rechte einzutreten, wurden unterdrückt. In den Gebieten unter Kontrolle kurdischer Milizen hat sich seither die Lage nach Einschätzung von Human Rights Watch 'dramatisch' verbessert (FH 9.3.2023).
Nach einer Volkszählung im Jahr 1962 wurde rund 120.000 Kurden die syrische Staatsangehörigkeit aberkannt [Anm.: Jesiden waren ebenso betroffen]. Sie und ihre Nachfahren galten den syrischen Behörden seither als geduldete Staatenlose. Die Zahl dieser Ausgebürgerten, die wiederum in registrierte (Ajanib) und unregistrierte (Maktumin) Staatenlose unterteilt wurden, dürfte 2011 bei über 300.000 gelegen haben (SWP 4.1.2019). Im Jahr 2011 verfügte Präsident Assad, dass staatenlose Kurden in Hassakah, die als "Ausländer" registriert waren, die Staatsbürgerschaft beantragen können. Es ist jedoch unklar, wie viele Kurden von dem Dekret profitierten. Laut UNHCR konnten etwa 40.000 dieser Kurden nach wie vor nicht die Staatsbürgerschaft erhalten. Ebenso erstreckte sich der Erlass nicht auf die etwa 160.000 unregistrierten, staatenlosen Kurden (USDOS 20.3.2023). Ajanib erhalten standesamtliche Identitätsdokumente, Maktumin nur in Ausnahmefällen. Maktumin konnten bisher keine Pässe beantragen, ihre Kinder nicht registrieren und einschulen lassen und nicht legal heiraten. Außerdem ist ihnen der Zugang zu Wahlen und staatlichen Arbeitsplätzen verwehrt. Ca. 50.000 Maktumin sollen ihren Rechtsstatus legalisiert haben, und in der Folge dann als Ajanib die syrische Staatsangehörigkeit erhalten haben (AA 2.2.2024). Da die Stellung des Staatsbürgerschaftsantrags auch einen Gesprächstermin beim Staatssicherheitsapparat sowie Wehrdienst bei Erhalt der Staatsbürgerschaft umfasste, sahen viele KurdInnen von dem Antrag ab (MRG 3.2018). Betroffenen, die sich nicht mehr in Syrien aufhalten, ist die Möglichkeit der Erlangung der syrischen Staatsangehörigkeit verwehrt. Weitergehende Urkunden kann dieser Personenkreis nicht erlangen. Die kurdische sog. „Selbstverwaltung“ nimmt hingegen keine rechtliche Unterscheidung zwischen Maktumin und Ajanib vor (AA 2.2.2024).
In der Gesamtbetrachtung stellt sich die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts jedoch trotz Menschenrechtsverletzungen der Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat – PYD) und ihres bewaffneten Arms der Volksverteidigungseinheiten (YPG - Yekîneyên Parastina Gel) als insgesamt weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und jihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023). Die provisorische Verfassung dieser Gebiete erlaubt lokale Wahlen, aber die ultimative Kontrolle wird von der PYD ausgeübt (FH 9.3.2023). Die syrische Regierung erkennt die Legitimität der föderalen kurdischen Gebiete jedoch nicht an. Die fehlende Präsenz der syrischen Regierung in den kurdischen Gebieten in den Anfangsjahren des Konfliktes verschaffte den Kurden aber auch mehr Freiheiten, indem in diesen Gebieten zum Beispiel die kurdische Sprache an Schulen unterrichtet werden kann (MRG 3.2018).
Für die Türkei hat es Priorität, die kurdisch-geprägte Autonomie zu beenden [Anm.: zu Militäraktionen der Türkei und zu den mit ihr verbündeten Gruppen siehe die jeweiligen Abschnitte im Kapitel "Sicherheitslage"], und die syrische Regierung möchte ihre Autorität wieder bis zur türkischen Grenze ausdehnen (CMEC 20.12.2022).
Die Lage von KurdInnen in Gebieten außerhalb der Selbstverwaltungsgebiete
KurdInnen sind seit Jahrzehnten staatlicher Diskriminierung ausgesetzt. Dazu zählt auch das Vorgehen gegen kurdische AktivistInnen (FH 9.3.2023). Die kurdische Bevölkerung (mit oder ohne syrische Staatsbürgerschaft) sieht sich offizieller und gesellschaftlicher Diskriminierung, Repressionen sowie vom Regime geförderter Gewalt ausgesetzt. Das Regime begrenzt weiterhin den Gebrauch der kurdischen Sprache sowie die Publikation von Büchern und anderen Materialien auf Kurdisch ebenso wie Ausdrucksformen kurdischer Kultur. Das Regime, die Pro-Regime-Einheiten wie auch der sogenannte Islamische Staat (IS) und bewaffnete Oppositionsgruppen, wie die von der Türkei unterstützte Syrian National Army (SNA), verhaften, foltern, töten oder misshandeln in sonstiger Weise zahlreiche kurdische AktivistInnen und Einzelpersonen wie auch Mitglieder der Syrian Democratic Forces (SDF) (USDOS 20.3.2023). […]
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Allgemeine Informationen
Letzte Änderung 2024-03-13 16:02
Syrien ist eine patriarchalische Gesellschaft, aber je nach sozialer Schicht, Bildungsniveau, Geschlecht, städtischer oder ländlicher Lage, Region, Religion und ethnischer Zugehörigkeit gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug auf Rollenverteilung, Sexualität sowie Bildungs- und Berufschancen von Frauen. Der anhaltende Konflikt und seine sozialen Folgen sowie die Verschiebung der de-facto-Kontrolle durch bewaffnete Gruppen über Teile Syriens haben ebenfalls weitreichende Auswirkungen auf die Situation der Frauen (NMFA 6.2021). Mehr als ein Jahrzehnt des Konflikts hat ein Klima geschaffen, das der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zuträglich ist, besonders angesichts der sich verfestigenden patriarchalischen Gesellschaftsformen, und Fortschritte bei den Frauenrechten zunichtemachte. Diese Risiken steigen unvermeidlicherweise angesichts von mehr als 15 Millionen Menschen in Syrien, die im Jahr 2023 humanitäre Hilfe benötigen. Gleichzeitig gibt es einen Anstieg an Selbstmorden unter Frauen und Mädchen, was laut ExpertInnen auf den fehlenden Zugang von Heranwachsenden zu Möglichkeiten und entsprechenden Hilfsleistungen liegt (UNFPA 28.3.2023).
Offizielle Mechanismen, welche die Rechte von Frauen sicherstellen sollen, funktionieren Berichten zufolge nicht mehr, und zusammen mit dem generellen Niedergang von Recht und Ordnung sind Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen besonders durch extremistische Gruppen ausgesetzt, die ihre eigenen Interpretationen von Religionsgesetzen durchsetzen. Die persönliche gesellschaftliche Freiheit von Frauen variiert je Gebiet außerhalb der Regierungskontrolle und reicht von schwerwiegenden Kleidungs- und Verhaltensvorschriften in Gebieten extremistischer Gruppen bis hin zu formaler Gleichheit im Selbstverwaltungsgebiet der Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD). Durch die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) und dem Zurückgehen der Kampfhandlungen im Lauf der Zeit ist die Bevölkerung in geringerem Ausmaß den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheiten ausgesetzt (FH 9.3.2023). Gleichwohl haben verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufgrund der Pandemie und der Bewegungseinschränkungen zugenommen, welche auch zur ökonomischen Ausbeutung von Frauen beitragen (UNFPA 28.3.2023).
Frühe Heiraten nehmen zu (UNFPA 28.3.2023): In Syrien lässt sich in den letzten Jahren ein sinkendes Heiratsalter von Mädchen beobachten, weil erst eine Heirat ihnen die verloren gegangene, aber notwendige rechtliche Legitimität und einen sozialen Status, d. h. den 'Schutz' eines Mannes, zurückgibt (ÖB Damaskus 1.10.2021), denn die Angst vor sexueller Gewalt und ihr Stigma könnte die Mädchen zu Ausgestoßenen machen. Überdies müssen die Eltern durch eine möglichst frühe Verheiratung ihrer Töchter nicht mehr für deren Unterhalt aufkommen. Die Verheiratung von Minderjährigen gilt als die häufigste Form von Gewalt gegen heranwachsende Mädchen. Einige Frauen und Mädchen werden auch gezwungen, die Täter, welche ihnen sexuelle Gewalt angetan haben, zu heiraten. Bei Weigerung droht Isolation, weil sie nicht zu ihren Familien zurückkehren können, bzw. kann ein 'Ehrenmord' drohen. Hintergrund ist, dass rechtliche Mittel gegen den Täter zuweilen nicht leistbar sind, und so mangels eines justiziellen Wegs die Familien keine andere Möglichkeit als eine Zwangsehe sehen (UNFPA 28.3.2023). Dieses Phänomen ist insbesondere bei IDPs (FH 9.3.2023) (und Flüchtlingen in Nachbarländern) zu verzeichnen. Das gesunkene Heiratsalter wiederum führt zu einem Kreislauf von verhinderten Bildungsmöglichkeiten, zu frühen und mit Komplikationen verbundenen Schwangerschaften und in vielen Fällen zu häuslicher und sexueller Gewalt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Auch geschiedene oder verwitwete Frauen gelten als vulnerabel, denn sie können Druck zur Wiederverheiratung ausgesetzt sein (UNFPA 28.3.2023). Im Allgemeinen ist eine von fünf Frauen in Syrien heutzutage von sexueller Gewalt betroffen (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Bereits vor 2011 waren Frauen aufgrund des autoritären politischen Systems und der patriarchalischen Werte in der syrischen Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Häuser geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Es wird angenommen, dass konservative Bräuche, die Frauen in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zuweisen, für viele Syrer maßgeblicher waren als das formale Recht (FH 3.3.2010). Doch selbst die formellen Gesetze legen für Frauen nicht denselben Rechtsstatus und dieselben Rechte fest wie für Männer, obwohl die Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen vorsieht (USDOS 20.3.2023). Frauen werden vor allem durch das Personenstandsgesetz bezüglich Heirat, Scheidung, Sorgerecht und Erbschaft weiterhin diskriminiert (HRW 11.1.2024).
Per legem haben Männer und Frauen dieselben politische Rechte. Der Frauenanteil im syrischen Parlament liegt je nach herangezogener Quelle zwischen 11,2 und 13,2 %. Auch manche der höheren Regierungspositionen werden derzeit von Frauen besetzt. Allerdings sind sie im Allgemeinen von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und haben wenig Möglichkeiten, sich inmitten der Repression durch Staat und Milizen unabhängig zu organisieren. Im kurdisch-geprägten Selbstverwaltungsgebiet werden alle Führungspositionen von einem Mann und einer Frau geteilt, während außerhalb der PYD-Strukturen die politische Autonomie für die Bevölkerung eingeschränkt ist (FH 9.3.2023).
Die Gewalt zusammen mit bedeutendem kulturellem Druck schränkt stark die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten ein. Zusätzlich erlaubt das Gesetz, bestimmten männlichen Verwandten Frauen ein Reiseverbot aufzuerlegen. Bewegungseinschränkungen wurden einem UN-Bericht von Februar 2022 zufolge in 51 % der untersuchten Orte ermittelt (USDOS 20.3.2023). Obwohl erwachsene Frauen keine offizielle Genehmigung brauchen, um das Land zu verlassen, reisen viele Frauen in der Praxis nur dann ins Ausland, wenn der Ehemann oder die Familie dem zugestimmt hat (NMFA 5.2022).
Frauen in Wirtschaft und medizinischer Versorgung
Letzte Änderung 2024-03-13 16:14
Wirtschaft
Durch den anhaltenden Konflikt und die damit einhergehende Instabilität sowie sich verschlechternde wirtschaftliche Situation hat sich die Situation der Frauen zunehmend erschwert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Der Global Gender Gap Report stuft Syrien 2021 auf Platz 152 ein, dem fünftletzten Platz (WEF 3.2021). Aufgrund fehlender Daten ist Syrien im diesjährigen Bericht (2022) nicht erfasst (WEF 7.2022).
Während weiterhin Vorstellungen, welche Berufe für Frauen passend sind, die Arbeitsmöglichkeiten von Frauen einschränken oder ihnen Arbeitsmöglichkeiten verwehrt werden (UNFPA 28.3.2023), hat der Krieg auch ihre Rolle in der Arbeitswelt verändert, und ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet, die zuvor Männern vorbehalten waren (HART 2.8.2022): So wurden Frauen in einigen Haushalten zu denjenigen, die Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen (UNFPA 28.3.2023), weil viele Männer getötet wurden oder sich aus Angst vor der Einberufung zur Armee, vor Verhaftung oder Inhaftierung versteckt hielten. So lag die Beteiligung von Frauen an der syrischen Erwerbsbevölkerung im Jahr 2018 in Damaskus, Lattakia und Tartus im Durchschnitt zwischen 40 und 50 Prozent, während in anderen Teilen des Landes der Anteil an erwerbstätigen Frauen zwischen 10 und 20 Prozent betrug und in den Provinzen Idlib, Raqqa und Quneitra sogar noch niedriger war. Insgesamt waren Schätzungen zufolge im Jahr 2018 11,6 Prozent der Frauen erwerbstätig, gegenüber 69,75 Prozent der Männer (NMFA 5.2020). Mittlerweile stieg im Jahr 2022 die Erwerbsquote auf insgesamt 16,8 Prozent der weiblichen Bevölkerung, sie ist aber noch immer niedriger als im Jahr 1990 (WB o.D.). Während der Anteil der erwerbstätigen Männer im Alter von 25 bis 54 Jahren im Jahr 2021 auf 95 Prozent stieg, wurde die Zahl der Erwerbstätigen vor allem durch Frauen, Jugendliche und ältere Leute vergrößert - d.h. Menschen mit relativ begrenzten Verdienstmöglichkeiten. Die Weltbank sieht die steigende Zahl an Vulnerablen am Arbeitsmarkt als einen Indikator für die Notlage der Betroffenen, die darauf angewiesen sind, jedwede Einkommensmöglichkeit unabhängig von den Bedingungen anzunehmen (WB 2023): Geschlechtsbasierte Gewalt hat zugenommen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht einschließlich Ausbeutung bei der Arbeit wie auch Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit. 'Finanzielle Gewalt' in der Terminologie von UNFPA hat zugenommen, darunter die Vorenthaltung finanzieller Mittel, Bildung, Arbeitsmöglichkeiten und von Gehältern. Wenn Frauen das Nachgehen einer Erwerbsarbeit erlaubt wird, kann es zum Beispiel vorkommen, dass ihr Einkommen von männlichen Familienangehörigen an sich genommen wird (UNFPA 28.3.2023). Umgekehrt gibt es nun Frauen, die mehr an den finanziellen Entscheidungen ihrer Familie beteiligt sind (CARE 3.2016).
Neben der großen Kluft zwischen den Geschlechtern bei der Erwerbsbeteiligung existiert außerdem eine geschlechtsspezifische Benachteiligung bei Sozialleistungen. Dem Besitz von Grund durch Frauen stehen gesellschaftliche Praktiken gegenüber, welche davon abschrecken (FH 9.3.2023). Seit einer Änderung des Personenstandsrechts im Jahr 2019 ist es möglich, dass eine Frau fordert, dass in ihrem Ehevertrag das Recht auf Arbeit enthalten ist (SLJ 3.10.2019).
Frauen sind in verschiedenen öffentlichen und politischen Positionen tätig. Dies kann entweder aus freiem Willen geschehen oder aus der Notwendigkeit heraus, die Familie in Abwesenheit eines männlichen Versorgers zu unterstützen (NMFA 5.2022).
Frauen und frauengeführte Haushalte haben allgemein besonders unter den Folgen des Konfliktes zu leiden, (AA 2.2.2024) wie auch Haushalte mit behinderten Personen. 16 Prozent der von Frauen geleiteten Haushalte sowie 12 Prozent von Haushalten mit Menschen mit Behinderung sind überhaupt nicht in der Lage, ihren Lebensbedarf zu decken (UNFPA 28.3.2023).
Öffentliche Räume wie besonders Kontrollpunkte, aber auch Märkte, Schulen oder Straßen stellen potenzielle Risiken dar, wo Frauen und Mädchen sexueller Gewalt ausgesetzt sind (UNFPA 28.3.2023).
In Fällen, in denen der Zugang zu Bildung eingeschränkt ist, kompensieren Frauen den Verlust von Bildung, indem sie ihre Kinder zu Hause unterrichten. In Fällen, in denen der Zugang zu Infrastrukturgütern wie Wasser oder Strom eingeschränkt ist, legen die Frauen lange Wege zurück, um Wasser oder Diesel für den Betrieb ihrer eigenen Generatoren zu beschaffen. Darüber hinaus erhöht der Mangel an Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern die Arbeitsbelastung der Frauen zu Hause, weil die Aufgaben arbeitsintensiver geworden sind (z. B. backen Frauen zu Hause Brot, wenn es keine Bäckereien mehr gibt) (CARE 3.2016).
Alleinstehende Frauen
Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Die gesellschaftliche Akzeptanz alleinstehender Frauen ist jedoch nicht mit europäischen Standards zu vergleichen (STDOK 8.2017). Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Mädchen, Witwen und Geschiedene werden als besonders gefährdet eingestuft. Auch Überlebende sexueller Gewalt sind besonders vulnerabel (UNFPA 10.3.2019, vergleiche für aktuelle Beispiele UNFPA 28.3.2023). Vor 2011 war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich, allein zu leben, z. B. für Frauen mit Arbeit in städtischen Gebieten. Seit dem Beginn des Konflikts ist es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz hat. In den meisten Fällen würde eine Frau nach einer Scheidung zu ihrer Familie zurückkehren. Der Zugang alleinstehender Frauen zu Dokumenten hängt von ihrem Bildungsgrad, ihrer individuellen Situation und ihren bisherigen Erfahrungen ab. Für ältere Frauen, die immer zu Hause waren, ist es beispielsweise schwierig, Zugang zu Dokumenten zu erhalten, wenn sie nicht von jemandem begleitet werden, der mehr Erfahrung mit Behördengängen hat (STDOK 8.2017). Die Wahrnehmung alleinstehender Frauen durch die Gesellschaft variiert von Gebiet zu Gebiet, in Damaskus-Stadt gibt es mehr gesellschaftliche Akzeptanz als in konservativeren Gebieten (SD 30.7.2018).
Da die syrische Gesellschaft als konservativ beschrieben wird, gibt es strenge Normen und Werte in Bezug auf Frauen, obwohl es durchaus auch säkulare Einzelpersonen und Familien gibt. Es gibt zwar keine offizielle Kleiderordnung, bestimmte gesellschaftliche Erwartungen bestehen aber dennoch. In den Großstädten wie Damaskus oder Aleppo und in der Küstenregion haben Frauen mehr Freiheiten, sich modern zu kleiden. Trotzdem kann die eigene Familie einer Frau in dieser Hinsicht ein hinderlicher Faktor sein (NMFA 5.2022).
In Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand besteht ein höheres Risiko, sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, insbesondere für die Mädchen in diesen Familien. Witwen und geschiedene Frauen sind in der Gesellschaft mit einem sozialen Stigma konfrontiert (NMFA 5.2020).
Frauen und medizinische Versorgung
Angesichts der drastisch gekürzten öffentlichen Dienste sind syrische Frauen gezwungen, zusätzliche Aufgaben in ihren Familien und Gemeinden zu übernehmen und haben Berichten zufolge eine führende Rolle im informellen humanitären Bereich übernommen. Frauen kümmern sich um Verletzte, Behinderte, ältere Menschen und Menschen mit anderen medizinischen Problemen, wenn es keine Gesundheits- und Rehabilitationsdienste mehr gibt. Die Frauen erbringen die medizinische Versorgung entweder in ihren Häusern oder arbeiten als Freiwillige in improvisierten, geheimen Gesundheitszentren [Anm.: in den Oppositionsgebieten] (CARE 3.2016). Gewalt überall im Land macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung einschließlich reproduktiver Medizin teuer und gefährlich (USDOS 20.3.2023). So schränkt die HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen ein und unterwirft sie Beschränkungen auch in Bezug auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung (SNHR 25.11.2019).
Syrischen AktivistInnen zufolge verweigerten die Regierung und bewaffnete Extremisten manchmal schwangeren Frauen das Passieren von Checkpoints und zwangen sie, unter oft gefährlichen und unhygienischen Bedingungen und ohne adäquate medizinische Betreuung ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Angriffe des Regimes und Russlands führen dazu, dass Gesundheitseinrichtungen oft im Geheimen operieren oder in einigen Fällen die Arbeit im Land einstellen. Konfliktbedingt ist der Sektor reproduktiver Gesundheit schwer belastet, und die Zahl der Frauen, welche während der Schwangerschaft oder der Geburt sterben, steigt weiterhin. Gemäß UNFPA (United Nations Population Fund) benötigen 7,3 Millionen Frauen und Mädchen Gesundheitsleistungen im Bereich reproduktiver und sexualmedizinischer Medizin wie auch Unterstützung in Fällen geschlechtsbasierter Gewalt, denn physische und sexuelle Gewalt wie auch Kinderheiraten sind im Steigen begriffen (USDOS 20.3.2023). Mit der Ausnahme, dass eine Fortführung der Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, sind Abtreibungen in Syrien nach wie vor illegal (UNFPA 12.2021).
Die Risiken von Kinderheiraten sind für Mädchen beträchtlich: Dazu gehören das erhöhte Risiko sexuell übertragbarer Infektionen, die enormen Gesundheitsrisiken für Mädchen durch frühe Schwangerschaften, das Risiko des Schulabbruchs und zusätzlicher Freiheits- und Bewegungseinschränkungen, das Risiko häuslicher Gewalt (physisch, verbal oder sexuell) und das Risiko, von Freunden und Familie isoliert zu werden. Kinderheiraten und die damit verbundenen Risiken können sich negativ, auch auf die psychische Gesundheit der Mädchen auswirken und zu emotionalen Problemen und Depressionen führen (UNFPA 11.2017) Anmerkung, für aktuelle Beispiele für die Gründe von Kinderheiraten siehe UNFPA 28.3.2023).
Sexuelle Gewalt gegen Frauen und 'Ehrverbrechen'
Letzte Änderung 2024-03-13 16:16
Ausmaß und Berichtslage zu sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen
Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen (AA 2.2.2024). Der UN Population Fund (UNFPA) und weitere UN-Organisationen, NGOs und Medien stufen das Ausmaß an Vergewaltigungen und sexueller Gewalt als 'endemisch, zu wenig berichtet und unkontrolliert' ein (USDOS 20.3.2023). Allgemein ist eine von fünf Frauen in Syrien heute von sexueller Gewalt betroffen, wobei eine Zunahme von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt infolge der allgemeinen Unsicherheit und Perspektivlosigkeit der Menschen und der verloren gegangenen Rolle des Mannes als 'Ernährer der Familie' auch innerhalb der gebildeten städtischen Bevölkerung und auch in Damaskus zu verzeichnen ist (ÖB Damaskus 1.10.2021). 'Ehrverbrechen' in der Familie - meist gegen Frauen - kommen in ländlichen Gegenden bei fast allen Glaubensgemeinschaften vor (AA 29.3.2023).
Im November 2021 schätzte das Syrian Network for Human Rights (SNHR), dass die Konfliktparteien seit März 2011 sexuelle Gewalt in mindestens 11.526 Fällen verübt haben. Die Regimekräfte und mit ihr verbündete Milizen waren für den Großteil dieser Straftaten verantwortlich - mehr als 8.000 Fälle, darunter mehr als 880 Straftaten in Gefängnissen und mehr als 440 Übergriffe auf Mädchen unter 18 Jahre. Fast 3.490 Fälle sexueller Gewalt wurden vom sogenannten Islamischen Staat (IS) begangen und 13 Verbrechen durch die Syrian Democratic Forces (SDF) (USDOS 20.3.2023). Die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Jahr 2019, Rückschläge für andere extremistische Gruppen und der Rückgang an Kampfhandlungen haben dazu geführt, dass die Bevölkerung nicht mehr derart den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheit ausgesetzt ist (FH 9.3.2023).
Sexuelle Gewalt durch Regimekräfte
Seit 2011 wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und die Gesellschaft zu destabilisieren sowie demografische Veränderungen, z. B. in Homs, durch Vertreibungen zu erreichen (LDHR 10.2018): U.a. die CoI, Amnesty International und Human Rights Watch berichten immer wieder über Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen und Mädchen, insbesondere von Seiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, bei Militärkontrollen und in Haftanstalten. Vor allem Haftpraktiken in Syrien wiesen hiernach eine konstant stark geschlechtsorientierte Komponente auf. Sowohl Frauen als auch Männer werden Opfer sexualisierter Gewalt, insbesondere als Bestandteil von Misshandlungs- und Folterpraktiken. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass es bisher in mindestens 20 Haftanstalten in Syrien zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen gekommen ist (AA 2.2.2024). Dazu gehören Vergewaltigung, Leibesvisitationen und erzwungene Nacktheit, andere Akte sexueller Gewalt, die Androhung sexueller Gewalt, die Folterung an Geschlechtsorganen und weitere erniedrigende und demütigende Behandlungen (SJAC 10.4.2019). Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen (USDOS 12.4.2022). Auch sind einer Menschenrechtsorganisation zufolge nach Syrien rückkehrende Flüchtlinge, besonders Frauen und Kinder, sexueller Gewalt durch Regimekräfte ausgesetzt (USDOS 20.3.2023).
Sexuelle Gewalt durch bewaffnete Gruppen in Gebieten außerhalb der Regimekontrolle
[…] Der Niedergang von Recht und Ordnung setzt Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen aus, besonders durch extremistische Gruppen, die der Bevölkerung ihre eigenen Interpretationen des Religionsrechts auferlegen (FH 9.3.2023): Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Frauen durch Mitglieder nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen sind zwar dokumentiert, kommen aber schätzungsweise weniger häufig vor als durch die Regierungstruppen und ihre Verbündeten. Berichten zufolge stehen Fälle von sexueller Gewalt dort im Zusammenhang mit sozialen Phänomenen wie Ausbeutung, Konfessionalismus und Rache, wobei Fälle dokumentiert sind, die Opfer mit kurdischem Hintergrund, vermeintliche Schiiten oder regierungstreue Personen sowie Minderheitengruppen wie Drusen und Christen betreffen (UNCOI 8.3.2018).
Sexuelle Gewalt ebenso wie Ausbeutung und Hürden beim Zugang zu Hilfsleistungen betreffen besonders oft geschiedene Frauen, Witwen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023). Neben Fällen von Versklavung, dem sinkenden Heiratsalter und Fällen von Zwangsheirat wurden offenbar vor allem in IS-kontrollierten Gebieten auch zunehmend Fälle von Genitalverstümmelung beobachtet, eine Praxis, die bis zum Ausbruch der Krise in Syrien unbekannt war und auf die Präsenz von Kämpfern aus Sudan und Somalia zurückzuführen war (ÖB Damaskus 1.10.2021). […]
Häusliche Gewalt und Gewalt in der Familie und an öffentlichen Orten sowie Umgang mit Gewaltopfern
Die meisten Fälle von 'Ehrenmorden' stehen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt, aber nicht notwendigerweise mit Vergewaltigung: In einigen Fällen sind es Belästigungen oder Übergriffe auf der Straße oder in anderen Fällen die Annahme, dass während der Entführung/Gefangenschaft sexuelle Gewalt stattgefunden habe (UNFPA 3.2019). Ehemalige weibliche Häftlinge leiden unter psychischen Problemen, in vielen Fällen unter schweren körperlichen Verletzungen durch Gewalt, einschließlich gynäkologischer Verletzungen durch sexuelle Gewalt, und unter gesundheitlichen Problemen wie Lungenentzündung und Hepatitis. Darüber hinaus ist die Annahme weit verbreitet, dass weibliche Häftlinge sexuelle Gewalt erfahren haben, was von der Familie und der Gemeinschaft als Schande für die Würde und Ehre des Opfers empfunden werden kann. Diese Stigmatisierung kann Berichten zufolge zu sozialer Isolation, Ablehnung von Arbeitsplätzen, Scheidung, Verstoßung durch die Familie und sogar zu 'Ehrenmorden' führen (UNFPA 11.2017). So bleibt die Gefahr von 'Ehrenmorden' durch Familienmitglieder einer der Gründe, warum sexuelle Gewalt nicht in vollem Ausmaß berichtsmäßig erfasst ist. Tausende Überlebende von Gewalt, sexueller Ausbeutung und Zwangsheiraten wurden von ihren Familien verstoßen (USDOS 20.3.2023). Eltern oder Ehemänner verstoßen oftmals Frauen, die während der Haft vergewaltigt wurden oder wenn eine Vergewaltigung auch nur vermutet wird (STDOK 8.2017). Frühe und erzwungene Heiraten kommen auch besonders bei Binnenvertriebenen vor, weil die Familien die Ehe unter anderem als Schutz vor der verbreiteten sexuellen Gewalt wahrnehmen (FH 9.3.2023).
Darüber hinaus stellt die Angst vor sozialer Stigmatisierung oder vor der Polizei ein Hindernis für die Anzeige von sexueller Gewalt dar. Einflussreiche Beziehungen der Frau oder des Täters spielen eine große Rolle bezüglich der Wirksamkeit einer solchen Anzeige. Es besteht die Gefahr, dass die Frau beschuldigt wird. Wenn sie einen Vorfall anzeigt - in der Regel gegen ihren Ehemann - ist der soziale Druck, die Anzeige zurückzuziehen, enorm. Es heißt daher, dass Frauen versuchen, häusliche Gewalt innerhalb der Familie zu klären. Welche Hilfe tatsächlich geleistet wird, hängt jedoch von ihrer Familie ab (NMFA 5.2022).
Berichten zufolge kam es seit 2011 zu einem Anstieg an 'Ehrenmorden' infolge des Konfliktes (USDOS 12.4.2022). Drei Organisationen dokumentieren zusammen von 2019 bis November 2022 insgesamt 185 'Ehrenmorde' (USDOS 20.3.2023). Laut dem niederländischen Außenministerium ist es jedoch nicht möglich, das konkrete Ausmaß an Blutfehden und 'Ehrenmorden' in Syrien in absoluten Zahlen auszudrücken. Dass diese vorkommen, wird aber von zahlreichen Quellen und Beispielen aus dem Berichtszeitraum [Anm.: Mai 2021 bis Mai 2022] belegt. Eine Quelle stellt zudem fest, dass sie hauptsächlich in Gebieten vorkommen, in denen Stämme eine wichtige Rolle spielen, wie z. B. in Suweida und im Nordosten, aber auch, dass sie nicht auf eine spezifische ethnische Gemeinschaft beschränkt sind (NMFA 5.2022).
Insbesondere Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sind einem erhöhten Risiko sexueller Gewalt ausgesetzt. Darüber hinaus sind unbegleitete Mädchen, Waisen oder solche, die bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern leben, Berichten zufolge von sexueller Gewalt bedroht. Syrische Mädchen, die für den UNFPA-Bericht 2017 befragt wurden, berichteten von einem besonderen Risiko sexueller Gewalt auf dem Weg zur oder von der Schule, und diese Risiken sollen oft der Hauptgrund dafür sein, dass Mädchen entweder die Schule abbrechen oder von ihren Eltern aus der Schule genommen werden (UNFPA 11.2017). Für aktuelle Beispiele hierzu siehe UNFPA vom 28.3.2023.
Anzeige und Strafverfolgung
Eine Anzeige wegen sexueller Gewalt in Syrien muss durch ein medizinisches Gutachten eines Gerichtsmediziners untermauert werden, aus dem die Schwere der körperlichen Verletzung hervorgeht. Dieses Verfahren sowie soziale Normen und Stigmata machen es Frauen, die missbraucht wurden, schwer, Hilfe zu suchen (NMFA 6.2021). Zudem besteht das Risiko, dass man ihr die Schuld für das Vorgefallene gibt (NMFA 5.2022). Die Anzeige von Gewalt durch Regierungsbeamte ist noch schwieriger, weil sie rechtlich gegen Anklagen für Handlungen geschützt sind, die sie im Rahmen ihrer Arbeit vornehmen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand es wagen würde, Sicherheitsbeamte wegen Gewaltanwendung trotz der Angst vor Verschwindenlassen, der Verhaftung oder der Anschuldigung des Terrorismus anzuzeigen (NMFA 6.2021). Obwohl Vergewaltigung außerhalb der Ehe strafbar ist, setzt die Regierung diese Bestimmungen nicht wirksam um. Darüber hinaus kann der Täter eine Strafminderung erhalten, wenn er das Opfer heiratet, um das soziale Stigma der Vergewaltigung zu vermeiden. Dem stimmen manche Familien wegen des sozialen Stigmas durch Vergewaltigungen zu (USDOS 20.3.2023). Eine Frau in Furcht vor einem 'Ehrverbrechen' kann keinen Schutz von den Behörden wie etwa in Form eines Frauenhauses erwarten. Ihre Optionen für eventuellen Schutz hängen gänzlich von ihren persönlichen und gesellschaftlichen Umständen ab (NMFA 5.2022), denn offizielle Mechanismen zum Schutz von Frauenrechten funktionieren Berichten zufolge nicht (FH 9.3.2023).
Wenn eine Frau aus Anlass angeblicher 'illegitimer sexueller Handlungen' zu Schaden kommt, wird dies aus rechtlicher Sicht seit 2020 nicht mehr als mildernder Umstand anerkannt. Allerdings bleiben andere Gesetze statt des Artikels 548 des Strafgesetzes in Kraft, welche trotzdem eine Strafmilderung erlauben (HRW 11.1.2024). Es kommt nur zu wenigen Strafverfolgungen wegen Mordes oder versuchten Mordes aus Gründen der 'Ehre' (NMFA 5.2022). Auch können sich Vergewaltiger durch die Heirat des Opfers vor Strafe schützen (FH 9.3.2023).
Bei 'Ehrverbrechen' in der Familie - meist gegen Frauen - besteht laut deutschem Auswärtigen Amt kein effektiver staatlicher Schutz (AA 29.3.2023). So stellt Vergewaltigung nach syrischem Recht zwar eine Straftat dar, allerdings nicht in der Ehe. Ebenso kennt das syrische Strafrecht keinen expliziten Straftatbestand für häusliche Gewalt (AA 2.2.2024). Es gibt zwar Frauenhäuser in verschiedenen Gegenden des Landes, aber diese sind vor allem für Witwen und geschiedene Frauen gedacht. Auch ist die Suche nach Zuflucht schwierig, denn die Schutz suchenden Frauen müssen in ein anderes Gebiet umziehen und den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen. Es gibt zwar Organisationen zur Unterstützung von Frauen in Not, aber die Dauer des Schutzes hängt von der Laufzeit des Projekts ab. Die Wahrscheinlichkeit ist nach Einschätzung des niederländischen Außenministeriums groß, dass die Frauen zu ihren Familien zurückkehren müssen (NMFA 5.2022). Die Finanzierung von Projekten gegen geschlechtsbasierte Gewalt ging im Jahr 2022 zurück - mit Auswirkungen auf die Sicherheit von Frauen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023).
Die (selbstproklamierte) Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES - Autonomous Administration of North and East Syria)
Letzte Änderung 2023-07-17 15:46
Nachdem sich die Regierungstruppen 2012 aus dem Nordosten zurückgezogen und die Partei der Demokratischen Union (PYD) die Kontrolle übernommen hatte, wurde die Geschlechterfrage zu einem zentralen Thema der Politik der Partei der Demokratischen Union (PYD), und in jeder autonomen Gemeinde und auf jeder Ebene des Systems wurden Frauenverbände gegründet (Allsop, van Wilgenburg 2019). Per Gesetz werden alle Regierungseinrichtungen von einem Mann und einer Frau gleichzeitig geleitet, und die meisten staatlichen Behörden und Gremien müssen zwischen Männern und Frauen gleich besetzt sein, abgesehen von Einrichtungen, die nur für Frauen sind und von Frauen geleitet werden. Mit den YPJ-Einheiten (Women’s Protection Units, Y.P.J.) gibt es eigene Milizen aus Frauen (TNYT 24.2.2018), und bei der Rückeroberung Raqqas hatte ein Mitglied dieser Einheit das übergeordnete Kommando. Gesetze und Regulierungen sollen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen abschaffen. Kinderheiraten und häusliche Gewalt stehen unter Strafe (NMFA 6.2021) Anmerkung, für Beispiele in Manbij siehe TNYT 24.2.2018). Die Verwaltungscharta des Gesellschaftsvertrags räumt den Frauen das Recht auf Teilhabe an politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten ein und legt den Frauenanteil in allen Leitungsgremien, Institutionen und Ausschüssen auf 40 Prozent fest. Dies ist jedoch nur auf Bereiche beschränkt, die unter der Kontrolle der Syrian Democratic Forces (SDF) stehen, und es wird in diesem Zusammenhang betont, dass Partizipation nicht gleichbedeutend mit tatsächlicher Ermächtigung ist (AC 13.8.2019), zumal außerhalb der PYD-Strukturen die politische Autonomie für die Bevölkerung eingeschränkt ist (FH 9.3.2023).
Kurdische Frauen erleben liberalere kulturelle Normen in den kurdischen Gemeinschaften, was durch die politischen Parteien gefördert wird. Die Partizipation von Frauen an traditionell männlichen Aktivitäten ist in vielen Fällen weniger restriktiv. Allerdings ist die jeweilige Lage der Frauen großteils von ihren Familien und deren Einstellungen abhängig, sodass in religiöseren oder traditionelleren kurdischen Gemeinschaften auch mehr traditionelle gesellschaftliche Normen gelten (Allsop & van Wilgenburg 2019). Diese Aspekte gelten jedoch nur für kurdische Frauen in den kurdischen Gebieten, nicht für arabische Frauen in den kurdischen Gebieten oder für kurdische Frauen im Rest Syriens. Beispiele für vulnerable Frauen wären z. B. kurdische Frauen in den kurdischen Gebieten, die gegen die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) eingestellt sind (STDOK 8.2017).
Obwohl die Reformen definitiv Frauen zugutekommen, fühlen sich einige syrisch-kurdische Frauen Berichten zufolge mit der Ideologisierung der Frauenrechte, den impliziten Assoziationen von Befreiung mit Militarisierung und der Art der Umsetzung der Gleichberechtigung unwohl (Allsopp & van Wilgenburg 2019) Anmerkung, zu der im AANES eingeführten, aber nicht staatlich anerkannten Zivilehe siehe Kapitel Religionsfreiheit.).
Der Nordosten Syriens wird im Allgemeinen immer noch als ländliche und stammesgebundene Gesellschaft angesehen, in der die Rolle der Frauen auf die Arbeit im Haus oder innerhalb von Verwaltungseinrichtungen beschränkt ist (Atlanctic Council 12.3.2019). In Gebieten mit arabischer Mehrheitsbevölkerung, die als konservativer gelten und wo Stammesstrukturen noch stark verwurzelt sind, ist es für die kurdischen Behörden schwerer, Gleichberechtigungsmaßnahmen ohne Widerstand durchzusetzen. So wurde beispielsweise in Kobanê Polygamie verboten, von der lokalen Bevölkerung in Manbij gab es jedoch Widerstand durch lokale Stammesführer, was zu einer Ausnahme für Manbij von dieser Regelung führte (TNYT 24.2.2018).
Generell wurde geschlechtsspezifische Gewalt, wie sexuelle Gewalt, häusliche und familiäre Gewalt, Kinderehen und Ehrenmorde, aus allen Teilen Syriens gemeldet, auch aus den von den SDF kontrollierten Regionen (UNPFA 28.3.2023). […]
Kinder
Letzte Änderung 2024-03-13 16:20
Das Kinderschutzgesetz, Gesetz Nr. 21 von 2021, wurde im August 2022 veröffentlicht und ist das erste seiner Art in Syrien. Es soll die Kinder schützen, versorgen und die wissenschaftliche, kulturelle, psychologische und soziale Rehabilitation aller Kinder sicherstellen. Demnach hat der syrische Staat die Pflicht, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte von Kindern zu gewährleisten (OSS 18.1.2023).
Unverändert kommt es in Syrien regelmäßig zu schwersten Verletzungen der Rechte von Kindern (AA 2.2.2024). Trotz Bemühungen der Vereinten Nationen (VN) werden noch immer Kinder für den Dienst an der Waffe rekrutiert. Für das Jahr 2022 wurden durch die VN insgesamt 1.669 Fälle dokumentiert (1.593 Jungen und 103 Mädchen). Rekrutierungen von Kindern werden, nach dem Bericht der VN, vor allem durch die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) und die assoziierten YPG/YPJ (Kurdish People’s Protection Units, Women’s Protection Units), durch die Milizen der Syrian National Army (SNA) und durch Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) vorgenommen, vereinzelt auch durch das Regime und ihm nahestehende Milizen. Die meisten Kinder seien von den verschiedenen Konfliktparteien auch im Kampf eingesetzt worden. Dazu konnten die VN für das Jahr 2022 insgesamt 711 Fälle dokumentieren, in denen Kinder getötet (307) oder verstümmelt (404) wurden. Hauptverantwortliche seien das Regime (178 Fälle), SDF (73) und SNA (47). In 364 Fällen konnte die Verantwortlichkeit nicht zugeordnet werden. Viele Kinder werden dabei durch explosive Ladungen oder Munitionsreste getötet bzw. verletzt (375). Weitere Hauptursachen sind Artillerieangriffe (217), Luftangriffe (63) und Schusswaffen (52) (AA 2.2.2024). Im Jahr 2021 wurden 301 Kinder durch syrische Regierungskräfte in Oppositionsgebieten getötet. Zwischen dem Jahr 2011 und März 2022 wurden 22,941 Kinder durch Regierungskräfte getötet (OSS 18.1.2023).
Zu weiteren Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder zählten insbesondere die Rekrutierung und der Einsatz von Kindersoldaten, Inhaftierung und Folter, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Kinder, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser sowie die Verweigerung humanitärer Hilfsleistungen (AA 29.3.2023). 6.358 Kinder befinden sich weiterhin in Gefangenschaft oder sind in Regierungsgefängnissen 'verschwunden' worden. Im Jahr 2021 wurden 48 neue Inhaftierungen von Kindern durch Regierungskräfte verzeichnet (OSS 18.1.2023). Für das Jahr 2022 dokumentierte SNHR willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen von 148 Kindern (AA 29.3.2023).
Die Anzahl der Kinder unter den Binnenvertriebenen wächst weiterhin - mit Stand Februar 2022 2,4 Millionen Kinder, von denen ungefähr eine Million in Ansiedlungen und Lagern lebte (USDOS 20.3.2023) Anmerkung, Siehe dazu auch der Abschnitt Binnenvertriebene (IDPs) und Flüchtlinge im Kaptiel Bewegungsfreiheit!) […]
Bildung und Schulen
Laut dem Kinderschutzgesetz haben Kinder ein Recht auf Bildung (OSS 18.1.2023). Für alle Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren besteht Schulpflicht. Der Anteil an Einschulungen, Unterrichtsteilnahme und Schulabschlüssen war zwischen Buben und Mädchen vergleichbar (USDOS 20.3.2023).
Mindestens 2,4 Millionen von 6,1 Millionen Kindern in Schulalter gingen 2022 in Syrien nicht zur Schule und eine von drei Schulen war beschädigt, zerstört oder wurde zweckentfremdet genutzt - auch für militärische Zwecke (HRW 12.1.2023). Kombattanten aller Seiten greifen regelmäßig Schulen an oder requirierten die Schulgebäude (FH 9.3.2023, zu besonderen Sicherheitsherausforderungen für Mädchen vergleiche UNFPA 28.3.2023). SNHR’ verzeichnete im Jahr 2022 mindestens zwei Angriffe auf Bildungseinrichtungen (Schulen, Kindergärten) in Idlib durch Regierungskräfte. Im Jahr 2021 waren es 13 Angriffe gewesen (SNHR 17.1.2023).
Wiederholte Angriffe auf Schulen, ökonomische Faktoren wie Kinderarbeit, die Rekrutierung von Buben für militärische Aufgaben und die Inhaftierung von Kindern behindern weiterhin die Möglichkeiten von Kindern, eine Ausbildung zu erhalten. Außerdem benötigen viele Schulen massive Reparaturarbeiten, einschließlich der Räumung von nicht-detonierten Explosivstoffen des Krieges. Überdies brauchen die Schulen Hilfe bei der Beschaffung einer Basisausstattung mit Lernmaterialien (USDOS 20.3.2023), darunter auch die wiedereröffneten Schulen in zuvor vom sogenannten Islamischen Staat (IS) gehaltenen Gebieten, die von den Syrian Democratic Forces erobert wurden (USDOS 30.3.2021). […]
Neben dem Bombardieren von Bildungseinrichtungen in Gebieten außerhalb seiner Kontrolle und dem Gebrauch einer Anzahl an Bildungseinrichtungen für militärische Zwecke wird auch der Lehrplan für Regimezwecke eingesetzt, sodass die Lehrinhalte die Assad-Herrschaft unterstützen. So sind die Schulkinder automatisch in zwei politischen Organisationen eingeschrieben und müssen in öffentlichen Schulen jeden Tag die Parteislogans rezitieren, und werden in den Aussagen des Regimes unterrichtet (SNHR 17.1.2023). Auch militante islamistische Gruppen und die PYD (Kurdish Democratic Union Party) haben Bildungssysteme in ihren jeweiligen Gebieten eingerichtet, die eine durchdringende politische Indoktrinierung beinhalten (FH 9.3.2023). Im letzteren Fall werden von den Syrian Democratic Forces Strafen gegen MitarbeiterInnen der Schulverwaltung verhängt, wenn diese nicht ihren (PYD-)Lehrplan verwenden (USDOS 20.3.2023).
Kinder-, Früh- und Zwangsehe
Das gesetzliche Heiratsalter beträgt dem neuen Gesetz zufolge allgemein 18 Jahre (OSS 18.1.2023). Buben im Alter von 15 Jahren oder Mädchen im Alter von 13 Jahren können heiraten, wenn ein Richter beide Parteien für willig und 'körperlich reif' erklärt, und die Väter oder Großväter beider Parteien zustimmen. Früh- und Zwangsehen sind immer häufiger anzutreffen, insbesondere in Gebieten unter Kontrolle bewaffneter Gruppen. Die Heiraten werden aus Angst vor Haft und Wehrdienst oft nicht offiziell registriert. Die Verschlechterung der Wirtschaftslage sowie der Tod oder das Verschwinden des männlichen Haushaltsvorstands durch das Regime oder andere bewaffnete Gruppen wirken sich negativ auf die Kinder durch steigende Kinderarbeit und Kinderheiraten aus. Berichten zufolge arrangierten viele Familien die Verheiratung von Mädchen in jüngerem Alter, als dies vor Ausbruch des Konflikts üblich war, in dem Glauben, dass dies die Mädchen schützen und die finanzielle Belastung der Familie verringern würde. Es gibt Fälle von Früh- und Zwangsverheiratung von Mädchen mit Mitgliedern des Regimes, der regimenahen Kräfte und der bewaffneten Opposition (USDOS 20.3.2023).
Anmerkung, Weitere Informationen über Kinderheirat siehe Unterkapitel "Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge (regimekontrollierte Gebiete)". […]
Nordost-Syrien - Kinder und Jugendliche unter Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats und der aktuelle Umgang mit ihnen
Im Nordosten kritisiert die CoI (United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) in ihrem Bericht insbesondere die Inhaftierung ohne gerichtlichen Prozess von über 1.000, mitunter als Jugendliche verhafteten, männlichen mutmaßlichen IS-Angehörigen in Haftanstalten, teilweise in Isolationshaft sowie die De-facto-Inhaftierung von rund 58.000 Personen (AA 29.3.2023). Die CoI kritisiert laut Auswärtigem Amt explizit die Inhaftierung von 51.600 Menschen, darunter hauptsächlich Frauen und Kindern unter prekären Bedingungen in den Lagern Al-Hol und Roj sowie insbesondere von bis zu 1.000 zum Teil minderjährigen männlichen Personen, die gemeinsam mit IS-Kämpfern in Haftanstalten untergebracht sind. Auch wenn in den letzten Jahren einige Menschen die Camps verlassen konnten, wird der Großteil von ihnen dort seit 2019 ohne rechtsstaatliches Verfahren und unter schwierigsten humanitären Bedingungen festgehalten (AA 2.2.2024). Die Zustände sind laut Einschätzung von Human Rights Watch 'lebensbedrohlich, demütigend und oft unmenschlich'. Unter den Festgehaltenen befinden sich ausländische StaatsbürgerInnen aus fast 60 Staaten, die meisten Festgehaltenen sind Kinder. Zumindest 39 Staaten haben Repatriierungen von etwa 9.000 Personen durchgeführt, die meisten davon in den Nachbarstaat Irak (HRW 11.1.2024). Wie Mitglieder der UNCOI betonen, haben auch die Kinder in den Lagern ein Recht auf Bildung und Spiel sowie adäquate Gesundheitsversorgung. Mütter, die sich der IS-Indoktrinierung widersetzen, werden z. B. verprügelt, Burschen, welche in Gefängnisse zu IS-Kämpfern transferiert werden, sind dort dem Risiko der weiteren IS-Indoktrinierung ausgesetzt. Zudem halten sich weiter Opfer von IS-Vergewaltigungen mit den daraus hervorgegangenen Kindern im Lager auf (OHCHR 22.9.2021) [Anm.: für weitere Aspekte der sich laut UN-Einschätzung verschlechternden Lage siehe UNCOI 13.3.2023]. Am 25.8.2022 wurden große Zahlen an Burschen aus den Lagern al-Hol und Roj durch die Asayisch mit Hilfe der SDF verlegt - einige von den Burschen an unbekannte Orte. Im Zuge der Aktion fanden die SDF laut eigenen Angaben auch jesidische Frauen und Mädchen, welche von IS-loyalen Familien gefangen gehalten wurden, von denen einige Jesidinnen angekettet und gefoltert hatten (UNCOI 13.3.2023).
Auch wer (von den syrischen StaatsbürgerInnen) das Lager verlassen darf, muss verschiedene Bedingungen erfüllen, z. B. die Patenschaft durch einen syrischen Stamm, genug Geld für die Kosten (inklusive Bestechungsgelder) sowie verschiedene Dokumente vorweisen (MSF 11.2022). Seit Mitte 2019 wurden fast 5.000 syrische Kinder im Rahmen sogenannter "Stammespatenschaften" aus den Lagern in Gemeinden im Nordosten entlassen (OCHRC 22.9.2021).
Die SDF hielten weiterhin mehr als 10.000 als IS-Kämpfer verdächtigte Personen und weitere Männer und Burschen mit angeblichen Verbindungen zum IS fest. Vielen fehlt eine gesetzliche Einspruchsmöglichkeit gegen ihre Haft, besonders Nicht-Syrern. Der Kontakt zu Außenwelt ist begrenzt, oft nur in Form sporadischer Briefe. Humanitären Helfern ist der Zugang zu den Hunderten Burschen verwehrt trotz Hinweisen, dass sie dringend medizinische und andere Hilfe benötigen. Eine große Zahl an Burschen ist Berichten zufolge seit Jänner 2022 im al-Sina'a Gefängnis an Tuberkulose verstorben. Andere Burschen werden in sogenannten Rehabilitationszentren festgehalten, wobei zu den mehr als 800 Burschen kein voller Zugang für humanitäre Hilfe besteht (UNCOI 13.3.2023).
Anmerkung, Zur Rekrutierung von Minderjährigen siehe Unterkapitel "Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen".
Aus früheren Jahren sind Zwangsverheiratungen durch den IS bekannt - in vielen Fällen junge Mädchen (USDOS 20.3.2023): Ab 2014 begann der IS, Frauen und Mädchen im Alter von zwölf bis 16 Jahren in den von ihm kontrollierten Gebieten zwangszuverheiraten. Auch entführte der IS jesidische Mädchen im Irak und brachte sie zur Vergewaltigung und Zwangsverheiratung nach Syrien (USDOS 20.3.2021). Die Free Yezidi Foundation berichtete, dass jesidische Frauen und Kinder aufgrund des schweren Traumas, das sie durch die Behandlung unter dem IS erlitten haben, und aus Angst bei IS-nahen Familien in Internierungslagern bleiben (USDOS 20.3.2023). Der Oberste Geistliche Rat der Jesiden hat angekündigt, dass jedes Kind eines muslimischen oder "unbekannten" Vaters als muslimisch registriert werden muss, wodurch jesidischen Kindern, die unter dem IS geboren wurden, ein Platz in der jesidischen Gemeinschaft verwehrt wird, und ein weiteres Hindernis für die Rückkehr jesidischer Frauen in ihre Heimatgemeinden entsteht (USDOS 30.3.2021).
Kindesmisshandlung und -missbrauch
Das Gesetz verbietet Kindesmisshandlung nicht ausdrücklich. Es sieht vor, dass Eltern ihre Kinder in einer Form disziplinieren können, die nach allgemeinem Brauch zulässig ist (USDOS 20.3.2023). Regierungstruppen setzen die Vergewaltigung von Kindern als "Kriegswaffe" ein und missbrauchen Kinder von Oppositionellen in Gefängnissen, an Kontrollpunkten und bei Hausdurchsuchungen systematisch und komplett ungestraft. Einem befragten Unteroffizier zufolge machten sie bei der Inhaftierung keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Minderjährigen, selbst in Fällen, in denen Folter angewendet wurde. Kinder werden absichtlich mit Erwachsenen zusammen eingesperrt, weshalb es auch zu Vergewaltigungen durch andere Gefangene kommt (ZI 2.7.2017). Regimemitarbeiter folterten Berichten zufolge Kinder auch wegen ihrer familiären Verbindungen - real oder angenommen - mit MenschenrechtsaktivistInnen und mit anderen AktivistInnen (USDOS 20.3.2023).
NGOs berichteten ausführlich über Regime- und regimefreundliche Kräfte sowie HTS und IS, die Kinder sexuell missbrauchen, foltern, festhalten, töten und anderweitig misshandeln. Die HTS hat Kinder in den von ihr kontrollierten Gebieten extrem hart bestraft und auch hingerichtet. Das gesetzliche Alter für die sexuelle Mündigkeit liegt bei 15 Jahren, wobei es keine Ausnahmeregelung für Minderjährige gibt. Vorehelicher Sex ist illegal, aber Beobachter berichteten, dass die Behörden das Gesetz nicht durchsetzen. Die Vergewaltigung eines Kindes unter 15 Jahren wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 21 Jahren und Zwangsarbeit bestraft. Es gab keine Berichte über die strafrechtliche Verfolgung in Vergewaltigungsfällen von Kindern durch das Regime (USDOS 20.3.2023).
Zwischen März 2011 und März 2023 dokumentierte SNHR den Tod von mindestens 15.272 Personen durch Folter, darunter 197 Kinder, durch die Konfliktparteien in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,47 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 3.2023).
Kinderarbeit und Nahrungsmittelversorgung
Das Gesetz sieht den Schutz von Kindern vor Ausbeutung am Arbeitsplatz vor und verbietet die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Es gab nur wenige öffentlich zugängliche Informationen über die Durchsetzung des Kinderarbeitsgesetzes. Das Regime unternahm keine nennenswerten Anstrengungen zur Durchsetzung von Gesetzen, die Kinderarbeit verhindern oder beseitigen. Das Mindestalter für die meisten nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten beträgt 15 Jahre oder den Abschluss der Grundschule, je nachdem, was zuerst eintritt. Das Mindestalter für die Beschäftigung in Industrien mit schwerer Arbeit beträgt 17 Jahre. Für die Beschäftigung von Kindern unter 16 Jahren ist die Erlaubnis der Eltern erforderlich. Kinder, die jünger als 18 Jahre sind, dürfen nicht mehr als sechs Stunden pro Tag arbeiten und keine Überstunden leisten oder in Nachtschichten, an Wochenenden oder offiziellen Feiertagen arbeiten. Das Gesetz sieht vor, dass die Behörden bei Verstößen "angemessene Strafen" verhängen sollen. Es gab jedoch keine Informationen, aus denen hervorging, welche Strafen angemessen waren. Die Beschränkungen für Kinderarbeit gelten nicht für Personen, die in Familienbetrieben arbeiten und kein Gehalt erhalten (USDOS 12.4.2022).
Kinderarbeit gibt es in Syrien sowohl in informellen Sektoren, einschließlich Betteln, Hausarbeit und Landwirtschaft, als auch in Positionen, die mit dem Konflikt zu tun haben, z. B. als Aufpasser, Spione und Informanten. Bei konfliktbezogener Arbeit sind Kinder erheblichen Gefahren durch Vergeltung und Gewalt ausgesetzt. Organisierte Bettelringe setzen die innerhalb des Landes vertriebenen Kinder weiterhin der Zwangsarbeit aus (USDOS 12.4.2022). Viele bewaffnete Gruppen rekrutieren Kinder als Soldaten. Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonders vulnerabel bezüglich sexueller und Arbeitsausbeutung sowie Menschenhandel (FH 9.3.2023).
Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 im Jahr 2022 auf 609.979 im Jahr 2023. Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zwischen sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Rund 70 Prozent der Bevölkerung macht von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Etwa 90 Prozent aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 Prozent der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023). Kinder als Straßenverkäufer oder auf Müllhalden wurden mit der anhaltenden Verschlechterung der Lebensbedingungen aller syrischen Familien ein regelmäßiger Anblick, weil Hunderttausende von Familien unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch kam es zu einer Zunahme an obdachlosen Kindern, die allen Formen der Ausbeutung ausgesetzt sind (SNHR 20.11.2021).
Anmerkung, Näheres zum Zugang zu Unterkünften siehe Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft".
Nicht-explodierte Kampfmittelrückstände, Landminen etc. als besondere Gefahr für Kinder
Das United Nations Mine Action Service (UNMAS) bezeichnet das Ausmaß, die Schwere und die Komplexität der Bedrohung durch Sprengstoffe in Syrien nach wie vor als ein großes Schutzproblem, das die humanitäre Krise und die Gefährdung der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten verschärft (UNMAS 9.2022). Insgesamt wurden seit 2011 3.353 ZivilistInnen, darunter 889 Kinder, durch Anti-Personen-Landminen getötet (SNHR 4.4.2023). 1.435 SyrerInnen, darunter 518 Kinder, starben bisher durch Streumunition und ihre Überreste, die von den syrischen Streitkräften und Russland eingesetzt wurden (SNHR 30.1.2023).
Die Überreste der Waffen, die das syrische Regime und seine Verbündeten bei der massiven und wahllosen Bombardierung der nicht von ihnen kontrollierten Gebiete eingesetzt haben, und die es in jeder Form, Art und Größe gibt, gehören zu den größten Gefahren, die das Leben der Zivilbevölkerung und insbesondere der Kinder bedrohen - auch in Hinkunft. An erster Stelle stehen die Überreste von Streumunition, die in großem Umfang und wahllos eingesetzt wurde; die Submunition oder "Bomblets" dieser Waffen sind über große Gebiete verteilt, nachdem sie durch die erste Explosion nach dem Einschlag des Hauptsprengkörpers weiträumig verstreut wurden, wobei zwischen 10 Prozent und 40 Prozent dieser "Bomblets" nicht explodiert sind und daher eine tödliche Gefahr darstellen. Diese Submunition, die in großer Zahl auf landwirtschaftlichen Flächen, in den Ruinen von Städten und Dörfern und sogar in Flüchtlingslagern verstreut ist, ist in der Regel gut versteckt und kann jederzeit explodieren, weil sie durch jede noch so kleine Bewegung ausgelöst wird. Landminen, die von allen Konfliktparteien gelegt wurden, stellen in dieser Kategorie nach Streumunition die zweitgrößte tödliche Bedrohung dar. Die Überreste dieser Waffen haben zahlreiche zivile Opfer gefordert, vor allem unter Kindern, die am stärksten gefährdet sind, weil sie die Überreste nicht identifizieren oder ihre Gefahr nicht erkennen können. Diejenigen Kinder, welche durch die Explosionen dieser Überreste verletzt wurden, haben oft Gliedmaßen verloren oder sind anderweitig dauerhaft behindert und müssen für den Rest ihres Lebens mit diesen Beeinträchtigungen leben (SNHR 20.11.2021).
Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
[…] Anmerkung, Bezüglich der Frage, welche Personen unter welchen Bedingungen dauerhaft in ihre Heimatorte im Selbstverwaltungsgebiet zurückkehren können, wird auf die folgende AFB verwiesen: ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.5.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak [a-11859-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2073007.html, Zugriff 15.5.2023 […]
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Letzte Änderung 2024-03-13 16:24
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern (USDOS 20.3.2023). Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024). […]
Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023) Anmerkung, Bzgl. der Schließung von zivilen Flughäfen wegen israelischer Luftangriffe siehe auch Kapitel Sicherheitslage). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise eingestellt werden (AA 2.2.2024). […]
Rückkehr
Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 Prozent (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen an Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus (AA 2.2.2024). […]
Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-13 20:36
Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 11.1.2024).
Die offizielle politische Position des Regimes hinsichtlich der Rückkehr von Geflüchteten wurde im Berichtszeitraum angepasst. In einem anlässlich des UNHCR-Exekutivkomitees am 12.10.2023 veröffentlichten Statement versicherte das syrische Regime, dass es sichere Rückkehrbedingungen schaffe. Die Versprechungen, z. B. zum Wehrdienst, bleiben jedoch vage. Nach Einschätzung vieler Beobachter könne kaum mit großangelegter Flüchtlingsrückkehr gerechnet werden (AA 2.2.2024).
Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten (CNN 10.5.2023). Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nichts geändert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine „freiwillige Rückkehr“ zu erwirken (AA 2.2.2024).
RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023; vergleiche Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Beschränkungen beim Zugang zu ihren Herkunftsgebieten (HRW 11.1.2024). Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden. Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. UNHCR, IKRK und IOM vertreten unverändert die Auffassung, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann derzeit insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden (AA 2.2.2024).
Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024). […]
Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022). […]
Wahrnehmung von RückkehrerInnnen ja nach Profil
Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert (AA 20.3.2023). Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023; vergleiche Balanche 13.12.2021). Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert (AA 2.2.2024), bzw. insgeheim als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen angesehen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024).
Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z. B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021), zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (The Guardian 23.2.2023).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen siehe Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).
Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z. B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:
● Der Syrien-Experte Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Präsident Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen [Anm.: siehe hierzu das Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen und das Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage bzgl. der Gesetze zur Schädigung des Ansehens im Ausland sowie bzgl. positiver Äußerungen über Staaten, mit denen Syrien verfeindet ist] über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage].
● Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein 'erweitertes Syrien', und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon-Korruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).
● Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als 'Krankheitserreger' sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).
● Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).
Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 2.2.2024). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).
Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die 'davongelaufen' sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vergleiche Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich 'sauber' [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch die Thematik des Immobiliendiebstahls durch Betrug, der sich oft gegen seit langem Abwesende richtet, z. B. im Überkapitel Rückkehr]. […]
Gefährdungslage
Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt gemäß deutschem Auswärtigem Amt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-) kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024). Einer Umfrage des Middle East Institute im Februar 2022 zufolge berichteten 27 Prozent der RückkehrerInnen, dass sie oder jemand Nahestehender aufgrund ihres Herkunftsorts, für das illegale Verlassen Syriens oder für das Stellen eines Asylantrags Repression ausgesetzt sind. Ein Rückkehrhindernis ist zudem laut Menschenrechtsberichten das Wehrdienstgesetz, das die Beschlagnahmung von Besitz von Männern ermöglicht, die den Wehrdienst vermieden haben, und nicht die Befreiungsgebühr bezahlt haben (USDOS 20.3.2023). […]
Ergänzende Informationen zur Behandlung bei und nach der Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-14 11:52
Am 10.5.2023 erklärten die Außenminister von Russland, Türkei, Iran und Syrien, dass erst die nötige Infrastruktur für eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien geschaffen werden müsse (SNHR 6.2023). Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang von UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB Damaskus 29.9.2020).
Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude Anmerkung, über die Rückkehr) der RückkehrerInnen (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von RückkehrerInnen (TN 10.12.2018; vergleiche TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vergleiche TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat sind immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021). BürgerInnen in von der Regierung rückeroberten Gebieten wie auch Rückehrende gehören zu den verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. RückkehrerInnen und Binnenvertriebene sind am ehesten von gesellschaftlichem Ausschluss und einem Mangel an Zugang zu öffentlichen Leistungen in der näheren Zukunft ausgesetzt (BS 23.3.2022). Enteignungen dienen der Schaffung von Hürden für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene und der Belohnung von regimeloyalen Personen mit einer daraus resultierenden demografischen Änderung in ehemaligen Hochburgen der Opposition (USDOS 15.5.2023).
Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert und sehen sich daher oft mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen. Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024). Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z. B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Die Definition des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, ist nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020). So folgten z. B. Abschiebungen aus dem Libanon im April 2023 von mindestens 130 Menschen - darunter auch unbegleitete Minderjährige - Berichte, wonach es zu Verhaftungen [Anm.: die Zahlen variieren je nach Quelle - z. B. mindestens vier dokumentierte Verhaftungen] und zwangsweisem Einzug zum Wehrdienst [Anm.: keine Zahlenangaben, nur Beispiele] kam (Reuters 1.5.2023).
Generell ist es schwer, in Erfahrung zu bringen, was der Status einer Person bezüglich der syrischen Regierung ist. Für Menschen mit Geld und guten Beziehungen zu den Behörden oder einflussreichen Personen besteht die Möglichkeit, nachzuforschen, ob ihre Namen auf Suchlisten stehen. Allerdings kann die Suche nach diesen Informationen diese auch exponieren - bzw. die Personen, welche für sie nach Informationen suchen. Es gibt keine Garantie, dass sie dabei nicht mit Schwierigkeiten konfrontiert sein werden, darunter das Risiko einer Verhaftung (DIS 9.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen, der Vereinten Nationen und von Betroffenen haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen (AA 22.2.2024).
Anhand der von der CoI (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen), Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende (AA 2.2.2024). Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 2.2.2024).
Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte beinahe 2.000 Verhaftungen von RückkehrerInnen nach Syrien von 2014 bis 2019. Ein Drittel von ihnen wurde 'verschwunden gelassen' (BS 23.3.2022). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden Berichten von 2019 zufolge nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein 'Versöhnungsabkommen' mit der Regierung unterzeichnet hatten. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vergleiche EIP 7.2019). Amnesty International legte in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vor, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des 'Terrorismus', weil sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 RückkehrerInnen, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen. Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was laut Amnesty International darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).
Eine gemeinsame Studie von Zivilgesellschaftsorganisationen im Frühjahr 2022 (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens dokumentiert schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).
Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa
Letzte Änderung 2024-03-14 11:54
[…]
Syrische Rückkehrende aus Europa
Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann laut deutschem Auswärtigen Amt für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und andere Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).
Die verfügbaren Informationen über SyrerInnen, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es auch aufgrund deren geringer Zahl keine Angaben (ÖB Damaskus 12.2022): Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn SyrerInnen bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 SyrerInnen mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Europäische Union selbst sowie der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), bleiben bei ihrer Einschätzung, dass Syrien nicht sicher für eine Rückkehr von Flüchtlingen ist. Im Juli 2022 entschied das Netherlands Council of State, dass syrische Asylsuchende nicht automatisch nach Dänemark transferiert werden dürften angesichts der dortigen Entscheidung, Teile Syriens für 'sicher' zu erklären (HRW 12.1.2023). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr in Würde nicht gegeben sind, auch angesichts von Fällen von Rückkehrverweigerungen, willkürlichen Verhaftungen und der Verhinderung der Rückkehr zu ihren Heimen in Regierungsgebieten (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt weist darauf hin, dass UNHCR, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die International Organization for Migration (IOM) unverändert die Auffassung vertreten, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. UNHCR bekräftigte, dass sich seine Position und Politik nicht geändert hätten. Im Einklang mit dieser Einschätzung führt laut deutschem Auswärtigem Amt weiterhin kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union Rückführungen nach Syrien durch (AA 2.2.2024). Auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht nicht die menschenrechtlichen Voraussetzungen für Abschiebungen nach Syrien gegeben (Die Presse 5.6.2023).
Folgen der Ausreise
Die EUAA führt in ihrem Leitfaden zu Syrien vom April 2024 u.a. Folgendes aus:
Die Tatsache, dass eine Person Syrien verlassen hat, bedeutet normalerweise für sich genommen nicht, dass für sie eine hinreichend große Gefahr besteht, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. In den meisten Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht wird, steht diese im Zusammenhang mit Umständen, die anderen in diesem Leitfaden behandelten Profilgruppen zuzuordnen sind, insbesondere der Gruppe der „Vermeintlich regierungsfeindlichen Personen“. Mitunter ist es jedoch auch denkbar, dass Rückkehrer Handlungen ausgesetzt sind, die aufgrund ihrer Schwere einer Verfolgung gleichkommen (z. B. Haft, Folter) und bei denen möglicherweise ein Zusammenhang mit einem Verfolgungsgrund nachgewiesen werden kann. Kann kein solcher Zusammenhang glaubhaft gemacht werden, könnten die Folgen einer Ausreise aus Syrien mit Blick auf die Gewährung subsidiären Schutzes relevant sein.
Risikogruppen
In seinen Erwägungen „zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ vom März 2021 geht UNHCR u.a. von folgenden „Risikoprofilen“ aus:
● Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen
● Wehrdienstentzieher und Deserteure der syrischen Streitkräfte
● Mitglieder religiöser und ethnischer Minderheiten
● Frauen und Mädchen mit bestimmten Profilen oder in speziellen Situationen
● Kinder mit bestimmten Profilen oder in speziellen Situationen
Die EUAA führt in ihrem Leitfaden zu Syrien vom April 2024 aus, dass die Tatsache, dass der Antragsteller ein sunnitischer Araber ist, normalerweise für sich genommen nicht bedeutet, dass für ihn eine hinreichend große Gefahr besteht, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. In den meisten Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen wird, steht diese im Zusammenhang mit Umständen, die anderen in diesem Leitfaden behandelten Profilgruppen zuzuordnen sind, wie etwa „4.1. Vermeintlich regierungsfeindliche Personen“. Bei der individuellen Prüfung sollten die für die Gefährdung maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden, wie etwa regionale Gegebenheiten (z. B. die Tatsache, dass der Antragsteller in einem von extremistischen Gruppen kontrollierten Gebiet gelebt hat oder in Gebieten, die von der Regierung als Hochburgen der Opposition angesehen werden).
In Bezug auf Frauen führt die EUAA in ihrem Leitfaden zu Syrien vom April 2024 aus, dass bei der individuellen Beurteilung, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, risikoerhöhende Umstände zu berücksichtigen sind, wie z.B. die Wahrnehmung der traditionellen Geschlechterrollen in der Familie, die sozioökonomische Situation, der soziale Status, der Familienstand, das Fehlen von Dokumenten, das Herkunfts- oder Wohngebiet (z.B. in Bezug auf die Präsenz extremistischer Gruppen), eine IDP-Situation, usw. In Bezug auf alleinstehende Frauen wird ausgeführt, das risikoerhöhende Umstände (das Herkunfts- und Wohngebiet, die Wahrnehmung der traditionellen Geschlechterrollen in der Familie oder in der Gemeinschaft, die wirtschaftliche Situation, das Fehlen von Dokumenten, die Bildung, etc.) sowie der Umstand, ob es einen männlichen Verwandten gibt, der in der Lage und bereit ist, Unterstützung zu leisten, und der Familienstand (Witwen und geschiedene Frauen sind besonders gefährdet) zu berücksichtigen sind.
Auch in Bezug auf Kinder führt die EUAA in ihrem Leitfaden zu Syrien vom April 2024 aus, dass bei der individuellen Beurteilung, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, risikoerhöhende Umstände zu berücksichtigen sind, wie z.B. Familienmitglieder, von denen angenommen wird, dass sie mit der Opposition oder bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppen zu tun haben, die sozioökonomische Situation (z.B. Aufenthalt in Binnenvertriebenenlagern), der Familienstand, das Herkunfts- oder Wohngebiet, fehlende Dokumente, die Religion. Kinder ohne einen männlichen Verwandten, der dazu bereit und in der Lage ist, sie zu unterstützen, wären besonders gefährdet.
Ebenso sind in Bezug auf Rekrutierungen von Kindern bei der individuellen Beurteilung, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, risikoerhöhende Umstände zu berücksichtigen, wie die sozioökonomische Situation (z.B. Aufenthalt in Binnenvertriebenenlagern), der Familienstand, das Herkunfts- oder Wohngebiet, die ethnische Zugehörigkeit, usw. Für Kinder, die eine Zwangsrekrutierung durch kurdische Kräfte befürchten, wird ebenfalls ausgeführt, dass eine individuelle Beurteilung unter Berücksichtigung risikoerhöhender Umstände (Geschlecht, Alter, das Vorliegen eines Ausnahmegrundes, der ethno-religiöse Hintergrund, eine IDP-Situation, etc.) vorzunehmen ist.
Weiters führt die EUAA in ihrem Leitfaden zu Syrien vom April 2024 in Bezug auf Zivilpersonen aus Gebieten, die mit der regierungsfeindlichen Opposition in Verbindung gebracht werden, aus, dass bei der individuellen Beurteilung, ob dem Antragsteller mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, risikoerhöhende Umstände zu berücksichtigen sind, wie regionale Aspekte (z. B. von wem das Gebiet kontrolliert wird und ob es als Hochburg der Opposition galt), der Grad der (vermeintlichen) Unterstützung von oder der Kollaboration mit regierungsfeindlichen Kräften, familiäre oder andere Verbindungen zu (mutmaßlichen) Mitgliedern regierungsfeindlicher bewaffneter Gruppen und/oder der politischen Opposition, die Unterstützung der Regierung, der ethno-religiöse Hintergrund (z.B. sunnitische Araber), usw.
2. Beweiswürdigung:
Zu den Feststellungen zu den Personen der Beschwerdeführenden:
Die Feststellungen zu den Personen der Erst- bis Drittbeschwerdeführenden beruhen auf ihren Angaben zu ihrer Person und Herkunft, in Zusammenschau mit den von ihnen vorgelegten Ausweisdokumenten (syrische Personalausweise im Original, welche im Rahmen von Überprüfungen als echt befunden wurden). Auch die belangte Behörde ging vom Feststehen der Identitäten der Erst- bis Drittbeschwerdeführenden aus. Zwar stellte die belangte Behörde im angefochtenen, den Zweitbeschwerdeführer betreffenden Bescheid zunächst fest, dass seine Identität mangels Urkundenvorlage nicht zweifelsfrei geklärt habe können vergleiche den Bescheid vom 14.09.2023 betreffend den Zweitbeschwerdeführer, Sitzung 3). Im Rahmen der nachfolgenden beweiswürdigenden Ausführungen führte die Behörde allerdings aus, dass seine Identität aufgrund des vorgelegten syrischen Personalausweises feststehe vergleiche den gegenständlichen Bescheid, Sitzung 50), weshalb davon auszugehen ist, dass auch die belangte Behörde vom Feststehen seiner Identität ausgegangen ist. Die weiteren Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum der Viertbeschwerdeführerin ergeben sich aus den dahingehend glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Verfahren. Identitätsbezeugende Unterlagen wurden in Bezug auf die Viertbeschwerdeführerin im Verfahren hingegen nicht vorgelegt, sodass ihre Identität nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnte.
Die Feststellung, dass die Erstbeschwerdeführerin die Mutter der Zweit- bis Viertbeschwerdeführenden ist, gründet sich auf die entsprechenden konsistenten Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Verfahren, insbesondere im Rahmen ihrer Befragung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 04.06.2024.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zur Muttersprache sowie zu den Geburts- und Wohnorten der Beschwerdeführenden und zu ihren Familienangehörigen in Syrien basieren auf den in diesem Zusammenhang im bisherigen Verfahren im Wesentlichen konsistenten und nachvollziehbaren Angaben der Erst- bis Drittbeschwerdeführenden. Die Feststellung zum Umzug der Erstbeschwerdeführerin nach römisch 40 stützt sich auf eine Zusammenschau ihrer Angaben vor dem BFA am 11.09.2023, wonach sie nach ihrer Eheschließung übersiedelt sei und sie seit 18 Jahren verheiratet sei (Einvernahmeprotokoll, Sitzung 2 und 4), welche sich auch mit ihren nachfolgenden Angaben vor dem Bundesverwaltungsgericht decken.
Dass die Erstbeschwerdeführerin mit dem Vater der Zweit- bis Viertbeschwerdeführenden verheiratet ist, gründet sich ebenfalls auf die diesbezüglich konsistenten Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Verfahren. Zwar gab die Erstbeschwerdeführerin in diesem Zusammenhang im Verfahren zusammengefasst an, ihr Mann habe nach ihrer Ausreise erneut geheiratet, was sie nicht akzeptiere, weshalb für sie ihr Familienleben geendet habe und sie nicht mehr mit ihm leben werde. Dennoch bestätigte sie in ihrer Befragung vor dem Bundesverwaltungsgericht, dass sie nicht geschieden seien (VH-Protokoll, Sitzung 6).
Die Feststellung zur Herkunftsregion der Beschwerdeführenden gründet sich darauf, dass sich die Erstbeschwerdeführerin nach ihrer Eheschließung gemeinsam mit ihrem Ehemann dort niederließ und dort die letzten 18 Jahre vor ihrer Ausreise aus Syrien lebte. Ebenso wurden die Zweit- bis Viertbeschwerdeführenden dort geboren und sind auch diese bis zu ihrer Ausreise aus Syrien immer dort aufgewachsen. Dass die Erstbeschwerdeführerin zu ihrem Geburtsort noch Bindungen hätte, ist im Verfahren nicht hervorgekommen.
Dass das Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet Syriens liegt und die Kontrolle dort – mit Ausnahme von den „Sicherheitsquadraten“ – von den kurdischen Milizen ausgeübt wird, ergibt sich aus einer tagesaktuellen Nachschau unter https://syria.liveuamap.com/. Dies deckt sich im Übrigen auch mit den Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 04.06.2024, in der sie ausführte, soweit sie wisse, seien beide Parteien dort präsent, die „Apojis“ (gemeint sind damit offenkundig die kurdischen Milizen) und das syrische Regime (VH-Protokoll, Sitzung 8).
Die Feststellungen zur Ausreise der Beschwerdeführenden aus Syrien, ihrer Reiseroute und der Asylantragstellungen in Österreich basieren auf den im Wesentlichen konsistenten und glaubhaften Angaben der Erst- bis Drittbeschwerdeführenden im Verfahren und dem Akteninhalt.
Die Feststellungen zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der Erst- bis Drittbeschwerdeführenden ergibt sich zweifelsfrei aus der Einsicht in das österreichische Strafregister.
Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführenden:
Zum Vorbringen der drohenden Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Milizen und die syrischen Streitkräfte:
Die Erstbeschwerdeführerin gab im Verfahren zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates u.a. an, sie möchte nicht, dass ihre Kinder – ihr Sohn und ihre zwei Töchter – zum Militärdienst eingezogen werden. Es seien dort Leute und Kinder entführt worden und es habe keine Sicherheit für sie und ihre Kinder gegeben. Es würden sowohl Mädchen als auch Jungen zum Militär einberufen. Auch der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin gaben im Verfahren an, Angst vor einer Rekrutierung zu haben.
Bereits stattgefunden habende Rekrutierungsversuche wurden von Seiten der Beschwerdeführenden hingegen nicht vorgebracht. So verneinte die Erstbeschwerdeführerin in ihrer Einvernahme vor dem BFA am 11.09.2023 die Frage, ob eines ihrer Kinder einberufen worden sei, und führte in diesem Zusammenhang lediglich aus, dass in der Schule versuchte werde, die Kinder zu überzeugen, am Krieg teilzunehmen (Einvernahmeprotokoll, Sitzung 5). In weiterer Folge gab die Erstbeschwerdeführerin in ihrer Befragung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 04.06.2024 zunächst zwar an, ihre Kinder hätten Angst gehabt, in die Schule zu gehen, besonders nachdem es zu zwei Entführungsvorfällen vor ihrer Schule gekommen sei. Befragt nach konkreten, ihre Kinder betreffenden Vorfällen gab die Erstbeschwerdeführerin aber lediglich an, dass eine Freundin der Tochter entführt worden sei; die Frage, ob ihr Sohn irgendwelche Probleme gehabt habe, verneinte sie ausdrücklich (VH-Protokoll, Sitzung 9). Gleichsam gab auch die Drittbeschwerdeführerin vor dem Bundesverwaltungsgericht an, dass eine Freundin von Vertretern der Rekrutierungsstelle der Kurden rekrutiert worden sei. Die weitere Frage, ob die Kurden auch versucht hätten, sie zu rekrutieren, verneinte die Drittbeschwerdeführerin ebenfalls (VH-Protokoll, Sitzung 12).
Abgesehen davon ist in Bezug auf die in den Raum gestellte Gefahr einer Rekrutierung von Minderjährigen allerdings festzuhalten, dass die syrische Regierung – ausgehend von den der Entscheidung zugrunde gelegten Länderinformationen – im August 2021 ein Kinderschutzgesetz (Gesetz Nr. 21 von 2021) erlassen hat, welches die Rekrutierung oder Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und allen anderen damit verbundenen Aktivitäten verbietet. Auch das Gesetz Nr. 11/2013 kriminalisiert alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 Jahren durch die syrischen Streitkräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen. Laut einem Bericht des US-amerikanischen Außenministeriums vom Juli 2022 hat die Regierung jedoch keine Bemühungen gezeigt, den Einsatz von Kindersoldaten durch Regierungs- und regierungstreue Milizen, bewaffnete Oppositionsgruppen und terroristische Organisationen zu verfolgen. Die Regierung berichtet nicht von der Untersuchung, Verfolgung oder Verurteilung von verdächtigten Menschenhändlern, noch werden Regierungsmitarbeiter, die an Menschenhandel, inklusive der Rekrutierung von Kindern, beteiligt waren, überprüft, verfolgt oder verurteilt. Die Regierung schützt Kinder auch nicht vor der Rekrutierung und dem Einsatz durch bewaffnete Oppositionsgruppen und Terrororganisationen.
Die Zwangsrekrutierung von Kindern durch verschiedenste Parteien bleibt daher im Syrienkonflikt ein zentrales Problem. Neben Somalia und Nigeria zählte Syrien 2020 laut UNICEF zu den Ländern mit den höchsten Rekrutierungsquoten von Kindersoldaten. Als Verantwortliche benennen die Vereinten Nationen insbesondere die Terrororganisation Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), bewaffnete Gruppierungen der ehemaligen Free Syrian Army (FSA), die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sowie in geringerem Maße regimenahe Milizen. Der im Juni 2022 veröffentlichte Jahresbericht des Generalsekretärs an die UN-Generalversammlung über Kinder in bewaffneten Konflikten berichtet über die Rekrutierung und den Einsatz von insgesamt 1.296 Kindern (1.258 Buben und 38 Mädchen) im Konflikt in Syrien zwischen Januar und Dezember 2021. Dem Bericht zufolge wurden 1.285 der Kinder im Kampf eingesetzt. 569 verifizierte Fälle werden der Syrian National Army (SNA) zugeschrieben, 380 der HTS, 220 der YPG und den mit der YPG verbundenen Frauenschutzeinheiten (YPJ) und 46 den regimenahen Kräften und Milizen, neben anderen Akteuren.
Doch wurde im Juni 2019 von den Syrian Democratic Forces (SDF) [Anm.: YPG und YPJ sind Kernbestandteile der SDF] und dem Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte ein Aktionsplan zur Beendigung und Verhinderung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern unter 18 Jahren unterzeichnet. 2020 beschloss der Exekutivrat der Selbstverwaltung [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] die Einrichtung von Kinderschutzbüros und es gibt anhaltende Bemühungen der SDF, der Praxis der Rekrutierung von Kindern ein Ende zu setzen. Seit Inkrafttreten des Abkommens zwischen den SDF und den Vereinten Nationen im Jahr 2019 wurden rund 700-750 Kinder aus den Diensten der SDF entlassen. Einem Bericht der UN zufolge waren es im Zeitraum von 01.07.2020 bis 30.09.2022 278 Kinder, die aus dem Dienste der SDF entlassen wurden und in weiteren 1.025 Fällen wurde die Rekrutierung durch die SDF verhindert, zumindest eigenen Angaben der SDF gemäß. Dennoch wurde im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von der Rekrutierung von Kindern in die SDF berichtet. SNHR verzeichnete einen Anstieg an Rekrutierungen Minderjähriger und berichtet, dass die Rekrutierung Minderjähriger zu einer systematischen Policy der SDF gehören und viele Unterorganisationen an Rekrutierungen von Kindern beteiligt sind und sogar viele Schulen der AANES. Insbesondere nach Angriffen auf die von der SDF kontrollierten Gebiete steigt laut SNHR die Zahl an rekrutierten Minderjährigen an, weil die SDF die verlorenen Kräfte kompensieren möchten. Bezüglich der Frage, wie es zu Rekrutierungen, bzw. möglichen Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen für die SDF kommt, gibt es verschiedene Erklärungen, darunter die schlechte Wirtschaftslage, welche das Gehalt der SDF attraktiv macht. SNHR berichtet dazu von einigen Fällen, die zwangsrekrutiert wurden durch Entführungen aus Schulen oder direkt von der Straße. Ebenso dokumentieren Menschenrechtsorganisationen, darunter das Syria Justice and Accountability Center (SJAC), die Rekrutierung von Kindern durch die Revolutionäre Jugend, eine mit den SDF verbundene Organisation, die Jugendliche auf den Dienst bei der YPG und den Asayish, dem internen Sicherheits- und Geheimdienst der AANES, vorbereitet. Einige Minderjährige, die für Kampfeinsätze rekrutiert wurden, waren unter fünfzehn Jahre alt, eine Praxis, die nach Angaben von SJAC ein Kriegsverbrechen darstellt. Medienberichten zufolge erfolgt die Rekrutierung häufig über den Unterricht in Fächern wie Musik oder Sport, der von der Revolutionären Jugend durchgeführt wird.
Nun ist unter Berücksichtigung der Länderberichte zwar festzuhalten, dass es im Nordosten Syriens durchaus zu Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen durch die Syrian Democratic Forces (SDF) und durch die mit ihnen verbundenen Organisationen kommt. Doch ist die Anzahl der Rekrutierungen von Minderjährigen in den letzten Jahren insgesamt zurückgegangen und ist es zur Entlassung von rekrutierten Kindern gekommen, auch wenn weiterhin von der Rekrutierung von Kindern in die SDF berichtet wird und zuletzt auch wieder ein Anstieg der Rekrutierungszahlen verzeichnet wurde. Dass nun aber sämtlichen im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet aufhältigen Minderjährigen, bzw. konkret und persönlich dem Zweitbeschwerdeführer als gegenwärtig 16-Jährigem und der Viertbeschwerdeführerin als gegenwärtig 8-Jährige, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Rekrutierung von Seiten der kurdischen Streitkräfte drohen würde, ist aus den vorliegenden Länderfeststellungen insgesamt nicht abzuleiten, insbesondere da – den Länderfeststellungen zufolge – bei den Rekrutierungen auch finanzielle Aspekte eine Rolle spielen könnten. Eine systematische Rekrutierungspraxis ist auch nicht aus der in der Beschwerdeschrift angeführten ACCORD-Anfragebeantwortung zum Thema „Zwangsrekrutierung Minderjähriger (Konzentration auf 14-16-jährige, regionale Unterschiede) [a-11806]“ vom 31.01.2022 abzuleiten, zumal darin – bezogen auf die kurdischen Gruppierungen – lediglich Einzelfälle von Rekrutierungen genannt werden und als Faktoren für die Rekrutierung von Kindern – neben der Zugehörigkeit von männlichen Verwandten, der soziale Status und der Druck der Gemeinschaft sowie die Angst vor Verhaftung und Inhaftierung – ebenfalls u.a. finanzielle Anreize und der Zugang zu Dienstleistungen und Waren genannten werden, was auf eine zum Teil freiwillige Komponente schließen lässt. Darüber hinaus führt auch die EUAA in ihrem aktuellen Leitfaden zu Syrien aus, dass bei der individuellen Beurteilung, ob einer Person Verfolgung aufgrund einer befürchteten Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Streitkräfte droht, risikoerhöhende Umstände (etwa das Geschlecht, das Alter, das Vorliegen eines Ausnahmegrundes, der ethnisch-religiöse Hintergrund, der Status als Binnenvertriebener, etc.) zu berücksichtigen sind vergleiche EUAA, Country Guidance: Syria, April 2024, Kapitel 4.6). Doch sind im Verfahren keine hinreichenden Anhaltspunkte hervorgekommen, anhand derer eine maßgeblich erhöhte Gefährdungslage des Zweitbeschwerdeführers und der Viertbeschwerdeführerin anzunehmen wäre, insbesondere da im konkreten Fall des Zweitbeschwerdeführers auch ein Ausnahmegrund als einziger Sohn der Familie vorliegt (zu den Ausnahmegründen vergleiche EUAA, Country Guidance: Syria, April 2024, Kapitel 4.6). Eine besondere Gefährdungslage ist schließlich auch in Bezug auf die Viertbeschwerdeführerin nicht festzustellen, dies insbesondere unter Berücksichtigung ihres noch sehr jungen Alters und des Umstandes, dass Mädchen in einem bedeutend geringeren Ausmaß von Zwangsrekrutierungen betroffen sind als Jungen. Insgesamt ist es den Beschwerdeführenden damit nicht gelungen, ein erhebliches Interesse der kurdischen Milizen an einer Zwangsrekrutierung des Zweitbeschwerdeführers und der Viertbeschwerdeführerin als gegenwärtig Minderjährige glaubhaft zu machen.
Bezüglich der in der Beschwerdeschrift weiters angeführten Anfragebeantwortung der BFA Staatendokumentation zum Thema „Zwangsrekrutierung von Frauen/Mädchen im Zeitraum 2015-2021 durch die YBJ in der Stadt Al-Malikiyah und/oder im Gouvernment Al-Hasakah“ vom 03.10.2022, derer zufolge die SDF, die YPG und die YPJ Kinder in großer Zahl rekrutiert und eingesetzt hätten, ist festzuhalten, dass sich die darin angeführten Berichte zum überwiegenden Teil auf den Zeitraum vor Unterzeichnung des Aktionsplans zur Beendigung und Verhinderung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern unter 18 Jahren beziehen und darin ebenfalls ein erheblicher Rückgang der Rekrutierungszahlen infolge der Unterzeichnung beschrieben wird. Auch wenn nachfolgend wieder ein Anstieg der Zahlen verzeichnet wurde und weiterhin von Rekrutierungen, auch durch Entführungen, berichtet wurde, ist daraus aktuell keine systematische Rekrutierungspraxis abzuleiten, zumal sich die darin wiedergegebenen Rekrutierungszahlen insgesamt niedrig darstellen.
In Bezug auf die im Verfahren weiters angeführte Zwangsrekrutierung durch die syrischen Streitkräfte ist überdies festzuhalten, dass zwar auch Berichte von Rekrutierungen von Minderjährigen durch die syrischen Regierungskräfte vorliegen. Doch beliefen sich insgesamt nur eine geringe Anzahl der dokumentierten Fälle auf die syrischen Regierungskräfte und regierungstreue Milizen, der Großteil hingegen – neben den kurdischen Streitkräften – auf oppositionelle, extremistische Gruppierungen, welche im Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden aber keine hinreichenden Kontroll- und Zugriffsmöglichkeiten besitzen. Auch die in der Beschwerde angeführte ACCORD-Anfragebeantwortung zum Thema „Zwangsrekrutierung Minderjähriger (Konzentration auf 14-16-jährige, regionale Unterschiede) [a-11806]“ vom 31.01.2022 bestätigt, dass nur eine geringe Anzahl der verifizierten Fälle von Rekrutierungen und dem Einsatz von Kindern syrische Regierungstruppen bzw. regierungsfreundliche Milizen betreffen. Es wird nicht verkannt, dass – einem Bericht des Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge – das syrische Regime für fast 65% der Fälle von rekrutierten Minderjährigen verantwortlich sein soll, wobei es allerdings nicht durch die offiziellen Streit- und Sicherheitskräfte rekrutiere, sondern über inoffizielle Wege, beispielsweise über lokale oder ausländische Milizen, wie die regierungstreuen Milizen, die als National Defence Forces (NDF) oder "Shabiha" bekannt seien. Nichtsdestotrotz ist den vorliegenden Länderfeststellungen keine systematische Rekrutierungspraxis von Minderjährigen durch die syrische Regierung und regierungsfreundliche Gruppierungen zu entnehmen und ist damit auch nicht anzunehmen, dass sämtlichen in Syrien aufhältigen Minderjährigen, bzw. konkret und persönlich dem Zweitbeschwerdeführer als gegenwärtig 16-jährigem und der Viertbeschwerdeführerin als gegenwärtig 8-jährige, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Rekrutierung von Seiten der syrischen Zentralregierung oder von regierungsfreundlichen Gruppierungen drohen würde. Diesbezüglich ist dem Leitfaden der EUAA zu Syrien ebenfalls zu entnehmen, dass bei der individuellen Beurteilung, ob Kindern im Zusammenhang mit einer Rekrutierung Verfolgung droht, risikoerhöhende Umstände (etwa die sozioökonomische Situation [z.B. Aufenthalt in Binnenvertriebenenlagern], der Familienstand, das Herkunfts- oder Wohngebiet, die ethnische Zugehörigkeit, etc.) zu berücksichtigen sind vergleiche EUAA, Country Guidance: Syria, April 2024, Kapitel 4.12.2). Auch in diesem Zusammenhang sind im Verfahren keine hinreichenden Anhaltspunkte hervorgekommen, anhand derer eine maßgeblich erhöhte Gefährdungslage des Zweitbeschwerdeführers und der Viertbeschwerdeführerin anzunehmen wäre, besonders da sie durch ihren nach wie vor im Herkunftsgebiet aufhältigen Vater auch über einen männlichen Verwandten verfügen, der sie unterstützen kann. Dafür dass der Zweitbeschwerdeführer und die Viertbeschwerdeführerin keine Unterstützung durch ihren Vater erfahren würden, sind im Verfahren keine hinreichenden Anhaltspunkte hervorgekommen, besonders da der Zweitbeschwerdeführer und auch die Drittbeschwerdeführerin vor dem Bundesverwaltungsgericht angaben, mit ihrem Vater in Kontakt zu stehen (VH-Protokoll, Sitzung 10 und 12). Abgesehen davon ist eine zwangsweise Rekrutierung der minderjährigen Zweit- und Viertbeschwerdeführenden von Seiten der syrischen Zentralregierung auch aufgrund der mangelnden Zugriffsmöglichkeiten dieser auf das Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen; diesbezüglich wird auf die entsprechenden Ausführungen weiter unter verwiesen.
Hinsichtlich der mittlerweile volljährigen Drittbeschwerdeführerin ist weiters festzuhalten, dass den Länderberichten auch keine hinreichenden Berichte in Bezug auf systematische Zwangsrekrutierungen von volljährigen Frauen von Seiten der kurdischen oder syrischen Streitkräfte zu entnehmen sind. Vielmehr ergibt sich aus den unbestritten gebliebenen Länderfeststellungen in Bezug auf den „Wehrdienst“ in der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“, dass Frauen auf freiwilliger Basis den Militärdienst in den kurdischen Einheiten [YPJ - Frauenverteidigungseinheiten] oder in den Selbstverteidigungseinheiten (HXP) leisten können. Zwar liegen auch Bericht von Zwangsrekrutierungen von Frauen und minderjährigen Mädchen vor, eine systematische Rekrutierungspraxis ist der Länderinformationslage allerdings nicht zu entnehmen. Im Besonderen ist eine solche auch nicht aus der in der Beschwerdeschrift angeführten Anfragebeantwortung der BFA Staatendokumentation zum Thema „Zwangsrekrutierung von Frauen/Mädchen im Zeitraum 2015-2021 durch die YBJ in der Stadt Al-Malikiyah und/oder im Gouvernment Al-Hasakah“ vom 03.10.2022 abzuleiten. Darin wird zwar von Zwangsrekrutierungen von Frauen in den von der SDF kontrollierten Gebieten berichtet, die angeführten Berichte beziehen sich jedoch zum überwiegenden Teil auf den Zeitraum bis 2020. Nachfolgend wurde über die Rekrutierung von Mädchen der Jahrgänge 1990-2003 unter Einsatz von Zwang berichtet. Eine der Drittbeschwerdeführerin (Geburtsjahrgang 2006) mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Gruppierungen ist daraus allerdings nicht abzuleiten.
Auch aus der Berichtslage zum Wehrdienst in den syrischen Streitkräften ergibt sich, dass Frauen als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten können und Frauen auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten sind, etwas der National Defence Forces (NDF), in der etwa 1.000 bis 1.500 Frauen dienen. Fälle von Zwangsrekrutierungen sind der Berichtslage hingegen nicht zu entnehmen.
In Gesamtschau haben sich damit in Bezug auf die mittlerweile volljährige Drittbeschwerdeführerin ebenfalls keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Gefährdung ergeben.
Bezüglich einer dem Zweitbeschwerdeführer drohenden Einziehung zum regulären Wehrdienst in der syrischen Armee ist der Vollständigkeit halber weiters anzumerken, dass die Verpflichtung zur Ableistung des Wehrdienstes zwar erst ab dem Alter von 18 Jahren besteht, doch dass bereits junge Männer im Alter von 17 Jahren laut Gesetz dazu aufgerufen sind, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Demnach befindet sich der aktuell 16,5-jährige Zweitbeschwerdeführer derzeit noch nicht im wehrpflichtigen Alter, aber würde ihn in wenigen Monaten bereits die Verpflichtung treffen, die für den Wehrdienst vorbereitenden Tätigkeiten (Abholung des Wehrbuches, medizinische Untersuchung) auszuführen, und erreicht er in etwa 1,5 Jahren das wehrfähige Alter und unterliegt sodann der Wehrpflicht.
Doch ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass der Zweitbeschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien – bezogen auf sein Herkunftsgebiet – weder aktuell noch nach Erreichen des wehrfähigen Alters mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Einberufung bzw. Zwangsrekrutierung durch die syrischen Streitkräfte ausgesetzt wäre.
Denn wie oben bereits ausgeführt, liegt die Herkunftsregion der Beschwerdeführenden in dem von der kurdischen Selbstverwaltung kontrollierten Teil Syriens. Nun ist die syrische Armee – den zugrunde gelegten und unbestritten gebliebenen Länderinformationen zufolge – nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 zwar in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der „türkischen Aggression“ entgegenzustellen. Laut der Vereinbarung übernahmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration liegt aber weiterhin in kurdischer Hand. Die syrischen Regierungstruppen üben im Gebiet punktuell Macht aus, etwa mit Übergängen zwischen einzelnen Stadtvierteln (z. B. Stadt Qamischli im Gouvernement Al-Hassakah). Ebenso verfügt die syrische Zentralregierung über mehrere kleine Gebiete im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese Gebiete die Bezeichnung „Sicherheitsquadrate“, wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung, befinden. Allerdings können die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen, lediglich die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" gehen auseinander – auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten. Ein befragter Rechtsexperte berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor. Dies wird auch von SNHR bestätigt, die ebenfalls angeben, dass die Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist. Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren.
Auch wenn daher vor dem Hintergrund dieser Länderberichte die Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Behörden auf Wehrpflichtige im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet insgesamt nicht ausgeschlossen werden können, so sind die syrischen Behörden im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet bezogen auf jene Gebiete, die außerhalb der sogenannten „Sicherheitsquadrate“ liegen, – gegenüber den unter der alleinigen Kontrolle der syrischen Zentralregierung stehenden Gebieten – jedoch jedenfalls nur in sehr eingeschränktem Maße dazu in der Lage, Rekrutierungen durchzuführen. Für die Annahme, dass die Beschwerdeführenden aus einem sogenannten „Sicherheitsquadrat“ stammen würden, haben sich im Verfahren keine Anhaltspunkte ergeben, insbesondere wurde dies seitens der Beschwerdeführenden auch nicht behauptet. Unter Berücksichtigung dieser sehr eingeschränkten Zugriffsmöglichkeiten erscheint aber eine tatsächliche Rekrutierung des Zweitbeschwerdeführers nicht maßgeblich wahrscheinlich, zumal die Bewohner der kurdisch kontrollierten Gebiete – der Zweitbeschwerdeführer ist zudem Kurde – von der syrischen Regierung zumeist als illoyal angesehen werden und schon aus diesem Grund von einer Einziehung abgesehen wird. Insgesamt haben sich im Verfahren auch keine Anhaltpunkte ergeben, dass die kurdischen Gruppierungen im Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden nicht die Oberhand hätten und die syrische Armee daher dort dazu in der Lage wäre, auf Wehrpflichtige außerhalb der „Sicherheitsquadrate“ zuzugreifen, besonders da sich die Herkunftsprovinz – abgesehen von den wenigen kleinen „Sicherheitsquadraten“ – vollständig unter der Kontrolle der kurdischen Autonomiebehörden befindet. Im Besonderen lässt auch der Umstand, dass entsprechend den herangezogenen Länderfeststellungen die syrischen Regierungstruppen „im Gebiet“ punktuell Macht ausüben, etwa mit Übergängen zwischen einzelnen Stadtvierteln, nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Annahme zu, dass die syrischen Regierungstruppen in der Herkunftsregion der Beschwerdeführenden in der Form präsent wären, dass sie eine Zuständigkeit zur flächendeckenden Rekrutierung hätten und diese auch tatsächlich wahrnehmen würden. Dass im Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers – bezogen auf jene Gebiete, welche außerhalb der „Sicherheitsquadrate“ liegen – tatsächlich Rekrutierungen seitens der syrischen Armee durchgeführt werden würden, ist ebenfalls nicht aus den Länderfeststellungen abzuleiten und wurde dies von den Beschwerdeführenden auch nicht ausdrücklich behauptet bzw. nicht durch entsprechende Länderberichte belegt. Im Übrigen wäre es dem Zweitbeschwerdeführer auch zumutbar, die in seiner Herkunftsregion liegenden – vergleichsweise kleinen – „Sicherheitsquadrate“ zu meiden, um so einer Rekrutierung zu entgehen.
Mangels hinreichender Kontroll- und Einflussmöglichkeiten der syrischen Zentralregierung im Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden ist eine Zwangsrekrutierung des Zweitbeschwerdeführers durch die syrischen Streitkräfte – bezogen auf sein Herkunftsgebiet – daher nicht maßgeblich wahrscheinlich.
Aus den oben zitierten Berichten zur allgemeinen Situation in Syrien ergibt sich weiters, dass die Herkunftsregion der Beschwerdeführenden auch ohne Kontakt zu den syrischen Behörden bzw. zur syrischen Regierung erreichbar ist. Den Beschwerdeführenden stünde beispielsweise der Rückweg über Erbil, Irak (Autonome Region Kurdistan), und von dort der Landweg zum Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur nach Syrien offen. Das Gebiet ist von der irakischen Grenze bis zum Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden durchgehend unter Kontrolle der kurdischen Autonomiebehörden, sodass die Beschwerdeführenden keine von der syrischen Zentralregierung kontrollierten Gebiete passieren müssten. Dies ergibt sich aus einer tagesaktuellen Nachschau durch das Bundesverwaltungsgericht auf https://syria.liveuamap.com/.
Wie aus der ACCORD-Anfragebeantwortung mit dem Titel „Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak“ vom 06.05.2022, auf die im oben zitierten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation im Kapitel „Bewegungsfreiheit“ ausdrücklich verwiesen wird, hervorgeht, sei es SyrerInnen, die aus den Gebieten unter der Kontrolle der SDF/YPG stammen (dies trifft auf die Beschwerdeführenden zu, welcher im nunmehrigen kurdischen Autonomiegebiet geboren wurden und auch dort registriert sind), gestattet, von außerhalb in die Region Nordostsyrien einzureisen. Die Ausstellung einer sogenannten „Expat-Karte“ ist für die Beschwerdeführenden daher nicht notwendig.
Darüber hinaus ist der Anfragebeantwortung vom 06.05.2022 zu entnehmen, dass der Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur auf syrischer Seite von der SDF verwaltet werde und an einigen Tagen in der Woche geöffnet sei. Hinweise, dass das syrische Regime in irgendeiner Form Kontrolle über diesen Grenzübergang ausübt, sind im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen. Insgesamt ist sohin davon auszugehen, dass Zivilpersonen eine Rückkehr in das kurdische Selbstverwaltungsgebiet über den Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur möglich ist. Hierbei wird nicht verkannt, dass es immer wieder zu Einschränkungen und Sperren bei Grenzübergängen kommen kann, wovon laut den herangezogenen Berichten jedoch selbst der Flughafen Damaskus regelmäßig betroffen ist. Im Übrigen sind Schließungen von Grenzübergängen sowie Risikofaktoren auf den Reiserouten im Wesentlichen der allgemeinen (Bürgerkriegs-) Situation geschuldet, wobei sich die Sicherheitslage laut der herangezogenen Länderberichte in ganz Syrien als volatil erweist. Dass der Grenzübergang Semalka- Faysh Khabur von der syrischen Regierung nicht anerkannt wird, schadet in Hinblick auf die mögliche Erreichbarkeit der Herkunftsregion ohne Kontakt zum syrischen Regime nicht; diesbezüglich wird auch auf die entsprechenden Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung verwiesen.
Es wird nicht verkannt, dass auf der im aktuellen Länderinformationsblatt im Unterkapitel „Nordost-Syrien (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) und das Gebiet der SNA (Syrian National Army)“ des Kapitels „Sicherheitslage“ angeführten, als „Potential Turkish Offensives“ bezeichneten Karte eine Präsenz der syrischen Zentralregierung in der Stadt Qamishli und entlang mehrerer Verkehrswege verzeichnet ist. Wie oben bereits ausgeführt wurde, haben sich anhand der hier zugrunde gelegten und unbestritten gebliebenen Länderinformationslage allerdings keine Anhaltspunkte ergeben, dass im kurdischen Autonomiegebiet syrische Regierungstruppen in der Form präsent wären, dass sie eine Zuständigkeit zur flächendeckenden Rekrutierung hätten und diese auch tatsächlich wahrnehmen würden, weshalb eine Gefährdung des Zweitbeschwerdeführers, auf dem Rückweg in seine Herkunftsregion eingezogen zu werden, nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann.
In Bezug auf die weiters in den Raum gestellte Gefahr einer Einziehung des Zweitbeschwerdeführers durch die kurdischen Streitkräfte zur Ableistung des Militärdienstes ist festzuhalten, dass der Zweitbeschwerdeführer aktuell noch nicht der Verpflichtung zur Ableistung des „Wehrdienstes“ in der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ unterliegt. Dies folgt aus dem aktuellen Länderinformationsblatt, wonach die „Selbstverteidigungspflicht“ in Anwendung des Dekretes Nr. 3 vom 04.09.2021 auf Männer beschränkt ist, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Dennoch würde der Zweitbeschwerdeführer in etwa 1,5 Jahren der „Selbstverteidigungspflicht“ unterliegen und erweist sich die Einberufung des Zweitbeschwerdeführers sodann als möglich.
Im Verfahren haben sich aber keine Anhaltspunkte für die Annahme ergeben, dass der Zweitbeschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsregion einer Verfolgung maßgeblicher Intensität von Seiten der Kurden ausgesetzt wäre. Insbesondere droht dem Zweitbeschwerdeführer im Zusammenhang mit der bestehenden „Selbstverteidigungspflicht“ nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung von Seiten der kurdischen Autonomiebehörden.
Wie sich aus den Länderberichten ergibt, wird seitens der kurdischen Miliz zwar auch versucht, den Militärdienst durchzusetzen, und werden Wehrdienstverweigerer durch die Verlängerung des Militärdienstes um einen Monat bestraft, nicht aber etwa durch eine Gefängnisstrafe und einer damit verbundenen Folter. In diesem Zusammenhang kann es maximal zu einem ein- bis zweiwöchigen Gefängnisaufenthalt vor der Absolvierung des Wehrdienstes kommen.
Zwar ist den Länderberichten u.a. die Information zu entnehmen, dass die Sanktionen für eine Wehrdienstverweigerung in den kurdischen Gebieten, jenen der syrischen Regierung ähneln. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass unter Zugrundelegung dieser Länderberichte keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Wehrdienstverweigerern im Gebiet der kurdischen Selbstverwaltung unverhältnismäßige Strafen drohen würden. Die Ähnlichkeit der Sanktionsmaßnahmen liegt in der Verhängung von Haftstrafen, die bei Verweigerung der kurdischen Selbstverteidigungspflicht „für eine Zeitspanne“, in der Regel ein- bis zwei Wochen, verhängt werden, um einen Einsatzort für die wehrpflichtige Person zu finden. Jedoch bestehen gravierende Unterschiede in Hinblick auf die verhängte Dauer der Haftstrafe, dem Einsatz von Folter, unmenschlicher Behandlung sowie Verschwindenlassen in der Haft sowie den allgemeinen Haftbedingungen zwischen den Gebieten des syrischen Regimes und der kurdischen Selbstverwaltung. Während Folter und unmenschliche Behandlung sowie das Verschwindenlassen von Personen in den Gefängnissen des syrischen Regimes breit dokumentiert ist, die Gefängnisse des syrischen Regimes überfüllt sind und katastrophale hygienische Zustände herrschen, finden sich in den Länderinformationen keine vergleichbaren Berichte zu den Haftbedingungen und der systematischen Anwendung von Folter/unmenschlicher Behandlung in den Gefängnissen der kurdischen Selbstverwaltung. Hierbei wird nicht verkannt, dass auch im Nordosten Syriens in den Zentralgefängnissen von Hasakeh und Raqqa mehrere Todesfälle dokumentiert sind, die möglicherweise auf schlechte Behandlung oder Folter zurückzuführen sein könnten, und dass laut SNHR im Gewahrsam der SDF / Partei der Demokratischen Union (PYD) seit März 2011 insgesamt 96 Menschen durch Folter zu Tode gekommen sein sollen. Insgesamt stellt sich die Berichtslage aber deutlich weniger gravierend als in den von der syrischen Zentralregierung kontrollierten Gebieten dar, sodass keine vergleichbaren unverhältnismäßigen Sanktionen in den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung vorliegen.
Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten insgesamt erkennbar weniger gravierend darstellt, ist nicht davon auszugehen, dass der Zweitbeschwerdeführer im Falle einer Verweigerung, den Wehrdienst abzuleisten, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gewalt oder im Falle einer Inhaftierung Folter oder sonstigen unmenschlichen Behandlungen ausgesetzt wäre, zumal keine hinreichenden Berichte bezüglich einer systematischen Verfolgung von Wehrdienstverweigerern vorliegen. So liegen laut den UNHCR-Erwägungen vom März 2021 zwar Berichte von Misshandlungen und Tötungen von Personen vor, die sich einer Zwangsrekrutierung widersetzt haben. Bei diesen Berichten handelt es sich jedoch um Einzelfälle; konkret werden in diesem Zusammenhang lediglich zwei Quellen aus dem Jahr 2019 und 2020 genannt vergleiche die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, vom März 2021, Fußnote 650). Der aktuellen Berichtslage sind hingegen keine Fälle von Misshandlungen zu entnehmen.
Darüber hinaus ergibt sich aus den Berichten, dass die Autonomiebehörden eine Verweigerung des „Wehrdienstes“ nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen, was auch durch die zur Anwendung gelangenden (geringen) Strafen bestätigt wird. Ausgehend von den UNHCR-Erwägungen vom März 2021 könnten Personen, die den Dienst verweigern oder abtrünnig werden, von den SDF/YPG zwar als Gegner oder als Unterstützer von SNA oder ISIS angesehen werden. In der entsprechenden Fußnote 653 wird allerdings einschränkend dazu ausgeführt, dass die Wahrnehmung als gegnerische Person vor allem Angehörige arabischer Stämme aufgrund deren Widerstand gegen die „Selbstverteidigungspflicht“ in der SDF betrifft, auch vor dem Hintergrund, dass die SDF überwiegend aus Kommandeuren und Führungspersonen, die der kurdischen Volksgruppe angehören, bestehen. Die Wahrnehmung als Unterstützer der SNA oder ISIS betrifft laut Fußnote 654 Personen, die in Gebiete fliehen, die von „feindlichen Streitkräften“ wie der SNA oder der Türkei kontrolliert werden. Ebenso werden Männer im wehrpflichtigen Alter, die an Anti-SDF-Aktivitäten wie z.B. Protesten teilnehmen, als Gegner der SDF/YPG wahrgenommen. Den zugrundeliegenden Quellen kann jedoch nicht entnommen werden, dass die kurdischen Autonomiebehörden sämtlichen Wehrdienstverweigerern – ohne Hinzutreten weiterer Umstände – eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellen würden.
Bezogen auf den konkreten Fall des Zweitbeschwerdeführers haben sich im Verfahren auch keine Anhaltspunkte ergeben, dass gerade dem Zweitbeschwerdeführer, der – ausgehend von den Angaben seiner Mutter – nie politisch aktiv oder Mitglied einer politischen Organisation oder eines Vereins (gewesen) sei und auch nie an Kampfhandlungen teilgenommen habe (Einvernahmeprotokoll, Sitzung 3 und 6), eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden sollte.
Die Feststellung, wonach die Weigerung des Zweitbeschwerdeführers, den „Wehrdienst“ in der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ abzuleisten, auch nicht Ausdruck einer politischen oder oppositionellen Gesinnung wäre, ergibt sich aus dem Umstand, dass der Zweitbeschwerdeführer im gesamten Verfahren nicht angab, dass er den kurdischen Autonomiebehörden ablehnend gegenüberstehen würde oder dass er konkret den Dienst in den „Selbstverteidigungseinheiten“ nicht leisten wolle. Vielmehr führt er in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 04.06.2024 auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, für irgendeine Seite in Syrien den Wehrdienst zu leisten, allgemein aus, dass er nicht kämpfen, sondern lernen und sich weiterbilden möchte. Auch befragt nach seinen Rückkehrbefürchtungen gab er an, er würde nicht mehr in die Schule gehen können und in die Armee eingezogen werden; es herrsche dort Krieg und er habe Angst, eine Waffe zu tragen (VH-Protokoll, Sitzung 11). Eine gegen die kurdischen Autonomiebehörden gerichtete politische Gesinnung ist den Angaben des Zweitbeschwerdeführers damit nicht glaubhaft zu entnehmen.
Schließlich lässt sich unter Berücksichtigung der oben zitierten Länderinformationen aktuell im Falle einer Rekrutierung des Zweitbeschwerdeführers keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit zur Beteiligung an Kampfhandlungen, an Fronteinsätzen oder an Menschenrechtsverletzungen feststellen, da die Rekruten normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz eingesetzt werden. Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten lediglich bei Konfliktbedarf an die Front verlegt. Nun ist zwar festzuhalten, dass die SDF angesichts türkischer Luftschläge und einer potenziellen Bodenoffensive im Jahr 2022 gezwungen war, ihren Truppeneinsatz umzustrukturieren. Insgesamt ergibt sich aus den Länderfeststellungen aber aktuell keine Generalmobilmachung des Militärs, insbesondere der von den SDF separierten Selbstverteidigungseinheiten HXP, welche einen Fronteinsatz des nicht kampferfahrenen Zweitbeschwerdeführers im Falle einer Rückkehr allenfalls wahrscheinlicher erscheinen lassen könnte.
Zur Gefährdung des Zweitbeschwerdeführers und der Viertbeschwerdeführerin aufgrund ihrer Minderjährigkeit:
In Bezug auf die minderjährigen Zweit- und Viertbeschwerdeführenden ist weiters festzuhalten, dass es in Syrien – ausgehend von den oben zitierten Länderinformationen – unverändert zu schwersten Verletzungen der Rechte von Kindern kommt. Zu den Menschenrechtsverletzungen zählten insbesondere die Rekrutierung und der Einsatz von Kindersoldaten, Inhaftierung und Folter, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Kinder, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser sowie die Verweigerung humanitärer Hilfsleistungen. 6.358 Kinder befinden sich weiterhin in Gefangenschaft oder sind in Regierungsgefängnissen 'verschwunden' worden. NGOs berichteten ausführlich über Regime- und regimefreundliche Kräfte sowie HTS und IS, die Kinder sexuell missbrauchen, foltern, festhalten, töten und anderweitig misshandeln.
Eine über die allgemein schlechte Situation von Kindern aufgrund des Bürgerkrieges hinausgehende Verfolgung von Kindern als soziale Gruppe lässt sich aus den oben zitierten Länderfeststellungen aber nicht entnehmen. Auch die EUAA führt in ihrem Leitfaden zu Syrien vom April 2024 aus, dass bei der individuellen Beurteilung, ob für Kinder eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, risikoerhöhende Umstände (z.B. oppositionelle Familienmitglieder, die sozioökonomische Situation, der Familienstand, das Herkunfts- oder Wohngebiet, fehlende Dokumente, die Religion, usw.) zu berücksichtigen sind. Kinder ohne einen männlichen Verwandten, der bereit und dazu in der Lage ist, sie zu unterstützen, wären besonders gefährdet vergleiche EUAA, Country Guidance: Syria, April 2024, Kapitel 4.12.1). Doch verfügen die Zweit- und Viertbeschwerdeführenden durch ihren nach wie vor im Herkunftsgebiet aufhältigen Vater über einen männlichen Verwandten, der sie unterstützen kann. Wie oben bereits ausgeführt, sind im Verfahren keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass sie seitens ihres Vaters keine Unterstützung erfahren würden. Die Gefährdungen der minderjährigen Zweit- und Viertbeschwerdeführenden sind somit als vergleichsweise gering einzuschätzen. Auch sonstige risikoerhöhende Umstände sind im Verfahren nicht hervorgekommen und wurden auch seitens der Beschwerdeführenden nicht (glaubhaft) behauptet. Auf die Gefährdung durch die Rekrutierung und den Einsatz als Kindersoldaten wurde oben bereits eingegangen.
Zur Verfolgungsgefährdung der Erst-, Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen aufgrund ihres Geschlechtes:
In Bezug auf das weitere Beschwerdevorbringen, wonach den Erst-, Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der (alleinstehenden) Frauen bzw. Mädchen eine Verfolgung drohe, ist festzuhalten, dass es in Syrien zu geschlechterspezifischer Diskriminierung und sexueller Gewalt kommt. So ist den Länderfeststellungen zu entnehmen, dass mehr als ein Jahrzehnt des Konflikts ein Klima geschaffen hat, das der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zuträglich ist, besonders angesichts der sich verfestigenden patriarchalischen Gesellschaftsformen, und Fortschritte bei den Frauenrechten zunichtemachte. Obwohl die Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen vorsieht, werden Frauen vor allem durch das Personenstandsgesetz bezüglich Heirat, Scheidung, Sorgerecht und Erbschaft weiterhin diskriminiert. Bereits vor 2011 waren Frauen aufgrund des autoritären politischen Systems und der patriarchalischen Werte in der syrischen Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Häuser geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Im Allgemeinen ist eine von fünf Frauen in Syrien heutzutage von sexueller Gewalt betroffen. Insbesondere alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Sexuelle Gewalt ebenso wie Ausbeutung und Hürden beim Zugang zu Hilfsleistungen betreffen besonders oft geschiedene Frauen, Witwen und Mädchen. Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen. Seit 2011 wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und die Gesellschaft zu destabilisieren sowie demografische Veränderungen, z. B. in Homs, durch Vertreibungen zu erreichen.
Eine über die allgemein schlechte Situation von Frauen als Zivilpersonen aufgrund des Bürgerkrieges hinausgehende Verfolgung von Frauen als soziale Gruppe lässt sich aus den oben zitierten Länderfeststellungen aber nicht entnehmen. So ergibt sich aus den Länderinformationen, dass die Situation für Frauen in Syrien von vielen Faktoren abhängig ist, wie familiärer Hintergrund, sozialer Status und die Stellung der Frau oder ihrer Familie. Auch die EUAA geht in ihrem Leitfaden zu Syrien vom April 2024 davon aus, dass bei der individuellen Beurteilung, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung vorliegt, risikoerhöhende Umstände zu berücksichtigen sind, wie z.B. die Wahrnehmung der traditionellen Geschlechterrollen in der Familie, die sozioökonomische Situation, der soziale Status, der Familienstand, fehlende Dokumente, das Herkunfts- oder Wohngebiet (z. B. in Bezug auf die Präsenz extremistischer Gruppen) sowie die Situation als Binnenvertriebene vergleiche EUAA, Country Guidance: Syria, April 2024, Kapitel 4.11.2). Im Besonderen führt die EUAA zur Verfolgungsgefährdung von alleinstehenden Frauen aus, dass neben ihrem Familienstand (Witwen und geschiedene Frauen sind besonders gefährdet) und weiteren risikoerhöhenden Umständen (Herkunfts- und Wohngebiet, Wahrnehmung der traditionellen Geschlechterrollen in der Familie oder Gemeinschaft, wirtschaftliche Lage, fehlende Dokumentation, Bildung, etc.) zu berücksichtigen ist, ob sie einen männlichen Verwandten haben, der in der Lage und bereit ist, sie zu unterstützen vergleiche EUAA, Country Guidance: Syria, April 2024, Kapitel 4.11.5).
In diesem Zusammenhang ist jedoch festzuhalten, dass die Erst-, Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen bei einer Rückkehr nach Syrien nicht auf sich alleine gestellt wären, zumal sich ihr Ehemann bzw. Vater nach wie vor im Herkunftsgebiet aufhält. Es wird nicht verkannt, dass die Erstbeschwerdeführerin im Verfahren angab, ihr Ehemann habe nach ihrer Ausreise erneut geheiratet, was sie nicht akzeptiere; sie habe niemanden dort, weil ihr Mann sie verlassen habe und sich nicht um sie kümmern werde. Zum aktuellen Entscheidungszeitpunkt ist die Ehe zwischen der Erstbeschwerdeführerin und ihrem Mann aber nach wie vor aufrecht. Darüber hinaus verfügt die Erstbeschwerdeführerin auch über einen Bruder – zu diesem steht die Erstbeschwerdeführerin auch in Kontakt – und eine Schwester in ihrer Herkunftsprovinz, weshalb es sich bei der Erstbeschwerdeführerin auch nicht um eine alleinstehende Frau handelt. Auch sonst haben sich keine Anhaltspunkte für eine erhöhte Gefährdungslage ergeben.
Bezogen auf den konkreten Fall der Erst-, Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass sich ihre Herkunftsregion nicht unter der Kontrolle der syrischen Regierung befindet, sondern in dem von den kurdischen Autonomiebehörden kontrollierten Selbstverwaltungsgebiet im Nordosten Syriens liegt. Bezogen auf dieses Gebiet ist den – hier zugrunde gelegten und unbestritten gebliebenen – Länderinformationen zu entnehmen, dass sich die Führungsstrukturen von denen anderer Akteure und Gebiete in Syrien unterscheiden und Frauen dort eine stärkere Rolle spielen als anderswo im Nahen Osten. Nachdem sich die Regierungstruppen 2012 aus dem Nordosten zurückgezogen haben, wurde die Geschlechterfrage zu einem zentralen Thema der Politik der Partei der Demokratischen Union (PYD), und in jeder autonomen Gemeinde und auf jeder Ebene des Systems wurden Frauenverbände gegründet. Per Gesetz werden alle Regierungseinrichtungen von einem Mann und einer Frau gleichzeitig geleitet, und die meisten staatlichen Behörden und Gremien müssen zwischen Männern und Frauen gleich besetzt sein, abgesehen von Einrichtungen, die nur für Frauen sind und von Frauen geleitet werden. Kinderheiraten und häusliche Gewalt stehen unter Strafe. Darüber hinaus räumt die Verwaltungscharta des Gesellschaftsvertrags den Frauen das Recht auf Teilhabe an politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten ein und legt den Frauenanteil in allen Leitungsgremien, Institutionen und Ausschüssen auf 40 Prozent fest, wobei die Partizipation nicht gleichbedeutend mit tatsächlicher Ermächtigung ist. Insgesamt erleben kurdische Frauen liberalere kulturelle Normen in den kurdischen Gemeinschaften, was durch die politischen Parteien gefördert wird. Es wird nicht verkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt, wie sexuelle Gewalt, häusliche und familiäre Gewalt, Kinderehen und Ehrenmorde, aus allen Teilen Syriens gemeldet werden, auch aus den von den SDF kontrollierten Regionen. Insgesamt stellt sich die Situation für Frauen und Mädchen in den kurdischen Selbstverwaltungsgebieten aber besser als in sonstigen Gebieten Syriens dar. Eine Verfolgung der Erst-, Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen ist in ihrer im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet gelegenen Herkunftsregion somit – erst recht – nicht als maßgeblich wahrscheinlich anzusehen. Wie oben bereits dargelegt ist dieses Gebiet auch ohne Kontakt zu den syrischen Behörden erreichbar.
Zur vorgebrachten Verfolgung aufgrund der illegalen Ausreise und der Asylantragstellung im Ausland:
Zum weiteren Vorbringen der Beschwerdeführenden, wonach ihnen auch aufgrund ihrer illegalen Ausreise und ihrer Asylantragstellung bzw. der ihnen hierdurch unterstellten oppositionellen Gesinnung eine asylrelevante Verfolgung drohe, ist abschließend anzumerken, dass den getroffenen Feststellungen zur Lage in Syrien nicht entnommen werden kann, dass jedem Rückkehrer, der illegal ausgereist ist und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. Den Länderfeststellungen zufolge hängt die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, stark vom Einzelfall ab, wobei es keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrende gibt. Ferner ist es schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrenden in Syrien zu erhalten. Doch sind die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Insbesondere für Personen, die sich in der Vergangenheit (system-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben, besteht eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden. Personen, die das Land verlassen haben, werden mitunter als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen sowie als „Verräter“ angesehen. Grundsätzlich sind Personen bei der Rückkehr nach Syrien gefährdet, wenn diesen eine Regimegegnerschaft unterstellt wird. Zu als oppositionell oder regierungsfeindlich angesehenen Personen gehören einigen Quellen zufolge unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person diese Tätigkeit in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet ausgeführt hat, AktivistInnen sowie JournalistInnen, welche die Regierung offen kritisieren oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien, wie Angriffe der Regierung, verbreitet haben, sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben. Auch der Umstand, dass eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken. Schließlich geht aus den Länderberichten hervor, dass – wie auch in der Beschwerde dargelegt – es nach wie vor willkürliche Verhaftungen und andere Repressionen gegenüber Rückkehrenden gibt und verschiedene Quellen immer wieder von derartigen Einzelfällen berichten. Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass Rückkehrende per se als politisch oppositionell angesehen würden oder der weitaus überwiegende Teil aller Rückkehrenden systematischen Repressionen ausgesetzt wäre.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Schwelle, als oppositionell betrachtet zu werden, in Syrien allgemein niedrig ist sowie dass Personen aus unterschiedlichen Gründen und teilweise willkürlich als regierungsfeindlich angesehen werden. Es übersieht auch nicht, dass in Syrien ganz bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. In Bezug auf die Beschwerdeführenden haben sich im Verfahren jedoch keine Hinweise darauf ergeben, dass allgemeine Berichte und darauf basierende Gefährdungsmomente im gegenständlichen Fall auf die konkrete Situation der Beschwerdeführenden anzuwenden sind. Insbesondere entsprechen die Beschwerdeführenden auch keinem Risikoprofil (wie zum Beispiel JournalistInnen, AktivistInnen, MedizinerInnen, die im von der Regierung besetzten Oppositionsgebiet gearbeitet haben), das vermehrt oder mit höherer Wahrscheinlichkeit Repressalien ausgesetzt ist, und – wie bereits erörtert – konnten sie auch nicht glaubhaft darlegen, dass ihnen – bezogen auf ihr Herkunftsgebiet – aus einem anderen Grund eine Verfolgung aufgrund einer ihnen unterstellten oppositionellen Gesinnung droht.
Zusammenfassend ist es daher nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass den Beschwerdeführenden allein aufgrund ihrer Ausreise in Syrien Sanktionen wegen einer ihnen (unterstellten) oppositionellen politischen Gesinnung drohen. Auch die EUAA (vormals EASO) geht in ihrem Leitfaden zu Syrien vom April 2024 davon aus, dass der Umstand, dass eine Person Syrien verlassen hat, für sich alleine nicht ausreicht, damit eine hinreichend große Gefahr besteht, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen.
Ebenso wenig genügt eine Asylantragstellung in Österreich für die Asylzuerkennung, weil nicht anzunehmen ist, dass die Antragstellung den syrischen Behörden bekannt ist, zumal es den österreichischen Behörden untersagt ist, diesbezüglich Daten an die syrischen Behörden weiterzuleiten. Im gegenständlichen Verfahren sind auch keine Anhaltspunkte für die Annahme hervorgekommen, dass dem syrischen Staat die Antragstellungen entgegen dem Verbot oder durch sonstige Umstände tatsächlich bekannt geworden wären.
Im Übrigen ist – wie oben bereits eingehend dargelegt wurde – nochmals darauf hinzuweisen, dass das Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden nicht unter der Kontroll- oder Einflussmöglichkeit der syrischen Zentralregierung steht und es somit nicht als wahrscheinlich anzusehen ist, dass die syrische Zentralregierung im Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden auf diese greifen kann. Wie bereits festgehalten, ist die Herkunftsregion der Beschwerdeführenden auch ohne Kontakt zur syrischen Regierung erreichbar.
Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
Zur Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten:
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde vergleiche VwGH 09.03.1999, 98/01/0370). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr vergleiche VwGH 27.01.2000, 99/20/0519). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann vergleiche VwGH vom 22.03.2003, 99/01/0256 mwN).
Auch wenn in einem Staat allgemein schlechte Verhältnisse bzw. sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen sollten, so liegt in diesem Umstand für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK. Um asylrelevante Verfolgung erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht vergleiche VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Gefahr der Verfolgung im Sinne des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe vergleiche VwGH vom 10. 12.2014, Ra 2014/18/0078, mwN).
Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der [Beschwerdeführer] die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, d.h. er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG Paragraph 45, Rz 3 mit Judikaturhinweisen). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus vergleiche VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).
Die Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung kann asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen – wie etwa der Anwendung von Folter – jede Verhältnismäßigkeit fehlt (siehe VwGH 27.04.2011, 2008/23/0124; 23.01.2019, Ra 2019/19/0009; siehe auch VwGH 19.06.2019, Ra 2018/18/0548 sowie VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274). Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe eine asylrelevante Verfolgung darstellen (siehe dazu VwGH 25.03.2003, 2001/01/0009; VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274, m.w.N.; EuGH 26.02.2015, C-472/13, Shepherd).
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl begründete die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführenden in Syrien keine Verfolgungsgefährdung glaubhaft machen hätten können. Mit dieser Beurteilung ist die belangte Behörde im Ergebnis im Recht:
Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, konnte nicht festgestellt werden, dass dem 16-jährigen Zweitbeschwerdeführer und der 8-jährigen Viertbeschwerdeführerin als Minderjährige sowie der 18-jährigen Drittbeschwerdeführerin als mittlerweile Volljährige aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Streitkräfte oder durch die syrische Armee drohen würde.
Darüber hinaus ist es wegen der eingeschränkten Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Zentralregierung auf die unter kurdischer Kontrolle stehende Herkunftsregion der Beschwerdeführenden auch nicht als maßgeblich wahrscheinlich anzusehen, dass dem Zweitbeschwerdeführer nach Erreichen des wehrfähigen Alters in etwa 1,5 Jahren in seiner Herkunftsregion tatsächlich eine Einziehung zum Militärdienst in die syrische Armee drohen würde.
Wie festgestellt ist die Herkunftsregion der Beschwerdeführenden auch ohne Kontakt zur syrischen Regierung erreichbar. Insbesondere wäre ihnen die Einreise in das kurdische Selbstverwaltungsgebiet über den Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur möglich und hätten sie dabei keine Grenzen zu passieren und Gebiete zu durchqueren, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden, sodass ihm (auch) bei der Rückreise keine asylrelevante Verfolgung durch die syrische Regierung droht vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108). Der bloß informelle Charakter des Grenzüberganges vermag an dessen grundsätzlicher Benützbarkeit nichts zu ändern, zumal – ausgehend von den Länderberichten – der Grenzübergang geöffnet ist und von der Zivilbevölkerung genutzt werden kann vergleiche hierzu die rezente Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 29.02.2024, Ra 2024/18/0043, wonach es aus asylrechtlicher Sicht nicht darauf ankommen kann, ob die Einreise in einen verfolgungssicheren Landesteil aus der Sicht des potentiellen Verfolgers legal stattfindet, sondern nur, ob die den Grenzübergang beherrschenden Autoritäten eine Einreise in das sichere Gebiet zulassen). Einschränkungen und kurzfristige Schließungen des Grenzübergangs sind im Wesentlichen der allgemeinen (Bürgerkriegs-)Situation geschuldet, wobei den damit im Zusammenhang stehenden Risiken letztlich durch die Gewährung von subsidiärem Schutz Rechnung getragen wurde.
Darüber hinaus erreicht der Zweitbeschwerdeführer in etwa 1,5 Jahren auch das wehrfähige Alter in der „Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ und unterliegt sodann der „Selbstverteidigungspflicht“. Diesbezüglich ist auszuführen, dass die „Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ ein de facto autonomes Gebiet im Nordosten von Syrien ist, das jedoch nicht anerkannt ist. Bereits aus diesem Grund, liegt gegenständlich – mangels Militärdienstes eines souveränen Staates – im Hinblick auf die „Selbstverteidigungspflicht“ in der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“ der Tatbestand einer Verfolgungshandlung gemäß Artikel 9, Absatz 2, Litera e, der Statusrichtlinie nicht vor.
Von einer – nicht asylrelevanten – Zwangsrekrutierung durch einen nichtstaatlichen Akteur ist jene Verfolgung zu unterscheiden, die an die tatsächliche oder nur unterstellte politische Gesinnung anknüpft, die in der Weigerung, sich den Rekrutierenden anzuschließen, gesehen wird. Auf das Auswahlkriterium für die Rekrutierung selbst kommt es in einem solchen Fall nicht an. Dabei ist entscheidend, mit welchen Reaktionen auf Grund der Weigerung, sich dem Willen der Rekrutierenden zu beugen, zu rechnen ist und ob in dem Verhalten eine – sei es auch nur unterstellte – politische oder religiöse oppositionelle Gesinnung erblickt wird vergleiche zum Ganzen VwGH 19.04.2016, Ra 2015/01/0079, Rz 15 mwN; auch VfGH 25.02.2019, E4032/2018, Pkt. 2.1., mwN).
Nach den getroffenen Feststellungen, wonach Wehrpflichtige auch einberufen und ausgeforscht werden, ist davon auszugehen, dass eine Rekrutierung des Zweitbeschwerdeführers nach Erreichen des wehrfähigen Alters durch die kurdische SDF grundsätzlich möglich ist.
Doch vermag das erkennende Gericht keine Verbindung zwischen den – wie dargestellt mit zumindest maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden Rekrutierungshandlung – zu einem der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, genannten Gründe der GFK zu erkennen:
So folgt aus den Länderfeststellungen, dass dem Zweitbeschwerdeführer aufgrund der Verweigerung des kurdischen „Wehrdienstes“ keine politische oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. Soweit der Zweibeschwerdeführer von den Folgen der Verweigerung betroffen sein könnte, haben sich auch keinerlei Hinweise für eine auf Konventionsgründen beruhende unverhältnismäßige Bestrafung des Zweitbeschwerdeführers ergeben.
Eine Verbindung zum Konventionsgrund der politischen Gesinnung ist bei gesamthafter Betrachtung der Reaktionen der de facto Behörden der kurdischen Selbstverwaltung nicht herzustellen. Der Zweitbeschwerdeführer behauptet selbst auch keine oppositionelle Gesinnung, sondern möchte schlicht nicht kämpfen. Auf eine relevante bzw. ein besonderes Maß der individuellen (inneren) politischen Überzeugung, also insbesondere gerichtet gegen die Selbstverteidigungspolitik der kurdischen Selbstverwaltung, ist daraus nicht zu schließen.
Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage für Kinder habe sich weiters keine Anhaltspunkte für eine systematische generelle Verfolgung von Kindern in Syrien ergeben und haben sich auch im konkret Fall des Zweitbeschwerdeführers und der Viertbeschwerdeführerin keine risikoerhöhenden Faktoren ergeben.
Ausgehend von der Länderinformationslage haben sich auch keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle syrischen Frauen bzw. Mädchen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Syriens einer systematischen asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt zu sein, dies insbesondere in der kurdisch kontrollierten Herkunftsregion der Beschwerdeführenden, in der sich die Lage für Frauen insgesamt besser als in anderen Gebieten Syriens darstellt. Auch im konkreten Einzelfall der nach wie verheirateten Erstbeschwerdeführerin, die noch dazu über einen Bruder und eine Schwester in der Herkunftsprovinz verfügt, sowie der Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen, deren Vater nach wie vor im Herkunftsgebiet aufhältig ist, haben sich keine diesbezüglichen Anhaltspunkte ergeben.
In Ermangelung von den Beschwerdeführenden individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu prüfen, ob sie im Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale unabhängig von individuellen Aspekten einer über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehenden "Gruppenverfolgung" ausgesetzt wären. Für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung ist zwar nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048, mit Verweis auf VfGH 18.09.2015, E 736/2014).
Die Beschwerdeführenden sind Angehörige der kurdischen Volksgruppe und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.
In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass den Länderberichten zufolge jegliche Bemühungen der Kurden sich politisch zu organisieren und für ihre politischen und kulturellen Rechte einzutreten, vom syrischen Regime unterdrückt wurden. In den Gebieten, die unter der Kontrolle kurdischer Milizen stehen, hat sich seither die Lage nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen aber in sehr großem Ausmaß verbessert. Die fehlende Präsenz des syrischen Regimes verschaffte den Kurden mehr Freiheiten, in dem in diesen Gebieten zum Beispiel die kurdische Sprache an Schulen unterrichtet werden kann. Laut Schätzungen der US-Regierung stellen Sunniten 74% der Bevölkerung dar, wobei sich diese aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen.
Den Länderfeststellungen lassen sich keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer systematischen und spezifischen Verfolgung aller Angehörigen der kurdisch-sunnitischen Bevölkerung in den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien entnehmen. Ebenso ist dem von der EUAA (ehemals EASO) erstellten „Country Guidance: Syria“ vom April 2024, dem nach der Rechtsprechung des VwGH Indizwirkung zukommt, zu entnehmen, dass bei Kurden in Gebieten, die nicht unter der Kontrolle der SNA stehen, eine Einzelfallprüfung erforderlich ist, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung vorliegt, und risikobeeinflussende Umstände wie die Staatenlosigkeit, Identitätsdokumente, das Herkunfts- und/oder Wohnsitzgebiet, zu berücksichtigen sind. Es sind im Zuge des Verfahrens keinerlei Anhaltspunkte betreffend der Gefahr einer Verfolgung der Beschwerdeführenden aufgrund ihrer Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit zu Tage getreten und die Beschwerdeführenden haben diesbezüglich auch kein Vorbringen erstattet. Es ist daher nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass den Beschwerdeführenden eine Verfolgung aufgrund ihrer Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit droht.
Schließlich ist noch auszuführen, dass nicht alle Rückkehrer nach Syrien bzw. nicht alle Personen, die aus einem oppositionellen Gebiet stammen, einer realen Gefahr ausgesetzt sind, (erg: in asylrelevanter Weise) verfolgt zu werden. Es wird nicht verkannt, dass Personen, die das Land verlassen haben, von den syrischen Behörden mitunter als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition bzw. als „Verräter“ betrachtet werden. Zudem liegen auch vereinzelte Berichte vor, nach denen Rückkehrende unrechtmäßig oder willkürlich inhaftiert, gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Den vorliegenden Länderberichten sind insgesamt jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine spezifische und systematische Verfolgung aller Rückkehrenden zu entnehmen. Auch dem von der EUAA (ehemals EASO) erstellten „Country Guidance: Syria“ vom April 2024, dem nach der Rechtsprechung des VwGH Indizwirkung zukommt, ist zu entnehmen, dass der Umstand, Syrien verlassen zu haben, bzw. der Umstand, dass eine Person aus einem Gebiet stammt, das mit der regierungsfeindlichen Opposition in Verbindung gebracht wird, allein normalerweise nicht zu einem Verfolgungsrisiko wie gegenständlich erforderlich führt. Ebenso wenig genügt eine Asylantragstellung in Österreich für die Asylzuerkennung, weil nicht anzunehmen ist, dass die Antragstellung den syrischen Behörden bekannt ist, zumal es den österreichischen Behörden untersagt ist, diesbezüglich Daten an die syrischen Behörden weiterzuleiten.
Schließlich ist insbesondere nochmals darauf hinzuweisen, dass das Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden nicht unter der Kontroll- oder Einflussmöglichkeit der syrischen Zentralregierung steht und auch ohne Kontakt zu den syrischen Behörden erreichbar ist, weshalb es als nicht wahrscheinlich anzusehen ist, dass diese in dem im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet gelegenen Herkunftsgebiet der Beschwerdeführenden auf diese greifen kann und ihnen daher in ihrem Herkunftsgebiet eine Verfolgung von Seiten der syrischen Zentralregierung drohen würde.
Auch die Durchsicht der aktuellen Länderberichte zur Herkunftsregion der Beschwerdeführenden erlaubt es nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen.
Auch unter Berücksichtigung der strengen Anforderungen an die Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen (VfGH 11.10.2017, E 1803/2017 ua., mwN) und unter Beachtung des Kindeswohls ist somit weder aufgrund des Vorbringens noch von Amts wegen eine individuelle Bedrohung oder Verfolgung der Beschwerdeführenden aus asylrelevanten Gründen im Verfahren hervorgekommen.
Da sich somit auch sonst keine konkrete gegen die Beschwerdeführenden gerichtete Verfolgung in ihrem Heimatstaat ableiten ließ, war im Ergebnis die Beschwerde gegen die Spruchpunkte römisch eins. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.
Zu B)
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A) wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
ECLI:AT:BVWG:2024:W135.2280589.1.00