Bundesverwaltungsgericht
14.06.2024
W152 2286307-1
W152 2286307-1/6E
W152 2286305-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Walter KOPP als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. römisch 40 , geb. römisch 40 , und 2. römisch 40 , geb. römisch 40 , beide StA. Syrien, beide vertreten durch römisch 40 , gegen die jeweiligen Spruchpunkte römisch eins der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 04.01.2024,
Zlen. 1340205303-230119207 (ad 1.) und 1340182808-230116402 (ad 2.), zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden jeweils gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist jeweils gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG idgF nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge: BF) sind Staatsangehörige Syriens. Der Erstbeschwerdeführer (in weiterer Folge: BF1) ist der Ehegatte der Zweitbeschwerdeführerin (in weiterer Folge: BF2).
2. Die BF reisten illegal am 15.01.2023 in das Bundesgebiet ein und stellten am 16.01.2023 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag erfolgte die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
Befragt zu ihren Fluchtgründen gaben die BF einheitlich an, dass sie Syrien verlassen hätten, weil dort Krieg herrsche. Die beiden seien zu alt, ihre Kinder befänden sich in Europa als anerkannte Flüchtlinge und die BF wünschten, bei ihnen zu bleiben. Das seien alle ihre Fluchtgründe. Im Falle einer Rückkehr hätten sie Angst vor der Einsamkeit, sie seien alt.
3. Nach Durchführung eines Dublin-Verfahrens und der Einvernahme beider BF am 04.05.2023 wurden mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge: BFA) vom 01.06.2023, Zlen.: 1340205303-230119207 (BF1) und 1340182808-230116402 (BF2), die Anträge auf internationalen Schutz der BF ohne in die Sache einzutreten gemäß
§ 5 Absatz eins, AsylG 2005 jeweils als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung dieser Anträge auf internationalen Schutz gemäß Artikel 18 (1) (d) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates Schweden zuständig sei (Spruchpunkt römisch eins). Gemäß Paragraph 61, Absatz eins, Ziffer eins, FPG wurde jeweils die Außerlandesbringung angeordnet, weswegen gemäß Paragraph 61, Absatz 2, FPG die Abschiebung jeweils nach Schweden zulässig sei (Spruchpunkt römisch II). Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (in weiterer Folge: BVwG) vom 12.10.2023, GZ: W235 2273609-1/10E (BF1) und W235 2273607-1/5E (BF2), wurde den dagegen erhobenen Beschwerden gemäß Paragraph 21, Absatz 3, erster Satz BFA-VG stattgegeben, die Verfahren über den jeweiligen Antrag auf internationalen Schutz wurden zugelassen und die bekämpften Bescheide behoben.
4. Am 04.01.2024 wurden der BF1 und die BF2 vom BFA im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Arabisch niederschriftlich einvernommen.
Dabei wurde ein Konvolut von medizinischen Unterlagen den BF1 betreffend vorgelegt und bejahte dieser die Frage, ob er sich physisch oder psychisch in der Lage sehe, die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Er habe Nierenprobleme, es gehe ihm aber derzeit gut. Beide Nieren funktionierten nicht, er benötige dreimal wöchentlich eine Nierenwäsche, sei zuckerkrank und habe Probleme mit dem Blutdruck. Zu seinem Fluchtgrund brachte der BF1 vor, Syrien sei komplett zerstört worden. „Wir“ hätten die Häuser verloren. Die BF kämen aus Rif Damaskus, er selbst sei krank geworden und habe die notwendige medizinische Versorgung nicht bekommen. Es gehe nur um den Krieg und die medizinische Versorgung und die Medikamente. Der BF1 fühle sich wohl in Österreich, es sei ein sicheres Land. Im Fall einer Rückkehr würde er dort keine Medikamente bekommen und auch die Operation (gemeint: Nierentransplantation) nicht.
Auch die BF2 erklärte zu ihren Fluchtgründen, sie habe den Asylantrag wegen des Krieges gestellt. Es gebe keine Sicherheit in Syrien, ihr Haus sei bombardiert worden. Zudem gehe es um den Gesundheitszustand ihres Ehemannes (BF1). Im Fall einer Rückkehr habe sie Angst vor dem syrischen Regime und vor den Checkpoints. Dies deshalb, weil sie sich nicht frei bewegen könne. Auch habe sie Angst um ihren Ehemann, er bekomme dort keine medizinische Betreuung. Die BF2 sei wegen ihres bereits hier befindlichen Sohnes nach Österreich gekommen.
5. Mit den im Spruch genannten Bescheiden zu Zlen. 1340205303-230119207 (ad BF1) und 1340182808-230116402 (ad BF2) jeweils vom 04.01.2024 wies das BFA die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status als Asylberechtigte gemäß
§ 3 Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 ab (Spruchpunkt römisch eins), erkannte ihnen jeweils den Status des/der subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 zu (Spruchpunkt römisch II) und erteilte ihnen jeweils gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt römisch III).
Die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz der BF begründete das BFA im Wesentlichen damit, es habe nicht festgestellt werden können, dass jene in ihrem Herkunftsstaat einer persönlich gegen sie gerichteten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt gewesen wären. Die BF hätten ihren Herkunftsstaat aufgrund des vorherrschenden Bürgerkriegs und der gesundheitlichen Probleme des BF1 verlassen.
Das BFA stellte hiebei zur Lage in Syrien auf Grundlage der Länderinformationen der Staatendokumentation SYRIEN, Version 9, vom 17.07.2023 zu den BF jeweils Folgendes fest:
„Sicherheitslage (zu BF1 und BF2)
Letzte Änderung: 11.07.2023
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach eine politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 29.3.2023). Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) veröffentlichte eine Karte mit Stand Dezember 2022, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind. Es gibt Gebiete, in denen mehr als Akteur präsent ist (UNCOI 1.2023) [Anm.: die ausländischen Verbündeten des Regimes wie Iran, Russland und libanesische Hizbollah fehlen - siehe Karten weiter unten]:
Quelle: UNCOI 1.2023 (Stand: 12.2022)
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:
CC 12.6.2023 (Stand: 31.3.2023)
Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023).
Die CoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Mitte des Jahres 2016 hatte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der 'wichtigsten' Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt, kontrolliert (Reuters 13.4.2016). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.3.2023).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:
Zenith 11.2.2022
Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022).
Im Gouvernement Dara'a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten 'Versöhnungsabkommens'. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).
Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nicht-identifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).
Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vergleiche DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vergleiche CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vergleiche BAMF 6.12.2022).
Der UN-Sicherheitsrat schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Mit mehreren Tausend Kämpfern sowie deren Angehörigen, die sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF befinden, sowie einer vermutlich dreistelligen Zahl von im Untergrund aktiven Kämpfern bleibt IS jedoch ein relevanter asymmetrischer Akteur (AA 29.3.2023). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle und Attentate (DIS 29.6.2020). Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien, und zeigte bei zwei Anschlägen im Jahr 2022 seine anhaltende Fähigkeit zu komplexen Operationen (AA 29.3.2023).
Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich zehn bis 15 Angriffe auf die Regierungsstreitkräfte pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).
Zivile Todesopfer landesweit
Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche sowohl Zivilisten als auch Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von 'Massakern', bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vergleiche SNHR 1.1.2021). Die folgende Grafik zeigt die von SNHR dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2021 getötet wurden, wobei SNHR insgesamt 1.271 getötete Zivilisten zählte, davon 299 Kinder und 134 Frauen (SNHR 1.1.2022):
SNHR 1.1.2022
Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.2021 bis 30.6.2023 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern. Demnach kamen im Jahr 2022 5.949 Menschen ums Leben und im ersten Halbjahr 2023 2.796 Personen (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):
ACLED o.D. | ||||||
Gouverne-ments | Vorfälle 2021 | Todesopfer 2021 | Vorfälle 2022 | Todesopfer 2022 | Vorfälle 2023 (bis 30.6.) | Todesopfer (bis 30.6.) |
Deir ez Zor | 473 | 1131 | 339 | 755 | 277 | 560 |
Daraa | 375 | 649 | 467 | 708 | 195 | 326 |
Al Hasakeh | 345 | 621 | 340 | 926 | 74 | 119 |
Aleppo | 308 | 701 | 503 | 1260 | 216 | 502 |
Idlib | 306 | 697 | 213 | 481 | 134 | 321 |
Raqqa | 296 | 780 | 270 | 748 | 73 | 127 |
Hama | 143 | 547 | 96 | 252 | 67 | 232 |
Homs | 114 | 402 | 112 | 376 | 87 | 309 |
Rural Damascus | 113 | 140 | 157 | 244 | 46 | 75 |
As Sweida | 39 | 47 | 35 | 66 | 14 | 22 |
Quneitra | 31 | 39 | 12 | 22 | 19 | 30 |
Lattakia | 29 | 69 | 39 | 84 | 43 | 141 |
Damaskus | 14 | 41 | 15 | 22 | 12 | 31 |
Tartous | 4 | 8 | 3 | 5 | 1 | 1 |
Insg. | 2590 | 5872 | 2601 | 5949 | 1258 | 2796 |
Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 1.1.2020-30.6.2023 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):
ACLED o.D.; *2023: Zeitraum 1.1.-30.6.2023
Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).
Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).
Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien
Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Team“ (IIT) zu ermitteln. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.3.2017 sowie Chlorgas am 25.3.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 1.3.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 7.4.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds“). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.5.2019 wiederholt Chlorgas in Kabana/Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 1.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (1.8.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.1.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.9.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.1.2022). In einem weiteren Bericht vom 1.2.2022 kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.10.2016 in Kafr Zeita eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 1.2.2022).
Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 Prozent der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021).
Auch wenn es im Jahr 2022 kein Einsatz von chemischen Waffen berichtet wurde, so wird davon ausgegangen, dass das Regime weiterhin über ausreichende Vorräte von Sarin und Chlor verfügt, und über die Expertise zur Produktion und Anwendung von Chlor-hältiger Munition verfügt. Das Regime erfüllte nicht die Forderungen der Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) Conference of the States Parties, weshalb seine Rechte in der Organisation suspendiert bleiben (USDOS 20.3.2023).
Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln
Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Z.B. wurden im Juni 2022 bei der Explosion einer Landmine in Dara’a zehn Menschen getötet und 28 verletzt. Laut dem Humanitarian Needs Overview der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und - Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.3.2023).
Quellen:
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Grundversorgung und Wirtschaft (zu BF1 und BF2)
Letzte Änderung: 12.07.2023
Erdbeben vom 6. Februar 2023
Am 6.2.2023 ereignete sich ein Erdbeben in der Türkei der Stärke 7,8, gefolgt von einem starken Nachbeben der Stärke 7,5 auf der Richter-Skala. Das erste Beben betraf, zumindest moderat, auch fast ganz Syrien. Am schwersten betroffenen waren die Gebiete im Nordwesten des Landes bzw. entlang der türkisch-syrischen Grenze. Das Nachbeben beschränkte sich auf die nördliche Landeshälfte, wieder mit besonders schwer betroffenen Gebieten entlang der Grenze (TNYT 6.2.2023):
Quelle: TNYT 6.2.2023
Mehr als 7.000 SyrerInnen wurden getötet und geschätzte 5,3 Millionen wurden obdachlos (USIP 14.3.2023). 350.000 Menschen in dem Land wurden durch die Katastrophe vertrieben (Zeit 15.2.2023). So waren laut UN-Koordinator für Syrien 10,9 Millionen Menschen in Syrien von den Erdbebenfolgen in den Gouvernements Hama, Lattakia, Idlib, Aleppo und Tartus betroffen (UN News 8.2.2023). Nachbeben führten dazu, dass Menschen immer wieder ins Freie flüchteten (UN News 12.2.2023). Die Erdbeben verstärkten die humanitäre Krise, und der Cholera-Ausbruch [seit August 2022 - Anmerkung, siehe auch Kapitel Medizinische Versorgung] unterstreicht die Fragilität des Gesundheitssystems sowie der Wasser- und Abwassersysteme (USIP 14.3.2023).
Die Weltbank beurteilte die Lage in den Gouvernements Aleppo, Hama, Idlib, Lattakia, Raqqah und Tartus mit einer tiefer gehenden Prüfung der Städte Aleppo, Harem, Jableh, Afrin, Ad-Dana, Jandairis, Azaz, Sarmada und Lattakia. Demnach trat der größte Schaden bei Unterkünften auf - 24 %, gefolgt vom Transportbereich, der Umwelt (Kosten für die Räumung des Schutts) und der Landwirtschaft, welche gemessen am Ausfall der Lebensmittel den größten Schaden aufweist. Die meisten Schäden werden im Gouvernement Aleppo mit 44 % aller Schäden verzeichnet - besonders in den Bereichen Obdach und Landwirtschaft, gefolgt von Idlib mit 21 %. Die Stadt Aleppo steht mit 60 % der Gesamtschäden an der Spitze der am meisten betroffenen Städte, gefolgt von Lattakia mit 12 % und Azaz mit 10 % (Weltbank 17.3.2023).
Insgesamt kritisierten z. B. die USAID-Chefin Samantha Power die Langsamkeit der Hilfe in Syrien. Zu den am schwersten betroffenen Gebieten in Syrien zählt die Provinz Lattakia, die vom Assad-Regime kontrolliert wird. Dort kommt vor allem humanitäre Hilfe der UN-Organisationen und des Welternährungsprogramms an (Zeit 15.2.2023). UNHCR konzentrierte sich z. B. auf Hilfe für Obdach und Hilfsgüter in den Sammelzentren für die Vertriebenen in Form von Zelten, Plastikplanen, Thermodecken etc. vor dem Hintergrund einer 'Krise in der Krise', in welcher noch Schneestürme in manchen Gegenden und durch die Erdbeben beschädigte Straßen hinzukamen. Bereits vor dem Erdbeben gab es laut UNHCR 6,8 Millionen Binnenvertriebene in Syrien (UNHCR 10.2.2023). Die Weltgesundheitsorganisation arbeitete in allen Teilen des Erdbebengebiets und verstärkte ihren Einsatz einschließlich im besonders betroffenen Nordwesten des Landes. Bereits vor dem Erdbeben waren nur gerade die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen in Betrieb. Nationale und internationale Organisationen, ebenso wie Nachbarn, Moscheen, Kirchen und Gruppen beeilten sich, mit Lebensmitteln, sauberem Wasser, medizinischer Versorgung und sicheren Schlafplätzen zu helfen (UN News 12.2.2023). Nach dem Erdbeben lockerte die EU vorübergehend ihre Sanktionen gegenüber dem Regime. Hilfsflüge aus Deutschland, Dänemark und Norwegen landeten direkt in Damaskus (Qantara 28.2.2023). Als Folge der Erdbeben eröffnen sich für den Iran in vielen Sektoren neue Einflussmöglichkeiten in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Unterkünfte und Transport in Gebieten, wo die syrische Regierung nicht ausreichend den Erdbebenopfern humanitäre Hilfe leisten kann. In der Küstenregion Baniyas, Jableh and Lattakia setzt Iran bereits humanitäre Hilfe als 'soft power' ein, denn neben dem militärischen Einfluss sucht Iran auch wirtschaftlichen Einfluss in Syrien (L'Orient 16.2.2023). Gleichzeitig gibt es Berichte, dass unter der Deckung humanitärer Hilfe Waffen ins Land gebracht wurden (L'Orient 12.4.2023) und UN-Hilfsgüter von Regierungsangestellten abgezweigt oder sonst in einer Form Einfluss genommen wurde (FDD 15.3.2023). Berichten zufolge fließt die aktuelle Nothilfe zu 90 % an das Regime(gebiet), obwohl 88 % der syrischen Erdbebenopfer in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (Qantara 28.2.2023).
In einer Geberkonferenz wurden mittlerweile 911 Millionen Euro für Erdbebenhilfe für Syrien zugesagt, welche von den UN-Organisationen und international anerkannten NGOs verwaltet werden. Faktoren bei der Vergabe der Verwaltung an die UNO (und nicht an die syrische Regierung) sowie Herausforderungen für die Umsetzung sind: das Ausmaß der Zerstörung, viele politische Einschränkungen, das als 'bankrott und korrupt' bezeichnete Regime sowie die Anzahl an politischen Akteuren in Nordsyrien. Dazukommt die Notwendigkeit von Wachsamkeit, dass es nicht zu demographischen Manipulationen entlang der türkischen Grenze kommt (CMEC 3.4.2023).
In das Oppositionsgebiet gelangten zuerst 80 LKW-Ladungen der International Organization for Migration (IOM) über die beiden neu für humanitäre Hilfe geöffneten Grenzübergänge Bab al-Salam und Al Ra'ee (IOM 21.2.2023). Hintergrund ist, dass die syrische Regierung weiterhin Hilfslieferungen in Gebieten außerhalb ihrer Kontrolle einschränkt oder verhindert. Allein im Nordwesten leben in solchen Gebieten mindestens vier Millionen Menschen in schlechten Bedingungen, die völlig auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Auch bewaffnete Oppositionsgruppen verhinderten Hilfslieferungen aus dem Regimegebiet. Darüber hinaus verhinderte die syrische Regierung Hilfslieferungen an die hauptsächlich kurdischen Stadtteile in Aleppo Stadt, die vom 'kurdischen Zivilrat' kontrolliert werden, und welche stark vom Erdbeben betroffen waren. Die kurdische Selbstverwaltung wurde von der Regierung bei Hilfslieferungen in Regierungsgebieten und den Nordwesten eingeschränkt, bzw. die Lieferungen verzögert. Im nördlichen Teil des Gouvernements schränkten pro-türkische Oppositionsgruppen die Lieferung von Hilfe an KurdInnen ein und behinderten Rettungsbemühungen (AI 2.2023).
Aufgrund der Erdbeben vom 6.2.2023 und (dem besonders starken Nachbeben) vom 20.2.2023 wird von der Weltbank ein Schrumpfen der Wirtschaft um 5,5 % prognostiziert. Wenn der Wiederaufbau vor dem Hintergrund beschränkter öffentlicher Ressourcen, schwacher privater Investitionen und beschränkt einlangender Hilfe langsamer als erwartet stattfinden sollte, könnte die Schrumpfung größer ausfallen (Weltbank 17.3.2023). Laut Einschätzung von Ärzte ohne Grenzen werden die Folgen des Erdbebens noch monate- und jahrelang in Nordsyrien spürbar sein. Menschen, deren Häuser nicht wiederaufgebaut werden können, werden in Lagern verbleiben (Standard 3.3.2023).
Die allgemeine sozioökonomische Lage
Die wirtschaftliche und die humanitäre Lage in Syrien bleibt laut deutschem Auswärtigem Amt desolat und hat sich durch das Erdbeben am 6.2.2023 noch einmal deutlich verschärft (AA 29.3.2023). Die UN Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic kam bereits in ihrem Bericht von September 2022 zu dem Schluss, dass sich Syrien in der schwersten wirtschaftlichen und humanitären Krise seit Ausbruch des Konflikts befindet (UNCOI 17.8.2022). Mehr als 90 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Aktuell sind mit steigender Tendenz 15,3 Mio. Menschen von humanitärer Hilfe abhängig (5 % bzw. 0,7 Mio. mehr als 2022), die jedoch laut Vereinten Nationen nicht in benötigtem Maße zur Verfügung gestellt werden kann. In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage weiterhin besonders angespannt. Die ohnehin schlechte Wirtschaftslage hat 2022 durch die rasant fortschreitende Devisen- und Währungskrise (Einbruch des BIP um 60 % zwischen 2010 und 2020, Währungsverfall des syrischen Pfunds um 51,7 % im Vergleich zum Vorjahresmonat (Februar 2022) und um 99,4 % gegenüber dem US-Dollar auf dem Schwarzmarkt seit Konfliktbeginn 2011) sowie durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und die Wirtschaftskrise im Libanon einen neuen Tiefpunkt erreicht (AA 29.3.2023). Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, weil die Situation regional unterschiedlich ist und davon abhängt, unter wessen Kontrolle das jeweilige Gebiet steht (BS 29.4.2020). Auch basiert das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken, die regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019). Die syrische Regierung kontrolliert auch die Sammlung von Daten (EIP 7.2019).
Aufgrund deutlich gestiegener Lebensmittel- und Kraftstoffpreise hat sich in den letzten zwölf Monaten die Versorgungslage nochmals deutlich verschlechtert. Insgesamt sind 12,1 Mio. Menschen von Hunger bedroht (68 % der Bevölkerung), ein Anstieg von etwa 55 % seit 2019. Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 (2022) auf 609.979 (2023). Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zw. sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Die Kosten für Lebensmittel haben sich seit 2020 um über 800 % erhöht. Die Kosten für einen Lebensmittelkorb des Welternährungsprogramms haben sich um 91 % im Vergleich zum Vorjahr erhöht (AA 29.3.2023). Das Welternährungsprogramm führt Syrien noch vor dem Jemen als Land mit der weitesten Verbreitung von ungenügender Ernährung im Nahen Osten und Nordafrika an: 10,4 Millionen Menschen können nur ungenügend Nahrung zu sich nehmen. Das sind 58 % der Bevölkerung in den Gebieten Syriens, zu denen das Welternährungsprogramm Erhebungen durchführen konnte (WFP 10.5.2023). Der UN-Koordinator für Syrien warnte nach dem Erdbeben, dass die Zahlen für humanitären Bedarf nach oben revidiert werden müssen (UN News 8.2.2023).
Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, aber steigen tendenziell landesweit an. Der Mangel an Treibstoff und Elektrizität birgt laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) Risiken für ca. sechs Mio. Menschen, die sich nicht angemessen vor Winterbedingungen schützen können, und dies betrifft nun 33 % mehr Haushalte als im zurückliegenden Jahr. Etwa 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 % der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023).
Die Wintersaison 2023 war besonders herausfordernd für bereits fragile Gemeinschaften und Menschen mit bereits bestehenden gesundheitlichen und sozialen Schwächen. Die Wintermaßnahmen sollten ursprünglich zwei Mio. Menschen unterstützen, die überwiegend in Lagern leben und als am verletzlichsten eingestuft werden. Dazu gehören Binnenvertriebene (IDP), die bereits das zwölfte Jahr in Zelten oder provisorischen Unterkünften bei Minustemperaturen, Schnee und Regen verbracht haben. Hinzu kamen nach dem Erdbeben am 6.2.2023 laut UN-Angaben weitere 11.000 Familien aus verschiedenen Teilen Syriens, deren Häuser eingestürzt sind bzw. schwer beschädigt wurden. 5,37 Mio. brauchen Hilfe bei der Unterbringung. Die geplante humanitäre Reaktion ist in allen Bereichen erheblich unterfinanziert. Laut Humanitarian Response Plan (HRP) 2022-23, herausgegeben von UNOCHA, waren mit Stand Dezember 2022 lediglich 47,4 % der Bedarfe finanziert (AA 29.3.2023). Einer anderen Aussage vom 6.5.2023 zufolge waren trotz der Erdbeben nur sieben % des benötigten Betrags bisher für das ohnedies unterfinanzierte Hilfsprogramm eingelangt (Al-Jazeera 6.5.2023).
Aufgrund der Unterfinanzierung erreichten die humanitären Hilfen in den Bereichen Unterkunft und Non-Food-Items (NFI) mindestens 1,2 Mio. der angestrebten 2,2 Mio. Menschen nicht. 2023 gab es 5,3 Mio. NFI-Bedürftige, ein Zuwachs um 15 % zum Vorjahr. 85 % der Bevölkerung gaben an, dass ihr monatliches Einkommen nicht zur Deckung der notwendigen Ausgaben reiche. Ein Großteil der Bevölkerung verfügt nach zwölf Jahren Konflikt über keine Ersparnisse mehr, 69 % der Haushalte haben sich folglich seit 2021 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Subventionierte Basisgüter sind nur in begrenztem Umfang und in Regime-kontrollierten Gebieten über eine elektronische Karte zu beziehen. Im Februar 2022 entzog Syriens Regierung über 600.000 Haushalten mit 2,5 Mio. Personen die Berechtigung zum Bezug subventionierter Güter (AA 29.3.2023).
Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 12.2022).
- Nordwest-Syrien (Oppositionsgebiete):
Prekär blieb die humanitäre Lage auch im Nordwesten Syriens. Ca. 2,9 Mio. der aktuell ca. 4,6 Mio. dort lebenden Menschen sind nach Schätzungen von UNOCHA Binnenvertriebene, die infolge von Kampfhandlungen nach oder innerhalb Idlibs geflohen sind oder durch vom Regime betriebene 'Evakuierungen' aus zuvor belagerten Gebieten dorthin verbracht wurden. Die hohe Bevölkerungsdichte stellt eine besondere Herausforderung dar, wenn auch die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs aufgrund der Nähe zur Türkei teilweise besser als in Regimegebieten ist. Mittlerweile leben 1,8 Mio. Binnenvertriebene in Lagern, 2022 waren es 1,7 Mio. Die Vereinten Nationen gehen von einem Anstieg auf zwei Mio. bis Jahresende aus (AA 29.3.2023).
Fast jeder und jede in Nordwest-Syrien war vom Erdbeben betroffen. Mehr als 4.500 Menschen starben. Mehr als 10.500 Personen wurden verletzt, und mehr als 100.000 wurden laut UN-Angaben durch das Erdbeben vertrieben. Durch die Erdbeben kollabierten fast 2.000 Gebäude und mehr als 4.000 Gebäude wurden als unsicher oder unbewohnbar eingestuft. Viele können ohne externe Hilfe nicht ihre Unterkünfte wiederaufbauen, und Nachbeben bleiben eine Sorge. Hinzukommt der Verlust von Einkommensmöglichkeiten als Folge des Erdbebens (Al Jazeera 6.5.2023). Die hohen Raten an Lebensmittelunsicherheit in der Region wurden durch die Erdbeben verschärft ebenso wie die Dürre. Die am stärksten von den Erdbeben betroffenen Gebiete in Syrien haben bedeutenden Wassermangel erlebt und viel Ackerland wird nun zur Unterbringung von Menschen genutzt, welche durch die Erdbeben ihr Obdach verloren (TNH 6.6.2023).
Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Lage weiter zugespitzt. 97 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze (Stand 2022); etwa 90 % der Menschen in der Region sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mangelernährung stellt ein wachsendes Problem in der Region dar. 3,3 Mio. Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Laut OCHA hat weniger als eins von zehn Kindern Zugang zu adäquater und ausreichender Ernährung. Die grenzüberschreitende humanitäre Versorgung von 4,1 Mio. Menschen in Nordwestsyrien bleibt daher weiterhin essenziell. Im November 2022 erreichten die Hilfsmaßnahmen der UNO 2,47 Mio. Menschen. Nach Auslaufen der Resolution 2585 konnte die notwendige Hilfe der Vereinten Nationen über den Grenzübergang Bab al-Hawa bisher jeweils immer um sechs Monate verlängert werden. Der UN-Sicherheitsrat verlängerte die Öffnung des Grenzübergangs erneut am 9. Januar 2023 bis zum 10. Juli 2023 (AA 29.3.2023). So kann jeweils für die Dauer von sechs Monaten humanitäre Hilfe ohne Zustimmung der syrischen Regierung in das Gebiet gebracht werden (Al Jazeera 6.5.2023).
- Der Nordosten
Auch im Nordosten Syriens bleibt die humanitäre Lage angespannt. In Nordostsyrien leben 2,7 Mio. Menschen, von denen rund 1,8 Mio. auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Prekär bleibt die Situation besonders für die etwa 630.000 Binnenvertriebenen in der Region, von denen 89 % bereits seit mindestens vier Jahren vertrieben sind. Nur vier % dieser Personen planen, innerhalb des nächsten Jahres in ihre Heimatorte zurückzukehren (AA 29.3.2023).
Mitte 2020 führten die türkisch-kontrollierten Gebiete in Nordsyrien die türkische Lira als Währung ein, um das volatile syrische Pfund zu umgehen (AA 4.12.2020). Die türkische Lira hat jedoch im Jahr 2022 ungefähr 30 % ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren und 44 % bereits im Jahr davor (Reuters 9.3.2023). Da die türkische Lira im Nordwesten Syriens mittlerweile eine weitverbreitete Währung ist, hat ihre Abwertung negative Auswirkungen auf die Menschen und die humanitäre Hilfe (UNOCHA 16.12.2021). Im Dezember 2021 wurde von Panikkäufen aufgrund des Währungsverfalls der türkischen Lira berichtet (The National 8.12.2021). Die selbst ernannte 'syrische Errettungsregierung' hat daraufhin beschlossen, die Preise für Ölprodukte, die in den von Hay'at Tahrir ash-Sham kontrollierten Teilen des Gouvernements Idlib verkauft werden, in US-Dollar statt in türkischen Lira anzugeben (TSR 14.12.2021).
Die allgemeine Wirtschaftslage
Mit 2021 belief sich der wirtschaftliche Schaden des Kriegs auf 1,2 Billionen US-Dollar, hauptsächlich durch die Zerstörung von Infrastruktur und die massiven Vertreibungen durch Einsatz verbotener Kriegstaktiken primär durch die syrischen und russischen Streitkräfte (HRW 13.1.2022). Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die sich weiter verschlechternde katastrophale wirtschaftliche Lage und infolgedessen die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch teils seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen. Die Wirtschaftskrise im Libanon, dem vor allem auch im Hinblick auf die Sanktionen eine zentrale Rolle als Umschlags-und Finanzplatz für die syrische Wirtschaft zukommt, und COVID-19 verschärften die Situation ab 2019 weiter. Es kommt immer wieder zu Verknappungen von Benzin und Diesel, der für Heizzwecke und angesichts der völlig unzureichenden öffentlichen Stromversorgung auch für Generatoren benötigt wird. Auch bei dem Grundnahrungsmittel Brot gibt es Engpässe. Die Preise für beide Güter wurden stark erhöht und die Subventionen zurückgefahren. Mit derzeit mehr als 15 Mio. von Nahrungsmittelunsicherheit betroffenen Menschen ist diese Zahl höher als am Höhepunkt des Konfliktes. Der Preis für den Nahrungsmittelkorb erhöhte sich seit 2019 um 800 %. Der Konflikt hat die soziale Ungleichheit verschärft. Die Gehälter bewegen sich zwischen 70.000 und 120.000 syrische Pfund (SYP), dies entspricht umgerechnet zum Marktkurs rund 20 bzw. 35 US-Dollar. 90 % der Menschen leben in Armut. Im Land begegnet überall der Eindruck des Fehlens jeglicher Hoffnung auf Besserung (ÖB Damaskus 12.2022), und die Wirtschaft taumelt am Rande des Kollaps (MEE 3.4.2023). Die Arbeitslosenrate wird auf 57 % geschätzt. Andererseits gibt es einen Mangel an qualifiziertem Personal in bestimmten Sektoren und Gebieten, u.a. bedingt durch die Vertreibung, Flucht und Abwanderung. Ein Drittel des Wohnungsbestandes wurde ganz oder teilweise zerstört (ÖB Damaskus 12.2022).
Nach zwei Jahren Wachstum brach die Wirtschaft 2020 um 8 % ein. Die Inflation betrug 2022 geschätzt 121,5 %. Der Verfall des syrischen Pfunds hat sich weiter beschleunigt. Einem offiziellen Kurs von 3.000 SYP/USD steht ein inoffizieller Kurs von 6.100 SYP/USD gegenüber, der Unterschied beträgt demnach bereits über 50 % und steigt weiter. Die Überweisungen der im Ausland lebenden Syrer bilden einen wesentlichen Plusposten. Die Währungsreserven sind von 21 Mrd. USD (2010) dem Vernehmen nach heuer zeitweise auf nur 100.000 USD gesunken. Der Verfall der Währung führt zur Verstärkung der wirtschaftlichen Zentrifugalkräfte in den Regionen. – Im Nordwesten wird verstärkt die türkische Lira im Zahlungsverkehr genützt. Das BIP schrumpfte auf ein Fünftel gegenüber 2010, das Budget beträgt real 2022 rund zehn des Budgets von 2010. Die Ölproduktion fiel von 380.000 auf 25.000 Barrel pro Tag. Der Konflikt verursachte auch erhebliche Schäden an der physischen Infrastruktur (ÖB Damaskus 12.2022).
Sieht man von Russland und Iran (v. a. im Grundstoffbereich) sowie in geringerem Ausmaß von China ab, sind keine größeren Auslandsinvestitionen zu erwarten; auch die syrische Diaspora zeigt sich sehr zurückhaltend. Die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sind derzeit nicht gegeben; die Perspektiven haben sich vielmehr verschlechtert. Mit dem Iran sieht sich ein wichtiger Kreditgeber und Erdöllieferant aufgrund der US-Sanktionen und aktuell aufgrund massiver Proteste im Land und weiterer Sanktionsschritte des Westens selbst massiv unter wirtschaftlichem Druck (ÖB Damaskus 12.2022).
Während die Staatsinstitutionen und -funktionen in Instrumente des Regimes transformiert wurden, wurden unter der Regimeführung illegale Wirtschaftsaktivitäten massiv ausgeweitet. Diese stellen nun eine immer wichtigere Einnahmequelle dar. Dazu gehören die Drogenproduktion (Captagon) im großen Stil, Schmuggel, Schutzgelderpressungen, informelle Besteuerung von Warenhandel über die Frontlinien hinweg, Erpressung etc. Hochrangige Militärs wie Maher al-Assad und die Vierte Division sind dabei zentral in dieser 'Parallelwirtschaft' (Brookings 27.1.2023).
Laut Economist stellen Produktion und Schmuggel von Drogen - besonders von Captagon - mittlerweile die Hauptquelle Syriens für Devisen dar (USDOS 20.3.2023), es stellt das wichtigste Exportgut des Landes dar (Spiegel 17.6.2022). Die Produktion und der Schmuggel erfolgen durch Elemente mit Verbindungen zu Regimefunktionären und der Hizbollah: Die Vierte Gepanzerte Division der Syrischen Armee und Maher al-Assad dominieren auch hierbei (USDOS 20.3.2023), bzw. verdienen mit (Spiegel 17.6.2022).
Größere Produktionsstätten liegen der folgenden Karte gemäß in und um Damaskus sowie in Lattakia sowie weiteren Regionen vor allem im Westen, Südwesten und Nordwesten des Landes. Im Gebietsstreifen zwischen Homs und Damaskus entlang der libanesischen Grenze ballen sich zahlreiche kleinere Produktionsstätten (Spiegel 17.6.2022).
Quelle: Spiegel 17.6.2022
In Europa und dem Nahen Osten erfolgen große Beschlagnahmungen von Captagon, die aus regimekontrollierten Gebieten in Syrien stammten (USDOS 20.3.2023) [Zur Funktion von Captagon als Einnahmequelle siehe auch Kapitel Politische Lage]. Allerdings gibt es keinen Hinweis, dass die Captagon-Produktion der syrischen Bevölkerung in irgendeiner Weise wirtschaftlich helfen würde. Stattdessen scheint Captagon Syrien in einen 'Narco-Staat' mit einer Abhängigkeit vom Drogenhandel zu verwandeln, in welchem die Staatsführung - auch privat - finanziell profitiert. Durch die Einnahmen in US-Dollar ist der Captagon von besonderer Bedeutung, weil die Sanktionen gegen Syrien den Zugang zu Dollars unterbinden sollen. So helfen die Profite von Captagon bei der Bezahlung von Assad-Unterstützern, Milizen und Leibwächtern, und schützen so die Assad-Loyalisten vor ihren heimischen Gegnern (Soufan 13.4.2023). Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden dabei nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität eingesetzt, sondern auch zum Schutz der wirtschaftlichen Privilegien (Brookings 27.1.2023). Währenddessen erlebt die syrische Bevölkerung nach UN-Einschätzung vom März 2023 eines der schwersten Jahre, verschlechtert durch die Zerstörungen durch das Erdbeben und durch verschiedene kumulierende Entwicklungen davor, einschließlich der anhaltenden Cholera-Epidemie (UNFPA 28.3.2023).
● Die Rolle der al-Muwafaqa al-Amniyeh (Sicherheitsgenehmigung) bei Wirtschaftstransaktionen im Regierungsgebiet
Sicherheitsgenehmigungen sind von Immobilientransaktionen bis hin zu kommerziellen oder industriellen Aktivitäten sowie Dienstleistungen - oder sogar für Künstler für ein Konzert nötig - ebenso für verschiedene Personenstandsangelegenheiten wie Registrierungen von Geburten und Todesfällen. Die Liste genehmigungspflichtiger Aktivitäten wurde stetig länger - wie z.B. das Mieten eines Hauses. Die Vollmachten für einige Personenstandsangelegenheiten wie Geburtenregistrierungen und Eheschließungen sowie Reisepässe und Freikäufe vom Wehrdienst (von Syrern im Ausland) wurden im Jahr 2018 wieder von der Regelung ausgenommen. So kann die syrische Regierung bezüglich Personenstandsangelegenheiten im Ausland am Laufenden bleiben, bzw. durch die Reisepass- und Befreiungsgebühren US-Dollars einnehmen. Vollmachten für vermisste und abwesende Personen bedürfen jedoch laut einem späteren Erlass weiterhin einer Sicherheitsgenehmigung, was für die Familien und besonders für weibliche Familienmitglieder von Vermissten nachteilige Folgen hat. Der Erlass bricht laut Beurteilung der NGO STJ (Syrians for Truth and Justice) syrisches Gesetz und die Verfassung. Die beiden Erlässe zu den Sicherheitsgenehmigungen dienen in Augen von STJ zur demografischen Umgestaltung von Gebieten, die zuvor von bewaffneten Oppositionsgruppen gehalten wurden. Auch verwenden Mitarbeiter des Sicherheitsapparats die Genehmigung zur Erpressung von BürgerInnen, verweigern diese auf Basis böswilliger Berichte oder profitieren durch Bestechungsgelder für die Erteilung der Genehmigung oder deren Beschleunigung (STJ 1.2023).
- Oppositionsgebiete
Auch Gebieten außerhalb staatlicher Kontrolle etablierten oder übernahmen die an der Macht befindlichen Bündnisse Institutionen, um ihre Autorität zu legitimieren. Neben rudimentären Sozialleistungen regulieren sie die lokalen Märkte und den Handel über Grenzen und Frontlinien hinweg. Sie verwalten die Verteilungen essenzieller Waren und humanitärer Hilfe und heben Steuern ein. Dies ermöglicht auch kriminelle Praktiken und Ausübung von Zwang, was das wirtschaftliche Überleben der bewaffneten Gruppen sichert, und ihre Anführer bereichert. Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität der Gruppen eingesetzt, sondern auch zum Schutz ihrer wirtschaftlichen Vorteile. Während im Regimegebiet Organisierte Kriminalität staatliche Strukturen ausbeutet und durchdringt, kann in den Rebellengebieten eine Art 'Staatsaufbau' durch Organisierte Kriminalität wahrnehmen (Brookings 27.1.2023).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf, Zugriff 2.6.2023
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Zeit Online (15.2.2023): Syrische Erdbebenopfer erhalten offenbar viel zu wenig Hilfe, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-02/usaid-syrien-erdbeben-hilfe-zu-wenig, Zugriff 23.2.2023
Ergänzende Informationen zum Zugang zu Lebensmitteln und humanitärer Hilfe (zu BF2)
Letzte Änderung: 12.07.2023
Ergänzende Informationen zur Lebensmittelversorgung
Im Jahr 2022 lebten 90 % der SyrerInnen unter der Armutsgrenze, und mindestens zwölf Millionen SyrerInnen waren vor dem Hintergrund steigender Lebensmittelpreise von Unsicherheit in der Lebensmittelversorgung betroffen. Mehr als 600.000 Kinder waren chronisch unterernährt (HRW 12.1.2023): Die Kosten für Grundnahrungsmittel für eine Familie haben sich seit Kriegsbeginn verdreißigfacht. 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel aus, in drei Viertel der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei. Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, steigen tendenziell aber landesweit weiter an. 87 % der Bevölkerung haben keinerlei Ersparnisse mehr, 71 % der Haushalte haben sich seit 2019 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch, z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten. Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich: Mittlerweile sind subventionierte Basisgüter nur in begrenztem Umfang über eine elektronische Karte zu beziehen. Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021).
Im Jahresverlauf 2020 stieg die Zahl der Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist, dramatisch an. Zu den Gebieten mit der größten Ernährungsunsicherheit gehörten Lattakia, Raqqa und Aleppo (FAO 13.8.2020). Anfang 2021 waren 12,4 Mio. Menschen in Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen (WFP 3.2021), eine Steigerung um 56 % von 7,9 Millionen 2019 (UNOCHA 3.2021a). Mittlerweile benötigen 15,3 Millionen SyrerInnen humanitäre Hilfe und von diesen verfügen vier Fünftel nicht über genug Nahrung (BBC 31.1.2023). In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage besonders angespannt. Die kritische Versorgungslage hat in Regionen mit einem besonders hohen Anteil Binnenvertriebener (z. B. Provinz Idlib, aber auch Zufluchtsorte in den Provinzen Homs, Damaskus, Lattakia und Tartus) darüber hinaus vereinzelt zu Ablehnung und Abweisung von Neuankömmlingen geführt, die als Konkurrenten in Bezug auf die ohnehin sehr knappen Ressourcen gesehen werden (UNOCHA 3.2021b).
Im Februar 2022 wurde der Ausschluss von ungefähr 600.000 Familien vom Subventionsprogramm bekannt gegeben, das Gas und Heiztreibstoffe, Brot und andere Basisgüter wie Mehl und Zucker beinhaltet. Das löste Proteste in Suwaida sowie online aus (HRW 12.1.2023). Der Zugang zu Sozialleistungen wird auch häufig durch die geografische Lage und die politische Kontrolle bestimmt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten waren bestimmte Sozialleistungen eine wichtige Stütze für die 'Leistungsfähigkeit des Staates', vor allem der fortgesetzte Zugang zu subventioniertem Brot [Anm.: zu der Rangordnung beim Zugang siehe Unterkapitel Lebensmittelversorgung und Zugang zu humanitärer Hilfe]. Das Regime versucht jedoch auch, den Zugang zu Sozialleistungen in Rebellengebieten zu verhindern. Dies geschieht häufig durch die Ausbeutung von Hilfslieferungen an Checkpoints durch Regimekräfte sowie durch andere bewaffnete Gruppen. Mangelnde Überwachung bedingt außerdem, dass die Hilfe, selbst wenn sie die betroffenen Gebiete erreicht, oft nach politischen Loyalitäten oder familiären Verbindungen verteilt wird. Die Regierung verlässt sich zunehmend auf Wohltätigkeitsverbände bei der Vergabe von Sozialleistungen und Unterstützungen (BS 29.4.2020).
Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, da es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.2.2022).
In Damaskus und den Gouvernements Lattakia und Tartus ist der Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung und gesundheitlicher Versorgung grundlegend gewährleistet, während sich die Versorgungslage aufgrund der Wirtschaftskrise wieder deutlich verschlechtert hat (AA 4.12.2020). Einer Mitte Oktober 2022 durchgeführten Befragung hauptsächlich im Bevölkerungssegment von 16 bis 35 Jahren zufolge stehen z. B. in Homs 9 % genug Essen zur Verfügung, während es in Aleppo 23 % und in Damaskus 33 % der Befragten sind. 3 % in Damaskus sowie 12 % in Aleppo und 20 % in Homs schaffen es nicht, ihre Familien mit ausreichend Lebensmittel zu versorgen. In Damaskus kommen 21 % gerade noch bei der Lebensmittelversorgung über die Runden. In Aleppo sind es 27 % und in Homs 28 % (COID/SL 2022).
Trotz der Brotkrise weigerte sich das Regime oft, private Bäcker in Gebieten, die zuvor von der Opposition kontrolliert wurden, zuzulassen. Seit Kriegsbeginn zerstörten das Regime- und Pro-Regime-Kräfte systematisch Bäckereien und Öfen, was die Produktion und Verteilung von Brot in umstrittenen Gebieten einschränkte. Auch der Wiederaufbau von Bäckereien durch die Regierung erfolgt nach politischer Ausrichtung eines Viertels statt nach dem Bedarf. Human Rights Watch (HRW) berichtete, dass Regierungskräfte den Bäckereien Brot wegnahmen, um es am Schwarzmarkt zu verkaufen. Bäckereien mit Regierungsunterstützung haben separate Warteschlangen für Einwohner, IDPs, Militärs und Angehörige der Geheimdienste, wobei Kunden mit Regierungszugehörigkeit Vorrang haben (USDOS 20.3.2023). Bereits im September 2020 berichtet wurde, dass die Benzin- und Brotknappheit typisch für Regierungsgebiete ist. Die Lebensmittelpreise sind erheblich gestiegen, wobei urbane Regionen stärker betroffen sind - auch Damaskus (UNHCR 3.2021).
Einschränkungen beim Zugang zu humanitärer Hilfe im Regierungsgebiet
Die Lebensmittelpreise stiegen in den beiden letzten Jahren um mehr als 500 %, was die Deckung der Grundbedürfnisse für die zwölf Millionen SyrerInnen, welche unter Lebensmittelunsicherheit leiden, unerreichbar macht (WFP 19.10.2022). Der Anteil an Menschen mit Bedarf an humanitärer Hilfe stieg im Jahr 2021 um 21 % und erreichte eine Gesamtzahl von 13,4 Millionen Menschen, von denen sich laut UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) 1,48 Millionen in schwerster Not befanden (HRW 13.1.2022). Im Jahr 2022 wurde der bisherige Höchststand an humanitären Bedarf erreicht, und im Jahr 2023 benötigen 15,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe - eine Steigerung um 700.000 Personen im Vergleich zu 2022. Unter den von Lebensmittelunsicherheit Betroffenen befinden sich 3,75 Millionen Kinder (UNPFA 28.3.2023).
Ausreichender humanitärer Zugang und Schutz der Zivilbevölkerung stellen weiter die größte Herausforderung dar. Die syrische Regierung gewährt weiterhin keinen ausreichenden Zugang zu den zurückeroberten Gebieten (AA 19.5.2020). Der Syria Humanitarian Response Plan (HRP) erhält immer weniger Geld möglicherweise wegen anderer Krisen wie jener in der Ukraine (UNPFA 28.3.2023). Laut UN-Aussage sind nur elf % der von der UNO budgetierten Hilfe für 2023 abseits der Erdbebennothilfe finanziert. Das Welternährungsprogramm (World Food Programme - WFP) der UNO hat seine Hilfe in Syrien reduziert - trotz ihres vorhergehend publizierten Hinweises einen Monat vor den Erdbeben, dass der Hunger in Syrien den Höchststand in den zwölf Jahren Krieg erreicht hat. Eine Verschlechterung der Lage seit den Erdbeben ist offensichtlich. DIe WFP-Rationen sind sukzessive kleiner geworden und mit Juli 2023 muss die Hilfe für 40 % der RezipientInnen eingestellt werden, sollten nicht die 280 Millionen US-Dollar für die Fortführung seiner Programme einlangen (TNH 6.6.2023).
Die syrische Regierung hält weiterhin strenge Restriktionen bei der Lieferung humanitärer Hilfe in den Regimegebieten Syriens und darüber hinaus im Land aufrecht. Hilfe wird zur Bestrafung oppositioneller Meinung umgeleitet. Fehlende Sicherungsmaßnahmen der Beschaffungspraxis von UN-Organisationen bergen ein ernstes Risiko, Missbräuchlichkeiten durch syrische Organisationen zu unterstützen (HRW 12.1.2023) [Anm.: siehe dazu auch Kapitel Medizinische Versorgung]. Die UNO-Organisationen müssen den Regierungsvorgaben gemäß Partnerschaften mit syrischen Organisationen unter Regimekontrolle wie dem Syria Trust und dem Syrian Arab Red Crescent eingehen. Als Maßnahme, um diese Kooperation sicherzustellen, verweigert das syrische Außenministerium Personen Visa, von denen sie eine mangelnde Zusammenarbeit erwartet (FDD 15.3.2023). Quasi-NGOs, besonders der von Präsidentengattin Asma al-Assad geführte Syria Trust, sind immer einflussreicher geworden, seit internationale NGOs gezwungen sind, ihre Hilfe über diese zu verteilen. Unterabteilungen des Syria Trusts wurden zwecks Profit von dieser Hilfe eingerichtet. Es gibt zudem den Trend, neue Quasi-NGOs zu gründen oder alte umzubenennen, sodass die Überwachung der Geber über deren Hintergrund verkompliziert wird (BS 23.2.2022). Selbst wenn das UN-Personal alle diese Herausforderungen meistert, so können syrische Sicherheitskräfte dennoch aus den Konvois Güter für sich entwenden. Zudem konnte sich Bashar al-Assad mehr als 100 Millionen US-Dollar von Hilfe in den Jahren 2019 bis 2020 durch die Manipulation der Wechselkurse aneignen (FDD 15.3.2023)
Mit der fortgesetzt steigenden Zahl an Syrern und Syrerinnen in Not wird die Regierung al-Assad immer versierter darin, humanitäre Unterstützung als politisches Instrument zu verwenden, weshalb Hilfe, die dem syrischen Volk helfen soll, in wachsendem Maß die Regierung politisch und finanziell stärkt. Sie schöpft Hilfe ab, zweckentfremdet sie und leitet sie für eigenen Zwecke um - sowohl in den Gebieten unter seiner Kontrolle wie auch in anderen Landesteilen, indem es den internationalen Zugang lenkt (CSIS 14.2.2022). Die syrische Regierung hat immer wieder auch humanitäre Hilfe als strategische Waffe eingesetzt, um ihre Konfliktziele zu erreichen, wie zum Beispiel während der Belagerung von Dara’a Stadt zwischen 24.6. und 26.7.2021 (COAR 19.7.2021). Auch wird z. B. die UNO daran gehindert, den Hilfsbedarf der Bevölkerung zu ermitteln (FDD 15.3.2023).
- Die Lage im oppositionellen Nordwesten vor dem Hintergrund der Erdbeben
Die Erdbeben verschlechterten die Lage in der Region, wo 4,1 Millionen Menschen - 90 % der Bevölkerung - irgendeine Art humanitärer Hilfe benötigen, aber nicht unbedingt erhalten. Nach den Erdbeben benötigten noch mehr Leute Hilfe, während gleichzeitig die Lebensmittelpreise in die Höhe schossen, weil Straßen, Supermärkte und Bäckereien beschädigt waren. Noch im Juni waren die Preise weiterhin am Steigen, allerdings hauptsächlich wegen der anhaltenden Inflation der türkischen Lira, die ungefähr 77 % ihres Werts gegen den US-Dollar über fünf Jahre hin verloren hat. Teile des Nordwestens unter Kontrolle der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) führten die Türkische Lira im Jahr 2020 als Alternative zum fallenden Syrischen Pfund ein. Dazukommen neben den Erdbebenfolgen auch noch die Klimaschocks für die Landwirtschaft in Form der Dürre. Auf vielen Feldern stehen zudem nun die Behausungen für die durch die Erdbeben obdachlos gewordenen Menschen (TNH 6.6.2023).
Außerdem gelangen weniger Hilfsgüter in die Region - im Zeitraum Jänner bis Mai 2023 insgesamt 2.496 LKW-Ladungen über die seit dem Erdbeben drei vom Regime erlaubten Grenzübergänge zur Türkei. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 3.506 LKW-Ladungen (damals nur via Grenzübergang Bab al-Hawa). Hintergrund ist seit Längerem die Unterfinanzierung der Hilfsoperation für Nordwest-Syrien. Die von der UNO initiierte Erdbebennothilfe für Syrien von 398 Millionen US-Dollar ist allerdings voll finanziert, und die Hilfslieferungen über die syrisch-türkische Grenze wurden hochgefahren. Laut UN-Angaben erhielten auch mehr als eine halbe Million Menschen im Nordwesten nach den Erdbeben eine Geldhilfe, eine entscheidende Hilfe, welche nicht auf LKWs verladen werden muss (TNH 6.6.2023).
- Landwirtschaftliche Produktion
Die lange andauernden kriegerischen Handlungen führten auch zu einer Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur. Die COVID-19-Krise hat dies noch weiter verschärft (FAO 13.8.2020). Der Agrarsektor, der vor dem Krieg zu rund einem Fünftel zum BIP beitrug, ist nach Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) seit 2011 um 90 % eingebrochen. Damit ist Syrien als vormaliger Agrarexporteur mittlerweile auf Nahrungsmittelimporte angewiesen, insbesondere auch aus Russland. Ein wesentlicher Teil der syrischen Agrarprodukte (Weizen, Oliven(-öl), Gemüse) wird teils in oppositionellen Gebieten produziert (Idlib, al-Hassakah). Für die Nahrungsversorgung der syrischen Bevölkerung spielt Weizen eine tragende Rolle. Der Bedarf an Weizen für Syrien wird laut FAO auf ca. 3,5 Mio. Tonnen pro Jahr geschätzt. Während die Produktion 2007 noch 4 Mio. Tonnen betrug, lag sie 2022 laut FAO bei nur noch 1,05 Mio. Tonnen. Der Ertrag des Gerstenanbaus ist ebenfalls stark zurückgegangen, er fiel im Vergleich zum Vorjahr um 75 %. Heute sind etwa 15 Mio. Syrerinnen und Syrer auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Die starke Dürre 2020/2021 im Nordosten, wo 80 % der jährlichen Getreideproduktion Syriens erwirtschaftet wird, hat bis heute fatale Auswirkungen auf die Ernteerträge. 40 % der Ackerflächen liegen brach, in al-Hassakah sogar die Hälfte. Die VN sprachen von der schlimmsten Trockenheit seit 70 Jahren. Die Situation hat sich seither nicht verbessert, die VN rechnen aufgrund hoher Temperaturen und Trockenheit mit schweren Ernteausfällen auch für 2023. Laut einer OPC-Studie (Juni 2022) sind womöglich noch weniger Anbauflächen nutzbar als 2021 (AA 29.3.2023).
Neben der Dürre sind viele Anbaugebiete durch Kampfmittel schwer kontaminiert, was ihre Nutzung teilweise unmöglich macht. Die Transportwege in Regimegebiete sind teils blockiert oder aufgrund zahlreicher Straßensperren, an denen Milizen Wegzoll verlangen, sehr teuer. Das syrische Regime hat nach glaubhaften Berichten gezielt die Zerstörung von Anbaugebieten, Lebensmittelvorräten und Saatgut in von der Opposition gehaltenen Gebieten als Mittel der Kriegsführung eingesetzt und versucht, gleichzeitig so viel der Weizenernte im Nordosten wie möglich aufzukaufen – aufgrund der knappen Devisen mit nur mäßigem Erfolg (AA 29.3.2023). Auch im Nordosten sorgen rasant steigende Lebensmittelpreise, wachsende Sicherheitsprobleme und eine Verdopplung der Bevölkerung durch IDPs für eine vergrößerte Armutsrate. Viele Menschen sind nun auf humanitäre Hilfe für ihr Überleben angewiesen, aber Budgetknappheiten (der Hilfsorganisationen) und logistische Einschränkungen bedeuten, dass nicht alle Hilfsbedürftigen erreicht werden. Die UNO hat Schwierigkeiten, Hilfe in das Gebiet zu bekommen seit Russland und China im Jahr 2020 die Resolution über die Fortsetzung von Hilfslieferungen über einen irakischen Grenzübergang blockierten. Seither sind die Menschen im Nordosten auf Hilfslieferungen via Regimegebiet angewiesen. Was davon dann im Nordosten ankommt, geht meist in IDP-Lager und die am meisten vom Krieg getroffenen Gebiete wie Raqqa und Deir az-Zour, während die ländlichen Gebiete dazwischen quasi übersehen werden (BBC 31.1.2023).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&objAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26objAction%3Dbrowse%26viewType%3D1, Zugriff 3.3.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf, Zugriff 2.6.2023
BBC (31.1.2023): 'They call us garbage people': The Syrians surviving off US army waste, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-64400345, Zugriff 1.2.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 21.4.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report – Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf, Zugriff 2.6.2023
COAR - Center for Operational Analysis and Research (19.7.2021): https://coar-global.org/2021/07/19/spotlight-on-aid-sector-wages-as-damascus-increases-salaries/, Zugriff 20.6.2023
COID - Country of Origin Information Department [Staatendokumentation] - Federal Office for Immigration and Asylum [Österreich] (Hrg.) / SL - Statistics Lebanon (2022): Dossier - Syria - Socio-Economic Survey 2022, Zugriff 28.12.2022 [Das Dossier ist bei der Staatendokumentation BFA abrufbar.]
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FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (13.8.2020): Syrian Arab Republic – Revised humanitarian response (May–December 2020), http://www.fao.org/3/cb0197en/CB0197EN.pdf, Zugriff 20.6.2023
FDD - Foundation for Defense of Democracies (15.3.2023): A Strategy to End the Systematic Theft of Humanitarian Aid in Syria, https://www.fdd.org/analysis/2023/03/15/a-strategy-to-end-the-systematic-theft-of-humanitarian-aid-in-syria/#easy-footnote-bottom-9-139249, Zugriff 19.5.2023
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WFP - World Food Programme (19.10.2022): WFP Syria – Country Brief, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/wfp-syria-country-brief-august-2022, Zugriff 20.6.2023
WFP - World Food Programme (3.2021): WFP Syria – Country Brief, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/2021%2003%20Syria%20Country%20Brief.pdf, Zugriff 20.6.2023
Wohnsituation und Infrastruktur (zu BF2)
Letzte Änderung: 12.07.2023
Wohnsituation sowie Enteignungen
Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, welche die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen (AA 29.11.2021). Einer Untersuchung der Weltbank (2017) zufolge ist ein Drittel des gesamten Bestandes an Häusern und Wohnungen in Syrien im Rahmen des Konfliktes in Mitleidenschaft gezogen worden, wobei sieben Prozent zerstört und 20 Prozent beschädigt sind. Aufgrund der Kämpfe in den sog. Deeskalationszonen (Ost-Ghouta, Dara’a, Homs, Idlib), v. a. 2018, dürfte der Schaden an Infrastruktur heute noch höher sein (AA 29.3.2023). In Gebieten, welche von der Regierung zurückerobert wurden, berichtete die Mehrheit der von Human Rights Watch interviewten Personen über komplett oder teilweise zerstörte Häuser, der Wiederaufbau oder Renovierung sie sich nicht leisten konnten. Die syrische Regierung stellt keine Wiederaufbauhilfe zur Verfügung - auch nicht Jahre nach der Rückeroberung. Daher leben viele BewohnerInnen in behelfsmäßigen Zelten, weil sie es sich nicht leisten können, anderswo etwas zu mieten (HRW 13.1.2022). Mindestens 5,7 Mio. Menschen lebten vor dem Erdbeben im Februar 2023 in von UNHCR als 'unzulänglich' kategorisierten Unterkünften, vielfach ohne Heizung und entsprechende Isolierung gegen Kälte und Regen. Aufgrund der Erdbebenkatastrophe sind laut UNHCR weitere 5,37 Mio. Menschen in Syrien auf Hilfe bei der Unterbringung (Shelter Assistance) angewiesen. Laut einer Studie der NRO Norwegian Refugee Council von Mai 2022 kann nur einer von zehn Syrern die monatlichen Ausgaben, wie etwa für Miete, Strom und Lebensmittel, bezahlen. Im Dezember 2022 lebten in Syrien 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften, außerhalb der Lager sind es zwei Prozent. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien – in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des VN- Humanitarian Needs Assessment Programme von 2020 wohnen 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023) [Anm.: bzgl. des Einflusses der Erdbeben auf den Zugang zu Obdach siehe auch Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
In Damaskus haben sich fast eine Million Binnenvertriebene vorübergehend oder dauerhaft niedergelassen, während ein großer Teil der Wohnhäuser am ehemals von den Rebellen gehaltenen östlichen und südlichen Stadtrand zerstört ist (Wind/Ibrahim 2.2020). Die Nachfrage nach Wohnraum ist enorm, während das Angebot auf dem Wohnungsmarkt begrenzt ist. Neue Stadtentwicklungsprojekte sind luxuriös und unerschwinglich für Familien, die ihr Zuhause aufgrund des Krieges verloren haben. Daher hat der informelle Wohnungsbau am südlichen und nördlichen Rand der Stadt stark zugenommen (Wind/Ibrahim 2.2020; vergleiche Syria Times 21.6.2020). Aufgrund der Abwertung des syrischen Pfunds sind die Wohnungspreise im Laufe des Jahres 2020 stark gestiegen (Syria Times 21.6.2020). Bereits im Jahr 2021 überstiegen die Preise in und um Damaskus das Durchschnittsgehalt der Angestellten im öffentlichen Dienst (DIS 10.2021). Für die Gültigkeit von Kauf- oder Mietverträgen wird eine Sicherheitsüberprüfung verlangt. Personen, die an Immobilientransaktionen interessiert sind, werden vom Sicherheitsapparat dahingehend überprüft, ob 'Familienmitglieder unter dem Verdacht terroristischer Aktivitäten stehen, ob sie aus dem Land geflohen sind oder ob der Antragsteller aus einem von Rebellen kontrollierten Gebiet umzieht'. Bereits im September 2012 hat die syrische Regierung mit Präsidialdekret 66/2012 eine rechtliche Grundlage für die Ausweisung von Stadtentwicklungsgebieten in zwei informellen Siedlungen in Damaskus (Marota City im Stadtteil Basateen al-Razi und Basilia City in mehreren südlichen Stadtvierteln) geschaffen. Da viele geflohene oder vertriebene Bewohner nicht nach Syrien zurückkehren konnten, um ihre Eigentumsrechte geltend zu machen, bzw. keine Eigentumsdokumente vorweisen konnten, verloren in Marota rund 50.000 Menschen ihr Zuhause ohne angemessene Entschädigung oder Erhalt einer alternativen Unterkunft (AA 29.11.2021).
Übereinstimmenden Berichten von VN und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentiert auch die CoI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) in ihrem jüngsten Bericht von September 2022. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut diesen Berichten haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert. Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen. Auf der Grundlage des Dekrets 63/2012 wurde die vorsorgliche Beschlagnahme von Eigentum und Vermögen von mindestens 10.000 Personen gerechtfertigt. Diese Form der Bestrafung führt nicht nur zu Repressalien gegen die Inhaftierten, sondern dient auch als kollektive Bestrafung von deren Familien. Die Ausübung von Eigentumsrechten wird außerdem behindert, indem für die Gültigkeit von Kauf- oder Mietverträgen eine Sicherheitsüberprüfung verlangt wird, in welcher die Familienmitglieder auf angebliche terroristische Aktivitäten sowie auf die Flucht außer Landes überprüft werden und ob sich die AntragstellerInnen aus einem Oppositionsgebiet zurückkehren. Zudem erlaubt Dekret 63/2012 dem Finanzministerium den Besitz und das Vermögen aller, die unter die Anti-Terror-Gesetzgebung fallen, zu beschlagnahmen. Laut eines Berichts des Syrian Network for Human Rights (SNHR) wurden zwischen 2014 und Oktober 2020 mindestens 3.970 solcher Fälle dokumentiert. Die Konfiszierungslisten sollen neben den Daten der Betroffenen selbst, auch die Namen ihrer Familienmitglieder enthalten. Die Anwendung des Dekrets kann auch auf diese ausgedehnt werden. Das Regime konfisziert Eigentum nicht nur unter rechtlichem Vorwand, sondern beschlagnahmt auch Grundstücke von Gefangenen, Oppositionellen und Vertriebenen für militärische Zwecke und zum Verkauf an iranische Milizionäre (AA 29.3.2023).
In wiedereroberten Teilen von Idlib und Hama konfiszieren so z. B. die syrischen Behörden mittels Pro-Regime-Milizen und der staatlich kontrollierten Bauerngewerkschaft ungesetzlicherweise die Heime und das Land von SyrerInnen, welche vor den syrisch-russischen Angriffen geflüchtet waren. Der Besitz wird dann durch Auktionen versteigert (HRW 13.1.2022). Zu Beginn 2021 beschlagnahmte das Regime mehr als 44.000 ha landwirtschaftliche Flächen in den Gouvernements Hama, Aleppo und Idlib, und gab diese öffentlich zur Versteigerung frei. Diese Flächen waren als Land in Staatseigentum ('Amiriland') zur langfristigen Nutzung im Besitz von im Konflikt vertriebenen Syrern, von denen sich die meisten außerhalb des Landes befinden und deshalb ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Bewirtschaftung des Bodens nicht nachkommen konnten (AA 29.11.2021). In Ost-Ghouta und Douma hat die Regierung viele Grundstücke beschlagnahmt, die in erster Linie Personen gehören, die nach Nordsyrien oder in die Türkei vertrieben wurden oder die vom Militär zu anderen bewaffneten Kräften übergelaufen sind. Diese Grundstücke wurden an Familien von Militärangehörigen vergeben oder werden als militärische Quartiere genutzt (AA 29.3.2023).
Während des gesamten Konflikts gab es zudem Berichte über Luftangriffe, die direkt auf Standes- und Katasterämter abzielten. Dadurch wurden in großem Umfang Personenstands- und Eigentumsdokumente zerstört, sodass es für viele Menschen schwierig ist, ihre Eigentumsansprüche nachzuweisen. Mit dem Gesetz 10/2016 hat das Regime bestimmte Gebiete - insbesondere Gebiete außerhalb der staatlichen Kontrolle - als 'Sicherheitsrisiko' eingestuft, um damit Änderungen in den Eigentumsregistern in diesen Gebieten zu verbieten. Immobilientransaktionen von Syrerinnen und Syrern in Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung werden damit nicht anerkannt. Weiterhin wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern (AA 29.3.2023).
Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist. Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023). Im Februar 2021 veröffentlichte das Ministerium für Medien und Information ein Video des Chefs der Abteilung für die Befreiung vom Militärdienst der syrischen Armee, in dem dieser die sofortige Beschlagnahme von Vermögenswerten ohne vorherige Benachrichtigung ankündigte, sofern die Zahlung des Ersatzgeldes nicht bis spätestens drei Monate nach Vollendung des 43. Lebensjahres erfolge. Eine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, fehlt laut Human Rights Watch. Außerdem wird dadurch ein zusätzliches Rückkehrhindernis geschaffen (AA 29.11.2021).
Milizen konfiszieren in unterschiedlichem Ausmaß Privatbesitz. Das Gesetz Nr. 10 von 2018 erlaubt dem Staat, Gebiete für den Wiederaufbau zu bestimmen. Personen, welche eine Anzahl von Kriterien zum Beweis ihres Besitzes nicht erfüllen können, riskieren diesen ohne Kompensation zu verlieren (FH 9.3.2023). Die Eigentümer werden innerhalb einer einmonatigen Ankündigungsfrist verständigt und haben dann ein Jahr Zeit, ihre Eigentumsansprüche einzubringen, damit sie Anspruch auf Kompensation (auch Eigentumsansprüche auf neu errichtete Wohneinheiten auf ihren Grundstücken) erheben können. Anvisierte Bezirke oder Gebiete waren zuvor mehrheitlich in der Hand der Rebellen. De facto stellt dies auch eine Enteignung jener Flüchtlinge dar, die aus Angst vor politischer Verfolgung oder aus anderen Gründen nicht nach Syrien zurückkehren können, um ihre Ansprüche anzumelden (WKO 10.2019). Die in Dekret 10/2018 festgelegte Vorgehensweise bei der Berechnung des Entschädigungswerts bei Neubebauung kommt laut UN-Experten einer „marktbasierten Enteignung“ gleich. Die meisten Binnenvertriebenen oder Flüchtlinge haben weder ausreichend Ressourcen noch die notwendigen Urkunden, um ihren Anspruch zu registrieren (AA 29.11.2021).
Dekret 42/2018 wurde bislang nicht umgesetzt. Stattdessen findet zunehmend Dekret 23/2015 Anwendung, demzufolge Grundstücke auch in Abwesenheit der ursprünglichen Eigentümer genutzt werden können. Insbesondere informelle Viertel, die aufgrund der rapiden Urbanisierung in den 1980er und 1990er-Jahren in den meisten syrischen Städten entstanden waren, sind der Regierung ein Dorn im Auge. Eigentumsverhältnisse sind für von dort geflohene Bewohner nur schwer nachweisbar. Zahlreiche syrische Staatsangehörige scheuen zudem den Kontakt mit offiziellen staatlichen Stellen, weil sie Befragungen durch die Sicherheitsbehörden befürchten. Menschen aus ehemals belagerten Gebieten trauen sich oftmals aus Angst vor Repressionen nicht, persönlich die Ausstellung eigener Personenstandsdokumente zu beantragen. Bei Anwendung von Gesetz 10/2018 könnten daher zahlreiche Rückkehrerinnen und Rückkehrer kurz- bis mittelfristig enteignet werden. Es gibt außerdem immer wieder Berichte über Rückkehrende, die verhaftet wurden, als sie ihre Besitzansprüche gegenüber syrischen Behörden geltend machen wollten (AA 29.11.2021).
Frauen sind bezüglich Grundstückbesitzes mit gesellschaftlichen Normen konfrontiert, welche Frauen bzgl. Immobilienbesitz entmutigen, zusätzlich zu Personenstandsgesetzen, die Frauen bei Erbschaften diskriminieren (FH 9.3.2023).
In der selbsternannten Autonomieverwaltung AANES (Autonomous Administration of North and East Syria) wird die dortige angewachsene Zahl an Immobilienstreitfällen (auch durch gefälschte Dokumente) durch die Existenz zweier Rechtssysteme - dem nationalen und dem der AANES - für die Betroffenen erschwert, wobei die AANES-Gerichte mangels eigener Landregister auf die Unterlagen der Regierungsgerichte zurückgreifen müssen. Das Problem der Immobilienstreitigkeiten aufgrund gefälschter Dokumente ist mittlerweile in mehreren syrischen Provinzen verbreitet und führte zu mehreren Erlässen des syrischen Justizministeriums, um das Phänomen einzudämmen (Enab 31.1.2023).
Infrastruktur allgemein
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP 20.7.2020). Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren, und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa, Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 20.4.2020).
Die syrische Regierung bemüht sich, den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten dient eher der internen Propaganda, bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein politisches Signal zu senden, und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019). Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa, die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten IS befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzukommt die immense Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die Hafenstädte Tartus und Lattakia (AA 4.12.2020). Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche, und der Beschädigungsgrad variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen klare Spuren des Krieges auf, und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018). Vor allem im westlichen Teil des Landes ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).
Das öffentlicher Verkehrssystem in Syrien funktionierte mit Stand 2021 kaum noch: Es war für die Fahrer viel profitabler, ihre subventionierten Treibstoffrationen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Das führte zu langen Wartezeiten zu Beginn und am Ende der Arbeitstage. Dies traf auch den öffentlichen Dienst in Form zu spät kommender Angestellter und in Form von Nicht-Erscheinen an vielen Arbeitstagen von Angestellten aufgrund der hohen Transportkosten (New Lines 4.6.2021). Im Februar 2023 war z. B. in Lattakia der Preis für Diesel, der in der Landwirtschaft, im Transport und zum Heizen benötigt wird, 14-mal höher als drei Jahre zuvor (WFP 14.3.2023). Im nordwestlichen Syrien, wo außerhalb der Regierungskontrolle die türkische Lira eingeführt wurde, wächst die Schere zwischen niedrigen Einkommen und steigenden Preisen für Treibstoffe und Transport weiter (The New Arab 26.5.2023).
Wasser- und Stromversorgung
13,6 Mio. Menschen benötigen im Jahr 2023 Zugang zu Trinkwasser, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen, darunter 6 Mio. Kinder - ein Anstieg um 2,6 Prozent zum Vorjahr (AA 29.3.2023).
- Zugang zu Trinkwasser
Syriens sieben größte Trinkwasseranlagen versorgen etwa 9,5 Mio. Menschen. Die maroden Systeme verfallen aufgrund von Konflikt und fehlender Wartung zunehmend. Die Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung ist infolge gezielter Zerstörung vor allem in umkämpften Gebieten eingeschränkt. Für viele Syrerinnen und Syrer bedeutet der Kauf von Trinkwasser eine große finanzielle Belastung: Haushalte geben sieben Prozent ihres monatlichen Einkommens für Wasser aus. Anfang 2023 hatten 52 Prozent der syrischen Bevölkerung keinen Zugang zur regulären leitungsbasierten Wasserversorgung, im Vorjahr waren es 47 Prozent. 6,9 Mio. Menschen erhalten nur 2-7 Tage im Monat Leitungswasser, da u. a. nicht ausreichend Strom für die Pumpwerke vorhanden ist. Insbesondere der Süden (Gouvernements Dara‘a und Quneitra), der Norden (Gouvernements Idlib, Aleppo, al-Hassakah) sowie nahezu die gesamte in Zeltlagern lebende Bevölkerung ist nach wie vor in hohem Maße auf durch Lastwagen im Rahmen der humanitären Hilfe geliefertes Wasser angewiesen (AA 29.3.2023).
Die Krise gefährdet die Wasserversorgung von rund 5,5 Mio. Menschen, die in den an den Euphrat grenzenden Provinzen leben. Das Generaldirektorat der EU-Kommission für Zivilschutz und humanitäre Hilfsmaßnahmen (ECHO) warnte im Juli 2022 mit Verweis auf jüngste Wetterprognosen der World Meteorological Organisation (WMO) vor einer "extremen und langfristigen" Dürre in Syrien (AA 29.3.2023) [Anm.: zur Wassersituation in Relation zum Ausbruch der Cholera siehe Kapitel Medizinische Versorgung und Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Die regenarme Saison, die zu Wasserknappheit und dürftiger Ernte geführt hatte, führte bereits früher in Nordsyrien zu Spannungen. Die Wasserknappheit verschlimmert sich durch den Einsatz von Wasserversorgung als Waffe durch die Konfliktparteien, besonders durch das Regime, die Autonome Administration und die Türkei, sowie durch das Missmanagement und die Übernutzung des Grundwassers (COAR 5.7.2021). Neben dem humanitären und gesundheitlichen Aspekt der Zerstörung der Wasserinfrastruktur trägt dies auch zu einem Wassermangel bei der landwirtschaftlichen Bewässerung bei (Insecurity 19.4.2023).
Im Sommer 2021 wurde der Nordosten von einer Wasserkrise heimgesucht, wie sie zuletzt 2008 stattfand (AA 29.3.2023): In al-Hassakah hatten im Jahr 2021 eine Million Menschen seit fast zwei Jahren keinen Zugang mehr zu Wasser (MSF 27.9.2021). Diese dreifache Wasserkrise bestand aus: (1) einer Dürre aufgrund geringer Niederschläge im Winter, (2) einem überdurchschnittlich niedrigen Wasserstand am Euphrat (200m³/s statt 500m³/s Durchfluss) und (3) häufigen Unterbrechungen im Wassersystem, allen voran der Alouk-Wasserstation, die knapp 460.000 Menschen in al-Hassakah inklusive der Flüchtlingslager Roj und Al Hol versorgt (AA 29.3.2023). Neben einem Sommer mit extrem wenig Niederschlag im Jahr 2021 machten Vertreter der kurdisch geführten Verwaltung die türkische Regierung für die Verlangsamung der Wassermenge, die über den Euphrat ins Land fließt, verantwortlich (TNH 20.12.2021).
Aufgrund zerstörter Kläranlagen werden mindestens 70 Prozent des Abwassers nicht behandelt (AA 29.3.2023). Medienberichten zufolge erreicht die Verschmutzung wichtiger Gewässer ein kritisches Niveau. In vielen Gebieten ist das verschmutzte Wasser nicht mehr für den Konsum geeignet (TNH 20.12.2021) [Anm.: zum Cholera-Ausbruch seit August 2022 siehe Kapitel Medizinische Versorgung und Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
- Stromversorgung
Die Stromversorgung funktioniert u. a. aufgrund der Treibstoffknappheit, der zerstörten Energie-Infrastruktur und des niedrigen Wasserstandes an den Staudämmen in manchen Gebieten Syriens nur noch für wenige Stunden pro Tag. Insgesamt erhalten drei Viertel aller Haushalte weniger als acht Stunden Strom am Tag. In Nordostsyrien war Elektrizität im September 2021 täglich nur 5-6 Stunden verfügbar; in Nordwestsyrien täglich 7-8 Stunden (Stand 2022). Der Pro-Kopf-Konsum von staatlicher Elektrizität beträgt lediglich 15 Prozent gegenüber 2010 (AA 29.3.2023).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 31.5.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf, Zugriff 2.6.2023
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WKO - Wirtschaftskammer Österreich – Außenwirtschaftscenter Amman (11.2018): Außenwirtschaft: Update Syrien, Zugriff 1.3.2019 [Der Link ist nicht mehr zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]
Medizinische Versorgung (zu BF1)
Letzte Änderung: 12.07.2023
Der im gesamten Land ohnehin überlastete und in Teilen dysfunktionale öffentliche Gesundheitssektor ist weiterhin gemäß Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts unzureichend: 41 Prozent der öffentlichen Krankenhäuser sind nicht oder nur teilweise funktionsfähig. Große Teile der Gesundheitsinfrastruktur sind infolge militärischer Auseinandersetzungen und fehlender Instandhaltung weiterhin nicht oder nur eingeschränkt nutzbar (Stand August 2022). Notfalltransporte sind durch einen Mangel an Krankenwagen stark beeinträchtigt. Im Zeitraum 2015-2021 wurden 159 Ambulanzfahrzeuge beschädigt oder zerstört. Trotz einer Erhöhung der Zuweisungen durch die syrische Regierung im Jahr 2022 bleibt der syrische Gesundheitssektor chronisch unterfinanziert. Die Ausgaben wurden nominal um 97,1 Prozent und real um 4,2 Prozent im Vergleich zu 2021 erhöht. Das Defizit wird durch rückläufige finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland verstärkt. Überdies meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im September 2022 eine Finanzierungslücke von 69 Prozent (179 Mio. US-Dollar) (AA 29.3.2023).
Mehr als 15,3 Mio. Menschen sind derzeit auf Gesundheitshilfe angewiesen, eine Erhöhung um 3,2 Mio. im Vergleich zum Vorjahr. Der Anstieg 2023 wird unter anderem auf die sich verschlechternden sozioökonomische Lage der Gemeinden, COVID-19 und den Cholera-Ausbruch zurückgeführt. Der Zugang zu medizinischer Versorgung war schon vor der COVID-19-Pandemie stark eingeschränkt; medizinische Grund- und Notversorgung waren u. a. aufgrund von gezielten Angriffen auf das Gesundheitswesen kaum gewährleistet (AA 29.3.2023). Syrische Regierungstruppen und ihre Verbündeten waren mit Berichtszeitpunkt Juli 2021 für 90 Prozent von 600 verifizierten Angriffen auf medizinische Einrichtungen verantwortlich. Diese machten medizinische Einrichtungen sowohl für das medizinische Personal als auch für die Patienten zu tödlichen Orten und dezimierten den Gesundheitssektor im ganzen Land (PHR 7.2021). Auch werden MitarbeiterInnen von Gesundheitseinrichtungen Ziel von Verhaftungen und Folter (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung betrachtet medizinisches Personal als Staatsfeinde, wenn dieses diskriminierungsfrei medizinische Versorgung in Gebieten, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, anbietet (NMFA 5.2020), und auch sonst sind MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors spezifische Ziele wegen ihres Berufs oder ihrer tatsächlichen oder angenommenen medizinischen Versorgung von Oppositionellen: Verhaftungen betrafen so auch z. B. Gesundheitspersonal, das mit internationalen Medien über COVID-19 gesprochen hatte oder sonst dem strengkontrollierten offiziellen Narrativ über die Pandemie widersprach. Gegen diese wird Folter eingesetzt, z. B. um Informationen über Aktivitäten zur Gesundheitsversorgung oder über anderes medizinisches Personal zu erhalten oder auch um Verbrechen zu gestehen, welche die Gefolterten gar nicht begangen hatten. Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR - Syrian Network for Human Rights) sind weiterhin mindestens 3.407 Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs von Verschwindenlassen oder Haft betroffen, wobei die syrischen Regimekräfte für mehr als 3.358 Fälle verantwortlich sind (USDOS 20.3.2023). SNHR dokumentierte von 2011 bis November 2021 den von 861 MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors, PHR (Physicians for Human Rights) verzeichnete den Tod von 930 Personen aus dem medizinischen Bereich, wobei das Regime sowie die russischen Truppen für mehr als 90 % der Fälle die Verantwortung trugen (USDOS 12.4.2022). Aufgrund der Kampfhandlungen in der Provinz Idlib und der Abwanderung großer Teile des Gesundheitspersonals mussten seit Dezember 2019 mindestens 83 Gesundheitseinrichtungen schließen (Stand 2021). Zahlreiche Ärzte und Pflegekräfte wurden zudem bei Angriffen getötet: 2022 kamen bei 17 Angriffen 25 Patienten und drei Pflegekräfte ums Leben, knapp 100 wurden verletzt (AA 29.3.2023).
Gewalt macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung laut US-Außenministerium gefährlich und teuer, z. B. durch die fallweise Verweigerung des Passierens von schwangeren Frauen an Regime-Checkpoints oder durch die Bombardierung von Gesundheitseinrichtungen in Oppositionsgebieten, von denen zwei Fälle vom Jahr 2022 erwähnt werden (USDOS 20.3.2023).
Im Süden Syriens, in den Provinzen Dara’a, Quneitra und Sweida, sind fünf von sechs Krankenhäusern beschädigt und nur bedingt funktionstüchtig. Laut WHO können komplexere Operationen und spezialisierte Behandlungen für chronische Krankheiten derzeit ausschließlich in Damaskus oder den Küstenorten Tartus und Lattakia durchgeführt werden. Bei lebensrettenden Arzneimitteln, medizinischem Personal und Ausstattung sind erhebliche Engpässe ermittelt worden, insbesondere im Hinblick auf die medizinische Behandlung verletzter und chronisch kranker Personen. Dies hat auch zur Rückkehr übertragbarer Krankheiten wie Polio geführt. Aufgrund kritischer hygienischer Bedingungen sowie unzureichender vorbeugender Maßnahmen und Behandlungen mehren sich landesweit Cholera-, Diphtherie- und Leishmaniose-Fälle (AA 29.3.2023). Die verfügbaren Daten für Nicht-COVID-19-Bezogene Krankheiten zeigen, dass grippeähnliche Erkrankungen, akute Diarrhö, Leishmaniose und mutmaßlich Hepatitis in allen Altersgruppen die Hauptursachen für Sterblichkeit sind. Dies gilt insbesondere für Lager von Binnenvertriebenen, in denen die Indikatoren für den Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygienediensten durchwegs schlechter sind als außerhalb. Vertriebene sind aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, Überbevölkerung und anderen Risikofaktoren einem erhöhten Risiko von Infektionskrankheiten ausgesetzt (WHO 3.2021).
Gewalt gegen Mitarbeiter im Gesundheitsbereich und Angriffe auf medizinische Einrichtungen, verbunden mit den Folgen von COVID-19, erschweren den Zugang zu medizinischer Versorgung, auch für Personen mit konfliktbedingten Behinderungen (USDOS 12.4.2022) [Anm.: speziell zur Lage von Kindern mit Behinderungen siehe USDOS 20.3.2023]. 28 Prozent der Bevölkerung haben – mehrheitlich konfliktbedingte – Behinderungen, fast doppelt so viele wie der internationale Durchschnitt (15 Prozent). In Nordostsyrien sind es sogar 37 Prozent. Insgesamt 59 Prozent der syrischen Erwachsenen mit Behinderung sind arbeitslos und knapp 50 Prozent ohne Zugang zu medizinischer Versorgung (AA 29.3.2023). Menschen mit Behinderungen benötigen Rehabilitations- und Hilfsdienste (WHO 3.2021). 25 Prozent der Über-Zwölf-Jährigen in Syrien haben eine Beeinträchtigung und 36 Prozent der Binnenvertriebenen. Die Hälfte der Binnenvertriebenen zwischen zwölf und 23 Jahren mit Beeinträchtigung besucht die Schule im Vergleich zu 69 Prozent der Binnenvertriebenen ohne Beeinträchtigung (HNAP 7.4.2021). Frauen und Menschen mit Beeinträchtigung scheinen im Nordwesten stärker betroffen zu sein, wo mehr als die Hälfte der Frauen und mehr als 40 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung von einem Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten berichten, im Vergleich zu etwas mehr als 35 Prozent der Frauen und fast 20 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung im Nordosten (USAID 16.04.2021).
Einer Studie zufolge leiden 60 Prozent der syrischen Bevölkerung an Symptomen, die auf eine mittelschwere bis schwere psychische Störung hindeuten. Schätzungen zufolge leiden eine Million SyrerInnen an schweren psychiatrischen Störungen, wobei 2018 nur 80 Psychiater im Land tätig waren (1 pro 100.000 Einwohner) (BJPSYCH 8.2021). Syrien ist unter den Ländern mit der höchsten Traumarate weltweit. Laut Angaben der Vereinten Nationen litten im Jahr 2020 36,9 Prozent der Bevölkerung unter Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD). Die Traumata bleiben häufig unbehandelt: Eine psychosoziale Betreuung der hohen Anzahl traumatisierter Menschen wird nur punktuell und fast ausschließlich durch Maßnahmen der WHO gewährleistet. Sexualisierte Gewalt ist so weit verbreitet, dass sie laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts inzwischen 'zum traurigen Alltag' insbesondere von Frauen und Mädchen gehört (AA 29.3.2023).
Die Folgen des Erbebens vom 6.2.2023
Der Mangel an Sanitäreinrichtungen, abgefülltem Trinkwasser und Wasser zum Baden sowie das [Anm.: im Frühjahr noch] kalte Wetter in stark überbelegten Sammelunterkünften und Zelten stellen ein Risiko für durch Wasser übertragbare Krankheiten und schwere Risken im Bereich reproduktiver Gesundheit, wie Infektionen dar. Es kam bereits zu Ausbrüchen von Krätze und anderen Krankheiten. Es gibt ein hohes Risiko für einen Cholera-Ausbruch in den betroffenen Gebieten. Mit Berichtszeitpunkt 3.3.2023 war bereits ein Anstieg der Cholera-Fälle von zwölf Prozent seit dem Erdbeben zu verzeichnen, darunter beinahe 1.700 Verdachtsfälle innerhalb einer Woche. Der Mangel an Laborausrüstungen und -materialien zur Überwachung der Qualität des Trinkwassers behindert die Prävention von durch Wasser übertragbare Krankheiten. Aus Lattakia, Tartus und Hama wird ein Mangel an Waschgelegenheiten gemeldet, was das Risiko von Läusen, Krätze, ansteckenden und infektiösen Krankheiten erhöht (DEEP 10.3.2023).
Gebiete außerhalb der Regierungskontrolle
Der Gesundheitssektor litt bereits vor den Erdbeben nach zwölf Jahren Krieg unter einem schweren Mangel an Ausstattung und medizinischem Personal (Al Jazeera 6.5.2023). Die Versorgung mit Medikamenten sowie die Abdeckung mit medizinischem Personal ist laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes noch schlechter als in Regimegebieten. Während es in Damaskus, Lattakia und Tartus immerhin 38-41 Pflegekräfte und Ärzte pro 10.000 Einwohner gibt, sind es in al-Hassaka, Raqqa und Dara’a lediglich 5-6 pro 10.000 Einwohner. Durch Vertreibungen aus in den vergangenen Monaten und Jahren vom Regime belagerten Gebieten, u. a. im Südwesten des Landes, wird das ohnehin extrem angespannte Gesundheitssystem im nicht vom Regime kontrollierten Nordwesten des Landes weiter belastet (AA 29.3.2023).
Die Erdbeben [Anm.: vom 6.2.2023 sowie Nachbeben] haben die Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung in Nordwest-Syrien verschärft, weil viele Gesundheitseinrichtungen beschädigt wurden, und daher nicht mehr in Betrieb sind. Weitere 42 medizinische Einrichtungen weisen eine Beschädigung von 20 bis 50 Prozent auf. Mehrere MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs starben, während bereits zuvor eine Knappheit an ausgebildeten MitarbeiterInnen herrschte (Al Jazeera 6.5.2023).
Auch die chronische Unterernährung von Kindern unter fünf Jahren ist in Nordost-Syrien doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Die Menschen im Nordwesten leiden unter Kampfhandlungen, Vertreibung und großer Armut, von den rund 4,6 Mio. Menschen dort leben knapp 1,8 Mio. notdürftig in Zelten. Aufgrund einer Finanzierungslücke von 82 Prozent sind im kommenden Winter laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs etwa 2,5 Mio. Menschen vom Erfrieren bedroht (AA 29.3.2023).
Humanitäre Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Sicherstellung einer Basisgesundheitsversorgung der Menschen dort werden vom Regime gezielt behindert bzw. verhindert. Auch gezielte Angriffe des Regimes gegen zivile Gesundheitseinrichtungen dauern an. Zwischen 2016-2019 wurden im Nordwesten 337 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gezählt, von den 606 durch die WHO erfassten Gesundheitseinrichtungen in Nordwestsyrien sind 131 funktionsunfähig. Laut Aid Worker Security Database steht Syrien mit insgesamt 337 (Stand Oktober 2022) Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen auf Platz drei weltweit – hinter dem Südsudan und Afghanistan. Hauptursachen waren Luftangriffe, Beschuss sowie Detonationen von Kampfmitteln (IEDs). Hilfsprogramme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in von der bewaffneten Opposition (Idlib) oder der kurdischen sog. „Selbstverwaltung“ kontrollierten Gebieten werden vom Regime durch Androhung einer Einstellung aller WHO-Operationen regelmäßig verhindert (AA 29.3.2023). Physicians for Human Rights (PHR) berichtete, dass schwangere Frauen in steigendem Maß Kaiserschnitte als Geburtsmethode wählten, um die Zeit in Krankenhäusern zu verringern, die als Ziel für Angriffe bekannt sind. Im Lauf des Jahres 2022 kam es weiterhin zu Luftangriffen des Regimes und der russischen Luftwaffe auf zivile Ziele, darunter auch Krankenhäuser (USDOS 20.3.2023).
Die Gesundheitsversorgung in den oppositionellen Gebieten wird weitestgehend von Nichtregierungsorganisationen geleistet, die von Zuwendungen der internationalen Gebergemeinschaft abhängig sind (AA 29.3.2023). Die aktuelle internationale Hilfe deckt laut einer Quelle vor Ort nur 25 Prozent des aktuellen Bedarfs an Medikamenten und medizinischer Ausstattung (Al Jazeera 6.5.2023). Die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, haben laut Aussagen humanitärer HelferInnen nicht annähernd mit der UNO vergleichbare Kapazitäten für den Ankauf und Transport von Hilfsgütern in den Nordwesten, wobei Russland wiederholt gedroht hat, mit einem Veto den UN-Hilfslieferungen und den UN-Geldern via Türkei ein Ende zu machen. Millionen Menschen in Nordost- und Nordwest-Syrien sind auf Lebensmittel, Medikamente und andere lebensnotwendige Hilfe - einschließlich COVID-19-Impfstoffen - über die syrisch-türkische Grenze angewiesen. In Nordost-Syrien konnten die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, nicht kompensieren, dass die UNO im Jänner 2020 ihre Hilfslieferungen vom Irak aus nach Syrien einstellen musste (HRW 12.1.2023). PatientInnen in den nordwestlichen Oppositionsgebieten, die vor den Erdbeben Behandlungen gegen Krebs in türkischen Spitälern erhalten konnten, können nicht lokal versorgt werden - ebenso wie auch Herzpatienten mit Operationsbedarf (Al Jazeera 6.5.2023).
Der Cholera-Ausbruch seit August 2022
Der Cholera-Fall vom 22.8.2022 gilt als der erste bekannte Fall (WHO 18.10.2022). Der Ausbruch begann in der Provinz Aleppo und ist höchstwahrscheinlich auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen, das zur Bewässerung von Feldern eingesetzt wurde, aber auch als Trinkwasser dient (AA 29.3.2023). Seit August 2022 hat sich die Cholera in Syrien ausgebreitet, wobei vor allem die Küste (ÖB Damaskus 12.2022) sowie die Provinzen Aleppo, Raqqa, Deir ez-Zor und Al-Hassakah am schlimmsten betroffen sind, obgleich in allen 14 Gouvernements Cholera-Fälle verzeichnet wurden (AA 29.3.2023). 23 Prozent von 84.607 Verdachtsfällen von Cholera aus ganz Syrien betreffen das Gouvernement Aleppo (DEEP 10.3.2023). Zwischen August 2022 und Januar 2023 wurden 100 zugeschriebene Todesfälle bei einer Fallsterblichkeitsrate von 0,13 Prozent verzeichnet. Zwar hat sich die Zahl der gemeldeten Verdachtsfälle in einigen Gouvernements mittlerweile deutlich verringert, insgesamt nehmen die kumulierten Fälle aber weiter zu. Die Gesundheitsbehörden in Nordostsyrien, deren Angaben nicht vom Gesundheitsministerium in Damaskus berücksichtigt werden, meldeten bis Ende Oktober 2022 152 positive Fälle und 29 Tote. (AA 29.3.2023)
Es wurde mittlerweile mit Impfungen gegen Cholera begonnen (UN Secretary General 21.2.2023).
Laut der WHO stellen das fragile Gesundheitssystem Syriens, Zugangsbeschränkungen zu Gebieten mit bewaffneter Gewalt und die mangelhafte Wasser-, Sanitäts- und Hygienesituation (Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Erschwinglichkeit von Wasser) bei hohen Preisen für sicheres Wasser die derzeit größten Herausforderungen dar (WHO 18.10.2022). Hinzu kommen Berichte, dass die Türkei keinen geregelten Wasserfluss in den Euphrat garantiert, und daher das Problem des Wassermangels zusätzlich verstärkt, während die syrische Regierung Hilfslieferungen für das Selbstverwaltungsgebiet behindert (AP News 7.11.2022, vergleiche HRW 7.11.2022).
COVID-19
Am 22.3.2020 wurde der erste Fall einer COVID-19 infizierten Person in Syrien bestätigt (ÖB Damaskus 29.9.2020). Unbestätigte Berichte deuteten damals darauf hin, dass das Virus schon früher entdeckt worden war, dies aber vertuscht wurde (Reuters 23.3.2020). Die offiziell verlautbarten Zahlen (rund 70 000 Fälle und 3300 Tote per Anfang Juli) für die von der Regierung kontrollierten Landesteile sind sehr niedrig; detto die der Testungen; die Dunkelziffer ist sehr hoch. Es folgten weitreichende Maßnahmen (u. a. Ausgangssperren, Verkehrsbeschränkungen, Schließungen von Bildungseinrichtungen und Geschäften), die zwischenzeitig weitgehend aufgehoben wurden. Die Pandemie traf ein Land mit einem Gesundheitssystem, das durch den Konflikt schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies trifft gerade auch für die humanitären Brennpunkte mit Hunderttausenden IDPs vor allem im Nordwesten zu (ÖB Damaskus 12.2022). Die vierte Welle erreichte das Land im Sommer 2021. Die WHO stufte Syrien aufgrund nicht vorhandener Kapazitäten im Gesundheitsbereich bereits zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 als Hochrisikoland ein. Impfstofflieferungen im Rahmen von COVAX verzögerten sich zu Beginn jedoch stark und die Auslieferung in Oppositionsgebiete wurde zeitweise durch das Regime zurückgehalten. Aufgrund fehlender persönlicher Schutzausrüstung, völlig unzureichender Test-, Isolations-, Kontroll- und Versorgungskapazitäten und aktiver Vertuschung der Pandemie durch das Regime gingen Nichtregierungsorganisationen mit Stand November 2021 von über einer halben Million tatsächlicher Infektionen aus (AA 29.11.2021). Die Informationen bzgl. der COVID-19 Pandemie sind landesweit weiterhin unzulänglich; laut syrischem Gesundheitsministerium gab es bis Ende Oktober 2022 57.354 Ansteckungen, 3.163 Menschen sind infolge einer Erkrankung verstorben. Bis Ende Juli 2022 erhielten 13,9 % der Syrerinnen und Syrer eine COVID-19-Impfung, 9,5 % sind doppelt geimpft (AA 29.3.2023).
Die Regierung erhielt mit Stand März 2021 geschätzte 120.000 Test-Sets und andere Ausrüstung von unterschiedlichen Ländern und soll diese an private Labore verkauft haben, statt sie im öffentlichen Gesundheitssystem zu verteilen. Es gibt auch Anschuldigungen, dass die Regierung Lieferungen, die für oppositionelle Gebiete bestimmt waren, für ähnliche Zwecke beschlagnahmt hat, bzw. sich bemüht, Hilfsgüter in die eigenen Gebiete zu lenken. Auch verweigerte die Regierung verschiedene kooperative Maßnahmen mit dem Selbstverwaltungsgebiet, was die dortigen Anti-Covid-Maßnahmen untergrub (COAR 10.3.2021) [Anm.: bzgl. Umgang mit Hilfsgütern siehe auch Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
Im Jahr 2020 berichteten die unterbesetzten medizinischen Fachkräfte, dass sie ihre Aufgaben unter der Aufsicht der mächtigen Sicherheitsdienste erfüllen mussten, welche die staatlichen Gesundheitseinrichtungen überwachen. Dies soll abschreckend auf Patienten wirken, die bereits zögern, sich in einem Land behandeln zu lassen, in dem die Angst vor dem Staatsapparat groß ist und jede kritische Diskussion über den Umgang mit der Pandemie als Bedrohung für eine Regierung angesehen werden könnte, die entschlossen ist, eine Botschaft der Kontrolle zu vermitteln (Al Jazeera 5.10.2020). Menschenrechtsaktivisten zufolge verhaftete das Regime MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs, die mit internationalen Medien über die COVID-19-Krise sprachen oder dem streng kontrollierten Narrativ über die Auswirkungen der Pandemie auf das Land widersprachen (USDOS 20.3.2023).
Gewalt durch MitarbeiterInnen medizinischer Berufe sowie Korruptionsberichte besonders bzgl. der Weltgesundheitsorganisation in Syrien
Im Jänner 2022 begann in Deutschland ein Gerichtsverfahren gegen den syrischen Arzt Alaa Mousa, der eines Mordes und der Folter in 18 Fällen in Militärhospitälern in Homs und Damaskus angeklagt ist. Folterungen finden Berichten zufolge in mehreren Militärkrankenhäusern statt (USDOS 20.3.2023).
Im Oktober 2022 wurden Berichte über Korruption, Betrug und Übergriffen im Syrien-Büro der WHO bekannt. So soll die Leiterin Akjemal Magtymova laut der Associated Press Hilfsgelder in Millionenhöhe veruntreut und Regierungsvertreter mit kostspieligen Geschenken beeinflusst haben. Des Weiteren beschuldigen WHO-Mitarbeiter ihre Chefin, inkompetente Verwandte von teils fragwürdigen Staatsfunktionären angestellt und während der COVID-19-Pandemie dringend benötigte Gelder, die für humanitäre Hilfeleistungen vorgesehen waren, anderweitig ausgegeben zu haben. Dadurch konnte und kann die WHO laut eigenen Mitarbeitern in Syrien das Gesundheitssystem, welches beinahe gänzlich auf internationale Hilfeleistungen angewiesen ist, nicht adäquat unterstützen, vor allem da das letztjährige Budget nur ca. 115 Millionen US-Dollar betrug. Eine interne Untersuchung der WHO der berichteten Missstände war damals bereits seit mehreren Monaten am Laufen (AP News 20.10.2022, vergleiche TG 20.10.2022). Zusätzlich zu den Fällen bei der WHO sollen die Ehefrau und ein Bruder des syrischen Außenministers Faisal Mekdad sowie Angehörige anderen Spitzen des syrischen Staatsapparats ebenfalls im Lauf der Zeit in den Genuss von Anstellungen bei UN-Organisationen in Syrien gekommen sein (FDD 15.3.2023).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 19.5.2023
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Al Jazeera (5.10.2020): In COVID-hit Syria, people 'prefer to die than come to hospital', https://www.aljazeera.com/features/2020/10/5/covid-19-syria-hospital, Zugriff 19.5.2023
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AP News - Associated Press News (Cheng, Maria) (20.10.222): WHO Syria boss accused of corruption, fraud, abuse, AP finds, https://apnews.com/article/WHO-syria-bce4ad6714a8b9e29b15c4db39f66720, Zugriff 19.5.2023
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6. Gegen die jeweiligen Spruchpunkte römisch eins dieser Bescheide des BFA vom jeweils 04.01.2024 erhoben die BF mit gemeinsamem Schriftsatz vom 31.01.2024 fristgerecht die gegenständlichen Beschwerden wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Darin wurde das bisherige Vorbringen der BF dahingehend ergänzt, dass der BF1 bereits römisch 40 seinen Wehrdienst geleistet habe, jedoch 1981 als Reservist einberufen worden sei und wegen seines damaligen Wohnsitzes in Saudi-Arabien den Reservedienst nie angetreten habe. Bis 2014 hätten die BF in römisch 40 in Gouvernement Damaskus gelebt, der BF1 sei im November 2013 während der Arbeit auf seinem Feld von der Al Nusra entführt und für 60 Tage eingesperrt worden und danach nur gegen Zahlung von Lösegeld wieder freigekommen. Wegen dieses Vorfalls wäre auch der syrische Geheimdienst auf ihn aufmerksam geworden und hätte der BF1 bei einer Checkpointkontrolle erfahren, dass er deswegen von jenem gesucht würde. 2014 sei der Bauernhof der BF bei einem Luftangriff (Battle of römisch 40 ) zerstört und der Ort vom Regime zurückerobert worden, weshalb die beiden nach römisch 40 geflohen seien, wo sie vier Jahre lang versteckt bei Verwandten gelebt hätten. Wegen ihrer Abstammung aus oppositionellem Gebiet würde den BF vom Regime eine oppositionelle Gesinnung unterstellt. Als sie erfahren hätten, dass es in römisch 40 Durchsuchungen durch das Regime gäbe, hätten sie Syrien 2019 endgültig verlassen.
Ebenso werde den BF aufgrund der illegalen Ausreise und der Asylantragstellung im Ausland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit vom syrischen Regime eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt. Darüber hinaus hätten sie wehrpflichtige Söhne, welche ebenfalls aus Syrien geflohen seien, und befürchteten die BF deswegen eine Reflexverfolgung.
Diesem erstatteten Vorbringen stehe das in Paragraph 20, BFA-VG normierte Neuerungsverbot nicht entgegen und sei auch nicht rechtsmissbräuchlich gestellt worden, weil die BF vollkommen rechtsunkundig und im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme nicht mit der im Rahmen der amtswegigen Ermittlungspflicht erforderlichen Genauigkeit zu den Vorverfolgungshandlungen und zu dem Wehrdienststatus des in Österreich befindlichen „Bruders“ (wohl gemeint: Sohnes) befragt worden seien. Darüber hinaus wären die BF bei der niederschriftlichen Einvernahme sehr nervös gewesen und die BF seien gesundheitlich in keinem guten Zustand, DiabetikerInnen und auf Dauermedikation sowie engmaschige medizinische Kontrollen angewiesen. Der BF1 habe zusätzlich eine Nierenerkrankung, benötige dreimal wöchentlich eine Hämodialyse, sei auch auf eine behindertengerechte Unterbringung angewiesen und nur mit Gehstock bzw. Rollstuhl mobil.
Die in den angefochtenen Bescheiden angeführten Länderfeststellungen seien unvollständig und teilweise falsch ausgewertet. Die BF brachten in der Beschwerde – jeweils auszugsweise – folgende Berichte ein:
Zum Thema Stellen eines Asylantrages in Österreich: UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen; 6. aktualisierte Fassung, March 2021 https://www.ecoi.net/en/file/local/2060156/opendocpdf.pdf; AI Amnesty International : “You’re going to your death”; Violations against Syrian refugees returning to Syria [MDE 24/4583/2021], September 2021 https://www.ecoi.net/en/file/local/2059754/MDE2445832021ENGLISH.pdf; Canada: Immigration and Refugee Board of Canada, Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and p eople who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion (2014 - December 2015), 19 January 2016, SYR105361.E, available at: https://www.refworld.org/docid/56d7fc034.html; ACCORD Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Syrien: Folgen einer Flucht oder (illegalen) Ausreise [a 10691], 24. August 2018 https://www.ecoi.net/de/dokument/1442941.html
Zur drohenden Reflexverfolgung aufgrund der Familienangehörigeneigenschaft von Wehrdienstverweigerern wurde auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation SYRIEN, Version 9, vom 17.07.2023 sowie auf EUAA European Union Agency for Asylum (ehemals: European Asylum Support Office, EASO): Syria Situation of returnees from abroad, Juni 2021 https://www.ecoi.net/en/file/local/2053723/2021_06_EASO_Syria_Situation_returnees_from_abroad.pdf und EUAA European Union Agency for Asylum: Syria: Military Service, April 2021 https://www.ecoi.net/en/file/local/2048969/2021_04_EASO_COI_Report_Military_Service.pdf; weiters erneut auf die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. Aktualisierte Fassung, März 2021, Sitzung 11, verwiesen und ausgeführt, aus letzteren ergebe sich insbesondere nicht, dass sich diese Einschätzung ausschließlich auf Familien von high-profile Personen beziehe.
Zur Situation von Frauen in Syrien wurde vorgebracht, dass auch Frauen auf der genannten Liste der Menschen mit besonderen Risikoprofilen von UNHCR zu finden seien. In einer Gesellschaft durchzogen von patriarchalen Einstellungen seien Frauen und Mädchen oft sehr benachteiligt, insbesondere angesichts von Beeinträchtigungen in Gemeindenetzwerken, Sicherheitsnetzen und Rechtsstaatlichkeit. Seit dem Beginn der Krise stünden humanitäre Aktoren im laufenden Wettlauf mit der Zeit gegen anhaltende Berichte, die zeigten, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein großes Sicherheitsrisiko sowohl in Syrien als auch in der ganzen Region bleibe, wozu Auszüge aus when_caged_birds_sing_-_dec_2018.pdf (unfpa.org) zitiert wurden.
Der Beschwerde angeschlossen wurden medizinische Befunde den BF1 betreffend.
7. Die Beschwerdevorlagen langten jeweils am 12.02.2024 beim BVwG ein.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
1.1.1. Die BF führen die im Spruch genannten Namen und Geburtsdaten. Ihre Identitäten stehen fest. Die BF sind syrische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Araber an und bekennen sich zum islamischen Glauben. Die Erstsprache der BF ist Arabisch.
1.1.2. Die BF sind in Damaskus geboren. Beide besuchten neun Jahre die Schule, der BF1 war zuletzt Händler.
1.1.3. Die BF sind Ehegatten und Eltern zweier volljähriger Söhne (geboren römisch 40 und römisch 40 ) und zweier volljähriger Töchter (geboren römisch 40 und römisch 40 ). Die jüngere Tochter und der ältere Sohn sind anerkannte Flüchtlinge in Schweden, der jüngere Sohn hat Asylstatus in Österreich. Die ältere Tochter lebt in Jordanien.
1.1.4. Die BF sind Diabetiker, der BF1 leidet an einer dialysepflichtigen, terminalen Niereninsuffizienz.
1.1.5. Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Sie verfügen in Österreich über den Status als subsidiär Schutzberechtigte.
1.2. Zu den Ausreisegründen der Beschwerdeführer:
1.2.1. Die Herkunftsregion der BF, Damaskus bzw. das Gouvernement Rif Dimashq (einschließlich der in der Beschwerde genannten Orte), steht unter der Kontrolle des syrischen Regimes.
1.2.2. Die BF verließen Syrien im September 2019 legal mit im Passamt von Damaskus ausgestellten Reisepässen, hielten sich in weiterer Folge in Schweden auf und reisten im Jänner 2023 illegal in Österreich ein, wo sie am 16.01.2023 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.
1.2.3. Die BF waren in Syrien nie einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Sie verließen Syrien wegen des vorherrschenden Bürgerkriegs und der damit verbundenen allgemeinen schlechten Sicherheits- und Versorgungslage, wegen der fehlenden bzw. erschwerten medizinischen Versorgungsmöglichkeiten und wegen des Wunsches, den Lebensabend bei ihren in Europa lebenden Kindern verbringen zu können.
1.2.4. Der BF1 ist nicht wegen einer Entführung seiner Person durch die Al Nusra im Jahr 2013 und der Freilassung nach einer Lösegeldzahlung ins Blickfeld des syrischen Geheimdienstes geraten. Der BF1 ist auch nicht von Verfolgung bedroht, weil er im Jahr 1981 wegen eines Auslandsaufenthaltes einer Einberufung zum Reservedienst nicht nachgekommen wäre.
1.2.5. Die beiden Söhne der BF sind in Österreich bzw. Schweden asylberechtigt, der im Bundesgebiet aufhältige Sohn befindet sich nach wie vor im wehrdienstfähigen Alter. Den BF droht keine Reflexverfolgung als Familienangehörige von Wehrdienstverweigerern.
1.2.6. Die BF wären in Syrien wegen einer Herkunft aus (ehemals) oppositionellem Gebiet, der (behaupteten) illegalen Ausreise und/oder wegen ihrer Asylantragstellung keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität ausgesetzt. Sie sind auch nicht aus sonstigen Gründen bedroht, von der syrischen Regierung oder einer sonstigen Konfliktpartei als oppositionelle Gegner angesehen zu werden.
1.2.7. Es handelt sich bei der römisch 40 -jährigen BF2 nicht um eine de-facto alleinstehende Frau.
1.2.8. Es fand zu keinem Zeitpunkt eine individuell gegen die Person der BF gerichtete Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung in ihrem Herkunftsstaat statt.
1.2.9. Den BF droht in Syrien nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund ihrer ethnischen, religiösen, staatsbürgerlichen Zugehörigkeit oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Gesinnung.
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die vorliegenden Verwaltungsakten der belangten Behörde sowie die Gerichtsakten des BVwG sämtliche Verfahren die BF betreffend unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der BF, der von ihnen vorgelegten Beweismittel, der bekämpften Bescheide und des (gemeinsamen) Beschwerdeschriftsatzes.
2.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
2.1.1. Die Identität (Name, Staatsangehörigkeit, Geburtsdatum) der BF kann aufgrund ihrer einheitlichen Angaben im Verfahren in Verbindung mit deren im Original vorgelegten syrischen ID-Karten festgestellt werden.
Die Feststellungen zu Volksgruppenzugehörigkeit, Religionsbekenntnis und den Sprachkenntnissen der BF ergeben sich aus ihren unbedenklichen Angaben. Ferner konnten die Einvernahmen der BF unter Beiziehung eines Dolmetschs für die arabische Sprache durchgeführt werden.
2.1.2. Die Feststellungen zum Geburtsort der BF gründen auf ihren glaubwürdigen, übereinstimmenden und nachvollziehbaren Angaben vergleiche ad BF1 AS 1, AS 17; ad BF2 AS 3, AS 7). Die Feststellung zur Schulbildung der BF1 und BF2 und beruflichen Tätigkeit des BF1 basieren auf ihren glaubwürdigen Ausführungen vergleiche ad BF1 AS 19; ad BF2 AS 9). Das Gericht sah keinen Anhaltspunkt an den diesbezüglichen Angaben der BF zu zweifeln. Festzuhalten ist, dass beide BF zunächst noch erklärt hatten, zuletzt in Damaskus gelebt zu haben bzw. aus Rif Damaskus zu kommen – dessen Hauptstadt Damaskus ist vergleiche ad BF1 AS 21, NS v. 04.01.2024 Sitzung 3; ad BF2 AS 13) und lediglich im Beschwerdeschriftsatz auf Sitzung 2f fluchtgrundbezogen vorgebracht wurde, sie stammten aus der – ebenfalls im Gouvernement Rif Dimashq gelegenen Stadt – römisch 40 und seien 2014 nach dem „Battle of römisch 40 “ und der Rückeroberung durch das Regime nach römisch 40 – im römisch 40 Distrikt, auch zu Rif Dimashq gehörig – geflohen, wo sie sich bis zur Ausreise vier Jahre lang versteckt gehalten hätten.
2.1.3. Die Feststellungen zum Familienstand, den Familienangehörigen der BF und deren Aufenthaltsorten basieren auf den aktuellen glaubwürdigen und übereinstimmenden Angaben der BF vergleiche ad BF1 AS 9ff, AS 113ff; ad BF2 AS 11ff, AS 109ff).
2.1.4. Der Gesundheitszustand bzw. die Vorerkrankungen der BF konnten aufgrund ihrer durchgehend einheitlichen und glaubwürdigen Angaben in Zusammenschau mit den im Verfahren vorgelegten medizinischen Unterlagen festgestellt werden.
2.1.5. Die Unbescholtenheit der BF in Österreich geht aus den von Amts wegen eingeholten Strafregisterauszügen hervor. Dass den BF in Österreich jeweils der Status als subsidiär Schutzberechtigte/r zukommt, war den jeweils im Akt aufliegenden Bescheiden des BFA zu entnehmen.
2.2. Zu den Ausreisegründen der Beschwerdeführer:
2.2.1. Die Feststellung zur aktuellen Kontrolle über das Herkunftsgebiet der BF ergibt sich aus der vorgenommenen Nachschau unter syria.liveuamap.com.
2.2.2. Die Feststellungen zur Ausreise der BF und ihrem Aufenthalt in Schweden gründen auf ihren durchgehend einheitlichen und lebensnahen Angaben, der Aufenthalt in Schweden wird überdies dadurch belegt, dass sich dieser Staat im Rahmen der beiden durchgeführten
Dublin-Verfahren jeweils zur Übernahme bereit erklärte. Es ist darauf hinzuweisen, dass beide BF ausdrücklich vorbrachten, legal mit vom Passamt in Damaskus ausgestellten Reisepässen ausgereist zu sein (ad BF1 AS 23 bis 25; ad BF2 AS 15) und erstmals in der Beschwerdeschrift vage in den Raum gestellt wurde, sie wären (auch) wegen ihrer illegalen Ausreise bedroht Sitzung 4f, Sitzung 21; vergleiche unten Punkt 2.2.3.4.)
2.2.3.1. Die Feststellung, dass die BF Syrien aufgrund des Krieges und der allgemein schlechten Sicherheits- und – insbesondere medizinischen – Versorgunglage sowie wegen ihrer im Ausland befindlichen Kinder verlassen haben, basiert auf ihren eigenen glaubwürdigen Vorbringen. Beide BF führten, befragt zu ihren Fluchtgründen, lebensnah aus, in Syrien herrsche Krieg, sie selbst seien zu alt und ihre Kinder in Europa anerkannte Flüchtlinge. Sie wollten bei ihren Kindern bleiben, wollten nicht alleine sein bzw. hätten vor der Einsamkeit Angst (ad BF1 AS 27; ad BF2 AS 17). Der BF1 erklärte eingangs vor dem BFA, er müsse dreimal in der Woche eine Nierenwäsche machen, sei zuckerkrank und warte schon ungeduldig auf seinen Bescheid, weil er eine neue Niere brauche und auf einen Termin warte. Zu seinem Fluchtgrund brachte er dann vor, Syrien sei komplett zerstört, „Wir“ hätten die Häuser verloren. Sie kämen aus Rif Damaskus, er sei krank geworden und habe die notwendige medizinische Versorgung nicht bekommen. Nachgefragt, ob er noch weitere Gründe geltend machen wolle, erwiderte der BF1 ausdrücklich, es gehe nur um den Krieg, die medizinische Versorgung und die Medikamente und ergänzte, er fühle sich wohl hier, es sei ein sicheres Land. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, dort keine Medikamente zu erhalten und die Operation nicht zu bekommen (ad BF1 NS v. 04.01.2024, Sitzung 2f). Dies deckt sich mit den Angaben der BF2, die zu ihrem Fluchtgrund auch nur angab, sie seien wegen des Krieges und der fehlenden Sicherheit in Syrien von dort ausgereist und ihr Haus sei bombardiert worden. Auch gehe es um den Gesundheitszustand ihres Ehegatten (BF1). Weitere Gründe wolle sie nicht geltend machen. Zu ihrer Rückkehrbefürchtung gefragt, erklärte sie dann zwar zunächst vage, sie hätte Angst vor dem syrischen Regime sowie vor den Checkpoints und betonte dann wieder, sie fürchte um den BF1, der dort keine medizinische Betreuung erhalte. Nachgefragt, warum sie Angst vor dem syrischen Regime und den Checkpoints hätte, brachte die BF2 jedoch lediglich vor, weil sie sich nicht frei bewegen könne. Eine persönliche Bedrohung behauptete sie folglich auch damit nicht ansatzweise (ad BF2 NS v. 04.01.2024, Sitzung 2f).
Abgesehen von den eben genannten Ausreise- bzw. Asylgründen erwähnten die BF im erstinstanzlichen Verfahren keine einzige persönliche Verfolgung oder Bedrohung und lässt sich eine solche auch sonst der Akten- und Berichtslage nicht entnehmen.
2.2.3.2. Das erstmals in der Beschwerde erstattete Vorbringen, dass der BF1 wegen einer Entführung durch die Al Nusra im Jahr 2013 und der anschließenden Freilassung infolge einer Lösegeldzahlung ins Visier des syrischen Geheimdienstes geraten wäre (wie er bei einer Checkpointkontrolle erfahren hätte), steht somit im Widerspruch zum bisherigen Vorbringen. Der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass dies auch für das neue Beschwerdevorbringen gilt, wonach der BF1 1981 (!) als Reservist einberufen worden sei und wegen seines damaligen Wohnsitzes in Saudi-Arabien den Reservedienst nie angetreten habe. Jedoch ist hier insbesondere festzuhalten, dass eine diesbezügliche Bedrohung oder gar Verfolgungshandlungen wegen der mehrere Jahrzehnte zurückliegenden angeblichen Wehrdienstentziehung selbst in der Beschwerde nicht einmal behauptet wurde und der BF1, selbst wenn er eine Zeit lang tatsächlich in Saudi-Arabien aufhältig wäre, später noch in Syrien lebte, ohne dass er diesbezügliche Probleme im Verfahren auch nur andeutete.
Beide erstmals in der Beschwerde erstatteten weiteren Vorbringen verstoßen somit gegen das Neuerungsverbot des Paragraph 20, BFA-VG (dazu noch näher unter Punkt 3.) und waren daher im gegenständlichen Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen bzw. der nachfolgenden rechtlichen Beurteilung der Beschwerdesache nicht zugrunde zu legen.
Es ist nicht glaubwürdig, dass dem BF1 die Relevanz einer Verfolgung durch den syrischen Geheimdienst wegen der Al Nusra bzw. auch allenfalls wegen einer Entziehung vom Reservedienst für das Asylverfahren im erstinstanzlichen Verfahren nicht bewusst und er deshalb nicht in der Lage gewesen wäre, diese Fluchtgründe vorzubringen, wie in der Beschwerde behauptet. Selbst jemand, der vollkommen rechtsunkundig ist, weiß, warum er in der Heimat verfolgt wird bzw. welche Vorkommnisse zur Beurteilung der zukünftigen Verfolgungsgefahr relevant sind, zumal der BF1 laut Beschwerdevorbringen eben anlässlich einer Checkpointkontrolle in Syrien selbst davon erfahren haben soll, dass der Geheimdienst auf ihn aufmerksam geworden wäre und er deshalb gesucht würde. Zudem hatten die BF ihren eigenen Angaben zufolge bereits ein Asylverfahren in Schweden durchlaufen und auch im Bundesgebiet wegen des abgehaltenen Dublinverfahrens zwischen Antragstellung und Einvernahme ein Jahr Zeit, um sich kundig zu machen, über ein allfälliges (weiteres) Gefährdungspotenzial nachzudenken und über ihre Fluchtgründe zu reflektieren. Daran ändert auch eine – verständliche, aber wohl die Meisten treffende – Nervosität während der Einvernahme nichts. Insofern die Beschwerde auf den Gesundheitszustand der BF verweist, ist zu betonen, dass die BF auf Nachfrage hin vor dem BFA keinerlei psychische oder Konzentrationsprobleme vorbrachten und der BF1 die Frage, ob er sich physisch oder psychisch in der Lage sehe, die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten, sogar ausdrücklich bejaht hatte (NS v. 04.01.2024, Sitzung 2). Daher ist davon auszugehen, dass der BF1 angesichts der Nichtgewährung von Asyl auf der Grundlage seines im erstinstanzlichen Verfahren erstatteten Vorbringens bestrebt war, nunmehr in der Beschwerde sein bisheriges Vorbringen durch Neuerungen auszubauen, um doch noch die Gewährung von Asyl zu erlangen, weshalb in diesem Sinne die vorliegende Vorgangsweise des BF1 mit „Missbrauchsabsicht“ behaftet ist.
2.2.3.3. Dies gilt auch für die erstmalig in der Beschwerde relevierte drohende Reflexverfolgung der BF als Familienangehörige von Wehrdienstverweigerern – konkret ihrer beiden im Ausland asylberechtigten Söhne – welche von keinem der beiden BF zuvor auch nur ansatzweise erwähnt wurde. Sowohl der BF1 als auch die BF2 gaben, befragt zu ihren Fluchtgründen, in der Erstbefragung zwar an, in Syrien herrsche Krieg, sie selbst seien zu alt und ihre Kinder in Europa anerkannte Flüchtlinge. Sie wollten bei ihren Kindern bleiben, wollten nicht alleine sein bzw. hätten vor der Einsamkeit Angst (ad BF1 AS 27; ad BF2 AS 17). Eine damit zusammenhängende Bedrohung behaupteten sie dabei und auch in weiterer Folge vor der Behörde jedoch nicht, obwohl der BF1 seinen Sohn dort auch identifizierte. Hinsichtlich des in der Beschwerde relevierten Umstandes, dass die Söhne keinen Wehrdienst geleistet hätten, ist – unabhängig von der Richtigkeit und Relevanz des Vorbringens – davon auszugehen, dass die BF jedenfalls während des erstinstanzlichen Verfahrens diesbezüglich bereits in Kenntnis gewesen sind. Somit verstößt auch dieses Vorbringen gegen das Neuerungsverbot des Paragraph 20, BFA-VG (dazu noch näher unter Punkt 3.) und war daher im gegenständlichen Beschwerdeverfahren ebenso nicht zu berücksichtigen bzw. der nachfolgenden rechtlichen Beurteilung der Beschwerdesache nicht zugrunde zu legen. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass den BF nicht bewusst gewesen ist, ob ihnen aufgrund einer Wehrdienstverweigerung ihrer Söhne Repressalien drohen würden.
Ein allfälliges Vorbringen zu einer drohenden Reflexverfolgung wegen der Wehrdienstverweigerung der Söhne hätte sohin jedenfalls bereits im erstinstanzlichen Verfahren erstattet werden können. Da – wie bereits erwähnt – die Einvernahme vor dem BFA auch rund ein Jahr nach der Antragstellung erfolgte, stand den BF auch in diesem Zusammenhang ausreichend Zeit zur Verfügung, über ein allfälliges (weiteres) Gefährdungspotenzial nachzudenken. Daher ist hier ebenso, wie schon unter Punkt 2.2.3.2., von „Missbrauchsabsicht“ der BF auszugehen.
Im Gegensatz zu der Behauptung in der Beschwerde war den BF auch vor dem BFA durchaus die Möglichkeit geboten worden, ausführlich über ihre Fluchtgeschichte zu sprechen. Dass die Befragungen sehr kurz verliefen, lag eben an den nicht vorhandenen Fluchtgründen und nicht der fehlenden im Rahmen der amtswegigen Ermittlungspflicht erforderlichen Genauigkeit der Behörde.
2.2.3.4. Die – auch in der Beschwerde wiederholt zitierten und somit den BF durchaus bekannten – Länderinformationen der Staatendokumentation SYRIEN, Version 9, vom 17.07.2023 führen zum Thema Rückkehr auszugsweise Folgendes aus:
„[…] Ergänzende Informationen zur Behandlung bei und nach der Rückkehr
Letzte Änderung: 12.07.2023
Am 10.5.2023 erklärten die Außenminister von Russland, Türkei, Iran und Syrien, dass erst die nötige Infrastruktur für eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien geschaffen werden müsse (SNHR 6.2023). Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang von UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB Damaskus 29.9.2020).
Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude Anmerkung, über die Rückkehr) der RückkehrerInnen (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von RückkehrerInnen (TN 10.12.2018; vergleiche TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vergleiche TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat sind immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021). BürgerInnen in von der Regierung rückeroberten Gebieten wie auch Rückehrende gehören zu den verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. RückkehrerInnen und Binnenvertriebene sind am ehesten von gesellschaftlichem Ausschluss und einem Mangel an Zugang zu öffentlichen Leistungen in der näheren Zukunft ausgesetzt (BS 23.3.2022). Enteignungen dienen der Schaffung von Hürden für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene und der Belohnung von regimeloyalen Personen mit einer daraus resultierenden demografischen Änderung in ehemaligen Hochburgen der Opposition (USDOS 15.5.2023).
Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023). Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z. B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Die Definition des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, ist nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020). So folgten z. B. Abschiebungen aus dem Libanon im April 2023 von mindestens 130 Menschen - darunter auch unbegleitete Minderjährige - Berichte, wonach es zu Verhaftungen [Anm.: die Zahlen variieren je nach Quelle - z.B. mindestens vier dokumentierte Verhaftungen] und zwangsweisem Einzug zum Wehrdienst [Anm.: keine Zahlenangaben, nur Beispiele] kam (Reuters 1.5.2023).
Generell ist es schwer, in Erfahrung zu bringen, was der Status einer Person bezüglich der syrischen Regierung ist. Für Menschen mit Geld und guten Beziehungen zu den Behörden oder einflussreichen Personen besteht die Möglichkeit, nachzuforschen, ob ihre Namen auf Suchlisten stehen. Allerdings kann die Suche nach diesen Informationen diese auch exponieren - bzw. die Personen, welche für sie nach Informationen suchen. Es gibt keine Garantie, dass sie dabei nicht mit Schwierigkeiten konfrontiert sein werden, darunter das Risiko einer Verhaftung (DIS 9.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse. Laut dieser Berichte haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert. Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen. (AA 29.3.2023).
Neben der allgemein instabilen Sicherheitslage bleibt die mangelnde persönliche Sicherheit in Verbindung mit der Angst vor staatlicher Repression das wichtigste Hindernis für die Rückkehr (AA 19.5.2020; vergleiche SACD 21.7.2020, ICG 13.2.2020). Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 29.3.2023).
Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte beinahe 2.000 Verhaftungen von RückkehrerInnen nach Syrien von 2014 bis 2019. Ein Drittel von ihnen wurde 'verschwunden gelassen' (BS 23.3.2022). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden Berichten von 2019 zufolge nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein 'Versöhnungsabkommen' mit der Regierung unterzeichnet hatten. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vergleiche EIP 7.2019). Amnesty International legte in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vor, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des 'Terrorismus', weil sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 RückkehrerInnen, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen. Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was laut Amnesty International darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).
Eine gemeinsame Studie von Zivilgesellschaftsorganisationen im Frühjahr 2022 (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens dokumentiert schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 29.3.2023).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 16.6.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf, Zugriff 16.6.2023
AI - Amnesty International (9.2021): 'You're going to your death - Violations against Syrian Refugees returning to Syria', https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-09/Amnesty-Bericht-Syrien-Folter-Inhaftierungen-Rueckkehrende-Abschiebung-Geheimdienst-September-2021.pdf, Zugriff 16.6.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023
COAR/HRW/HBS et. al. - Human Rights Watch / Heinrich Böll Stiftung (19.4.2021): Denmark: Flawed Country of Origin Reports Lead to Flawed Refugee Policies, Joint Statement, https://www.ecoi.net/de/dokument/2050054.html, Zugriff 16.6.2023
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DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (9.2019): Syria - Access to Damascus Province for Individuals from Former Rebel-held Areas, https://www.ecoi.net/en/file/local/2017468/COI_report_Syria_Access+to+Damascus+Province_sept_2019.pdf, Zugriff 16.6.2023
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FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 16.6.2023
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Reuters (1.5.2023): Syrian refugees deported from Lebanon face arrest, conscription, say relatives https://www.reuters.com/world/middle-east/syrian-refugees-deported-lebanon-face-arrest-conscription-say-relatives-2023-05-01/, Zugriff 16.6.2023
SACD - Syrian Association for Citizen´s Dignity (21.7.2020): We are Syria, https://syacd.org/wp-content/uploads/2020/07/SACD_WE_ARE_SYRIA_EN.pdf, Zugriff 16.6.2023
SD - Syria Direct (16.1.2019): In first ‘organized’ refugee returns from Jordan, dozens of Syrians head back to Damascus suburb, https://syriadirect.org/in-first-organized-refugee-returns-from-jordan-dozens-of-syrians-head-back-to-damascus-suburb/, Zugriff 16.6.2023
SNHR – Syrian Network for Human Rights (Autor) veröffentlicht von ReliefWeb (6.2023): Most Notable Human Rights Violations in Syria in May 2023,
https://reliefweb.int/attachments/265433ba-2bab-4bbf-a939-73b6d214142d/M230603ER.pdf, Zugriff 16.6.2023
TN - The National (10.12.2018): Uncertainty over fate of Syrian refugees who return home, https://www.thenational.ae/world/mena/uncertainty-over-fate-of-syrian-refugees-who-return-home-1.801269, Zugriff 16.6.2023
TWP - The Washington Post (2.6.2019): Assad urged Syrian refugees to come home. Many are being welcomed with arrest and interrogation, https://www.washingtonpost.com/world/assad-urged-syrian-refugees-to-come-home-many-are-being-welcomed-with-arrest-and-interrogation/2019/06/02/54bd696a-7bea-11e9-b1f3-b233fe5811ef_story.html?utm_term=.e0a2c27a072f, Zugriff 16.6.2023
USDOS – US Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091896.html, Zugriff 16.6.2023
[…]”
Weder den Länderinformationen noch den im Beschwerdeschriftsatz auszugsweise wiedergegebenen UNHCR-Richtlinien und den überdies z.T. wesentlich älteren in der Beschwerde zitierten Berichten ist zu entnehmen, dass Personen, sofern sie nicht politisch exponiert sind, allein aufgrund ihrer Asylantragsstellung im Ausland oder Abstammung aus einem als oppositionell angesehenen Gebiet Verfolgung durch die syrische Regierung zu befürchten hätten. Die BF entsprechen keinem Risikoprofil – bspw. Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Mediziner, die im von der Regierung besetzten Oppositionsgebiet gearbeitet haben – das vermehrt oder mit höherer Wahrscheinlichkeit Repressalien seitens der Regierung ausgesetzt ist. Rückkehrern wird von der Regierung und Teilen der Bevölkerung zwar mit Misstrauen und Ablehnung begegnet, tatsächliche Repressalien richten sich aber insbesondere gegen jene, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind. Es lässt sich den Länderinformationen nicht entnehmen, dass Rückkehrer per se als politisch oppositionell angesehen würden oder der weitaus überwiegende Teil aller Rückkehrer systematischen Repressionen ausgesetzt wäre.
Wie unter den Punkten 2.2.3.2. und 2.2.3.3. ausgeführt, können die Beschwerdevorbringen, der BF1 würde wegen seiner Entführung durch die Al Nusra im Jahr 2013 vom syrischen Geheimdienst gesucht und die BF wären von Reflexverfolgung wegen ihrer Söhne bedroht und könnte ihnen deshalb eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden, der Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden.
Der Vollständigkeit wird darauf hingewiesen, dass beide BF ausdrücklich angegeben hatten, die Heimat legal mit in Damaskus ausgestellten syrischen Reisepässen verlassen zu haben
(ad BF1 AS 23 bis 25; ad BF2 AS 15) und erstmals in der Beschwerde floskelhaft und – in Bezug auf die BF unsubstantiiert – behauptet wurde, ihnen würde auch wegen ihrer illegalen Ausreise mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine oppositionelle politische Gesinnung vom syrischen Regime unterstellt. Dem Vorbringen im Beschwerdeschriftsatz, die Behörde hätte sich mit diesem Umstand – der Gefährdung wegen der angeblichen illegalen Ausreise – näher befassen müssen, ist wegen der konträren Angaben der BF im erstinstanzlichen Verfahren nicht zu folgen und ist somit auch diese Neuerung rechtsmissbräuchlich.
2.2.3.5. Die erstmalig in der Beschwerde relevierte drohende Verfolgungsgefahr aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der BF2 um eine Frau handelt, wurde weder in der Erstbefragung noch in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA auch nur ansatzweise erwähnt. Das erstmals in der Beschwerde erstattete Vorbringen verstößt somit wie die bisher angeführten gegen das Neuerungsverbot des Paragraph 20, BFA-VG und war daher im gegenständlichen Beschwerdeverfahren auch nicht zu berücksichtigen bzw. der nachfolgenden rechtlichen Beurteilung der Beschwerdesache nicht zugrunde zu legen.
Es ist auch nicht glaubwürdig, dass der BF2 die daraus in Syrien allenfalls resultierenden Benachteiligungen nicht bewusst gewesen sind. Es wäre ihr sohin möglich gewesen, ein allfälliges diesbezügliches Vorbringen bereits im erstinstanzlichen Verfahren zu erstatten, zumal ihr auch hier – wie bereits mehrfach erwähnt – ein Jahr Zeit zur Verfügung gestanden hat, über ein allfälliges (weiteres) Gefährdungspotenzial in diesem Zusammenhang nachzudenken und ist auch hier davon auszugehen, dass die Neuerung mit „Missbrauchsabsicht“ behaftet ist, zumal die Beschwerde auch nur auf die Lage von Frauen im Allgemeinen referierte, jedoch keinen persönlichen Konnex zur BF2 herstellte.
An dieser Stelle ist im Übrigen der Vollständigkeit halber festzuhalten, dass es sich bei der
römisch 40 -jährigen BF2 nicht um eine de-facto alleinstehende Frau handelt. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass sie gemeinsam mit ihrem Ehegatten (BF1) in einem Familienverfahren geführt wird. Mangels Zuerkennung des Status des Asylberechtigten für den BF1 ist sohin von einer hypothetischen Rückkehr des BF1 nach Syrien auszugehen. Die BF2 würde diesfalls nicht alleine, sondern mit ihrem Ehegatten gemeinsam nach Syrien zurückkehren, wäre sohin nicht schutzlos und handelt es sich daher nicht um eine alleinstehende Frau.
2.2.3.6. Auch sonst sind keine konkreten Anhaltspunkte hervorgekommen, die darauf hindeuten würden, dass die BF im Fall einer Rückkehr aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihren politischen Ansichten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter konkret bedroht wären. Die BF relevierten zu keinem Zeitpunkt, dass sie aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit oder ihres Religionsbekenntnisses verfolgt worden wären. Zusammenfassend kann im gegenständlichen Fall festgehalten werden, dass es den BF nicht gelungen ist, einen Sachverhalt glaubhaft zu machen, aufgrund dessen ihnen eine konkrete, individuelle Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK drohen würde.
Es wird keineswegs verkannt, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen im Allgemeinen massive Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung haben, jedoch wurde diesem Umstand durch die Gewährung von subsidiärem Schutz bereits Rechnung getragen und haben sich im Falle der BF keine gefahrenerhöhenden Momente ergeben. Eine aktuelle Gefährdung durch die syrische Regierung von hinreichender Intensität aufgrund unterstellter politischer Gesinnung und somit aus asylrelevanten Merkmalen kann im gegenständlichen Fall nicht festgestellt werden.
2.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Die zur Lage im Herkunftsstaat vom BFA getroffenen Feststellungen und das zugrunde liegende und auch im Beschwerdeschriftsatz zitierte Länderinformationsblatt basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen und stellen angesichts des bereits Ausgeführten im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens der BF dar. Die verwendeten Länderberichte weisen für die gegenständliche Entscheidung ausreichende Aktualität auf und stimmen in den für die gegenständliche Entscheidung relevanten Passagen inhaltlich mit (allenfalls) neuesten Berichten im Wesentlichen überein. Ein substantiiertes Beschwerdevorbringen, das geeignet ist, die ausreichende Aktualität für die gegenständliche Entscheidung in Zweifel zu ziehen, wurde im Verfahren nicht erstattet.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch Einzelrichter:
Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer eins, des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz; BFA-VG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 87 aus 2012, idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß Paragraph 6, des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz; BVwGG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 10 aus 2013, idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gegenständlich liegt somit mangels anderslautender gesetzlicher Anordnung in den anzuwendenden Gesetzen Einzelrichterzuständigkeit vor.
3.2. Anzuwendendes Verfahrensrecht:
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz; VwGVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 22 aus 2013, idgF, geregelt
(Paragraph eins, leg.cit.). Gemäß Paragraph 59, Absatz 2, VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), Bundesgesetzblatt Nr. 51 aus 1991, idgF, mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO),
BGBl. Nr. 194/1961 idgF, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), Bundesgesetzblatt Nr. 173 aus 1950, idgF, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), Bundesgesetzblatt Nr. 29 aus 1984, idgF, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Paragraph eins, BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
Gemäß Paragraphen 16, Absatz 6,, 18 Absatz 7, BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren die Paragraphen 13, Absatz 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.
Gemäß Paragraph 28, Absatz eins, VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß Absatz 2, leg.cit. hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß
Art. 130 Absatz eins, Ziffer eins, B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Ziffer eins,) oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Ziffer 2,).
Gemäß Absatz 5, leg.cit. sind die Behörden verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichts entsprechenden Rechtszustand herzustellen, wenn das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid aufhebt.
3.3. Zur Abweisung der Beschwerden:
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Dazu ist vorweg festzuhalten, dass auf Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 die bisherige höchstgerichtliche Judikatur zu den Kriterien für die Asylgewährung nach Paragraph 7, AsylG 1997 in Anbetracht der identen Festlegung, dass als Maßstab die Feststellung einer Verfolgung iSd
Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2, GFK gilt, grundsätzlich anzuwenden ist.
Nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge,
BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge,
BGBl. Nr. 78/1974, ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 2, AsylG 2005 kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23, leg. cit.) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
Anträge auf internationalen Schutz sind gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offensteht (Ziffer eins,) oder er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG 2005) gesetzt hat (Ziffer 2,).
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist die „begründete Furcht vor Verfolgung“. Die begründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn objektiverweise eine Person in der individuellen Situation des Asylwerbers Grund hat, eine Verfolgung zu fürchten. Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr. Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen muss. Weiters muss sie sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen. Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen stellen im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr dar, wobei hiefür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche VwGH 28.03.1995,
Zl. 95/19/0041; 27.06.1995, Zl. 94/20/0836; 23.07.1999, Zl. 99/20/0208; 21.09.2000,
Zl. 99/20/0373; 26.02.2002, Zl. 99/20/0509 mwN; 12.09.2002, Zl. 99/20/0505; 17.09.2003,
Zl. 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann
(VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256 mwN). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008,
Zl. 2006/01/0191). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht – unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.03.2000,
Zl. 99/01/0256) –, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat vergleiche VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law2 [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, Zl. 99/20/0509 mwN; 20.09.2004, Zl. 2001/20/0430; 17.10.2006, Zl. 2006/20/0120; 13.11.2008, Zl. 2006/01/0191). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, Zl. 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen
(vgl. VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256; VwGH 13.11.2008, Zl. 2006/01/0191).
Die Voraussetzung "wohlbegründeter Furcht" wird in der Regel nur dann erfüllt sein, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht vergleiche VwGH 30.08.2007, Zl. 2006/19/0400;
VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/19/0459).
Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen von Seiten der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus vergleiche VwGH 11.06.1997,
Zl. 95/01/0627). Im Asylverfahren stellt das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber vergleiche VwGH 04.11.1992, Zl. 92/01/0560). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es Aufgabe des Asylwerbers, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen (VwGH 25.03.1999, Zl. 98/20/0559).
3.4. Subsumiert man den vom BVwG festgestellten Sachverhalt den relevanten und im Lichte der zitierten Judikatur auszulegenden Rechtsvorschriften, ergibt sich, dass den BF der Status der Asylberechtigten nicht zuzuerkennen ist. Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt, droht den BF keine Gefahr vom syrischen Regime oder einer anderen Gruppierung in ihrem Herkunftsstaat verfolgt zu werden.
3.4.1. Der Bürgerkriegszustand betrifft nicht speziell die BF, sondern die gesamte syrische Bevölkerung in gleicher Weise und ist daher nicht asylrelevant. Auch aus der allgemeinen Lage in Syrien lässt sich konkret für die BF kein Status als Asylberechtigte ableiten. Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation kann nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht als hinreichender Grund für eine Asylgewährung herangezogen werden vergleiche etwa VwGH 14.03.1995, Zl. 94/20/0798 sowie VwGH 17.06.1993, Zl. 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen vergleiche z.B. VwGH 09.05.1996, Zl. 95/20/0161;
VwGH 30.04.1997, Zl. 95/01/0529, sowie VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0614). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen wäre.
3.4.2. Den BF droht – wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt – in ihrem Herkunftsstaat keine maßgebliche Gefahr, seitens der syrischen Behörden aufgrund ihrer Ausreise, Asylantragstellung oder einer Herkunft aus (ehemals) oppositionellem Gebiet mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.
Auch sonst haben sich im Verfahren keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Verfolgung der BF aus asylrelevanten Gründen durch das syrische Regime oder durch andere Gruppierungen maßgeblich wahrscheinlich scheinen ließen. Die allgemeine Lage in Syrien ist nicht dergestalt, dass bereits jedem, der sich dort aufhält, der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müsste.
Auch wenn die BF ein oder mehrere Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien erfüllen würden, führt dies nicht per se zu einer asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung. Vielmehr erfordern die UNHCR-Richtlinien eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass zu keinem Zeitpunkt eine konkrete auf die BF bezogene Verfolgung aus einem Konventionsgrund festgestellt werden konnte.
3.4.3. Insoweit die Befürchtung vorgebracht wurde, im Fall einer Rückkehr nach Syrien nicht die erforderliche medizinische Verfolgung zu bekommen, was für beide BF eine lebensbedrohliche Lage darstellen würde, ist festzuhalten, dass dies keine asylrelevante Verfolgungshandlung darstellt.
Der VwGH hält dazu in ständiger Rechtsprechung fest, dass kein Fremder im Allgemeinen ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland (einer Abschiebung oder Überstellung) nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaats gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Artikel 3, MRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (VwGH 10.12.2015, Ra 2014/20/0047, GRS wie
Ra 2015/18/0042 B 29.06.2015 RS 2, Hinweis E vom 28.04.2010, 2008/19/0139, mwN).
Somit könnte hier allenfalls eine Verletzung des Artikel 3, EMRK vorliegen und wurde der Verhütung einer solchen bereits durch die Gewährung des Status der subsidiär Schutzberechtigten bereits Rechnung getragen.
3.5. Zur Nicht-Anwendbarkeit des Paragraph 20, Absatz 2, AsylG 2005:
Gemäß Paragraph 20, Absatz eins, AsylG 2005 ist der Asylwerber, wenn er seine Furcht vor Verfolgung
(Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung gründet, von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
Gemäß Paragraph 20, Absatz 2, AsylG 2005 gilt Absatz eins, leg.cit. für Verfahren vor dem BVwG nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Absatz eins, leg.cit. ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen. Die Zuständigkeit wird bereits durch die entsprechende Behauptung vor dem BFA oder in der Beschwerde begründet, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit zu erfolgen hätte oder bereits ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen herzustellen wäre vergleiche etwa VfGH 09.10.2018, E 1297/2018 ua.;
VwGH 26.05.2020, Ra 2020/20/0031).
Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH (VwGH 13.02.2020, Ro 2019/01/0007, mwN) ist die Verhandlungsführung gemäß Paragraph 20, Absatz 2, AsylG 2005 durchzuführen, wenn die Flucht aus dem Heimatstaat nicht mit bereits stattgefundenen, sondern mit Furcht vor sexuellen Übergriffen begründet wurde vergleiche VfGH 12.03.2013, U 1674/12 sowie VwGH 27.06.2016, Ra 2014/18/0161, mwN).
Die BF2 brachte in der Beschwerde erstmals allgemein gehalten und ohne jeglichen persönlichen Bezug vor, dass sich in humanitären Krisen die Risiken der geschlechtsbezogenen Gewalt gegen Frauen und Mädchen oft um ein Vielfaches steigerten, Frauen insbesondere angesichts von Beeinträchtigungen in Gemeindenetzwerken, Sicherheitsnetzen und Rechtsstaatlichkeit oft sehr benachteiligt seien und geschlechtsspezifische Gewalt ein großes Sicherheitsrisiko sowohl in Syrien als auch in der ganzen Region bleibe bzw. sexuelle Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt werde, was Frauen überproportional betreffe.
Soweit Paragraph 20, Absatz 2, AsylG 2005 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung abstellt, hat bereits der VfGH klargestellt, dass eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde geltend macht, gleich bei Beschwerdeanfall und nicht erst dann, wenn sich nach dessen Prüfung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als notwendig erweist, einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zur Behandlung zuzuweisen ist, sofern der Asylwerber nicht anderes verlangt. Andernfalls würde nämlich der ursprünglich zuständige Richter eine inhaltliche Entscheidung treffen, die nach der – verfassungsrechtlich zutreffenden – Festlegung des Gesetzgebers nur das entsprechend der Behauptung des Asylwerbers betreffend einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung von Anfang an richtig zusammengesetzte Organ des BVwG treffen darf. Die Zuständigkeit wird also bereits durch die entsprechende Behauptung vor dem BFA oder in der Beschwerde begründet, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit zu erfolgen hätte oder bereits ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen herzustellen wäre
(vgl. VwGH 09.05.2022, Ra 2021/01/0184 GRS wie Ro 2019/01/0007 E 13.02.2020 RS 3; VfGH 09.10.2018, E 1297/2018 ua).
Der VfGH hielt jedoch ebenfalls fest, dass ein Vorbringen eine verpflichtende Verhandlungsführung nach Paragraph 20, Absatz 2, AsylG 2005 nur dann auslöst, wenn die Befürchtung des sexuellen Missbrauchs nicht bloß abstrakt und ohne jegliche Konkretisierung vorgebracht wird, sondern eine gewisse Konkretisierung aufweist vergleiche VfGH 02.12.2020, E 1414/2020, E 451/2023). Ein dementsprechendes Vorbringen muss näher konkretisiert sein, bspw. vergleiche VfGH 02.12.2020, E 1414/2020) die Schilderung konkreter Belästigungen und darauf aufbauenden Befürchtungen hinsichtlich künftigen sexuellen Missbrauchs (VfSlg. 20.260/2018; VfGH 26.02.2019, E 2425-2430/2018), womit einerseits erfolgte und andererseits drohende (VfSlg. 20.260/2018 und VfGH 18.09.2015, E 1003/2014) Eingriffe in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung im Sinne des Paragraph 20, Absatz 2, AsylG 2005 behauptet wurden.
Im gegenständlichen Fall weist das Vorbringen der BF2 nicht das erforderliche Maß an Konkretisierung auf. Es beschränkt sich auf die Zitierung von Länderberichten bzw. Judikatur, unterlässt es jedoch einen Konnex zwischen dem Vorbringen und der BF2 herzustellen bzw. zu konkretisieren, inwiefern ihr persönlich Verfolgung drohen würde. Die Befürchtung des sexuellen Missbrauchs wurde sohin bloß abstrakt und ohne jegliche Konkretisierung vorgebracht.
3.6. Zum Neuerungsverbot:
Gemäß Paragraph 20, Absatz eins, BFA-VG dürfen neue Tatsachen und Beweismittel in einer Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesamtes nur vorgebracht werden, wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung des Bundesamtes maßgeblich geändert hat (Ziffer eins,); wenn das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war (Ziffer 2,); wenn diese dem Fremden bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes nicht zugänglich waren (Ziffer 3,) oder wenn der Fremde nicht in der Lage war, diese vorzubringen (Ziffer 4,).
In der verfahrensgegenständlichen Beschwerde wird insbesondere ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren moniert, welches den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit belasten würde, weshalb vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel nicht unter das Neuerungsverbot fallen würden.
Die amtswegigen Ermittlungspflichten im Asylverfahren sind im Paragraph 18, Absatz eins, AsylG 2005 geregelt, der inhaltlich nahezu wortgleich der Vorgängerbestimmung des Paragraph 28, AsylG 1997 entspricht.
Der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu Paragraph 28, AsylG 1997 folgend stellt diese Gesetzesstelle eine Konkretisierung der aus Paragraph 37, AVG in Verbindung mit Paragraph 39, Absatz 2, AVG hervorgehende Verpflichtung der Verwaltungsbehörden dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen, begründet aber keine über den Rahmen der angeführten Vorschriften hinausgehende Ermittlungspflicht vergleiche VwGH 08.04.2003, Zl. 2002/01/0522).
Grundsätzlich obliegt es dem Asylwerber, alles Zweckdienliche, insbesondere seine wahre Bedrohungssituation in dem seiner Auffassung nach auf ihn zutreffenden Herkunftsstaat, für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung vorzubringen vergleiche VwGH 31.05.2001, Zl. 2001/20/0041; VwGH 23.07.1999, Zl. 98/20/0464).
Nur im Fall hinreichend deutlicher Hinweise im Vorbringen eines Asylwerbers auf einen Sachverhalt, der für die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention in Frage kommt, hat die Behörde gemäß Paragraph 28, AsylG 1997 in geeigneter Weise auf eine Konkretisierung der Angaben des Asylwerbers zu dringen. Aus dieser Gesetzesstelle kann aber keine Verpflichtung der Behörde abgeleitet werden, Asylgründe, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat, zu ermitteln vergleiche VwGH 14.12.2000, Zl. 2000/20/0494; VwGH 06.10.1999, Zl. 98/01/0311; VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0222).
Die Ermittlungspflicht der Behörde geht auch nicht soweit, den Asylwerber zu erfolgversprechenden Argumenten und Vorbringen anzuleiten vergleiche VwGH vom 21.09.2000, Zl. 98/20/0361; VwGH 04.05.2000, Zl. 99/20/0599).
Im konkreten Beschwerdefall liegen nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür vor, dass das gegenständliche Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war (Paragraph 20, Absatz eins, Ziffer 2, BFA-VG). So hatten die BF insbesondere die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren alles umfassend vorzubringen.
Wenn in der Beschwerde ausgeführt wird, dass die belangte Behörde in den angefochtenen Bescheiden unvollständige Länderberichte angeführt und diese teilweise falsch ausgewertet habe und sich mit dem Vorbringen der BF nur unzureichend auseinandergesetzt und somit ihre Ermittlungspflicht nicht voll wahrgenommen hätte, ist dem zu entgegnen, dass die BF im Zuge ihrer Einvernahmen zu keinem Zeitpunkt vorbrachten, eine Verfolgung aufgrund der Familienangehörigkeit zu Wehrdienstverweigerern oder aufgrund einer Entführung durch die Al Nusra im Jahr 2013 und/oder einer Entziehung vom Reservedienst im Jahr 1981 (ad BF1) oder Repressionen als Frau (ad BF2) zu befürchten. Ein diesbezügliches Vorbringen wurde erstmals im Beschwerdeschriftsatz erstattet.
Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH muss das Vorbringen des Asylwerbers, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen vergleiche VwGH 19.04.2023, Ra 2022/14/0056 GRS wie Ro 2019/01/0009 B 02.09.2019 RS 2; VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314, mwN). Dem Vorbringen des Asylwerbers kommt zentrale Bedeutung zu. Das geht auch aus Paragraph 18, Absatz eins, AsylG 2005 deutlich hervor, wonach das BFA und das BVwG in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken haben, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Diese Pflicht bedeutet aber nicht, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen vergleiche VwGH 16.06.2020, Ra 2020/19/0064 GRS wie Ra 2018/14/0143 B 15.10.2018 RS 2; VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314, mwN).
Der Einschränkungstatbestand des Neuerungsverbotes, dass sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung des Bundesamtes maßgeblich geändert hat (Paragraph 20, Absatz eins, Ziffer eins, BFA-VG), kommt im gegenständlichen Fall selbstredend von vornherein nicht in Betracht.
Es ist auch nicht erkennbar, dass den BF bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes die neuen Tatsachen und Beweismittel nicht zugänglich waren (Paragraph 20, Absatz eins, Ziffer 3, BFA-VG) oder die BF im vorliegenden Fall nicht in der Lage gewesen wären, das erstmalig in der Beschwerde relevierte Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren zu erstatten (Paragraph 20, Absatz eins, Ziffer 4, BFA-VG), wobei auch keine plausible bzw. substantielle diesbezügliche Behauptung vorgebracht wurde. Die Begründung, dass den nicht rechtskundigen BF nicht klar gewesen wäre, worauf es genau bei der Prüfung eines Asylantrages ankomme und welche Vorkommnisse zur Beurteilung der zukünftigen Verfolgungsgefahr relevant seien, ist – wie beweiswürdigend ausgeführt – nicht plausibel und reicht jedenfalls für eine Einschränkung des Neuerungsverbotes ebenso wenig aus, wie eine Nervosität bei der Einvernahme oder die rein körperlichen Erkrankungen der BF. Hinsichtlich der angeführten Wehrdienstverweigerung der Söhne ist ebenfalls von einer diesbezüglichen Kenntnis auszugehen, wobei im Übrigen auch keine im erstinstanzlichen Verfahren vorliegende Unkenntnis behauptet wurde.
Das erstmalig im Beschwerdeschriftsatz erstattete Vorbringen war, wie bereits ausgeführt, im Hinblick auf das Neuerungsverbot gemäß Paragraph 20, BFA-VG nicht zu berücksichtigen, wobei insbesondere weder das Verfahren vor dem Bundesamt mangelhaft war noch die BF nicht in der Lage gewesen wären, dieses Vorbringen bereits im erstinstanzlichen Verfahren zu erstatten.
Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, geht das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen davon aus, dass das gesamte erstmalig in der Beschwerde erstattete Vorbringen in „Missbrauchsabsicht“ erfolgte und daher unbeachtlich ist und der rechtlichen Beurteilung nicht zugrunde gelegt werden konnte.
Die Zuerkennung des Status des/der Asylberechtigten kommt somit gegenständlich nicht in Betracht. Die Beschwerden war daher abzuweisen.
3.7. Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:
Im gegenständlichen Fall ist die belangte Behörde ihrer Ermittlungspflicht durch Einvernahme der BF nachgekommen und ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren vorangegangen. Auch wurde den Feststellungen im angefochtenen Bescheid nichts Substantiiertes entgegengehalten und hat auch ein hg. Abgleich nicht ergeben, dass sich die Situation entscheidungswesentlich verändert hätte.
Die Ergebnisse des behördlichen Ermittlungsverfahrens konnten insgesamt nicht erschüttert bzw. substantiiert bekämpft werden, weshalb von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden konnte.
Der Antrag auf Abhaltung einer mündlichen Verhandlung reicht aber bei sonstigem Vorliegen der Voraussetzung des Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG, wonach eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht, nicht aus, um eine Verhandlungspflicht zu begründen vergleiche VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018).
Dem Antrag auf Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung war daher im konkreten Fall nicht zu entsprechen.
Zu B)
Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich stets auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, des Verfassungsgerichtshofes und des EGMR/EuGH stützen; diesbezügliche Zitate finden sich in der rechtlichen Beurteilung. Sofern die oben angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes zu (zum Teil) alten Rechtslagen erging, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Im konkreten Fall ging das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab und ist diese auch nicht uneinheitlich. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
ECLI:AT:BVWG:2024:W152.2286307.1.00