Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

28.05.2024

Geschäftszahl

I403 2290378-1

Spruch


I403 2290378-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Birgit ERTL als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. SYRIEN, vertreten durch: Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD römisch 40 vom 03.03.2024, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.05.2024 zu Recht:

A)

römisch eins. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins., mit dem der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde, wird gemäß Paragraph 3, AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

römisch II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 stattgegeben und römisch 40 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien zuerkannt. Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 wird römisch 40 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

römisch III. Der Beschwerde wird hinsichtlich der sonstigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides stattgegeben und diese werden ersatzlos behoben.


B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein volljähriger syrischer Staatsbürger, stellte am 17.11.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er von seinem Grundwehrdienst bei der syrischen Armee im Jahr 2011 desertiert sei und dann bis zu seiner Ausreise in die Türkei im Jahr 2022 in seinem Heimatort gelebt habe, in dem das syrische Regime keinen Zugriff auf ihn gehabt habe. Dennoch gab er an, bei einer Rückkehr zu befürchten, von den syrischen Behörden inhaftiert oder zum Kriegsdienst gezwungen zu werden.

Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 03.03.2024 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Syrien abgewiesen (Spruchpunkt römisch II.). Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wurde ihm gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.), und es wurde gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß Paragraph 46, FPG nach Syrien zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt römisch VI.). Die belangte Behörde ging im angefochtenen Bescheid davon aus, dass der Beschwerdeführer seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee abgeleistet habe und nicht desertiert sei, zudem würden im kurdisch kontrollierten Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers keine Rekrutierungen durch die syrische Armee vorgenommen. Zum subsidiären Schutz wurde ausgeführt: „Die Provinz Al Hasaka gilt als zumutbar sicher und ist gefahrenlos zu erreichen. Es besteht die Möglichkeit, bei der Einreise einen Grenzübergang von der Türkei nach Syrien ohne Wirkungsbereich der syrischen Streitkräfte oder Behördenorgane in Ihr Heimatgebiet (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien) zu verwenden.“

Mit fristgerecht eingebrachter Beschwerde vom 05.04.2024 wurden sämtliche Spruchpunkte bekämpft und vorgebracht, dass der Beschwerdeführer einerseits als Deserteur vom syrischen Regime gesucht werde und ihm im Falle seiner Rückkehr nach Syrien eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde und andererseits eine Rückkehr nach Syrien eine Verletzung seiner nach Artikel 2,, 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, da er in eine existenzielle Notlage geraten würde und die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens nicht befriedigen könnte.

Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 16.04.2024 vorgelegt. Am 15.05.2024 fand eine mündliche Verhandlung an der Außenstelle Innsbruck statt. Der Rechtsvertretung, welche sich für die mündliche Verhandlung entschuldigt hatte, wurde eine Frist von 7 Tagen für die Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme gewährt; eine solche langte nicht ein.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist ein volljähriger syrischer Staatsbürger, welcher der arabischen Volksgruppe und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft angehört. Er wurde in römisch 40 im Gouvernement Deir ez Zour geboren, lebte dann aber gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen vier Kindern im nur einen Kilometer entfernten Nachbardorf römisch 40 , das zum Gouvernement al-Hasaka gehört.

In römisch 40 leben neben seiner Frau und seinen Kindern auch noch seine Eltern und Geschwister. Ihnen geht es geht. Die Familie ist in der Landwirtschaft tätig und verfügt über umfassenden Grundbesitz, so arbeitet etwa der Bruder des Beschwerdeführers als Viehhändler. Auch der Beschwerdeführer führte vor seiner Ausreise einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb und hielt Schafe.

Seine Herkunftsregion steht unter kurdischer Kontrolle und gehört zum Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES).

Der Beschwerdeführer leistete während der Jahre 2010/2011 seinen Militärdienst für die syrische Armee. Nach Ableistung des Grundwehrdienstes von eineinhalb Jahren wurde der Beschwerdeführer direkt zum Reservedienst eingezogen; im Rahmen eines Urlaubs verließ der Beschwerdeführer 2011 den Militärdienst, ohne entsprechend entlassen worden zu sein, und kehrte in sein Heimatdorf zurück. Dort lebte er unbehelligt bis zu seiner Ausreise im Jahr 2022. Die syrische Regierung bzw. die syrischen Militärbehörden konnten und können in seiner Heimatregion nicht auf ihn zugreifen.

In Gebieten, die unter Kontrolle der syrischen Regierung stehen, muss der Beschwerdeführer eine Verfolgung wegen der Desertion befürchten. Sein Heimatort ist für den Beschwerdeführer allerdings über den Irak erreichbar, ohne dass er in Berührung mit dem syrischen Regime kommt.

Der Beschwerdeführer leidet an einer vergrößerten Schilddrüse und wurde deswegen am 22.04.2024 operiert. Seither hat er keine Beschwerden mehr; ein weiterer Eingriff ist für den 04.06.2024 geplant.

Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur Lage in Al Hasaka

Das Gouvernement Hasaka liegt im Nordosten Syriens und grenzt im Norden an die Türkei, im Osten an Irak und im Westen bzw. Südwesten an die Gouvernements Raqqa und Deir Ez-Zor. Das Gouvernement ist in vier Bezirke unterteilt: Hasaka, Ras al Ain, Qamischli und al-Malikiya. Im Mai 2022 schätzte UNOCHA die Bevölkerung des Gouvernements Hasaka auf 1.206.229 Einwohner. Das Gouvernement Hasaka hat eine ethnische kurdische Mehrheit. Gebiete nördlich der Stadt Hasaka werden entweder als kurdische oder gemischte Gebiete beschrieben, während das südliche Gouvernement Hasaka als hauptsächlich von Arabern bevölkert gilt. Das Tal Tamr-Gebiet hat eine christliche Bevölkerung und die Dörfer werden von Assyrern und Armeniern bewohnt. Das Gouvernement ist auch die Heimat der Jesiden.

Nach dem Rückzug der syrischen Streitkräfte aus großen Teilen Nordostsyriens im Jahr 2012 gelang es den kurdischen Streitkräften, den Nordosten Syriens zu übernehmen und die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens zu gründen und eigene Institutionen und Sicherheitskräfte aufzubauen. Seit 2014 sind die PYD und ihr bewaffneter Flügel, die YPG, zur wichtigsten politischen und militärischen Kraft vor Ort in der von den USA geführten Koalitionskampagne gegen den IS in Syrien geworden. Im Oktober 2019 startete die Türkei die „Operation Friedensquelle“, um die SDF/YPG von der syrischen Seite der Grenze zu vertreiben und eine „sichere Zone“ für die Umsiedlung syrischer Flüchtlinge einzurichten. Während des Referenzzeitraums stand der größte Teil von Hasaka unter der Kontrolle der kurdischen Streitkräfte (SDF/YPG), die von US-geführten Koalitionstruppen unterstützt wurden.

Die Streitkräfte der Regierung kontrollierten mehrere Sicherheitsenklaven in und um die Städte Hasaka und Qamischli, in denen sich auch Standorte iranischer und russischer Streitkräfte befanden. Darüber hinaus erhielten die Streitkräfte der Regierung von der SDF die Erlaubnis, zwischen den von der Regierung gehaltenen und von den Kurden kontrollierten Gebieten zu passieren. Als Reaktion auf Türkeis Warnungen vor einem möglichen neuen Militäreinsatz gegen kurdische Streitkräfte in Grenzgebieten verstärkten die Streitkräfte der Regierung Mitte 2022 ihre Präsenz im nördlichen Grenzgebiet von Hasaka. Russische Truppen waren mit den Streitkräften der Regierung entlang der syrisch-türkischen Grenze und den Frontlinien zwischen den Kurden kontrollierten und von der Türkei gehaltenen Gebieten präsent. Unterdessen kontrollierte die Türkei einen Teil des nördlichen Hasaka, der zu einem Gebiet gehörte, das grob durch Ras al-Ain im Osten, Tall Abyad (Raqqa) im Westen, die syrisch-türkische Grenze im Norden und die Autobahn M4 im Süden begrenzt wurde. Dieses Gebiet wurde als „Operation Peace Spring“-Gebiet bezeichnet. Die SNA war in diesem Bereich tätig. Berichten zufolge war ISIL zunehmend in der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) präsent.

Die Sicherheitslage im Gouvernement Hasaka wird als „unbeständig“ beschrieben, wobei weiterhin Berichte über Sicherheitsvorfälle in der Nähe von SNA-kontrollierten Gebieten oder der syrisch-türkischen Grenze, einschließlich rund um Tal Tamr, vorliegen. Die Frontgebiete von Hasaka gehörten nach wie vor zu den am stärksten vom Konflikt betroffenen Gebieten in Syrien. Seit türkische Streitkräfte im Herbst 2019 die Kontrolle über Ras al-Ain von den SDF übernommen haben, kam es in der Region Ras al-Ayn häufig zu gegenseitigen Bombenangriffen zwischen türkischen Streitkräften/SNA und den SDF. Es gab auch eine Reihe von Berichten über mutmaßliche türkische Drohnenangriffe auf SDF-Personal sowie mehrere Fälle von Drohnenangriffen, schwerem Beschuss und Schüssen durch türkische Streitkräfte, die zivile Opfer forderten. Im November 2022 startete die Türkei die Operation Claw-Sword und führte eine Reihe von Luft-, Drohnen- und Artillerieangriffen gegen SDF- und Regierungs-Militärstandorte im Gouvernement durch. Der türkische Geheimdienst startete außerdem Anfang Januar 2023 eine Sicherheitsoperation, die zur Ermordung zweier Funktionäre der mit der PKK verbündeten Marxistisch-Leninistischen Türkischen Kommunistischen Partei (TKP-ML) in ihren Häusern nördlich der Stadt Hasaka führte.

Im Gebiet der Operation Peace Spring selbst kam es im Bezugszeitraum zu einer Reihe von Sicherheitsvorfällen, darunter mehrere von türkischen Streitkräften erschossene Zivilisten, Angriffe auf Angehörige der türkischen Streitkräfte/SNA, Machtkämpfe zwischen bewaffneten Fraktionen und IED-Angriffe, die sich hauptsächlich in Wohngebieten ereigneten Bereiche und Märkte. Nach einem PKK-Angriff in Ankara (Türkiye) am 1. Oktober 2023 führte die Türkei eine Drohnenangriffskampagne durch, die mehr als 150 Orte in den Gouvernements Hasaka, Raqqa und Aleppo traf und zu mehreren Todesopfern führte. Die meisten Angriffe konzentrierten sich auf die Grenzgebiete im nördlichen Gouvernement Hasaka sowie auf die Stadt Hasaka, Qamishli und Tal Tamer. Die Angriffe richteten sich auch gegen Wasser- und Energieinfrastruktur sowie Ölanlagen im Gouvernement Hasaka. Berichten zufolge kam es im September 2023 in Stadtteilen der Stadt Hasaka zu Machtkämpfen zwischen den Streitkräften der Regierung und den Nationalen Verteidigungskräften (NDF), die zu mehreren Opfern unter der Zivilbevölkerung, Schäden an der Infrastruktur und vorübergehenden Vertreibungen führten.

Berichten zufolge haben ISIL-Angriffe in der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 deutlich zugenommen und ereigneten sich auch im Jahr 2023. Die Vorfälle in Hasaka richteten sich gegen Mitglieder der kurdischen Kräfte für innere Sicherheit (Asayish) und der SDF sowie Zivilisten im Gouvernement. Unterdessen führten die SDF Sicherheitsoperationen gegen den IS in ländlichen Gebieten im Süden und Südosten des Gouvernements sowie in der Stadt Hasaka durch, teilweise mit Unterstützung der von den USA geführten Koalition. Die Sicherheitslage im Al-Hol-Lager, in dem mutmaßliche ISIL-Familienmitglieder untergebracht sind, wurde als „unbeständig“ beschrieben und war durch „ein hohes Maß an Gewalt, Kriminalität und sozialen Spannungen“ unter den Bewohnern gekennzeichnet, wobei es Berichte über Tötungen durch unbekannte Täter gab. Nach dem Ausbruch des Israel-Hamas-Konflikts im Oktober 2023 haben vom Iran unterstützte bewaffnete Gruppen US-Streitkräfte in Syrien mit Drohnenangriffen, improvisierten Raketen und Mörsergranaten angegriffen, unter anderem im Gouvernement Hasaka, was zu Gegenschlägen der USA führte.

ACLED verzeichnete im Zeitraum vom 1. August 2022 bis 28. Juli 2023 1.104 Sicherheitsvorfälle (durchschnittlich 21,4 Sicherheitsvorfälle pro Woche) im Gouvernement Hasaka. Von den gemeldeten Vorfällen wurden 686 als „Explosionen/ferne Gewalt“, 551 als „Kämpfe“ und 467 als „Gewalt gegen Zivilisten“ bezeichnet. Im Zeitraum vom 1. August bis 30. November 2023 wurden in Hasaka 497 Sicherheitsvorfälle registriert, was einem Durchschnitt von 28,8 Sicherheitsvorfällen pro Woche entspricht.

Sicherheitsvorfälle wurden in allen Regierungsbezirken registriert, wobei die höchste Zahl in den Bezirken Hasaka und Ras Al Ain dokumentiert wurde. In den Bezirken Malikeyyeh wurden weniger Vorfälle registriert.

Zwischen August 2022 und Juli 2023 dokumentierte SNHR 52 zivile Todesopfer im Gouvernement Hasaka. Im August – November 2023 verzeichnete das SNHR vier zivile Todesopfer. Verglichen mit den Bevölkerungszahlen vom Mai 2022 entsprach dies für den gesamten Bezugszeitraum fünf zivilen Todesopfern je 100.000 Einwohner. Im Mai 2022 gab es im Gouvernement Hasaka 331.573 Binnenvertriebene.

Die Vereinten Nationen stellten fest, dass die negativen Auswirkungen lokaler Feindseligkeiten auf das Leben von Zivilisten und wichtige zivile Infrastrukturen dazu führten, dass Zivilisten aus ihren Häusern flohen, und dass die konfliktbedingte Vertreibung der Bewohner in der gesamten nördlichen Region im ersten Halbjahr 2023 anhielt.

Laut UNOCHA wurden zwischen Januar und Dezember 2022 etwa 1.000 Personen aus Hasaka sowie 3.000 innerhalb des Gouvernements vertrieben. Ungefähr 2.000 Menschen wurden aus anderen Gouvernoraten nach Hasaka vertrieben. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 gab es etwa 135 Binnenvertriebenenbewegungen aus Hasaka und 220 Binnenvertriebenenbewegungen in das Gouvernement sowie etwa 360 Bewegungen innerhalb des Gouvernements. In Bezug auf die Rückkehr von Binnenvertriebenen verzeichnete UNOCHA im Jahr 2022 etwa 220 Rückkehrer von Binnenvertriebenen nach Hasaka und 3.640 Rückkehrer von Hasaka in andere Gouvernements. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 wurden 55 Rückkehrer von Binnenvertriebenen nach Hasaka und etwa 67 Rückkehrer aus Hasaka in andere Gouvernements registriert.

Das Gouvernement ist weitgehend mit improvisierten Minen und anderen improvisierten Geräten verseucht, die der Zivilbevölkerung schweren Schaden zufügen. Im ersten Quartal 2023 wurden im Gouvernement Hasaka 12 Todesfälle durch explosive Kriegsrückstände gemeldet. Es wurden auch zivile Opfer durch Landminenexplosionen registriert. Die türkischen Angriffe im November 2022 trafen wichtige Infrastrukturen in Teilen des Gouvernements, darunter Getreidesilos, Ölfelder und Kraftwerke, und führten dazu, dass einige Anlagen außer Betrieb waren.

Betrachtet man die Indikatoren, kann daraus geschlossen werden, dass die willkürliche Gewalt im Gouvernement Hasaka ein so hohes Ausmaß erreicht, dass es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass für einen Zivilisten, der in das Gouvernement zurückkehrt, allein aufgrund seines Aufenthaltes ein reales Risiko besteht, der in Artikel 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie genannten ernsten Bedrohung ausgesetzt zu sein.

1.3. Zur Lage in Syrien:

Politische Lage

Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).

Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70% des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023).

Interne Akteure haben das Kernmerkmal eines Staates - sein Gewaltmonopol - infrage gestellt und ausgehöhlt. Externe Akteure, die Gebiete besetzen, wie die Türkei in den kurdischen Gebieten, oder sich in innere Angelegenheiten einmischen, wie Russland und Iran, sorgen für Unzufriedenheit bei den Bürgern vor Ort (BS 23.2.2022). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik im Allgemeinen den lokal dominierenden bewaffneten Gruppen untergeordnet, darunter die militante islamistische Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS), die Partei der Demokratischen Union (Partiya YekTtiya Demokrat, PYD) und mit dem türkischen Militär verbündete Kräfte (FH 9.3.2023). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg, der nun in sein zwölftes Jahr geht, hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).

Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum November 2022-März 2023] nicht wesentlich verändert (AA 29.3.2023). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in den Gebieten unter seiner Kontrolle nicht grundlegend angefochten, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden substanziellen militärischen Unterstützung Russlands bzw. Irans und Iran-naher Kräfte. Allerdings gelang es dem Regime nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol in diesen Gebieten durchzusetzen. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht (AA 29.3.2023). Der von den Vereinten Nationen geleitete Friedensprozess, einschließlich des Verfassungsausschusses, hat 2022 keine Fortschritte gemacht (HRW 12.1.2023; vergleiche AA29.3.2023). Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert (AA 29.3.2023). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell und sorgen dafür, dass diese nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden (HRW 12.1.2023).

Im Äußeren gewannen die Bemühungen des Regimes und seiner Verbündeten, insbesondere Russlands, zur Beendigung der internationalen Isolation [mit Stand März 2023] unabhängig von der im Raum stehenden Annäherung der Türkei trotz fehlender politischer und humanitärer Fortschritte weiter an Momentum. Das propagierte „Normalisierungsnarrativ“ verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vergleiche SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon - (CMEC 16.5.2023; vergleiche Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen, wenngleich sich die Bewahrung der EU-Einheit in dieser Sache zunehmend herausfordernd gestaltet (AA 29.3.2023).

Quellen:

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/document/2089904.html, Zugriff 23.6.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht -ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 23.6.2023

■             Alaraby - New Arab, the (31.5.2023): Why Syria’s Kurds and Hayat Tahrir al-Sham are offering to host refugees, https://www.newarab.com/analysis/why-syrias-kurds-and-hts-are-offering-host-ref ugees, Zugriff 28.6.2023

■             Brookings (27.1.2023): Syria’s dissolving line between state and nonstate actors, https://www.br ookings.edu/blog/order-from-chaos/2023/01/27/syrias-dissolving-line-between-state-and-nonstat e-actors/, Zugriff 27.6.2023

■             BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://bti-project.org/filea dmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SYR.pdfZugriff 23.6.2023

■             CMEC - Carnegie Middle East Center (16.5.2023): An Inauspicious Return, https://carnegie-mec .org/diwan/89762, Zugriff 23.6.2023

■             FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/do cument/2088564.html, Zugriff 23.6.2023

■             HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/en/do cument/2085501.html, Zugriff 23.6.2023

■             IPS - Inter Press Service (20.5.2022): What the Russian Invasion Means for Syria, https://www.ip snews.net/2022/05/russian-invasion-means-syria/?utm_source=rss&utiTMTiediuiTi=rss&utiTi_ca mpaign=russian-invasion-means-syria, Zugriff 27.6.2023

■             SOHR - The Syrian Observatory For Human Rights (7.5.2023): Assad will demand high price for return of refugees, https://www.syriahr.com/en/298175/, Zugriff 23.6.2023

■             Spiegel, Der (29.8.2016): Die Fakten zum Krieg in Syrien, https://www.spiegel.de/politik/ausland/k rieg-in-syrien-alle-wichtigen-fakten-erklaert-endlich-verstaendlich-a-1057039.html#sponfakt=1, Zugriff 23.6.2023

■             USIP - United States Institute for Peace (14.3.2023): Syria's Stalemate Has Only Benefitted Assad and His Backers, https://www.usip.org/publications/2023/03/syrias-stalemate-has-only-benefitte d-assad-and-his-backers, Zugriff 27.6.2023

■             Wilson - Wilson Center (6.6.2023): Syria and the Arab League, https://www.wilsoncenter.org/blo g-post/syria-and-arab-league, Zugriff 23.6.2023

Syrische Arabische Republik

Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019).Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 2.5.2023). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer der Alawiten und anderer religiöser Minderheiten (FH 9.3.2023) und die alawitische Minderheit hat weiterhin einen im Verhältnis zu ihrer Zahl überproportional großen politischen Status, insbesondere in den Führungspositionen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Nachrichtendienste, obwohl das hochrangige Offizierskorps des Militärs weiterhin auch Angehörige anderer religiöser Minderheitengruppen in seine Reihen aufnimmt (USDOS 15.5.2023). In der Praxis hängt der politische Zugang jedoch nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten. Alawiten, Christen, Drusen und Angehörige anderer kleinerer Religionsgemeinschaften, die nicht zu Assads innerem Kreis gehören, sind politisch entrechtet. Zur politischen Elite gehören auch Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft, doch die sunnitische Mehrheit des Landes stellt den größten Teil der Rebellenbewegung und hat daher die Hauptlast der staatlichen Repressionen zu tragen (FH 9.3.2023).

Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba'ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba'ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige (USDOS 20.3.2023). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft infrage stellen könnten (FH 9.3.2023). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch die Verfassung und den bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v.a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich (AA 29.3.2023).

Dem ehemaligen Berater des US-Außenministeriums Hazem al-Ghabra zufolge unterstützt Syrien beinahe vollständig die Herstellung und Logistik von Drogen, weil es eine Einnahmemöglichkeit für den Staat und für Vertreter des Regimes und dessen Profiteure darstellt (Enab 23.1.2023). Baschar al-Assad mag der unumschränkte Herrscher sein, aber die Loyalität mächtiger Warlords, Geschäftsleute oder auch seiner Verwandten hat ihren Preis. Beispielhaft wird von einer vormals kleinkriminellen Bande berichtet, die Präsident Assad in der Stadt Sednaya gewähren ließ, um die dort ansässigen Christen zu kooptieren, und die inzwischen auf eigene Rechnung in den Drogenhandel involviert ist. Der Machtapparat hat nur bedingt die Kontrolle über die eigenen Drogennetzwerke. Assads Cousins, die Hisbollah und Anführer der lokalen Organisierten Kriminalität haben kleine Imperien errichtet und geraten gelegentlich aneinander, wobei Maher al-Assad, der jüngere Bruder des Präsidenten und Befehlshaber der Vierten Division, eine zentrale Rolle bei der Logistik innehat. Die Vierte Division mutierte in den vergangenen Jahren ’zu einer Art Mafia-Konglomerat mit militärischem Flügel’. Sie bewacht die Transporte und Fabriken, kontrolliert die Häfen und nimmt Geld ein. Maher al-Assads Vertreter, General Ghassan Bilal, gilt als der operative Kopf und Verbindungsmann zur Hisbollah (Spiegel 17.6.2022).

Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).

Institutionen und Wahlen

Syrien ist nach der geltenden Verfassung von 2012 eine semipräsidentielle Volksrepublik. Das politische System Syriens wird de facto jedoch vom autoritär regierenden Präsidenten dominiert. Der Präsident verfügt als oberstes Exekutivorgan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Generalsekretär der Ba’ath-Partei über umfassende Vollmachten. Darüber hinaus darf der Präsident nach Artikel 113, der Verfassung auch legislativ tätig werden, wenn das Parlament nicht tagt, aufgelöst ist oder wenn „absolute Notwendigkeit“ dies erfordert. De facto ist die Legislativbefugnis des Parlaments derzeit außer Kraft gesetzt. Gesetze werden weitgehend als Präsidialdekrete verabschiedet (AA 29.3.2023).

Der Präsident wird nach der Verfassung direkt vom Volk gewählt. Seine Amtszeit beträgt sieben Jahre. Seit der letzten Verfassungsänderung 2012 ist maximal eine einmalige Wiederwahl möglich. Da diese Verfassungsbestimmung jedoch erstmals bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zur Anwendung kam, war es dem aktuellen Präsidenten Baschar al-Assad erlaubt, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2021 erneut zu kandidieren. Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt werden nach Artikel 85, vom Obersten Verfassungsgericht überprüft und müssen Voraussetzungen erfüllen, die Angehörige der Opposition faktisch weitgehend ausschließen. So muss ein Kandidat u. a. im Besitz seiner bürgerlichen und politischen Rechte sein (diese werden bei Verurteilungen für politische Delikte in der Regel entzogen), darf nicht für ein „ehrenrühriges“ Vergehen vorbestraft sein und muss bis zum Zeitpunkt der Kandidatur ununterbrochen zehn Jahre in Syrien gelebt haben. Damit sind im Exil lebende Politikerinnen und Politiker von einer Kandidatur de facto ausgeschlossen (AA 29.3.2023). Bei den Präsidentschaftswahlen, die im Mai 2021 in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie einigen syrischen Botschaften abgehalten wurden, erhielt Bashar al-Assad 95,1 % der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von rund 77% und wurde damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 % und 3,3 % der Stimmen (Standard 28.5.2021; vergleiche Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als 'weder frei noch fair’ und als 'betrügerisch’, und die Opposition nannte sie eine ’Farce’ (Standard 28.5.2021).

Das Parlament hat nicht viel Macht. Dekrete werden meist von Ministern und Ministerinnen vorgelegt, um ohne Änderungen vom Parlament genehmigt zu werden. Sitze im Parlament oder im Kabinett dienen nicht dazu, einzelne Machtgruppen in die Entscheidungsfindung einzubinden, sondern dazu, sie durch die Vorteile, die ihnen ihre Positionen verschaffen, zu kooptieren (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden die Wahlen für das „Volksrat“ genannte syrische Parlament mit 250 Sitzen statt, allerdings nur in Gebieten, in denen das Regime präsent ist. Auch diese Wahlen wurden durch die weitverbreitete Vertreibung der Bevölkerung beeinträchtigt. Bei den Wahlen gab es keinen nennenswerten Wettbewerb, da die im Exil lebenden Oppositionsgruppen nicht teilnahmen und die Behörden keine unabhängigen politischen Aktivitäten in dem von ihnen kontrollierten Gebiet dulden. Die regierende Ba’ath-Partei und ihre Koalition der Nationalen Progressiven Front erhielten 183 Sitze. Die restlichen 67 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, die jedoch alle als regierungstreu galten (FH 9.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7% (BS 23.2.2022). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.7.2020).

Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba’ath-Partei (MEI 24.7.2020). Die vom Regime und den Nachrichtendiensten vorgenommene Reihung auf der Liste ist damit wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen. Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien quasi zu managen und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren (BS 23.2.2022). Zudem gilt der Verkauf öffentlicher Ämter an reiche Personen, im Verbund mit entsprechend gefälschten Wahlergebnissen, als zunehmend wichtige Devisenquelle für das syrische Regime (AA 29.3.2023). Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022).

Im September 2022 fanden in allen [unter Kontrolle des syrischen Regimes stehenden] Provinzen Wahlen für die Lokalräte statt. Nichtregierungsorganisationen bezeichneten sie ebenfalls als weder frei noch fair (USDOS 20.3.2023).

Quellen:

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/document/2089904.html, Zugriff 23.6.2023

■             BBC - BBC News (2.5.2023): Why is there a war in Syria?, https://www.bbc.com/news/world-mid dle-east-35806229, Zugriff 23.6.2023

■             BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://bti-project.org/filea dmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SYR.pdfZugriff 23.6.2023

■             Enab - Enab Baladi (23.1.2023): Following 'Captagon Act', Will Washington put al-Assad on Norie- ga's track, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/01/following-captagon-act-will-washingto n-put-al-assad-on-noriegas-track/, Zugriff 23.6.2023

■             FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/do cument/2088564.html, Zugriff 23.6.2023

■             MEI - Middle East Institute (24.7.2020): Syria's 2020 parliamentary elections: The worst joke yet, https://www.mei.edu/publications/syrias-2020-parliamentary-elections-worst-joke-yet, Zugriff

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■             Reuters (28.5.2021): Syria's Assad wins 4th term with 95% of vote, in election the West calls fraudulent, https://www.reuters.com/world/middle-east/syrias-president-bashar-al-assad-wins-fou rth-term-office-with-951-votes-live-2021-05-27/, Zugriff 23.6.2023

■             SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff

23.6.2023

■             Spiegel, Der (17.6.2022): „Sie selbst sind das Kartell“, https://www.spiegel.de/ausland/syrien-dro genhandel-des-regimes-von-baschar-al-assad-sie-selbst-sind-das-kartell-a-869b875b-5edd-46c 5-b2c7-f3074ca91791, Zugriff 23.6.2023

■             Standard - Standard, der (28.5.2021): Syriens Machthaber Assad erhält bei 'Präsidentenwahl' 95 Prozent, https://www.derstandard.at/story/2000126983065/syriens-machthaber-assad-erhaelt-bei -praesidentenwahl-95-prozent, Zugriff 23.6.2023

■             USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2021): United States Commission on International Religious Freedom 2021 Annual Report; USCIRF - Recom- mended for Countries of Particular Concern (CPC): Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/20529 87/Syria+Chapter+AR2021.pdf, Zugriff 23.6.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2091896.html, Zugriff 23.6.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 23.6.2023

■             WP - Washington Post, The (22.7.2020): Syria's elections have always been fixed. This time, even candidates are complaining., https://www.washingtonpost.com/world/middle_east/syrias-elections -have-always-been-fixed-this-time-even-candidates-are-complaining/2020/07/22/76e0bb12-cb5 f-11ea-99b0-8426e26d203b_story.html, Zugriff 23.6.2023

Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien

2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistane, PKK) gekommen sein, deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya YekTtiya Demokrat, PYD) gründeten. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine 'zweite Front’ in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba’ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden AfrTn, ’Ain al-’Arab (Kobane) und die Jazira/CizTre von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017).

Im November 2013 - etwa zeitgleich mit der Bildung der syrischen Interimsregierung (SIG) durch die syrische Opposition - rief die PYD die sogenannte Demokratische Selbstverwaltung (DSA) in den Kantonen AfrTn, Kobane und CizTre aus und fasste das so entstandene, territorial nicht zusammenhängende Gebiet unter dem kurdischen Wort für „Westen" (Rojava) zusammen. Im Dezember 2015 gründete die PYD mit ihren Verbündeten den Demokratischen Rat Syriens (SDC) als politischen Arm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) (SWP 7.2018). Die von den USA unterstützten SDF (TWI 18.7.2022) sind eine Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheitengruppen (USDOS 20.3.2023), in dem der militärische Arm der PYD, die YPG, die dominierende Kraft ist (KAS 4.12.2018). Im März 2016 riefen Vertreter der drei Kantone (Kobane war inzwischen um Tall Abyad erweitert worden) den Konstituierenden Rat des „Demokratischen Föderalen Systems Rojava/Nord-Syrien" (Democratic Federation of Northern Syria, DFNS) ins Leben (SWP 7.2018). Im März 2018 (KAS 4.12.2018) übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton AfrTn mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022). Im September 2018 beschloss der SDC die Gründung des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria,AANES) auf dem Gebiet der drei Kantone (abzüglich des von der Türkei besetzten AfrTn). Darüber hinaus wurden auch Gebiete in Deir-ez Zor und Raqqa (K24 6.9.2018) sowie Manbij, Takba und Hassakah, welche die SDF vom Islamischen Staat (IS) befreit hatten, Teil der AANES (SO 27.6.2022).

Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet ’belohnt’ zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 20.3.2023). Türkische Vorstöße auf syrisches Gebiet im Jahr 2019 führten dazu, dass die SDF zur Abschreckung der Türkei syrische Regierungstruppen einlud, in den AANES Stellung zu beziehen (ICG 18.11.2021). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren (ÖB Damaskus 1.10.2021). Mit Stand Mai 2023 besteht kein entsprechender Vertrag zwischen den AANES und der syrischen Regierung (Alaraby 31.5.2023). Unter anderem wird über die Verteilung von Öl und Weizen verhandelt, wobei ein großer Teil der syrischen Öl- und Weizenvorkommen auf dem Gebiet der AANES liegen (K24 22.1.2023). Normalisierungsversuche der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und der syrischen Regierung wurden in denAANES im Juni 2023 mit Sorge betrachtet (AAA 24.6.2023) .Anders als die EU und USA betrachtet die Türkei sowohl die Streitkräfte der YPG als auch die Partei PYD als identisch mit der von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und daher als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.3.2023).

Die Führungsstrukturen derAANES unterscheiden sich von denen anderer Akteure und Gebiete in Syrien. Die „autonome Verwaltung" basiert auf der egalitären, von unten nach oben gerichteten Philosophie Abdullah Öcalans, der in der Türkei im Gefängnis sitzt [Anm.: Gründungsmitglied und Vorsitzender der PKK]. Frauen spielen eine viel stärkere Rolle als anderswo im Nahen Osten, auch in den kurdischen Sicherheitskräften. Lokale Nachbarschaftsräte bilden die Grundlage der Regierungsführung, die durch Kooptation zu größeren geografischen Einheiten zusammengeführt werden (MEI 26.4.2022). Es gibt eine provisorische Verfassung, die Lokalwahlen vorsieht (FH 9.3.2023). Dies ermöglicht mehr freie Meinungsäußerung als anderswo in Syrien und theoretisch auch mehr Opposition. In der Praxis ist die PYD nach wie vor vorherrschend, insbesondere in kurdisch besiedelten Gebieten (MEI 26.4.2022), und derAANES werden autoritäre Tendenzen bei der Regierungsführung und Wirtschaftsverwaltung des Gebiets vorgeworfen (Brookings 27.1.2023; vergleiche SD 22.7.2021). Die mit der PYD verbundenen Kräfte nehmen regelmäßig politische Opponenten fest. Während die politische Vertretung von Arabern formal gewährleistet ist, werden der PYD Übergriffe gegen nicht-kurdische Einwohner vorgeworfen (FH 9.3.2023). Teile der SDF haben Berichten zufolge Übergriffe verübt, darunter Angriffe auf Wohngebiete, körperliche Misshandlungen, rechtswidrige Festnahmen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie willkürliche Zerstörung und Abriss von Häusern. Die SDF haben die meisten Vorwürfe gegen ihre Streitkräfte untersucht. Einige Mitglieder der SDF wurden wegen Missbrauchs strafrechtlich verfolgt, jedoch lagen dazu keine genauen Zahlen vor (USDOS 20.3.2023).

Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP [Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak] nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der PYD, welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 1.10.2021).

Seitdem der Islamische Staat (IS) 2019 die Kontrolle über sein letztes Bevölkerungszentrum verloren hat, greift er mit Guerilla- und Terrortaktiken Sicherheitskräfte und lokale zivile Führungskräfte an (FH 9.3.2023). Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021).

Quellen:

■             AAA - Asharq Al-Awsat (24.6.2023): Syria: AANES Issues Warning Regarding Outcomes of 'Astana Meetings', https://english.aawsat.com/arab-world/4399071-syria-aanes-issues-warning-regarding -outcomes-%E2%80%98astana-meetings%E2%80%99, Zugriff 28.6.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/document/2089904.html, Zugriff 23.6.2023

■             Alaraby - New Arab, the (31.5.2023): Why Syria’s Kurds and Hayat Tahrir al-Sham are offering to host refugees, https://www.newarab.com/analysis/why-syrias-kurds-and-hts-are-offering-host-ref ugees, Zugriff 28.6.2023

■             Brookings (27.1.2023): Syria’s dissolving line between state and nonstate actors, https://www.br ookings.edu/blog/order-from-chaos/2023/01/27/syrias-dissolving-line-between-state-and-nonstat e-actors/, Zugriff 27.6.2023

■             FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/do cument/2088564.html, Zugriff 23.6.2023

■             ICG - International Crisis Group (18.11.2021): Syria: Shoring Up Raqqa’s Shaky Recovery, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2064234/229-raqqas-shaky-recovery.pdf, Zugriff 29.6.2023

■             K24 - Kurdistan 24 (22.1.2023): Syrian Kurds deny stealing oil and wheat, https://www.kurdistan2 4.net/en/story/30513-Syrian-Kurds-deny-stealing-oil-and-wheat, Zugriff 28.6.2023

■             K24 - Kurdistan 24 (6.9.2018): New administration formed for northeastern Syria, https://www.kurdistan24.net/en/news/c9e03dab-6265-4a9a-91ee-ea8d2a93c657, Zugriff

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■             KAS - Konrad Adenauer Stiftung (4.12.2018): Zwischen den Fronten - Die Kurden in Syrien, https: //www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/zwischen-den-fronten-1, Zugriff

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■             MEI - Middle East Institute (26.4.2022): Divided Syria: An examination of stabilization efforts and prospects for state continuity, https://www.mei.edu/publications/divided-syria-examination-stabili zation-efforts-and-prospects-state-continuity, Zugriff 27.6.2023

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff

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■             Savelsberg, Eva: Der Aufstieg der kurdischen PYD im syrischen Bürgerkrieg (2011 bis 2017). In STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/561 8_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 28.6.2023

■             SD - Syria Direct (22.7.2021): Authoritarian tendencies mar the AANES’ quest for recognition, https://syriadirect.org/authoritarian-tendencies-mar-the-aanes-quest-for-recognition/, Zugriff

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■             SO - Syrian Observer, the (27.6.2022): Belgium Seeks Recognition of AANES - Belgian Envoy to Syria, https://syrianobserver.com/news/76218/belgium-seeks-recognition-of-aanes-belgian-env oy-to-syria.html, Zugriff 28.6.2023

■             SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (7.2018): Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des 'Islamischen Staates’, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/p roducts/studien/2018S11_srt.pdf, Zugriff 28.6.2023

■             taz - Tageszeitung, die (15.10.2022): Kurdischer Kanton Afrin in Nordsyrien: Eine Bande durch die andere ersetzt, https://taz.de/Kurdischer-Kanton-Afrin-in-Nordsyrien/!5888260/, Zugriff 28.6.2023

■             TWI - Washington Institute for Near East Policy, the (18.7.2022): How the Autonomous Administration Leadership and Civilians Will View a Turkish Incursion into Northeast Syria, https: //www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/how-autonomous-administration-leadershi p-and-civilians-will-view-turkish-incursion, Zugriff 28.6.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 23.6.2023

Sicherheitslage

Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).

Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse

Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).

Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 29.3.2023).

Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten

Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023).

DieCoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Mitte des Jahres 2016 hatte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der 'wichtigsten’ Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt, kontrolliert (Reuters 13.4.2016). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.3.2023).

Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syri- an Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay’atTahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische" Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023).

Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).

Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).

Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkeren Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen ’Ope ration Claw-Sword’, die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten ’eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen’ in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022).

Im Gouvernement Dara’a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten ’Versöhnungsabkommens’. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023).

Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen" (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).

Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nicht- identifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).

Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)

Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Qurai- shi ernannt (EUAA9.2022; vergleiche DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vergleiche CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vergleiche BAMF 6.12.2022).

Der UN-Sicherheitsrat schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Mit mehreren Tausend Kämpfern sowie deren Angehörigen, die sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF befinden, sowie einer vermutlich dreistelligen Zahl von im Untergrund aktiven Kämpfern bleibt IS jedoch ein relevanter asymmetrischer Akteur (AA 29.3.2023). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle und Attentate (DIS 29.6.2020). Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien, und zeigte bei zwei Anschlägen im Jahr 2022 seine anhaltende Fähigkeit zu komplexen Operationen (AA 29.3.2023).

Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent beiAnti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich zehn bis 15 Angriffe auf die Regierungsstreitkräfte pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).

Zivile Todesopfer landesweit

Die NGOSyrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche sowohl Zivilisten als auch Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von 'Massakern’, bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vergleiche SNHR 1.1.2021). Die folgende Grafik zeigt die von SNHR dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2021 getötet wurden, wobei SNHR insgesamt 1.271 getötete Zivilisten zählte, davon 299 Kinder und 134 Frauen (SNHR 1.1.2022).

Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.2021 bis 30.6.2023 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern. Demnach kamen im Jahr 2022 5.949 Menschen ums Leben und im ersten Halbjahr 2023 2.796 Personen (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):

Gouver-

ne-ments

Vorfälle

2021

Todes

opfer

2021

Vorfälle

2022

Todes

opfer

2022

Vorfälle

2023 (bis 30.6.)

Todesopfer (bis 30.6.)

Deirez Zor

473

1131

339

755

277

560

Daraa

375

649

467

708

195

326

Al Hasa-

keh

345

621

340

926

74

119

Aleppo

308

701

503

1260

216

502

Gouver-

ne-ments

Vorfälle

2021

Todes

opfer

2021

Vorfälle

2022

Todes

opfer

2022

Vorfälle

2023 (bis 30.6.)

Todesopfer (bis 30.6.)

Idlib

306

697

213

481

134

321

Raqqa

296

780

270

748

73

127

Hama

143

547

96

252

67

232

Homs

114

402

112

376

87

309

Rural Da-

mascus

113

140

157

244

46

75

As Sweida

39

47

35

66

14

22

Quneitra

31

39

12

22

19

30

Lattakia

29

69

39

84

43

141

Damaskus

14

41

15

22

12

31

Tartous

4

8

3

5

1

1

Insg.

2590

5872

2601

5949

1258

2796

Quelle: ACLED o.D.

Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 1.1.2020-30.6.2023 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):

image8

Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).

Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).

Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien

Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism" (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Team" (IIT) zu ermitteln. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.3.2017 sowie Chlorgas am 25.3.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 1.3.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 7.4.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds"). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.5.2019 wiederholt Chlorgas in Kaba- na/Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 1.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (1.8.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.1.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.9.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.1.2022). In einem weiteren Bericht vom 1.2.2022 kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.10.2016 in Kafr Zeita eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 1.2.2022).

Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 Prozent der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021).

Auch wenn es im Jahr 2022 kein Einsatz von chemischen Waffen berichtet wurde, so wird davon ausgegangen, dass das Regime weiterhin über ausreichende Vorräte von Sarin und Chlor verfügt, und über die Expertise zur Produktion und Anwendung von Chlor-hältiger Munition verfügt. Das Regime erfüllte nicht die Forderungen der Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) Conference of the States Parties, weshalb seine Rechte in der Organisation suspendiert bleiben (USDOS 20.3.2023).

Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln

Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Z.B. wurden im Juni 2022 bei der Explosion einer Landmine in Dara’azehn Menschen getötet und 28 verletzt. Laut dem Humanitarian Needs Overview der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und - Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.3.2023).

Quellen:

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■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_ Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stan d_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 6.7.2023

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/DeutschlandAusw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lag

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■             ACLED/ACCORD -Armed Conflict Location & Event Data Project, zusammengestellt von ACCORD (25.3.2021): Syrien, Jahr 2020: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2050734/2020ySyria_en.pdf, Zugriff 6.7.2023

■             ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Data https://acleddata.com/data -export-tool/, Zugriff 6.7.2023

■             BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (6.12.2022): Briefing Notes KW 49, Gruppe 62 - Informationszentrum Asyl und Migration, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw49-2022.pdf?blob=publicationFile&v=2, Zugriff 6.7.2023

■             BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (12.10.2022): Antwortschreiben Version 2 (Stand 16.9.2022)

■             CC - The Carter Center (12.6.2023): Quarterly Review on Syrian Political and Military Dynamics January - March 2023, https://storymaps.arcgis.com/stories/6262e1711e94493690195b78e278d 035, Zugriff 6.7.2023

■             CNN - Cable News Network (30.11.2022): ISIS acknowledges the death of its leader, announces his successor, https://edition.cnn.com/2022/11/30/middleeast/isis-leader-dies-intl/index.html, Zugriff 6.7.2023

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (29.6.2020): Islamic State in Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2032499/COI_brief_report_Islamic_State_in_Syria_June_2020.p df, Zugriff 6.7.2023

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■             DZ - Die Zeit (24.3.2019): Kurden warnen vor Wiederaufstieg des IS, https://www.zeit.de/politik/au sland/2019-03/syrien-islamischer-staat-terrormiliz-kalifat-wiederaufstieg, Zugriff 6.7.2023

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■             ICG - International Crisis Group (10.2022): Crisis Watch - Global Overview October 2022, https: //www.crisisgroup.org/crisiswatch/november-alerts-and-october-trends#syria, Zugriff 6.7.2023

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■             KAS - Konrad Adenauer Stiftung (Wörmer, Nils) (4.12.2018): Assads afghanische Söldner, https: //www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/assads-afghanische-soldn er,Zugriff 6.7.2023

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■             Reuters (13.4.2016): Assad holds parliamentary election as Syrian peace talks resume, https: //www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-idUSKCN0XA2C5, Zugriff 9.10.2020

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (1.5.2023): 99 Civilians, Including Eight Children, and Seven Women Documented Killed in Syria, in April 2023, https://snhr.org/wp-content/uploads/202 3/05/M230501E.pdf, Zugriff 15.5.2023

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■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (1.1.2022): 1,271 Civilians, Including 299 Children, 134 Women, and 104 Victims of Torture, Killed in Syria in 2021,https://snhr.org/wp-content/pdf/english /1271_Civilians_Including_229_Children_134_Women_and_104_Victims_of_Torture_Killed_in_ Syria_in_2021_en.pdf, Zugriff 6.7.2023

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (1.1.2020): 3,364 Civilians Documented Killed in Syria in 2019, http://sn4hr.org/wp-content/pdf/english/3364_civilians_were_killed_in_Syria_in_2019_en. pdf, Zugriff 6.7.2023

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (1.2023): Syrian Arab Republic: timeline of approximate areas of influence asof December, https://www.ohchr.org/sites/default/files/2023-03/4620_14_202301_MapOfInfluence_Syria_2022 Dec.jpg, Zugriff 16.3.2023

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■             UNSC - United Nations Security Council (29.11.2022): Uptick in Violence Threatens Three Years of Relative Calm in Syria, Special Envoy Tells Security Council, Calling for De-Escalation, https: //press.un.org/en/2022/sc15121.doc.htm, Zugriff 6.7.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 21.6.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048105.html, Zugriff 6.7.2023

■             USIP - United States Institute of Peace (Yacoubian, Mona) (14.3.2023): Syria's Stalemate Has Only Benefitted Assad and His Backers, https://www.usip.org/publications/2023/03/syrias-stalema te-has-only-benefitted-assad-and-his-backers, Zugriff 13.4.2023

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■             Zenith (11.2.2022): »Der IS rekrutiert eine neue Generation von Kämpfern«, https://magazin.zeni th.me/de/politik/interview-mit-syrien-experte-fabrice-balanche-%C3%BCber-den-die-kurden-und -syrien, Zugriff 6.7.2023

„Versöhnungsabkommen“ (auch „Beilegungsabkommen“)

Die syrischen Behörden nutzen sogenannte „reconciliation agreements" [in anderen Quellen auch als „settlement agreements" - Beilegungsabkommen - bezeichnet] seit Beginn des Konfliktes (NMFA 5.2022). Die Evakuierung der von Rebellen gehaltenen Gemeinde Daraya im August 2016 markierte dabei einen Wendepunkt in der Nutzung von Versöhnungsabkommen durch die syrische Regierung als Strategie zur Rückeroberung der von Rebellen gehaltenen Gebiete. Bis zur Vereinbarung in Daraya waren in verschiedenen Gemeinden in ganz Syrien örtlich begrenzte Waffenstillstände eingesetzt worden. Sowohl die lokalen Waffenstillstände als auch die Versöhnungsvereinbarungen sind eine militärische Strategie, mit der Rebellengebiete entweder sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt zum Einlenken gezwungen werden sollen, um Menschen und Gebiete in den Staat wiedereinzugliedern (MEE 28.3.2018). Das Verfahren ist grundsätzlich für Personen gedacht, die im Sicherheitsapparat aktenkundig sind oder die von den Behörden im Zusammenhang mit einer offenen Angelegenheit gesucht werden. Sowohl Kombattanten als auch Zivilisten können Versöhnungsvereinbarungen unterzeichnen. Es gibt lokale und individuelle Versöhnungsabkommen (NMFA 5.2022).

Lokale Versöhnungsabkommen in ehemaligen Oppositionsgebieten

Die „Versöhnungsprozesse“ scheinen ad hoc durchgeführt zu werden, was bedeutet, dass sie variieren und keine eindeutige Beschreibung des Prozesses gegeben werden kann. Für die praktische Umsetzung der Vereinbarungen ist ein „Versöhnungsausschuss“ zuständig. Dieses Gremium ist kein Gericht. Es gibt kein materiell-rechtliches Verfahren und das Justizministerium ist nicht beteiligt. Das Ergebnis ist kein Urteil, sondern eine Sicherheitserklärung. Der Inhalt des Abkommens kann nicht angefochten werden. Die betreffende Person gibt ihre leichten Waffen ab und erklärt schriftlich, dass sie von Widerstandstätigkeiten absehen wird. Im Gegenzug verspricht die syrische Regierung, die Vorwürfe aus dem Strafregister zu streichen und den Namen der Person von den Fahndungslisten zu entfernen. Männer, die noch ihren Militärdienst ableisten müssen, haben sechs Monate Zeit, sich beim Rekrutierungsbüro zu melden. Es gibt Quellen, die berichten, dass diejenigen, die freigelassen werden, ein Dokument erhalten (NMFA 5.2022)..

Der Abschluss der „Versöhnungsabkommen“ folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat. Die Vereinbarungen mit Rebellentruppen werden meist am Ende einer Belagerung durch Regierungstruppen abgeschlossen (ÖB Damaskus 12.2022). Laut der Syrian Association for Citizen’s Dignity (SACD), eine 2018 gegründete zivilgesellschaftliche Basisbewegung aus Syrien, gehörten zu den Taktiken bisher auch Belagerungen, bei denen das Regime die Menschen in diesen Gebieten nicht nur der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten beraubte, sondern sie auch mit Luftangriffen und Granaten beschoss, die Infrastruktur zerstörte und Zivilisten tötete, um das Gebiet schließlich zur Kapitulation und zur Unterzeichnung eines Versöhnungsabkommens zu zwingen (SACD 8.11.2021). Im Allgemeinen bieten die Versöhnungsverfahren zwei Möglichkeiten: eine Versöhnungsvereinbarung zu unterzeichnen und weiterhin im Regierungsgebiet zu leben oder in das Oppositionsgebiet im Nordwesten Syriens zu ziehen (NMFA 5.2022). Die Vereinbarungen beinhalten oft die Evakuierung der Gebiete von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden (ÖB Damaskus 12.2022). Sie werden also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche OFPRA 13.12.2022) und sind de facto Kapitulationsvereinbarungen (NMFA5.2022; vergleiche SACD 8.11.2021, TIMEP 15.10.2021).

Die von der Regierung angebotenen Versöhnungsabkommen sind an verschiedene Bedingungen geknüpft (STDOK 8.2017). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden (STDOK 8.2017), oder den Männern im wehrpflichtigen Alter wird eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert (AA 29.3.2023). Im Rahmen von Versöhnungsabkommen gemachte Garantien der Regierung werden jedoch nicht eingehalten. Die syrischen Behörden haben Einzelpersonen verhaftet, nachdem ihnen die Freilassung zugesichert wurde, und Vereinbarungen über die Freistellung von der Wehrpflicht, über den Dienstort neuer Wehrpflichtiger (BS 23.2.2022) oder zur Schonfrist vor dem Einzug zum Militärdienst wurden gebrochen (AA 29.3.2023). Es wird von willkürlichen Verhaftungen von Personen berichtet, die sich zuvor mit der syrischen Regierung „versöhnt" hatten (UNHRC 7.2.2023; vergleiche HRW 12.1.2023) und es kommt trotz Abkommen zu Verhaftungen und dem Verschwinden von früheren Kämpfern in deren Häusern oder an Checkpoints. Es gibt Berichte über die gezielte Tötung von ehemaligen Kämpfern, die sich nunmehr den syrischen Streitkräften angeschlossen haben (ÖB Damaskus 12.2022). Beispielsweise in „versöhnten" Gebieten in Dara’a kam es zu Tötungen von Personen durch Unbekannte (SHRC 26.1.2023; vergleiche USDOS 20.3.2023), wobei in Anbetracht der Konfliktlage vermutet wird, dass das Regime und der Iran hinter vielen dieser Operationen stehen (SHRC 26.1.2023).

Der Abschluss von „Versöhnungsabkommen" in bestimmten Gebieten schützt die dortige Bevölkerung nicht vor dem willkürlichen, rücksichtslosen Verhalten der dort präsenten regierungsfreundlichen Milizen (OFPRA 13.12.2022). Diese Menschenrechtsverletzungen decouragieren auch die Rückkehr von geflüchteten Personen. Durch mehrere Gesetzeserlässe wurde die Regierung 2019 zur Konfiskation des Eigentums von „Terroristen" ermächtigt. Als Terroristen werden vor allem auch viele Oppositionelle gelistet (ÖB Damaskus 12.2022).

Generell lässt sich seitens der Regierung das Bestreben feststellen, möglichst schnell wieder staatliche Strukturen in den eroberten Gebieten zu etablieren. Allerdings gibt es offenbar große Herausforderungen für die syrische Regierung, dieses Bestreben flächendeckend umzusetzen (ÖB Damaskus 12.2022).

Individuelle Versöhnungsabkommen

Soweit bekannt, gibt es auch individuelle Versöhnungsabkommen für Syrer, die aus demAusland nach Syrien zurückkehren wollen, bzw. für Vertriebene, die in ein Gebiet unter der Kontrolle der Behörden zurückkehren. Der Abschluss eines individuellen Versöhnungsabkommens ist auch hier kein genau definiertes Verfahren und kann von Person zu Person und von Botschaft zu Botschaft variieren; in der Regel beinhaltet es jedoch die Unterzeichnung eines Dokuments in einer Botschaft, in dem die Person ihre „Straftat" zugibt. Versöhnungsabkommen bieten allerdings keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen (NMFA 5.2022).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 4.7.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht -ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff

3.7.2023

■             BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Syria Country Report 2022, https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 4.7.2023

■             HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/do kument/2085501.html, Zugriff 4.7.2023

■             MEE - Middle East Eye (28.3.2018): Besiege, bombard, retake: Reconciliation agreements in Syria, https://www.middleeasteye.net/opinion/besiege-bombard-retake-reconciliation-agreements-syria, Zugriff 3.7.2023

■             NMFA- Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Sy ria.pdf, Zugriff 3.7.2023

■             ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022, Antwortschreiben per E-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

■             OFPRA - Office frangais de protection des refugies et apatrides [France] (13.12.2022): Syrie : Situation dans les zones reconquises par les forces pro-regime depuis 2020, https://www.ofpra.go uv.fr/libraries/pdf.js/web/viewer.html?file=/sites/default/files/ofpra_flora/2212_syr_zones_reconqui ses_par_le_regime_156325_web.pdf, Zugriff 4.7.2023

■             SACD - Syrian Association for Citizen’s Dignity (SACD) (8.11.2021): Did Daraa mark the end of reconciliation agreements in Syria?, https://syacd.org/did-daraa-mark-the-end-of-reconciliation-a greements-in-syria/, Zugriff 3.7.2023

■             SHRC - Syrian Human Rights Committee, the (26.1.2023): Car Trader assasinated in Daraa, https: //www.shrc.org/en/?p=34054, Zugriff 4.7.2023

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (17.1.2023); Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2022, https://snhr.org/wp-content/uploads/2023/01/R221213E.pdf, Zugriff 4.7.2023

■             STDOK - Staatendokumentation of the BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Bericht Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_up load/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-k e.pdf, Zugriff 3.7.2023

■             TIMEP - The Tahrir Institute for Middle East Policy (15.10.2021): Daraa: Another Example of the Regime’s Failure of Reconciliation, https://timep.org/commentary/analysis/daraa-another-example -of-the-regimes-failure-of-reconciliation/, Zugriff 3.7.2023

■             UNHRC - United Nations Human Rights Council (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic*, **, https://www.ecoi.net/en/file/local/2088857 /G2301021.pdf, Zugriff 4.7.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 4.7.2023

Türkische Militäroperationen in Nordsyrien


„Operation Schutzschild Euphrat“ (türk. „Firat Kalkani Harekäti“)

Am 24.8.2016 hat die Türkei die „Operation Euphrates Shield" (OES) in Syrien gestartet (MFATR o.D.; vergleiche CE 19.1.2017). Die OES war die erste große Militäroperation der Türkei in Syrien (OR o.D.). In einer Pressemitteilung des Nationalen Sicherheitsrats (vom 30.11.2016) hieß es, die Ziele der Operation seien die Aufrechterhaltung der Grenzsicherheit und die Bekämpfung des Islamischen Staates (IS) im Rahmen der UN-Charta. Außerdem wurde betont, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistan - PKK) sowie die mit ihr verbundene PYD (Partiya YekTtiya Demokrat) und YPG (YekTneyen Parastina Gel) keinen „Korridor des Terrors" vor den Toren der Türkei errichten dürfen (CE 19.1.2017). Obwohl die türkischen Behörden offiziell erklärten, dass die oberste Priorität der Kampf gegen den IS sei, betonen viele Kommentatoren und Analysten, dass das Ziel darin bestand, die Schaffung eines einzigen von den Kurden kontrollierten Gebiets in Nordsyrien zu verhindern (OR o.D.; vergleiche TWI 26.3.2019, SWP 30.5.2022). Die Türkei betrachtet die kurdische Volksverteidigungseinheit (YPG) und ihren politischen Arm, die Partei der Demokratischen Union (PYD), als den syrischen Zweig der PKK und damit als direkte Bedrohung für die Sicherheit der Türkei (SWP 30.5.2022).

„Operation Olivenzweig“ (türk. „Zeytin Dali Harekäti“)

Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) im Rahmen der „Operation Olive Branch" (OOB) den zuvor von der

YPG kontrollierten Distrikt Afrin ein (Bellingcat 1.3.2019). Laut türkischem Außenministerium waren die Ziele der OOB die Gewährleistung der türkischen Grenzsicherheit, die Entmachtung der „Terroristen“ in Afrin und die Befreiung der lokalen Bevölkerung von der Unterdrückung der „Terroristen“. Das türkische Außenministerium berichtete weiter, dass das Gebiet in weniger als zwei Monaten von PKK/YPG- und IS-Einheiten befreit wurde (MFATR o.D.). Diese Aussage impliziert, dass Ankara bei der Verfolgung der Grenzsicherheit und der regionalen Stabilität keinen Unterschied zwischen IS und YPG macht (TWI 26.3.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen (UN) die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSAin Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.1.2019).

„Operation Friedensquelle“ (türk. „Ban§ Pinari Harekäti“)

Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mithilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive, einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 10.10.2019). Der UN zufolge wurden innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Im Hinterland begannen IS-Zellen, Anschläge zu organisieren (GEG 3.4.2023). Medienberichten zufolge sind in dem Gefangenenlager ‘Ayn Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (Standard 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (Zeit 10.10.2019). Auch im Zuge der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022).

Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der „türkischen Aggression“ entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichteten (Standard 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernahmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (WP 14.10.2019). Seitdem verblieben die Machtverhältnisse [mit Stand April 2023] weitgehend unverändert (GEG 3.4.2023). Die syrischen Regierungstruppen üben im Gebiet punktuell Macht aus, etwa mit Übergängen zwischen einzelnen Stadtvierteln (z. B. Stadt Qamischli im Gouvernement Al-Hassakah) (AA 29.3.2023). Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine „Sicherheitszone“ in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra’s al-'Ayn ein (SWP 1.1.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.5.2020).


„Operation Frühlingsschild“ (türk. „Bahar Kalkani Harekäti“)

Nachdem die syrische Regierung im Dezember 2019 eine bewaffnete Offensive gestartet hatte, gerieten ihre Streitkräfte im Februar 2020 mit den türkischen Streitkräften in einen direkten Konflikt (CC 17.2.2021). Während des gesamten Februars führten die syrische Regierung und regierungsnahe Kräfte im Nordwesten Syriens Luftangriffe durch, und zwar in einem Ausmaß, das laut den Vereinten Nationen zu den höchsten seit Beginn des Konflikts gehörte. Auch führten die syrischen Regierungskräfte Vorstöße am Boden durch. Zu den täglichen Zusammenstößen mit nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen gehörten gegenseitiger Artilleriebeschuss und Bodenkämpfe mit einer hohen Zahl von Opfern (UNSC 23.4.2020). Nach Angriffen syrischer Streitkräfte auf Stellungen der türkischen Armee, bei denen 34 türkische Soldaten getötet wurden, leitete Ankara die Operation „Frühlingsschild“ in der Enklave Idlib (INSS 4.9.2022) am 27.2.2020 ein (UNSC 23.4.2020). Die Türkei versuchte damit ein Übergreifen des syrischen Konflikts auf die Türkei als Folge der neuen Regimeoffensive - insbesondere in Form eines Zustroms von Extremisten und Flüchtlingen in die Türkei - zu verhindern. Ein tieferer Beweggrund für die Operation war der Wunsch Ankaras, eine Grenze gegen weitere Vorstöße des Regimes zu ziehen, welche die türkischen Gebietsgewinne in Nordsyrien gefährden könnten. Hay’atTahrir ash-Sham (HTS) war ein - wenn auch unintendierter - wichtiger Profiteur der Operation (Clingendael 9.2021). Im März 2020 wurde ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der Türkei und Russland in Idlib unterzeichnet, das die Schaffung eines sicheren Korridors um die Autobahn M4 und gemeinsame Patrouillen der russischen und türkischen Streitkräfte vorsah (INSS 4.9.2022). Der zwischen den Präsidenten Erdogan und Putin vereinbarte Waffenstillstand sorgte für eine Deeskalation. Es kommt aber immer wieder zu lokal begrenzten militärischen Gefechten zwischen den erwähnten Konfliktparteien (ÖB Damaskus 12.2022). Rund 8.000 Soldaten des türkischen Militärs verbleiben in der Region und unterstützen militärisch und logistisch die dort operierenden Organisationen, vor allem dieSyrian National Army (SNA, ehemals Free Syrian Army, FSA) und die HTS (INSS 4.9.2022).

„Operation Klauenschwert“ (türk. „Penpe Kilip Hava Harekäti“) und von Präsident Erdogan ankündigte Bodenoffensiven der Türkei

Ein Hauptziel der Türkei besteht darin, eine Pufferzone zu den Kräften des syrischen Regimes aufrechtzuerhalten, deren Vorrücken - ohne vorherige Absprache oder Vereinbarung - die Sicherheit der türkischen Grenze gefährden würde. Das vorrangige Ziel Russlands und des syrischen Regimes ist es, den Druck auf HTS aufrechtzuerhalten (EPC 17.2.2022). Es kommt in den türkisch-besetzten Gebieten zu internen Kämpfen zwischen von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen (AC 1.12.2022; vergleiche SO 26.5.2022) und vor allem im nördlichen Teil der Provinz Aleppo, auch vermehrt zu Anschlägen seitens der kurdischen YPG. Die sehr komplexe Gemengelage an (bewaffneten) Akteuren, u. a. YPG und Türkei-nahe Rebellengruppen, die sich auch untereinander bekämpfen, führt zu einer sehr konfliktgeladenen Situation in der Provinz Aleppo und vor allem in deren nördlichem Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Erdogan hat wiederholt angekündigt, einen 30 Kilometer breiten Streifen an der syrischen Grenze vollständig einzunehmen, um eine sogenannte Sicherheitszone auf der syrischen Seite der Grenze zu errichten (MI 21.11.2022; vergleiche IT 30.5.2023), unter anderem, um dort syrische Flüchtlinge und Vertriebene, sowohl sunnitische Araber als auch Turkmenen, anzusiedeln. Dieser Prozess ist inAfrrn, al-Bab und Ra’sal-’Ayn bereits im Gange (GEG 3.4.2023; vergleiche NPA 5.6.2023, VOA 12.1.2023). Zuletzt konzentrierte die türkische Regierung ihre Drohungen auf die Region um Kobane und Manbij - also die westlichen Selbstverwaltungsgebiete (MI 21.11.2022). Damit kann eine Verbindung zwischen dem Gebiet al-Bab-Jarablus und dem Gebiet Tel Abyad-Ra’s al-’Ayn hergestellt werden (GEG 3.4.2023), außerdem ist Kobane ein Symbol des kurdischen Widerstands gegen den IS (GEG 3.4.2023; vergleiche ANF 29.11.2022).

Am 13.11.2022 wurde in Istanbul ein Bombenanschlag verübt, bei dem sechs Menschen starben und rund 80 verletzt wurden (AJ 22.11.2022). Die Türkei machte die YPG und PKK für den Anschlag verantwortlich, was beide Gruppierungen bestritten (AJ 24.11.2022; vergleiche REU 14.11.2022). Die Türkei hat ihre militärischen Aktivitäten im Norden und Nordosten als Antwort auf den Vorfall verstärkt (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche AJ 24.11.2022). Eine Woche nach dem Anschlag startete das türkische Militär die Operation „Klauenschwert“ (AJ 22.11.2022) und führte als Vergeltungsmaßnahme eine Reihe von Luftangriffen auf mutmaßliche militante Ziele in Nordsyrien und im Irak durch (BBC 20.11.2022). Nach Angaben der SDF wurden bei den Luftschlägen auch zivile Ziele getroffen, während es sich bei den zerstörten Zielen laut türkischen Angaben um Bunker, Tunnel und Munitionsdepots handelte (Zeit20.11.2022). Am 23.11.2022 richteten sich die türkischen Angriffe auch gegen einen SDF-Posten im Gefangenenlager al-Hol, in dem mehr als 53.000 IS-Verdächtige und ihre Familienangehörigen festgehalten werden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder aus etwa 60 Ländern (HRW 7.12.2022).

Türkische Regierungsvertreter signalisierten wiederholt, dass eine Bodenoffensive folgen könnte (AJ 22.11.2022, FR24 14.1.2023), wovor Russland, der Iran (AJ 22.11.2022) und die USA warnten (NPA 18.1.2023). Die USA haben zur „sofortigen Deeskalation“ aufgerufen. Größte Sorge in Washington ist, dass eine türkische Offensive im Nordirak der Terrormiliz IS in die Hände spielt (RND 27.11.2022; vergleiche USDOS 23.11.2022). Zellen des IS sind in Syrien immer noch aktiv. Die YPG ist ein wichtiger Verbündeter der USA im Kampf gegen den IS. Tausende ehemalige IS-Kämpfer sitzen in Gefängnissen, die von der Kurdenmiliz kontrolliert werden. Eine Schlüsselrolle für die türkische Syrien-Strategie spielt Russland. Präsident Wladimir Putin ist der wichtigste politische und militärische Verbündete des syrischen Machthabers Bashar al-Assad. Die russischen Streitkräfte haben die Lufthoheit über Syrien. Für eine Bodenoffensive braucht Erdogan zumindest die Duldung Moskaus (RND 27.11.2022). Auch auf Bestreben Moskaus (FR24 14.1.2023) gibt es Normalisierungsbemühungen zwischen Ankara und Damaskus (Alar- aby 25.1.2023; vergleiche FR24 14.1.2023). Syriens Außenminister betonte im Mai 2023 allerdings, dass es zu keiner Normalisierung der beiden Länder kommen werde, solange die Türkei syrisches Staatsgebiet besetzt hält (Tasnim 22.5.2023). Die syrischen Kurden befürchten, dass Präsident Assad im Gegenzug für einen vollständigen Rückzug der Türkei aus Syrien einem härteren Vorgehen gegen die YPG zustimmen könnte (IT 30.5.2023). Analysten gingen Anfang 2023 allerdings davon aus, dass ein vollständiger Rückzug der Türkei in naher Zukunft aus einer Reihe von Gründen unwahrscheinlich sei und sich wahrscheinlich als äußerst kompliziert erweisen werde (Alaraby 25.1.2023).

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Nordost-Syrien (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) und das Gebiet der SNA (Syrian National Army)

Besonders volatil stellt sich laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amt die Lage im Nordosten Syriens (v. a. Gebiete unmittelbar um und östlich des Euphrats) dar. Als Reaktion auf einen, von der Türkei der PKK zugeschriebenen, Terroranschlag mit mehreren Toten in Istanbul startete das türkische Militär am 19.11.2022 eine mit Artillerie unterstützte Luftoperation gegen kurdische Ziele u. a. in Nordsyrien. Bereits zuvor war es immer wieder zu vereinzelten, teils schweren Auseinandersetzungen zwischen türkischen und Türkei-nahen Einheiten und Einheiten der kurdisch dominierten SDF (Syrian Defence Forces) sowie Truppen des Regimes gekommen, welche in Abstimmung mit den SDF nach Nordsyrien verlegt wurden. Als Folge dieser Auseinandersetzungen, insbesondere auch von seit Sommer 2022 zunehmenden türkischen Drohnenschlägen, wurden immer wieder auch zivile Todesopfer, darunter Kinder, vermeldet (AA 29.3.2023). Auch waren die SDF gezwungen, ihren Truppeneinsatz angesichts türkischer Luftschläge und einer potenziellen Bodenoffensive umzustrukturieren. Durch türkische Angriffe auf die zivile Infrastruktur sind auch Bemühungen um die humanitäre Lage gefährdet (Newlines 7.3.2023). Die Angriffe beschränkten sich bereits im 3. Quartal 2022 nicht mehr nur auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfanden; im Juli und August 2022 trafen türkische Drohnen Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobane, Tell Abyad, Ar-Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und al-Hassakah (CC 3.11.2022). Bereits im Mai 2022 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eine vierte türkische Invasion seit 2016 angekündigt (HRW 12.1.2023). Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der YPG als auch der Democratic Union Party (PYD) Nähe zur von der EU als Terrororganisation gelisteten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und bezeichnet diese daher ebenfalls als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.11.2021).

Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen (CMEC 2.10.2020) [Anm.: Siehe hierzu Unterkapitel türkische Militäroperationen in Nordsyrien im Kapitel Sicherheitslage]. Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der ’Syrian National Army’ (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch präsent (ÖB Damaskus 1.10.2021; vergleiche AA 29.11.2021; JsF 9.9.2022). Am 4.9.2022 errichteten die US-Truppen einen neuen Militärstützpunkt im Dorf Naqara im Nordosten Syriens, der zu den drei Standorten der US-geführten internationalen Koalition in der Region Qamishli gehört. Der neue Militärstützpunkt kann dazu beitragen, die verstärkten Aktivitäten Russlands und Irans in der Region zu überwachen; insbesondere überblickt er direkt den von den russischen Streitkräften betriebenen Luftwaffenstützpunkt am Flughafen Qamishli. Er ist nur wenige Kilometer von den iranischen Militärstandorten südlich der Stadt entfernt (JsF 9.9.2022). Hinzukamen wiederholte Luft- bzw. Drohnenangriffe zwischen den in Nordost-Syrien stationierten US-Truppen und Iran-nahen Milizen (AA 29.3.2023).

SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad- Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022). Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS (PBS 22.2.2022), und die Region gilt als „Hauptschauplatz für den Aufstand des IS“ (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022).

Die kurdischen, sogenannten ’Selbstverteidigungseinheiten’ (YekTneyen Parastina Gel - YPG) stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien vorgehen (AA 29.11.2021). In Reaktion auf die Reorganisation der Truppen zur Verstärkung der Front gegen die Türkei stellten die SDF vorübergehend ihre Operationen und andere Sicherheitsmaßnahmen gegen den Islamischen Staat ein. Dies weckte Befürchtungen bezüglich einer Stärkung des IS in Nordost-Syrien (Newlines 7.3.2023). Die SDF hatten mit Unterstützung US-amerikanischer Koalitionskräfte allein seit Ende 2021 mehrere Sicherheitsoperationen durchgeführt, in denen nach eigenen Angaben Hunderte mutmaßliche IS-Angehörige verhaftet wurden (AA 29.3.2023).

Der IS führt weiterhin militärische Operationen und Gegenangriffe durch, und IS-Zellen sind nach wie vor in der Lage, ein Sicherheitsvakuum zu nutzen und Attentate zu verüben. SOHR hat seit Anfang 2022 181 Operationen des IS, darunter bewaffnete Angriffe und Explosionen, in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung dokumentiert. Laut Statistiken des SOHR wurden bei diesen Operationen 135 Menschen getötet, darunter 52 Zivilisten und 82 Angehörige der SDF, der Inneren Sicherheitskräfte und anderer militärischer Formationen, die in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung operierten. Bei diesen Angriffen wurde der Angriff auf das Sina’a-Gefängnis in al-Hassakah nicht berücksichtigt (SOHR 29.11.2022).

Mit dem Angriff auf die Sina’a-Haftanstalt in Al-Hassakah in Nordostsyrien im Januar 2022 und den daran anschließenden mehrtägigen Kampfhandlungen mit insgesamt ca. 470 Todesopfern (IS-Angehörige, SDF-Kämpfer, Zivilisten) demonstrierte der IS propagandawirksam die Fähigkeit, mit entsprechendem Vorlauf praktisch überall im Land auch komplexe Operationen durchführen zu können (AA 29.3.2023). Bei den meisten Gefangenen handelte es sich um prominente IS-Anführer (AM 26.1.2022). Unter den insgesamt rund 5.000 Insassen des überfüllten Gefängnisses befanden sich nach Angaben von Angehörigen jedoch auch Personen, die aufgrund von fadenscheinigen Gründen festgenommen worden waren, nachdem sie sich der Zwangsrekrutierung durch die SDF widersetzt hatten, was die SDF jedoch bestritten (Al Jazeera 26.1.2022). Die Gefechte dauerten zehn Tage, und amerikanische wie britische Kräfte kämpften aufseiten der SDF (HRW 12.1.2023). US-Angaben zufolge war der Kampf die größte Konfrontation zwischen den US-amerikanischen Streitkräften und dem IS, seit die Gruppe 2019 das (vorübergehend) letzte Stück des von ihr kontrollierten Gebiets in Syrien verloren hatte (NYT 25.1.2022). Vielen Häftlingen gelang die Flucht, während sich andere im Gefängnis verbarrikadierten und Geiseln nahmen (ANI 26.1.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen mussten schätzungsweise 45.000 Einwohner von al-Hassakah aufgrund der Kämpfe aus ihren Häusern fliehen, und die SDF riegelte große Teile der Stadt ab (MEE 25.1.2022; vergleiche NYT 25.1.2022, EUAA 9.2022). Während der Kampfhandlungen erfolgten auch andernorts in Nordost-Syrien Angriffe des IS (TWP 24.2.2022). Die geflohenen Bewohner durften danach zurückkehren (MPF 8.2.2022), wobei Unterkünfte von mehr als 140 Familien scheinbar von den SDF während der Militäraktionen zerstört worden waren. Mit Berichtszeitpunkt Jänner 20223 waren Human Rights Watch keine Wiederaufpläne, Ersatzunterkünfte oder Kompensationen für die zerstörten Gebäude bekannt (HRW 12.1.2023).

Während vorhergehende IS-Angriffe von kurdischen Quellen als unkoordiniert eingestuft wurden, erfolgte die Aktion in al-Hassakah durch drei bestens koordinierte IS-Zellen. Die Tendenz geht demnach Richtung seltenerer, aber größerer und komplexerer Angriffe, während dezentralisierte Zellen häufige, kleinere Attacken durchführen. Der IS nutzt dabei besonders die große Not der in Lagern lebenden Binnenvertriebenen im Nordosten Syriens aus, z. B. durch die Bezahlung kleiner Beträge für Unterstützungsdienste. Der IS ermordete auch einige Personen, welche mit der Lokalverwaltung zusammenarbeiteten (TWP 24.2.2022). Das Ausüben von koordinierten und ausgeklügelten Anschlägen in Syrien und im Irak wird von einem Vertreter einer US-basierten Forschungsorganisation als Indiz dafür gesehen, dass die vermeintlich verstreuten Schläferzellen des IS wieder zu einer ernsthaften Bedrohung werden (NYT 25.1.2022). Trotz der laufenden Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung hat der IS in letzter Zeit im Nordosten Syriens an Stärke gewonnen und seine Aktivitäten im Gebiet der SDF intensiviert. Am 28.9.2022 gaben die SDF bekannt, dass sie eines der größten Waffenverstecke des IS seit Anfang 2019 erobert haben. Sowohl die Größe des Fundes als auch sein Standort sind ein Beleg für die wachsende Bedrohung, die der IS im Nordosten Syriens darstellt (TWI 12.10.2022). Bei einem weiteren koordinierten Angriff des IS auf das Quartier der kurdischen de facto-Polizeikräfte (ISF/Asayish) sowie auf ein nahegelegenes Gefängnis für IS-Insassen in Raqqa Stadt kamen am 26.12.2022 nach kurdischen Angaben sechs Sicherheitskräfte und ein Angreifer ums Leben (AA 29.3.2023). Laut dem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juli 2022 sind einige der Mitgliedstaaten der Meinung, dass der IS seine Ausbildungsaktivitäten, die zuvor eingeschränkt worden waren, insbesondere in der Wüste Badiya wieder aufgenommen habe (EUAA 9.2022).

Die kurdischen Sicherheitskräfte kontrollieren weiterhin knapp 30 Lager mit 11.000 internierten IS-Kämpfern (davon 500 aus Europa) sowie die Lager mit Familienangehörigen; der Großteil davonin al-Hol (ÖB Damaskus 1.10.2021). Nach einigen Rückführungen und Repatriierungen beläuft sich die Gesamtzahl der Menschen in al-Hol nun auf etwa 53.000, von denen etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige sind (MSF 7.11.2022b), auch aus Österreich (ÖB Damaskus 1.10.2021). Das Ziel des IS ist es, diese zu befreien, aber auch seinen Anhängern zu zeigen, dass man dazu in der Lage ist, diese Personen herauszuholen (Zenith 11.2.2022). Das Lager war einst dazu gedacht, Zivilisten, die durch den Konflikt in Syrien und im Irak vertrieben wurden, eine sichere, vorübergehende Unterkunft und humanitäre Dienstleistungen zu bieten. Der Zweck von al-Hol hat sich jedoch längst gewandelt, und das Lager ist zunehmend zu einem unsicheren und unhygienischen Freiluftgefängnis geworden, nachdem die Menschen im Dezember 2018 aus den vom IS kontrollierten Gebieten dorthin gebracht wurden. 64 Prozent der Bewohner von al-Hol sind Kinder (MSF 7.11.2022b), die täglicher Gewalt und Kriminalität ausgesetzt sind (STC 5.5.2022; vergleiche MSF 7.11.2022a). Laut Ärzte ohne Grenzen wurden zusätzlich zu den 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen - der mit 38 Prozent häufigsten Todesursache in dem Lager - auch 30 Mordversuche gemeldet (MSF 7.11.2022a). Das Camp ist zusätzlich zu einem Refugium für den IS geworden, um Mitglieder zu rekrutieren (NBC News 6.10.2022). Am 22.11.2022 schlugen türkische Raketen in der Nähe des Lagers ein. Das Chaos, das zu den schwierigen humanitären Bedingungen im Lager hinzukommt, hat zu einem Klima geführt, das die Indoktrination durch den IS begünstigt. Die SDF sahen sich zudem gezwungen, ihre Kräfte zur Bewachung der IS-Gefangenenlager abzuziehen, um auf die türkische Bedrohung zu reagieren (AO 3.12.2022).

TürkischeAngriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens (Zenith 11.2.2022). Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich heute in einer zunehmend prekären politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (TWI 15.3.2022). Wie in anderen Bereichen üben die dominanten Politiker der YPG, der mit ihr verbündeten Organisationen im Sicherheitsbereich sowie einflussreiche Geschäftsleute Einfluss auf die Wirtschaft aus, was verbreiteten Schmuggel zwischen den Kontrollgebieten in Syrien und in den Irak ermöglicht (Brookings 27.1.2023).Angesichts der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Nordosten Syriens haben die SDF zunehmend drakonische Maßnahmen ergriffen, um gegen abweichende Meinungen im Land vorzugehen und Proteste zum Schweigen zu bringen, da ihre Autorität von allen Seiten bedroht wird (Etana 30.6.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem wurde gegen den niedrigen Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.8.2021) sowie gegen steigende Treibstoffpreise (AM 30.5.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im Gouvernement al-Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem Asayish [Anm: Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion] in die Proteste eingriffen (al- Sharq 27.8.2021; vergleiche AM 30.5.2021). Die Türkei verschärft die wirtschaftliche Lage in AANES absichtlich, indem sie den Wasserfluss nach Syrien einschränkt (KF 5.2022). Obwohl es keine weitverbreiteten Rufe nach einer Rückkehr des Assad-Regimes gibt, verlieren einige Einwohner das Vertrauen, dass die kurdisch geführte AANES für Sicherheit und Stabilität sorgen kann (TWI 15.3.2022).

Quellen:

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■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_ Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stan d_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 6.7.2023

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■             Al-Sharq - Al Sharq Strategic Research (27.8.2021): Heated Conflict or Consolidation of the Status Quo in Northeast Syria: What is next for the AANES?,

■             https://research.sharqforum.org/2021/08/27/heated-conflict-or-consolidation-of-the-status-quo-i n-northeast-syria-what-is-next-for-the-aanes/, Zugriff 6.7.2023

■             AM -Al-Monitor (26.1.2022): How attack on Kurdish-run prison in northeast Syria will affect Islamic State, https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/how-attack-kurdish-run-prison-northeast-syr ia-will-affect-islamic-state, Zugriff 6.7.2023

■             AM - Al-Monitor (30.5.2021): Syrian Arab tribes put Kurdish administration on notice, https://www. al-monitor.com/originals/2021/05/syrian-arab-tribes-put-kurdish-administration-notice, Zugriff 6.7.2023

■             AN - Arab News (17.10.2021): How viable is the Kurds’ autonomous rule in northeastern Syria?, https://www.arabnews.com/node/1949126/middle-east, Zugriff 6.7.2023

■             ANI - Asian News International (26.1.2022): Over 500 Islamic State terrorists surrender in Syrian Al-Hasakah after prison break: SDF, https://www.aninews.in/news/world/asia/over-500-islamic-s tate-terrorists-surrender-in-syrian-al-hasakah-after-prison-break-sdf20220126120507/, Zugriff 6.7.2023

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■             PBS - Public Broadcasting Service (22.2.2022): In one-time ISIS capital of Raqqa, poverty and fear drive residents out, https://www.pbs.org/newshour/world/in-one-time-isis-capital-of-raqqa-p overty-and-fear-drive-residents-out, Zugriff 6.7.2023

■             SOHR -Syrian Observatory for Human Rights (2.12.2022): „Putin-Erdogan“ area in November 2022 Nearly 50 fata*lities in acts of vio*lence...chronic crises...withdrawal of Turkish brigade from Idlib, https://www.syriahr.com/en/278644/, Zugriff 6.7.2023

■             STC - Save the Children (5.5.2022): Syrien: Kinder im Al Hol-Camp täglicher Gewalt ausgesetzt, https://www.savethechildren.de/news/syrien-kinder-im-al-hol-camp-taeglicher-gewalt-ausgesetz t/, Zugriff 6.7.2023

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■             TWI - The Washington Institute for Near East Policy (15.3.2022): How to Preserve the Autonomy of Northeast Syria, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/how-preserve-autonomy-n ortheast-syria, Zugriff 6.7.2023

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■             Zenith (11.2.2022): »Der IS rekrutiert eine neue Generation von Kämpfern«, https://magazin.zeni th.me/de/politik/interview-mit-syrien-experte-fabrice-balanche-%C3%BCber-den-die-kurden-und -syrien, Zugriff 6.7.2023

Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet

Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) war es nach Kämpfen mit der Nusra-Front und gegnerischen arabischen Stämmen im Juli 2014 gelungen, die Provinz Deir ez-Zor fast vollständig einzunehmen. 2017 führte die syrische Armee mit Unterstützung Russlands und Irans größere Militäroperationen durch, die zur Rückeroberung der Stadt Deir ez-Zor führten. Bis Ende 2017 verlor der IS den größten Teil seines Territoriums auf der Westseite des Euphrat. Auf der östlichen Seite des Flusses waren die Syrian Democratic Forces (SDF) bis Anfang 2019 in heftige Kämpfe mit dem IS verwickelt. Der IS kontrollierte damals noch ein kleines Stück Land nahe der syrisch-irakischen Grenze (EASO 5.2020). Im März 2019 wurde das letzte vom IS gehaltene Gebiet, das Dorf Baghouz, von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) eingenommen (EASO 5.2020; vergleiche DZ 24.3.2019) [Anm.: zum Lager al-Hol siehe Unterkapitel Kinder sowie zu den Sicherheitsaspekten siehe auch Unterkapitel Nordost-Syrien im Kapitel Sicherheitslage].

Das Gouvernement Deir ez-Zor ist grob in zwei Kontrollbereiche unterteilt. Der westliche Teil des Gouvernements - d.h. vor allem die Gebiete westlich des Euphrat - wird von der syrischen Regierung und ihren iranischen und russischen Verbündeten kontrolliert. Dieses Gebiet umfasst die wichtigsten Städte (Deir Ez-Zor, Mayadin und Al-Bukamal) und die logistische Route, die die von der Regierung kontrollierten Gebiete mit der syrisch-irakischen Grenze verbindet. Der östliche Teil des Gouvernements - die meisten Gebiete östlich des Euphrat - wird von den kurdisch dominierten SDF und ihren Verbündeten in der US-geführten Koalition kontrolliert (EUAA 9.2022; vergleiche JfS 12.1.2021). Da die SDF ihre Einflusssphären in der Region von der östlichen Seite her bis zum Euphrat ausdehnten, ist das al-Omar-Feld nun als die größte US- Militärbasis in Syrien bekannt. Das Feld im Osten von Deir ez-Zor ist das größte Ölfeld in Syrien (Enab 23.9.2022; vergleiche EUAA 9.2022).

Der Euphrat markierte bisher die Grenze zwischen dem russischen und dem US-Einflussgebiet im Bürgerkriegsland Syrien. Westlich des Flusses besitzt Russland die Lufthoheit und unterstützt mit seinen Kampfjets die eigenen Truppen in Syrien und die Armee von Machthaber Bashar al-Assad. Östlich des Stroms herrschten bisher die USA und ihre kurdischen Partner. Doch diese Abmachung bröckelt, weil Russland den militärischen Druck auf die USA in Syrien erhöht, um die Amerikaner aus dem Land zu drängen. Washington schickt nun zusätzliche Kampfflugzeuge (Die Presse 22.6.2023).

Die Bemühungen der Regierung Syriens in den 2017 vom IS zurückeroberten Gebieten die Kontrolle zu übernehmen, sind begrenzt, was der lokalen regierungsfreundlichen Miliz, den Nationalen Verteidigungskräften (NDF - National Defence Forces), freie Hand ließ und zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen führte, darunter Plünderungen und die gewaltsame Aneignung von zivilem Eigentum (WI 4.9.2020). Das vom Regime kontrollierte Deir ez-Zor wird von einem komplizierten Geflecht lokaler und anderer Sicherheitskräfte überwacht, von denen viele auch wichtige soziale und wirtschaftliche Funktionen in ihren Städten erfüllen. Stammesmilizen, die mit den NDF verbündet sind, Geheimdienstoffiziere und ihre Milizen, Freiwillige und Wehrpflichtige der Republikanischen Garde sowie der syrischen Armee (Syrische Arabische Armee -SAA) sowie eine Vielzahl ausländischer und syrischer Milizen, die unter anderem mit Iran verbündet sind, bemannen Außenposten und verwalten Städte im gesamten Gouvernement. Die Spannungen zwischen den lokalen Sicherheitskräften und der von Damaskus aus kommandierten SAA haben in den Jahren nach der Befreiung der Provinz vom IS stetig zugenommen (MEI 19.4.2021). Nach März 2019 ist die Präsenz der syrischen Regierung in den westlichen Teilen des Gouvernements Deir Ez-Zor begrenzt geblieben, was zu einer iranisch-russischen Konkurrenz um Ressourcen und Land führte (WI 4.9.2020).

Das Gebiet von Deir ez-Zor galt im Jahr 2019 als Kerngebiet der IS-Aktivität in Syrien, vor allem die Gebiete im Süden von Bosaira in Richtung Diban (BBC 27.10.2019). Der IS konnte im Jahr 2020 seinen Aufstand und seine klandestinen Operationen geringer Intensität in Zentralsyrien ausweiten und hat im ganzen Land Hochburgen und Zufluchtsorte errichtet, auch in der ostsyrischen Wüste und im von den SDF kontrollierten Teil von Deir ez-Zor (ICCT 28.6.2022). Die IS-Bewegung hat vor allem in der Wüstenregion Badia entlang der syrischen-irakischen Grenze wieder zugenommen, was Experten zu Folge zu weiteren IS-Angriffen im Nordosten Syriens führen könnte. Der IS bedroht nach wie vor fast alle Parteien in Syrien. Die Spannungen zwischen den verschiedenen Fraktionen im syrischen Konflikt und das fragile Sicherheitsumfeld haben es dem IS ermöglicht, zu wachsen und sich durch die verschiedenen Kontrollgebiete zu bewegen (CC 3.11.2022; vergleiche NI 8.8.2022). Die Wüste ist gebirgig und dünn besiedelt, und es hat keine systematische, anhaltende Militär- und Sicherheitskampagne gegeben, um die Kämpfer aufzuspüren, und aus diesen unmöglich zu kontrollierenden Gebieten zu vertreiben (NI 8.8.2022). In den Jahren 2020 und 2021 wurden regelmäßige Aktivitäten von Schläferzellen in den von den SDF kontrollierten Gebieten gemeldet, wobei sich die Sicherheitslage um Deir ez-Zor und in den Gebieten um Shaddadi verschlechtert hat (ICCT 28.6.2022). Das Tal des mittleren Euphrat und die Wüstengebiete im Gouvernement Deir ez-Zor werden als IS-Unterstützungsgebiet beschrieben, das seine Mitglieder nutzen können, um Sicherheitsoperationen zu umgehen und Waffen, Ausrüstung und Personal über die syrisch-irakische Grenze zu bringen (USDOD 3.11.2020).

Der IS nutzt die Gebiete in der syrischen Wüste im Gouvernement Deir ez-Zor als sicheren Zufluchtsort und als Basis für Angriffe auf die Streitkräfte der Regierung und die SDF (UNSC 3.2.2021) sowie auf iranische Milizen und russische Streitkräfte. Auch wurde von Angriffen auf Arbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zor berichtet (AM 29.12.2021). Die Sicherheitslage in Deir ez-Zor wird demnach durch Angriffe des IS gegen Regierungstruppen (NPA 13.11.2021; vergleiche Asharq 30.8.2021) beeinträchtigt, sowie auch durch Angriffe des IS auf die SDF bzw. durch Operationen der SDF gegen den IS, z.T. unter Beteiligung von US-Streitkräften (MEMO 29.12.2021; vergleiche K24 23.9.2021, BAMF 20.12.2021, USDOD 3.11.2021). Die Beeinträchtigung resultiert auch aus den mit dem Iran zusammenhängenden Sicherheitsvorfällen (hauptsächlich US-amerikanische und israelische Luftangriffe) in den von der Regierung Syriens kontrollierten Teilen des Gouvernements (AnA 13.1.2021; vergleiche ACLED 13.10.2021, AC 18.5.2021, EUAA 9.2022). Im April und Mai 2021 kam es in Deir ez-Zor zu zahlreichen Tötungen, die häufig auf IS-Aktivitäten zurückgeführt wurden (EUAA 9.2022; vergleiche UNSC 17.6.2021). Die SDF führten mehrere Razzien gegen den IS durch, die sich sowohl auf das nördliche und nordöstliche als auch auf das östliche und nordwestliche Umland von Deir ez-Zor konzentrierten (EUAA 9.2022; vergleiche ANHA 11.5.2021). Auch für das erste Halbjahr 2022 registrierte der UN-Sicherheitsrat eine Konzentration von IS- Aktivitäten im Gouvernement Deir ez-Zor (EUAA 9.2022). Der Osten des Gouvernements gilt als das Gebiet, in dem die Autorität der SDF am schwächsten ist (EUAA 9.2022). Im dritten Quartal 2022 gab es einen Rückgang an offiziellen Meldungen bezüglich Sicherheitsvorfällen in Zusammenhang mit dem IS - 144 sicherheitsrelevante Ereignisse statt 185 im vorherigen Quartal. Allerdings wurden im September 2022 61 IS-bezogene Konfliktereignisse gemeldet, verglichen mit 34 im Juli 2022, was darauf hindeutet, dass die IS-Aktivität weiter zunehmen könnte, wenn sie nicht kontrolliert wird. Analysten argumentieren, dass sich die Gruppe ohne kontinuierliche militärische Gegenmaßnahmen neu formieren wird (CC 3.11.2022).

Der IS hat großteils darauf verzichtet, die Verantwortung für seine Angriffe zu übernehmen, und widersprüchliche Berichte erschweren die Verifizierung von IS-Aktivitäten (CC 5.8.2022). Dass der IS nach wie vor eine Bedrohung darstellt, und darüber hinaus auch die Gefahr besteht, dass er nun besser in der Lage sein könnte, größere Operationen durchzuführen oder die Dynamik seiner Angriffe zu erhöhen, zeigt sich auch in Zusammenhang mit dem Sina’a-Anschlag vom Januar 2022 (ICCT 28.6.2022).

Als Reaktion auf einen Angriff durch eine Drohne iranischer Machart mit einem Toten auf einen US-Stützpunkt in al-Hassakah führten US-Streitkräfte im März 2023 mehrere Gegenschläge auf Stellungen pro-iranischer Gruppen in den Städten Deir ez-Zour, Abu Kamal und Majadin in der Provinz Deir ez-Zour durch. Ein weiterer (pro-)iranischer Angriff zielte auf eine US-Stellung beim Ölfeld al-Omar (TAZ 24.3.2023). Laut US-Angaben starben bei den US-Luftschlägen insgesamt 19 Personen (Ha’aretz 4.4.2023).

Quellen:

■             AC - Atlantic Council (18.5.2021): Factbox: Iranian presence in Syria’s Deir ez-Zor province,https: //www.atlanticcouncil.org/blogs/menasource/factbox-iranian-presence-in-syrias-deir-ez-zor-provi nce/, Zugriff 6.7.2023

■             ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (13.10.2021): Regional Overview: Middle East 2-8 October 2021, https://acleddata.com/2021/10/13/regional-overview-middle-east2-8-oct ober-2021/, Zugriff 6.7.2023

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Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien

Mittlerweile hat das Assad-Regime, unterstützt von Russland und Iran, unterschiedlichen Quellen zu Folge zwischen 60 % (INSS 24.4.2022; vergleiche GIS 23.5.2022) und 70 % des syrischen Territoriums wieder unter seine Kontrolle gebracht (USCIRF 11.2022; EUAA 9.2022). Im November 2022 kontrolliert die Regierung die meisten größeren Städte des Landes, darunter die Großstädte Damaskus, Aleppo, Homs und Hama (CRS 8.11.2022; vergleiche EUAA 9.2022). Ausländische Akteure und regierungstreue Milizen üben erheblichen Einfluss auf Teile des Gebiets aus, das nominell unter der Kontrolle der Regierung steht (AM 23.2.2021; vergleiche SWP 3.2020, FP 15.3.2021, EUI 13.3.2020) .

Die zivilen Behörden haben nur begrenzten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Organisationen, die in Syrien operieren, darunter russische Streitkräfte, die libanesische Hizbollah, die iranischen Revolutionswächter (IRGC) und regierungsnahe Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defence Forces - NDF), deren Mitglieder zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen haben (USDOS 20.3.2023). Auch innerhalb einzelner Regionen unterscheidet sich die Lage von Ort zu Ort und von Betroffenen zu Betroffenen. Somit ist eine pauschale Lagebeurteilung nicht möglich (AA 29.3.2023).

Die Sicherheitslage zwischen militärischen Entwicklungen und Menschenrechtslage

Ungeachtet der obigen Ausführungen bleibt Syrien bis hin zur subregionalen Ebene territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren derzeit rund 20 Prozent der Grenzen des Landes. Obwohl die syrischen Zollbehörden offiziell für die Grenzübergänge zum Irak (Abu Kamal), zu Jordanien (Nasib) und zum Libanon (al-Arida, Jdeidat, al-Jousiyah und al-Dabousiyah) zuständig sind, liegt die tatsächliche Kontrolle bei anderen: Die libanesische Grenze ist von der Hizbollah besetzt, die auf der syrischen Seite Stützpunkte eingerichtet hat (Zabadani, al-Qusayr), von denen aus sie die Bergregion Qalamoun beherrscht. Auch die irakischen schiitischen Milizen verwalten beide Seiten ihrer Grenze von Abu Kamal bis at-Tanf (WI 10.2.2021).

Vor allem Aleppo, die größte Stadt Syriens und ihr ehemaliger wirtschaftlicher Motor, bietet einen Einblick in die derzeitige Lage: Die Truppen des Regimes haben die primäre, aber nicht die ausschließliche Kontrolle über die Stadt, weil die Milizen, auch wenn sie nominell mit dem Regime verbündet sind, sich sporadische Zusammenstöße mit Soldaten und untereinander liefern und die Einwohner schikanieren. Die Rebellen sind vertrieben, kein ausländischer Akteur hat ein Interesse an einer erneuten Intervention, um das Regime herauszufordern, und die Bevölkerung ist durch den jahrelangen Krieg zu erschöpft und verarmt und zu sehr damit beschäftigt, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, um einen weiteren Aufstand zu führen. Außerdem konnten die meisten Einwohner der Stadt, die in von der Opposition gehaltene Gebiete oder ins Ausland vertrieben wurden, nicht zurückkehren, vor allem weil sie entweder die Einberufung oder Repressalien wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Aufstand fürchten (ICG 9.5.2022). Gebiete, in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wieOst-Ghouta, Damaskus oder Homs, werden nun auch verstärkt durch die Geheimdienste überwacht (Üngör 15.12.2021).

Andere Regionen wie der Westen des Landes, insbesondere die Gouvernements Tartus und Latakia (Kerneinflussgebiete des Assad-Regimes), blieben auch im Berichtszeitraum von aktiven Kampfhandlungen vergleichsweise verschont. Unverändert kam es hier nur vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Latakia und Idlib (AA 29.3.2023).

Unabhängig von militärischen Entwicklungen kommt es laut vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen, insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA29.11.2021) [Anm.: Siehe dazu Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Die UN-Untersuchungskommis- sion für Syrien hält es für wahrscheinlich, dass das Regime, seine russischen Verbündeten und andere regimetreue Kräfte Angriffe begangen haben, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet sind und möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen. Dem Regime nahestehende paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufige Verstöße und Misshandlungen, darunter Massaker, wahllose Tötungen, Entführungen von Zivilisten, extreme körperliche Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, und rechtswidrige Festnahmen (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung und andere Konfliktparteien setzen weiterhin Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategie zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein (GlobalR2P 31.5.2023; vergleiche CC 3.11.2022). In Zentral-, West- und Südsyrien kommt es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen (GlobalR2P 1.12.2022) [Anm.: Siehe auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Aus den Gouvernements Dara’a, Quneitra und Suweida wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 gezielte Tötungen, Sprengstoffanschläge, Schusswechsel, Zusammenstöße und Entführungen gemeldet, an denen Kräfte der syrischen Regierung und regierungsfreundliche Milizen, ehemalige Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, IS-Kämpfer und andere nicht identifizierte Akteure beteiligt waren (EUAA 9.2022).

Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versucht der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen ’Hort der Ruhe’ in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 1.7.2022; vergleiche EUAA 9.2022). Allerdings kommt es seit Anfang 2020 zu wiederholten Anschlägen in Damaskus und DamaskusUmland bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen werden (TSO 10.3.2020; vergleiche COAR 25.10.2021). Darunter war z. B. die Bombenexplosion eines Militärbusses am 20.10.2021 in einem dicht besiedelten Gebiet von Damaskus, bei welcher 14 Personen getötet wurden (HRW 13.1.2022). Im Zeitraum April 2022 bis Juli 2022 wurden sechzehn Anschläge in und um Damaskus gemeldet, welche Personen mit Regimenähe zum Ziel hatten (AN 1.7.2022).

In Gebieten wie Dara'a, der Stadt Deir ez-Zor und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihre Macht missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des IS, mit schweren Zerstörungen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren konfrontiert (ICG 13.2.2020).

Der Islamischer Staat (IS) verfügt über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun (AA 29.11.2021; Anmerkung, Siehe dazu auch Abschnitt „Provinz Deir ez-Zour / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet"). Der IS ist unter anderem im Osten der Provinz Homs aktiv. Es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021; vergleiche DIS 5.2022).

Von Februar bis April versuchen verarmte Syrer durch die Trüffelsuche Geld zum Überleben zu verdienen - trotz Lebensgefahr (France 24 8.3.2023) aufgrund der Präsenz von IS-Kämpfern und zahlreichen Landminen in der Wüste Zentralsyriens (TAZ 24.3.2023). Bei einem weiteren IS- Angriff Mitte Februar kamen 53 Zivilisten bei der Trüffelsuche ums Leben (Ha’aretz 17.2.2023). Mittlerweile soll der IS mindestens 150 Trüffelsucher im heurigen Jahr getötet haben (BBC 17.4.2023).

Verschiebungen bei der militärischen Präsenz von Russland und Iran

Die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine haben begonnen, sich spürbar auf Russlands militärische und diplomatische Haltung in Syrien auszuwirken (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Russland ist seit 2015 eine dominante militärische Kraft in Syrien und trägt dazu bei, das syrische Regime an der Macht zu halten (NYT 19.10.2022). Allerdings versucht Russland nun auch, seine Position in Europa zu stärken, indem es im Stillen seine Präsenz und sein Engagement in Syrien reduziert. Berichten zufolge wurden diese Soldaten teilweise durch russische Militärpolizisten ersetzt (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Die Bemühungen Russlands, seine Präsenz in Syrien zu verringern, haben auch diplomatische Manöver mit Iran und der Türkei ausgelöst. Iran hat das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in Ostsyrien auszubauen (CC 3.11.2022).

Israelische Luftschläge

Um die Präsenz Irans zu bekämpfen und die Weitergabe von Waffen an die Hizbollah zu verhindern, hat Israel häufig Luftangriffe gegen die syrische Regierung und die vom Iran unterstützten Milizen in ganz Syrien durchgeführt (CC 3.11.2022). Die israelischen Luftschläge gingen in den letzten Jahren in die Hunderte (Haaretz 18.2.2023).

Im Jahr 2021 erhöhte sich bereits das Ausmaß der israelischen Luftangriffe mit mindestens 56 Konfliktvorfällen (CC 3.11.2022). Im November 2021 wurde von zwei israelischen Angriffen auf Ziele in der Umgebung von Damaskus berichtet (NPA 3.11.2021). Am 28.12.2021 wurden Hafenanlagen in Latakia durch Luftschläge schwer beschädigt (AA 29.3.2023). Im Jahr 2022 fanden 31 israelische Luftangriffe statt, davon 19 im dritten Quartal 2022 (CC 3.11.2022). Seit Beginn 2022 kam es zudem zu israelischen Angriffen u. a. auf den Flughafen von Damaskus, wo sowohl zivile wie militärische Landebahnen getroffen wurden (JP 11.6.2022), bzw. der Flughafen vorübergehend gesperrt wurde (Ha’aretz 30.1.2023, vergleiche AA 29.3.2023). Auch gab es am 5.7.2022 nahe der Stadt Tartus einen israelischen Angriff auf Luftabwehrsysteme (JP 5.7.2022).

Im Jahr 2023 erfolgten weitere Luftangriffe, darunter ein Angriff auf den internationalen Flughafen Damaskus am 2.1.2023 (Ha’aretz 18.2.2023) und auf den Flughafen Aleppo am 7.3.2023 (Standard 7.3.2023). Seither gab es auch weitere Angriffsziele in Zusammenhang mit iranischen Milizen und der Hizbollah, darunter ein Ort im Stadtteil Kafr Sousa in Damaskus mit je nach Quelle divergierenden Zahlen zu den Todesopfern, welche von fünf bis 15 Personen reichten (Ha’aretz 18.2.2023). Laut syrischer Version wurde in Kafr Sousa eine iranische Schule (Ha’aretz 18.2.2023) getroffen, während andere Quellen von einem militärischen Ziel ausgehen - hauptsächlich mit Iran-Konnex (Ha’aretz 22.2.2022). Bei einem Raketenangriff Israels auf den

Flughafen in Aleppo, zum Beispiel am 1. Mai, wurde nach Angaben syrischer Staatsmedien ein Soldat getötet. Sieben weitere Menschen, darunter zwei Zivilisten, seien verwundet worden, berichteten staatliche syrische Medien unter Berufung auf einen Militärvertreter. Der Flughafen sei nach dem Angriff außer Betrieb gewesen. Auch einige Orte in der Nähe wurden demnach getroffen (Standard 2.5.2023). In der Region Aleppo sind pro-iranische Milizen besonders präsent (ORF 2.5.2023). Mittlerweile soll die Beunruhigung der Bevölkerung wachsen, weil sie immer mehr bei diesen Angriffen in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach Russland sollen zunehmend auch syrische Kräfte sich weigern, mit iranischen Verbänden gemeinsam zu patrouillieren (Zenith 24.2.2023).

US-Luftschläge in Syrien

Auch die USA gingen immer wieder gezielt mit Luftschlägen gegen Iran-nahe Akteure, aber auch ranghohe Kommandeure des sogenannten IS vor. Zugleich wurden US-Stützpunkte und von US-Kräften gesicherte Anlagen wiederholt Ziel von Drohnen- und Raketenangriffen, die nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte auf Iran-nahe Milizen zurückzuführen sind (AA 29.3.2023).

Dem deutschen Auswärtigen Amt zufolge kann daher in keinem Landesteil Syriens von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (AA 29.3.2023).

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■             ICG - International Crisis Group (9.5.2022): Syria: Ruling over Aleppo’s Ruins, https://www.crisisgr oup.org/middle-east-north-africa/east-mediterranean-mena/syria/syria-ruling-over-aleppos-ruins, Zugriff 7.7.2023

■             ICG - International Crisis Group (13.2.2020): Easing Syrian Refugees’ Plight in Lebanon, https: //www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/eastern-mediterranean/lebanon/211-easing-syria n-refugees-plight-lebanon, Zugriff 4.7.2023

■             INNS - The Institute for National Security Studies (24.4.2022): 11 Years of War in Syria: Situation Assessment, https://www.inss.org.il/publication/syria-war-11-years/, Zugriff 4.7.2023

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■             MEE - Middle East Eye (7.12.2021): Syria: Latakia port hit by ’Israeli air strikes’ for first time since 2011, https://www.middleeasteye.net/news/syria-israel-iran-weapons-shipment-latakia-port, Zugriff 4.7.2023

■             NPA - North Press Agency (3.11.2021): Israel re-attacks Damascus vicinity within days, https: //npasyria.com/en/67122/, Zugriff 4.7.2023

■             NYT - New York Times (19.10.2022): Russia Shrinks Forces in Syria, a Factor in Israeli Strategy There, https://web.archive.org/web/20221020021316/https://www.nytimes.com/2022/10/19/world /middleeast/russia-syria-israel-ukraine.html, Zugriff 4.7.2023

■             ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 4.7.2023

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■             Standard - Standard, Der (2.5.2023): Islamist nach Hungerstreik in Haft gestorben - Raketen auf Israel abgefeuert, https://www.derstandard.at/story/2000146033728/islamist-nach-hungerstreik-g estorben-raketen-auf-israel-abgefeuert, Zugriff 2.5.2023

■             Standard - Standard, Der (7.3.2023): Flughafen in Aleppo nach israelischem Luftangriff außer Betrieb, https://www.derstandard.at/story/2000144215351/flughafen-in-aleppo-nach-israelische m-luftangriff-ausser-betrieb, Zugriff 7.3.2023

■             SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2020): Iran’s Multi-Faceted Strategy in Deir ez-Zor. From Fighting Terrorism to Creating aZone of Influence, https://www.swp-berlin.org/publications/p roducts/comments/2020C15_DeirEzZor.pdf, Zugriff 4.7.2023

■             TAZ - Die Tageszeitung (24.3.2023): Mindestens elf Tote bei US-Angriff, https://taz.de/US-Angriff e-in-Syrien/!5924183/, Zugriff 28.3.2023

■             TSO - The Syrian Observer (10.3.2020): The Damascus Bombings: Settling Scores or Creative Chaos?, https://syrianobserver.com/EN/features/56592/the-damascus-bombings-settling-score s-or-creative-chaos.html, Zugriff 4.7.2023

■             Üngör, Ugur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall

■             USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom (11.2022): Factsheet: Religious Freedom in Syria, https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2022-11/2022%20Factsheet %20-%20HTS-Syria.pdf, Zugriff 4.7.2023

■             USDOS - USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

■             WI - Washington Institute (10.2.2021): TheAssad Regime Has Failed to Restore Full Sovereignty Over Syria, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/assad-regime-has-failed-restore-f ull-sovereignty-over-syria, Zugriff 4.7.2023

■             Zenith (24.2.2023): zenith-Newsletter für Insider: Live-Premiere mit Netflix-Star / Israel, Iran und Syrien / falsche Scheichs beim Karneval, per E-Mail

Rechtsschutz / Justizwesen

Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes

Die syrische Verfassung sieht Demokratie (Artikel eins,, 8, 10, 12), Achtung der Grund- und Bürgerrechte (Artikel 33 -, 49,), Rechtsstaatlichkeit (Artikel 50 -, 53,), Gewaltenteilung sowie freie, allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament (Artikel 57,) vor. Faktisch haben diese Prinzipien in Syrien jedoch nie ihre Wirkung entfaltet, da die Ba'ath-Partei durch einen von 1963 bis 2011 geltenden, extensiv angewandten Ausnahmezustand wichtige Verfassungsregeln außer Kraft setzte. Zwar wurde der Ausnahmezustand 2011 beendet, aber mit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien umgehend im Jahr 2012 durch eine genauso umfassende und einschneidende „Anti-Terror-Gesetzgebung" ersetzt. Sie führte zu einem Machtzuwachs der Sicherheitsdienste und massiver Repression, mit der das Regime auf die anfänglichen Demonstrationen und Proteste sowie den späteren bewaffneten Aufstand großer Teile der Bevölkerung antwortete. Justiz und Gerichtswesen sind von grassierender Korruption und Politisierung durch das Regime geprägt. Laut geltender Verfassung ist der Präsident auch Vorsitzender des Obersten Justizrates (AA 29.3.2023).

Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten regeln das Familienrecht (SLJ 5.9.2016). Der Konflikt in Syrien hat das bereits zuvor schwache Justizsystem weiter ausgehöhlt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die syrischen Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte werden regelmäßig vom Regime für politische Zwecke missbraucht. Zudem ist Korruption weit verbreitet. Die Unabhängigkeit syrischer Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte ist somit unverändert nicht gewährleistet. Vor allem vor Strafgerichten ist eine effektive Verteidigung in Fällen mit politischem Hintergrund praktisch nicht möglich. Immer wieder werden falsche Geständnisse durch Folter und Drohungen durch die Anklage erpresst und seitens der Gerichte weitestgehend vorbehaltlos akzeptiert (AA 29.3.2023). In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Umsetzung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weitverbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB Damaskus 1.10.2021). Richter und Staatsanwälte müssen im Grunde genommen der Ba’ath-Partei angehören und sind in der Praxis der politischen Führung verpflichtet (FH 9.3.2023).

Tausende von Gefangenen wurden monatelang oder jahrelang ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado") festgehalten, bevor sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren freigelassen wurden, während viele andere im Gefängnis starben (USDOS 20.3.2023).

Anti-Terror-Gerichte (CTC)

2012 wurde in Syrien ein Anti-Terror-Gericht (Counter Terrorism Court - CTC) eingerichtet. Dieses soll Verhandlungen aufgrund „terroristischer Taten" gegen Zivilisten und Militärpersonal führen, wobei die Definition von Terrorismus im entsprechenden Gesetz sehr weit gefasst ist (SJAC 9.2018). Die „Terrorismus-Gerichte" sind außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens tätig (ÖB Damaskus 1.10.2021).Anklagen gegen Personen, die vor das CTC gebracht werden, beinhalten: das Finanzieren, Fördern und Unterstützen von Terrorismus; die Teilnahme an Demonstrationen; das Schreiben von Stellungnahmen auf Facebook; die Kontaktierung von Oppositionellen im Ausland; den Waffenschmuggel an bewaffnete Oppositionelle; das Liefern von Nahrungsmitteln, Hilfsgütern und Medizin in von der Opposition kontrollierte Gebiete (NMFA 5.2020).

Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) und andere Quellen betonen, dass sowohl der Gerichtsprozess im CTC als auch die Gesetzgebung, auf deren Basis dieser Gerichtshof agiert offenkundig internationales Menschenrecht und fundamentale rechtliche Standards verletzen. Diese Verletzungen beinhalten: willkürliche Verhaftungen, unter Folter erzwungene Geständnisse als Beweismittel, geschlossene Gerichtssitzungen unter Ausschluss der Medien, das Urteilen des Gerichts über Zivilisten, Minderjährige und Militärangehörige gleichermaßen, die Ernennung der Richter durch den Präsidenten, die Nicht-Zulässigkeit von ZeugInnen der/des Angeklagten, usw. (NMFA 6.2021). Das normale juristische Prozedere gilt bei keinem der Fälle vor den CTCs. Eine Berufung gegen Urteile ist nicht möglich (BS 23.2.2022).

Mangels Definition von „Terrorismus“ und mit „Terrorismus“ als Generalvorwurf gegen jede Form von abweichender Meinung werden die Anti-Terrorismus-Gerichte als „politisch“ kategorisiert (BS 23.3.2022), und vor allem auch viele Oppositionelle werden dabei als „Terroristen“ angeführt (ÖB Damaskus 1.10.2021): Die Anti-Terror-Gerichte dienen insbesondere dem Zweck, politische Gegner und Personen, die sich für politischen Wandel und Menschenrechte einsetzen, auszuschalten. Demnach sollen seit Errichtung dieser Gerichte bis Oktober 2020 schätzungsweise mindestens 90.560 Fälle vor diesen Gerichten verhandelt worden sein. Dabei sollen mindestens 20.641 Gefängnisstrafen und mehr als 2.147 Todesurteile verhängt worden sein, davon der Großteil in Abwesenheit der Angeklagten. Vor diesen Gerichten sei Angeklagten in Verfahren, die oftmals nur wenige Minuten dauern, ein Rechtsbeistand verwehrt; sie würden nach glaubhaften Aussagen ehemaliger Häftlinge oftmals gezwungen, Geständnisse ohne Kenntnis des Textes blind zu unterschreiben. Viele der von diesen Gerichten Verurteilten erhielten laut SNHR Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren, politische Dissidenten häufig bis zu 30 Jahre. In letzteren Fällen sei es wiederholt auch zu außergerichtlichen Hinrichtungen gekommen (AA 29.3.2023).

Undeklarierte Internierungslager, in denen unmenschliche Bedingungen vorherrschen, sind weit verbreitet. Auch Kinder und Frauen werden in diesen Internierungszentren festgehalten. Im Mai 2018 veröffentlichte die syrische Regierung Listen mit Tausenden Namen von in Internierungslagern verstorbenen Bürgern. Eine Aufklärung dieser Todesfälle steht aus (ÖB Damaskus 1.10.2021). Neben Gefängnisstrafen, Zwangsarbeit und der Todesstrafe sieht das Dekret 6372 auch vor, dass das Gericht, jeglichen beweglichen und unbeweglichen Besitz beschlagnahmen kann (SJAC 9.2018). Umfasst ist auch das Eigentum der Familien der Verurteilten und in einigen Fällen sogar ihrer Freunde (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Militärgerichte und Feldgerichte

Militäroffiziere können ZivilistInnen sowohl vor Militärgerichte wie auch Feldgerichte stellen, in welchen es den Angeklagten an Prozessrechten fehlt. ZivilistInnen können zwar Berufung gegen die Entscheidungen von Militärgerichten einlegen, aber die Richter der Militärkammer des Kassationsgerichts sind letztlich dem Militär untergeordnet (FH 9.3.2023).

Militär-Feldgerichte sind geheime Gerichte, deren Richter Militärangehörige sind, die keinerlei Ausbildung oder juristischen Hintergrund haben müssen. Inhaftierte haben hierbei nicht die Möglichkeit, einen Anwalt zu beauftragen, und Anwälte können den Sitzungen nicht beiwohnen. Es gibt keine Möglichkeit zum Einspruch, und es fehlt an den Bedingungen für ein faires Gerichtsverfahren (NMFA 6.2021).

Ein befragter Experte beschrieb die Arbeit der Feldgerichte während aktiver Kämpfe in Kriegsgebieten folgendermaßen: „Feldtribunal“ bedeutet nicht, dass es in einem großen Gebäude abseits der Front stattfindet, sondern es ist im Grunde ein Tisch mit drei Offizieren. Sie prüfen die Anschuldigungen, und es gibt eine sehr kurze Verhandlung, in der sie die Version der Geschichte des Angeklagten hören. Sie hören auch die Versionen der Offiziere und der Mitsoldaten, und wenn der Angeklagte beispielsweise des Hochverrats für schuldig befunden wird, kann er im Schnellverfahren hingerichtet werden, was bedeutet, dass er an die Wand gestellt und erschossen wird. Während des Konflikts ist es zu derartigen Fällen gekommen. Die Hinrichtungen werden üblicherweise von der Militärpolizei (ash-Shurta al-Askariya) oder dem Militärgeheimdienst durchgeführt (Üngör 15.12.2021).

Andere Gerichte

Die Verwaltung in den von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeitet in Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in Personenstandsangelegenheiten (AA 29.3.2023). Die religiösen Gerichte behandeln das Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Erb- und Sorgerecht (IA 7.2017). Hierbei sind Scharia-Gerichte für sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene Berufungsgerichte (SLJ 5.9.2016). Manche Personenstandsgesetze wenden die Scharia unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten an (USDOS 20.3.2023).

Die anhaltende Regierungskampagne zur Konfiszierung von Land und Häusern oder Beschlagnahmung ohne adäquate Entschädigung macht Land- und Immobilienbesitzrechte zu einem sensiblen Thema, bei dem die Justiz nicht unabhängig ist. In diesen Fällen dienen die Gerichte dazu, die Einziehung des Besitzes im Namen des Kampfes gegen „Terrorismus“ zu legitimieren. BürgerInnen im Ausland riskieren, dass ihr Besitz beschlagnahmt wird, wenn sie vom Regime mit der Opposition in Verbindung gebracht werden und haben kaum Einspruchsmöglichkeiten. Die Verfügungen zur Durchführung der Konfiszierung werden nur in lokalen Zeitungen bekannt gegeben und sind so vom Ausland nicht zugänglich. Die Kläger müssten persönlich (bei Einsprüchen) in solchen Fällen zugegen sein (BS 23.3.2022).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

■             BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/fi le/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, https://freedomhouse.org/c ountry/syria/freedom-world/2023, Zugriff 10.3.2023

■             IA - International Alert (7.2017): 'Most of the Men want to leave': Armed groups, displacement and the gendered webs of vulnerability in Syria, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/ Gender_VulnerabilitySyria_EN_2017.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             NMFA- Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022)): Countryof origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Sy ria.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/06/14/co untry-of-origin-information-report-syria-june-2021/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2020): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038451/2020_05_MinBZ_NLMFA_COI_Report_ Syria_Algemeen_ambtsbericht_Syrie.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 23.11.2022

■             SJAC - The Syria Justice and Accountability Centre (9.2018): Return is a Dream - Options for Post-Conflict Property Restitution in Syria, https://syriaaccountability.org/content/files/2022/04/Pr operty-Restitution-Report-Final-Web-1--4-.pdf, Zugriff 23.11.2022

■             SLJ - Syrian Law Journal (5.9.2016): An Overview of the Syrian Court System, https://www.syna. law/index.php/overview-syrian-court-system/, Zugriff 10.3.2023

■             Üngör, Ugur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall

■             USDOS - USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

Nordost-Syrien

In Gebieten unter Kontrolle der sogenannten „Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ übernimmt diese quasi-staatliche Aufgaben wie Verwaltung und Personenstandswesen (AA 29.3.2023). Es wurde eine von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst (AI 12.7.2017). Das Justizsystem in den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und Ermittlungsbehörden (USDOS 20.3.2023). Juristen, welche unter diesem Justizsystem agieren, werden von der syrischen Regierung beschuldigt, eine illegale Justiz geschaffen zu haben. Richter und Justizmitarbeiter sehen sich mit Haftbefehlen der syrischen Regierung konfrontiert, verfügen über keine Pässe und sind häufig Morddrohungen ausgesetzt (JS 28.10.2019).

In den Gebieten unter der Kontrolle der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (engl. Abk.: AANES) - auch kurd. „Rojava“ genannt, setzten die Behörden einen Rechtskodex basierend auf einem „Gesellschaftsvertrag“ („social contract“) durch. Dieser besteht aus einer Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht und Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und Steuerhinterziehung an EU-Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt (USDOS 20.3.2023). Zudem mangelt es an der Durchsetzung der Rechte für einen fairen Prozess (NMFA 6.2021).

Leute, die im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren gesucht werden, erhalten keine Vorladung, sondern werden einfach verhaftet. In Pressekonferenzen der Asayish werden nur Verhaftungen von Verdächtigen in Strafverfahren vermeldet - nicht die Verhaftungen von Personen, welche wegen ihrer Meinungsäußerungen festgenommen oder die entführt wurden (NMFA 6.2021). Die SDF (Syrian Democratic Forces) führen Massenverhaftungen gegen Zivilistinnen, einschließlich AktivistInnen, Journalistinnen und Lehrerinnen durch. Ende Juli 2022 verhafteten die SDF inmitten erhöhter Spannungen mit der Türkei 16 Aktivistinnen und Medienmitarbeiterinnen unter dem Vorwurf der „Spionage“ (HRW 12.1.2023).

Verfahren gegen politische Gefangene werden in der Regel vor Strafgerichten oder vor einem Gericht für Terrorismusbekämpfung verhandelt. In Strafgerichten können Inhaftierte einen Anwalt beauftragen, in Gerichten für Terrorismusbekämpfung geht dies laut International Center for Transitional Justice (ICTJ) nicht und auch eine Berufung ist nicht möglich. Die meisten Inhaftierten werden nicht vor Gericht gestellt, sondern entweder freigelassen - oft unter Bedingungen, die mit Stammesführern ausgehandelt wurden - oder die Betroffenen verschwinden unter Gewaltanwendung (NMFA 6.2021).

Im März 2021 einigten sich Repräsentanten von kurdischen, jesidischen, arabischen und assyrischen Stämmen im Nordosten Syriens auf die Einrichtung eines Stammesgerichtssystems, bekannt als „Madbata“, für die Klärung von intertribalen Streitigkeiten, Raubüberfällen, Rache und Plünderungen in der Jazira-Region in der Provinz Hassakah. Es besteht aus einer Reihe von Gesetzen und Bräuchen, die als Verfassung dienen, welche die Stammesbeziehungen regeln und die Anwendung dieser Gesetze überwachen, auf die sich eine Gruppe von Stam¬mesältesten geeinigt hat. Aufgrund von schlechten Sicherheitsbedingungen und dem Fehlen einer effektiven und unparteiischen Justiz wurde wieder auf dieses traditionelle Rechtssystem zurückgegriffen (AM 4.4.2021).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://bit.ly/41f4Qgs, Zugriff 14.4.2023

■             AI - Amnesty International (12.7.2017): Zwei von drei Aktivisten wieder frei, https://www.amnesty. de/mitmachen/urgent-action/zwei-von-drei-aktivisten-wieder-frei, Zugriff 11.3.2023

■             AM - Al-Monitor (4.4.2021): Tribes in east Syria resort to their own judiciary over lack of trust in official courts, https://www.al-monitor.com/originals/2021/04/tribes-east-syria-resort-their-own-jud iciary-over-lack-trust-official-courts, Zugriff 11.3.2023

■             Standard - Der Standard (7.11.2022): Ärzte ohne Grenzen: Unmenschliche Zustände in syrischem Lager al-Hol, https://www.derstandard.at/story/2000140592349/aerzte-ohne-grenzen-unmenschl iche-zustaende-in-syrischem-lager-al-hol, Zugriff 11.3.2023

■             Ha’aretz (8.5.2018): Syria’s Kurds Put ISIS on Trial With Focus on Reconciliation, https://www.ha aretz.com/middle-east-news/syria/syria-s-kurds-put-isis-on-trial-with-focus-on-reconciliation-1.6 071212, Zugriff 11.3.2023

■             HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/do kument/2085501.html, Zugriff 11.3.2023

■             ICCT - International Centre for Counter-Terrorism (16.3.2021): New Kid on the Block: prosecution of ISIS fighters by the Autonomous Administration of North and East Syria, https://www.icct.nl/inde x.php/publication/new-kid-block-prosecution-isis-fighters-autonomous-administration-north-and-e ast-syria, Zugriff 11.3.2023

■             JS - Just Security (28.10.2019): Northeastern Syria: Complex Criminal Law in a Complicated Battlespace, https://www.justsecurity.org/66725/northeastern-syria-complex-criminal-law-in-a-c omplicated-battlespace/, Zugriff 11.3.2023

■             NMFA- Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022)): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Sy ria.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             SHRC - Syrian Human Rights Committee (1.2023): The 21st Annual Report On Human Rights in Syria 2022, https://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2023/01/21st-report_En.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (17.2.2023): SNHR’s 12th Annual Report: Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2022; Normalizing Relationships with the Syrian Regime is a Blatant Violation of the Rights of Millions of Syrians, https://snhr.org/wp-content/uploads/2023/01 /R221213E.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

Streitkräfte

Die syrischen Streitkräfte bestehen aus dem Heer, der Marine, der Luftwaffe, den Luftabwehrkräften und den National Defense Forces (NDF, regierungstreue Milizen und Hilfstruppen). Aktuelle Daten zur Anzahl der Soldaten in der syrischen Armee existieren nicht. Vor dem Konflikt soll die aktive Truppenstärke geschätzt 300.000 Personen umfasst haben (CIA 7.2.2023). Zu Jahresbeginn 2013 war etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Soldaten, Reservisten und Wehrpflichtigen desertiert, bzw. zur Opposition übergelaufen (zwischen 60.000-100.000 Mann). Weitere rund 50.000 Soldaten fielen durch Verwundung, Invalidität, Haft oder Tod aus. Letztlich konnte das Regime 2014 nur mehr auf rd. 70.000 bis 100.000 loyale und mittlerweile auch kampferprobte Soldaten zurückgreifen (BMLV 12.10.2022). 2014 begann die syrische Armee mit Reorganisationsmaßnahmen (MEI 18.7.2019), und seit 2016 werden irreguläre Milizen in die regulären Streitkräfte integriert, in einem Ausmaß, das je nach Quelle unterschiedlich eingeschätzt wird (CMEC 12.12.2018; Üngör 15.12.2021; Voller 9.5.2022). Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von regierungsfreundlichen, proiranischen Milizen unterstützt, deren Truppenstärke in die Zehntausende gehen dürfte (CIA 7.2.2023). Das Offizierskorps gilt in den Worten von Kheder Khaddour als kleptokratisch, die die Armee als Institution ausgehöhlt. Den Offizieren bleibt nichts übrig, als sich an den Regimenetzwerken zu beteiligen und mit Korruption ihre niedrigen Gehälter aufzubessern. Die Praxis der Bestechung der Offiziere durch Rekruten gegen ein Decken ihrer Abwesenheit vom Dienst durch Offiziere ist so verbreitet, dass sie im Sprachgebrauch als tafyeesh oder feesh (Bezeichnung für den Personalakt, der bei einem Offizier aufliegt) bezeichnet wird. Auch der Einsatz von Rekruten für private Arbeiten für die Offiziere und deren Familien kommt vor - ebenso wie die Annahme von Geschenken oder lokalen Lebensmittelspezialitäten (CMEC 14.3.2016). Die Höhe der Geldsummen fürTafyeesh [Anm.: im Artikel auf eingezogene Reservisten und Soldaten bezogen] variieren zwar nach Einheit und Offizier, aber aufgrund der Verschlechterung der Lebensbedingungen und der zunehmenden geheimdienstlichen Kontrolle über die Militäreinheiten stiegen die verlangten Preise für Tafyeesh seit Anfang 2023, was diejenigen, welche sich dies nicht mehr leisten konnte, dazu veranlasste, zu ihren Einheiten zurückzukehren. Der Hintergrund für die monetäre Abgeltung für das Decken der abwesenden Soldaten durch ihre Offiziere ist, dass die Militärs mindestens zweimal so viel Geld benötigen, als die Löhne im öffentlichen Dienst ausmachen, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien abzudecken. Das führt dazu, dass Männer im Reserve- oder Militärdienst (retention service) mit unbestimmter Dauer aufTaf- yeesh zurückgreifen. Einem Präsidialdekret von Ende Dezember 2022 zufolge verdient z.B. ein Oberleutnant regulär umgerechnet 17 US-Dollar monatlich und ein Brigadegeneral 43,5 US- Dollar pro Monat, während SoldatInnen entsprechend weniger verdienen als die Offiziersränge (Enab 7.2.2023, zu weiteren Formen der Korruption durch Mitglieder des Sicherheitsapparats siehe auch Kapitel Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung). Aufgrund der Stationierung (Hauptquartier u.a.) von Divisionen in bestimmten Gebieten im Rahmen desQu- ta’a-Systems [arab. Sektor, Landstück] verfügen die Divisionskommandanten über viel Freiraum in ihrer Befehlsgewalt wie auch für persönliche Vorteile. Diese Strukturierung kann von Bashar als-Assad auch genutzt werden, den Einfluss einzelner Divisionskommandeure einzuschränken, indem er sie gegeneinander ausspielt, um so das System auch zur Prävention von Militärputschen zu nutzen (CMEC 14.3.2016).

Die syrische Armee war der zentrale Faktor für das Überleben des Regimes während des Bürgerkriegs. Im Laufe des Krieges hat ihre Kampffähigkeit jedoch deutlich abgenommen (CMEC 26.3.2020a) und mit Stand September 2022 war die syrische Armee in jeglicher Hinsicht grundsätzlich auf die Unterstützung Russlands, Irans bzw. sympathisierender, vornehmlich schiitischer Milizen angewiesen - d. h. ein eigenständiges Handeln, Durchführung von Militäroperationen usw. durch Syrien sind nicht oder nur in äußerst eingeschränktem Rahmen möglich (BMLV 12.10.2022).

Das syrische Regime und damit auch die militärische Führung unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und ’rein militärischen Zielen’ (BMLV 12.10.2022). Nach Experteneinschätzung trägt jeder, der in der syrischen Armee oder Luftwaffe dient, per defintionem zu Kriegsverbrechen bei, denn das Regime hat in keiner Weise gezeigt, dass es das Kriegsrecht oder das humanitäre Recht achtet. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass eine Person in eine Einheit eingezogen wird, auch wenn sie das nicht will, und somit in einen Krieg, in dem die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern nicht wirklich ernst genommen wird (Üngör 15.12.2021). Soldaten können in Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein, weil das Militär in Syrien auf persönlichen Vertrauensbeziehungen, manchmal auch auf familiären Netzwerken innerhalb des Militärs beruht. Diejenigen, die Verbrechen begehen, handeln innerhalb eines vertrauten Netzwerks von Soldaten, Offizieren, Personen mit Verträgen mit der Armee und Zivilisten, die mit ihnen als nationale Verteidigungskräfte oder lokale Gruppen zusammenarbeiten (Khaddour, Kheder 24.12.2021).

Quellen

■             BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (12.10.2022): Antwortschreiben Version 2 (Stand 16.9.2022) [im Archiv aufliegend], Zugriff 10.2.2023;

■             CIA - Central Intelligence Agency [USA] (7.2.2023): The World Factbook: Syria - Military and Security, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/syria/#military-and-security, Zugriff 10.2.2023;

■             CMEC - Carnegie Middle East Center (12.12.2018): Reintegrating Syrian Militias: Mechanisms, Actors, and Shortfalls, https://carnegie-mec.org/2018/12/12/reintegrating-syrian-militias-mechani sms-actors-and-shortfalls-pub-77932, Zugriff 10.2.2023;

■             CMEC - Carnegie Middle East Center (14.3.2016): Strength in Weakness: The Syrian Army’s Accidental Resilience, http://carnegie-mec.org/2016/03/14/strength-in-weakness-syrian-army-s-a ccidental-resilience-pub-62968, Zugriff 9.2.2023;

■             CMEC - Carnegie Middle East Center (26.3.2020): Russia and Syrian Military Reform: Challenges and Opportunities, https://carnegie-mec.org/2020/03/26/russia-and-syrian-military-reform-challen ges-and-opportunities-pub-81154, Zugriff 13.2.2023;

■             Enab - Enab Baladi (7.2.2023): Army soldiers pay to evade service; Officers demand skyrocket "tariff”, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/02/army-soldiers-pay-to-evade-service-officer s-demand-skyrocket-tariff/, Zugriff 10.2.2023;

■             Khaddour, Kheder - Gastwissenschaftler beim Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videocall, Zugriff 13.2.2023;

■             MEI - Middle East Institute (18.7.2019): The Lion and The Eagle: The SyrianArabArmy’s Destruction and Rebirth, https://www.mei.edu/publications/lion-and-eagle-syrian-arab-armys-destruction-and -rebirth#pt5, Zugriff 17.2.2023;

■             Üngör - Üngör, Ugur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute: Interview, per Videocall, Zugriff 10.2.2023;

■             Voller - Voller, Yaniv (9.5.2022): Rethinking armed groups and order: Syria and the rise of militiato- cracies, International Affairs, Volume 98, Issue 3, May 2022, Pages 853-871, https://doi.org/10.1 093/ia/iiac047, Zugriff 10.2.2023;

Zivile und militärische Sicherheits- und Nachrichtendienste, Polizei

Die vier wichtigsten Sicherheits- und Nachrichtendienste sind der Militärische Nachrichtendienst, der Nachrichtendienst der Luftwaffe, das Direktorat für Politische Sicherheit und das Allgemeine Nachrichtendienstdirektorat. Dazu kommen noch die Abteilung für Kriminalsicherheit und der Zoll, der über mehr Einfluss verfügt, als gemeinhin erwartet (EIP 7.2019). Die zahlreichen syrischen Sicherheitsbehörden arbeiten autonom und ohne klar definierte Grenzen zwischen ihren

Aufgabenbereichen (USDOS 20.3.2023). Jeder Geheimdienst unterhält eigene Gefängnisse und Verhöreinrichtungen, bei denen es sich de facto um weitgehend rechtsfreie Räume handelt. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle im Zuge des Konfliktes verteidigt oder sogar weiter ausgebaut (AA 29.3.2023). Vor 2011 war die vorrangige Aufgabe der Nachrichtendienste die syrische Bevölkerung zu überwachen. Seit dem Beginn des Konfliktes nutzt Assad den Sicherheitssektor, um die Kontrolle zu behalten. Diese Einheiten überwachten, verhafteten, folterten und exekutierten politische Gegner sowie friedliche Demonstranten. Um seine Kontrolle über die Sicherheitsdienste zu stärken, sorgte Assad für Feindschaft und Konkurrenz zwischen den Diensten. Dies fördert Nepotismus und Patronage wie auch böswilliges Melden wahrgenommener Opponenten sowie Erpressung bzw. Ausbeutung von Geschäftsleuten und BürgerInnen, welche für viele Genehmigungen und Lizenzen auf die Genehmigung der Sicherheitsdienste angewiesen sind. Auch werden hohe Summen für die Freilassung von Inhaftierten oder für Informationen über das Schicksal von Gefangenen erpresst (EIP 7.2019). Auch in der Polizei ist Korruption allgegenwärtig (USDOS 20.3.2023).

Die Sicherheitskräfte nutzen eine Reihe an Praktiken, um Bürger einzuschüchtern oder zur Kooperation zu bringen. Diese Techniken beinhalten im besten Fall Belohnungen, jedoch auch Zwangsmaßnahmen wie Reiseverbote, Überwachung, Schikanen von Individuen und/oder deren Familienmitgliedern, Verhaftungen, Verhöre oder die Androhung von Inhaftierung. Die Zivilgesellschaft und die Opposition in Syrien sind Ziel spezieller Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte, aber auch ganz im Allgemeinen müssen Gruppen und Individuen mit dem Druck der Sicherheitsbehörden umgehen (GS 11.2.2017; für nähere Informationen siehe Kapitel Menschenrechte), wobei Gebiete, in denen es in der Vergangenheit viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie z. B. Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, nun unter verstärkter Beobachtung der Geheimdienste stehen. Dort ist der Druck auf RückkehrerInnen auch nach bestandener Sicherheitsüberprüfung umfassend als InformantInnen zu fungieren (Üngör 15.12.2021).

In den letzten Jahren baute das syrische Regime seine Sicherheitsdienste um, indem es neue „Loyalisten“ in leitende Sicherheitspositionen berufen hat. Es handelt sich um Personen, die sich durch ihre Rolle bei der Eskalation der Gewalt nach 2011 einen Namen machten, und gegen die das Regime in Form von Akten über Korruption erhebliche Druckmittel besitzt. Dies wurde als gewisse Stärkung der syrischen Position gegenüber der russisch-iranischen Konkurrenz bei der Gestaltung der syrischen Sicherheitsstrukturen gewertet (Clingendael 5.2020). Im Jahr 2022 erfolgten weitere Personalrochaden in den Führungsbereichen der Nachrichtendienste. Die Neu- und Umbesetzungen sollen eine Nichtbeteiligung der beförderten Offiziere an der Gewalt seit 2011 suggerieren (OSS 18.1.2023). Die Führung der Sicherheitsdienste hat oft enge familiäre und persönliche Beziehungen zum Präsidenten, derAlawit ist. Im Allgemeinen sind diese Behörden weitgehend mit Personen aus Gemeinschaften besetzt, die historisch der herrschenden Familie gegenüber loyal sind. Das klarste Beispiel hierfür ist die unverhältnismäßig große Anzahl an Alawiten, die im Sicherheitssektor arbeiten (SJAC 1.4.2019).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 9.5.2023 [Login erforderlich];

■             Clingendael - Clingendael - The Netherlands Institute of International Relations (5.2020): The nature of the Syrian regime, Chapter 1, CRU Report, https://www.dingendael.org/pub/2020/pando ras-box-in-syria/1-the-nature-of-the-syrian-regime/, Zugriff 15.2.2023;

■             EIP - European Institute of Peace (7.2019): Refugee return in Syria: Dangers, security risks and information scarcity, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018602/EIP+Report+-+Security+and+Ref ugee+Return+in+Syria+-+July.pdf, Zugriff 14.2.2023;

■             GS - Global Security (11.2.2017): Syria Intelligence & Security Agencies, http://www.globalsecuri ty.org/intell/world/syria/intro.htm, Zugriff 15.2.2023;

■             OSS - Omran Center for Strategic Studies (18.1.2023): The Syrian Regime Signals Legal and Military Shifts to the World, https://omranstudies.org/index.php/publications/papers/the-syrian-reg ime-signals-legal-and-military-shifts-to-the-world.html, Zugriff 13.2.2023;

■             SJAC - Syria Justice and Accountibility Centre (1.4.2019): Walls Have Ears: An Analysis of Clas- sified Syrian Security Sector Documents, https://syriaaccountability.org/walls-have-ears/, Zugriff 15.2.2023;

■             Üngör - Üngör, Ugur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute : Interview, per Videocall, Zugriff 10.2.2023;

■             USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 9.5.2023;

Folter und unmenschliche Behandlung

Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 12.1.2023). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie „verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).

Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado") fest (USDOS 20.3.2023).

Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oderauch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).

Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 29.3.2023). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of In- quiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die „Versöhnungsabkommen“ unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023), wobei die jüngsten Betroffenen erst elf Jahre alt waren (HRW 13.1.2022). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).

Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 29.3.2023). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten derCoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023).

Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).

Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).

Eine realistische Möglichkeit zur Einforderung einer strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte besteht nicht. Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 29.3.2023).

Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten (darunter laut SNHR drei Todesfälle durch Folter im Jahr 2022), Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die Berichte dazu betreffen u. a. HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Folteropfer der SDF starben im Zeitraum Januar 2014 bis Juni 2022 SNHR zufolge mindestens mindestens 83 Menschen durch Folter, darunter ein Kind und zwei Frauen (SNHR 26.6.2022).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 17.4.2023

■             AI - Amnesty International (31.3.2022): Syria: Newanti-torture law „whitewashes“decadesof human rights violations, https://www.ecoi.net/en/document/2070690.html, Zugriff 10.3.2023

■             FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, https://freedomhouse.org/c ountry/syria/freedom-world/2023, Zugriff 9.3.2023

■             HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/do kument/2085501.html, Zugriff 9.3.2023

■             HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/do cument/2066477.html, Zugriff 9.3.2023

■             OSS - Omran Center for Strategic Studies (18.1.2023b): The Syrian Regime Signals Legal and Military Shifts to the World, https://omranstudies.org/index.php/publications/papers/the-syrian-reg ime-signals-legal-and-military-shifts-to-the-world.html, Zugriff 13.2.2023

■             OSS - Omran Center for Strategic Studies (1.10.2017): Changing the Security Sector in Syria, https://omranstudies.org/publications/papers/book-changing-the-security-sector-in-syria.html, Zugriff 13.2.2023

■             SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018,http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 10.3.2023

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (26.6.2022): The 11th Annual Report on Torture in Syria on the International Day in Support of Victims of Torture, https://snhr.org/wp-content/uploads/202 2/06/R220610E.pdf, Zugriff 9.3.2023

■             STJ - Syrians for Truth & Justice (12.7.2022): Syria: Anti-Torture Law Issued 35 Years After the Convention against Torture Went Effective, https://stj-sy.org/en/syria-anti-torture-law-issued-35-y ears-after-the-convention-against-torture-went-effective/, Zugriff 10.3.2023

■             Üngör, Ugur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall

■             USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 17.4.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 10.3.2023

Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst

Rechtliche Bestimmungen

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.3.2023). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).

Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022).

Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).

Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 29.3.2023). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023; vergleiche ICWA 24.5.2022).

Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vergleiche Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vergleiche ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vergleiche BAMF 2.2023).

Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).

Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).

Die Umsetzung

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).

Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vergleiche AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer „Verkürzung“ des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wiez.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).

Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 29.3.2023).

Rekrutierungspraxis

Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA29.3.2023; vergleiche NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA5.2022; vergleiche NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara’a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023).

Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafes, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).

Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vergleiche ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Das Gesetz verbietet allerdings die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).

Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vergleiche FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara’as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA4.12.2020).

Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als „Kanonenfutter“ im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitischarabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).

Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 29.3.2023).

Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle

Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAAeingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des „Wehrdiensts“ gemäß der „Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung „Sicherheitsquadrate“ (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen überdas Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. „Sicherheitsquadraten“ auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im „Sicherheitsquadrat“ im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya YekTtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).

Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vergleiche Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).

Reservedienst

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA5.2022). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022).

Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung

Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches „Hochfahren“ dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).

In Syrien besteht seit 2011 de facto eine unbefristete Wehrpflicht (AA 29.3.2023), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte. Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Zuletzt erließ der syrische Präsident einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vergleiche SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vergleiche NMFA 5.2022).

Einsatz von Rekruten im Kampf

Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara’a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Alle Eingezogenen können dagegen laut EUAA (European Union Agency forAsyl- um) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus „versöhnten“ Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus dem Bericht nicht hervor.]

Quellen:

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■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2042795.html, Zugriff 19.5.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/1451486.html, Zugriff 19.5.2023

■             ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (20.3.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dsch- arabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen;. Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnung im Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101], https://www.ecoi.net/en/document/2091203.html, Zugriff 24.5.2023

■             ACCORD -Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (21.9.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Unterliegen Palästinenser, die den Wehrdienst absolviert haben, auch einer Pflicht zum Reservedienst?, https://www.ecoi.net/de/dokument/208 0420.html, Zugriff 19.5.2023

■             ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (1.12.2022): The State of Syria: Q2 2022 - Q3 2022, https://acleddata.com/2022/12/01/the-state-of-syria-q2-2022-q3-2022/, Zugriff 19.5.2023

■             Action PAL - Action Group for Palestinians of Syria (3.1.2023): Syrian Regime Deprives Military Service Evaders of Their Property in Yarmouk Camp, https://www.actionpal.org.uk/en/post/13782 /news-and-reports/syrian-regime-deprives-military-service-evaders-of-their-property-in-yarmouk -camp, Zugriff 12.5.2023

■             Al-Majalla (van Dam, Nikolaos) (15.3.2023): Was the Syrian Revolution sectarian?, https://en.maj alla.com/node/287796/politics/was-syrian-revolution-sectarian, Zugriff 17.5.2023

■             BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2.2023): Status palästinensischer Geflüchteter in Syrien, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684464 /684546/24088313/-/Deutschland%2E_Bundesamt_f%C3%BCr_Migrationjjnd_Fl%C3%BCchtlin ge%2C_Status_pal%C3%A4stinensischer_Gefl%C3%BCchteterJn_Syrien%2C_01%2E02%2 E2023._%28Kurzinformation_%2D_%C3%B6ffentlich%29.pdf?nodeid=24088418&vernum=-2, Zugriff 12.5.2023

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■             EUAA - European Union Asylum Agency (9.2022): Syria: Targeting of Individuals, https://www.ec oi.net/en/file/local/2078321/2022_09_EUAA_COI_Report_Syria_Targeting_of_individuals.pdf, Zugriff 17.5.2023

■             FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+missi on+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 19.5.2023

■             ICG - International Crisis Group (9.5.2022): Syria: Ruling over Aleppo's Ruins, https://www.ecoi.n et/en/file/local/2072598/234-syria-aleppos-ruins_0.pdf, Zugriff 19.5.2023

■             ICG - International Crisis Group (13.2.2020): Easing Syrian Refugees‘ Plight in Lebanon, https: //www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/eastern-mediterranean/lebanon/211-easing-syria n-refugees-plight-lebanon, Zugriff 19.5.2023

■             ICWA - Institute of Current World Affairs (24.5.2022): Syria's young draft-dodgers migrate to Iraq, https://www.icwa.org/syria-draft-dodgers-migrate/, Zugriff 19.5.2023

■             Liveuamap (17.5.2023): Map of Syrian Civil War, https://syria.liveuamap.com/, Zugriff 17.5.2023

■             NLM - New Lines Magazine (29.11.2022): An Exile Returns to Find Syria Changed Forever, https: //newlinesmag.com/first-person/an-exile-returns-to-find-syria-changed-forever/, Zugriff 17.5.2023

■             NMFA- Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, Mai 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information +report+Syria.pdf, Zugriff 12.5.2023

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022, Antwortschreiben per E-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

■             PAR - Webseite des Parlaments [Syrien] (12.5.2007): 2007 /IfcJ 30 ^fc^j^opJI /j^j/JI

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■             Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

■             SANA - Syrian Arab News Agency (27.8.2022): sIoüJv I^jN Ij/ j^IJI ^^öjJI

bl^^JI ^^3 O^^^I^^cIJI O^JUC/JI bI^^JJ C^j^^JIj sIfcJ^^IJIj ^I^^^IJI

C.IJI jIj^IJIj [Präsident al-Assad erlässt eine Verwaltungsanordnung, um die Zurückhaltung, Einberufung und Demobilisierung der Reserveoffiziere sowie die Beschreibung der Reserveoffiziere und des Personals zu beenden], https://www.sana.sy/?p=1727192, Zugriff

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■             SO - Syrian Observer, the (12.9.2022): Government Forces Conduct Arrests, Build Posts In Syria's Daraa, https://syrianobserver.com/news/78667/government-forces-conduct-arrests-build-posts-i n-syrias-daraa.html, Zugriff 17.5.2023

■             STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/561 8_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 19.5.2023

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■             TIMEP - The Tahrir Institute for Middle East Policy (22.8.2019): TIMEP Brief: Conscription Law, https: //timep.org/reports-briefings/timep-brief-conscription-law/, Zugriff 19.5.2023

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Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts

Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vergleiche FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen [als vor dem Konflikt] und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vergleiche DRC/DIS 8.2017).

Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Männer mit deutlich sichtbaren medizinischen Problemen, die nicht wehrdiensttauglich sind, weiterhin freigestellt. Die medizinischen Ausschüsse, welche die Personen untersuchen, sind jedoch eher streng in ihren Urteilen. In einigen Fällen wurden Männer mit einem bestimmten Gesundheitszustand dennoch in die Armee einberufen, um militärische Tätigkeiten außerhalb des Feldes auszuüben (EUAA 9.2022). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020).

Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022). Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis, sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt - manchmal sogar Jahre danach - trotzdem eingezogen zu werden (STDOK 8.2017). Auch berichtet eine Quelle, dass Grenzbeamte von Rückkehrern trotz entrichteter [offizieller] Befreiungsgebühr Bestechungsgelder verlangen könnten, oder dass Personen mit gesundheitlichen Problemen, die eigentlich vom Wehrdienst befreit sein sollten, mitunter Bestechungsgelder bezahlen müssen, um eine Befreiung zu erwirken (DIS 5.2020).

Polizeidienst als Befreiung vom Wehrdienst

Gemäß Abschnitt 12 des Wehrpflichtgesetzes war eine Person vom Wehrdienst befreit, wenn sie mindestens zehn Jahre in den Diensten der inneren Sicherheit stand, einschließlich der Polizei. Diese Frist wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 1 von 2012 auf fünf Jahre verkürzt. Hat eine Person nicht die vollen fünf Jahre gedient, muss sie dennoch ihren Militärdienst ableisten. Wer bei der Polizei akzeptiert wird, unterschreibt jedoch einen Zehnjahresvertrag. Es ist auch möglich, dass ein Rekrut der Polizei beitritt und dort seinen Militärdienst ableistet, da die internen Sicherheitsdienste gemäß Artikel 10 des Wehrpflichtgesetzes zu den syrischen Streitkräften gezählt werden. Wenn eine Person der Polizei beitritt, wird das Rekrutierungsbüro, dem sie untersteht, angewiesen, sie nicht zum Militärdienst einzuberufen (NMFA 5.2022).

Rechtlich gesehen ist es möglich, aus dem Polizeidienst auszutreten. Die Kündigung muss samt einer Erklärung über die Gründe eingereicht werden. Alle Rücktrittsgesuche werden auf der Grundlage einer Sicherheitsanalyse geprüft. In der Praxis werden die meisten Anträge aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Polizeibeamte können während der ersten zehn Jahre ihres Vertrags de facto nicht kündigen. Eine Laufbahn innerhalb des erweiterten Sicherheitsapparats ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt und es ist nicht üblich, eine solche Position vorzeitig zu verlassen. Bei einer Laufbahn in einer Sicherheitsbehörde ist es laut einer Quelle praktisch unmöglich, die Erlaubnis zur Kündigung zu erhalten. Das unerlaubte Verlassen eines Polizeidienstpostens wird als eine Form der Desertion angesehen, die mit Strafe bedroht werden kann. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, welches Gesetz in diesem Fall gilt (NMFA 5.2022). Zollbeamte gelten im Rahmen ihrer Zuständigkeit als allgemeine Sicherheitskräfte und Kriminalbeamte (ACCORD 17.1.2022).

Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland

Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr („badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vergleiche SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 31 (Rechtsexperte 14.9.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu. Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 29.3.2023).

Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungs-

gebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen „Versöhnungsprozess“ bereinigen (NMFA 5.2022).

Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u. a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird („bayan harakat“). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).

Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdienstes

Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird wie ein ganzes Jahr gerechnet (SANA 8.11.2017; vergleiche PAR 15.11.2017).

Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.9.2022).

Unter anderem wurde auch berichtet, dass Palästinensern, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, der Zugang zum Camp Yarmouk verweigert wurde, um sich dort ihren Besitz zurückzuholen (Action PAL 3.1.2023).

Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten

Christliche und muslimische religiöse Führer sind weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit, wobei muslimische Geistliche dafür eine Abgabe bezahlen müssen (USDOS 15.5.2023). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen, anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht, und Mitglieder von Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen (FIS 14.12.2018).

Anders als in vielen Gebieten unter Regierungskontrolle konnten sich Männer im Gouvernement Suweida der gesetzlich festgelegten allgemeinen Wehrpflicht in den syrischen nationalen Streitkräften weitgehend entziehen (Syria Untold 9.1.2020; vergleiche COAR 30.9.2020), viele Gemeindevorsteher und hochrangige drusische Religionsführer haben sich geweigert, die Einberufung in die Armee zu genehmigen (AW 5.12.2022). Stattdessen hat die drusische Gemeinschaft gut organisierte Nachbarschaftsschutzgruppen und Einheiten der Nationalen Verteidigungskräfte (NDF) unterhalten. Die syrische Regierung hält jedoch offiziell weiterhin an der verfassungsmäßig verankerten „heiligen Pflicht" des allgemeinen Wehrdienstes - auch für die in Suweida heimische drusische Gemeinschaft - fest (COAR 30.9.2020). Das Regime behandelt diese Menschen als Wehrdienstverweigerer und zwingt sie von Zeit zu Zeit, an so genannten „Sicherheitsregelungen" teilzunehmen. Die letzte dieser Maßnahmen fand am 5.10.2022 statt. Sie beinhaltete einerseits einen administrativen Aufschub für einen Zeitraum von sechs Monaten vor dem Eintritt in die im Süden Syriens stationierten Armeeeinheiten und andererseits die Einstellung der Verfolgung von Personen, die von den Sicherheitsapparaten gesucht werden. Allerdings nehmen viele Drusen diese Sicherheitsregelungen nicht ernst, da sie sich nicht als Rechtsbrecher betrachten. Im Oktober 2022 nahmen nur 2.500 junge Männer von 30.000 Wehrdienstverweigerern und Überläufern in Suweida an der Sicherheitsregelung teil. Für diejenigen, die einen Vergleich abschließen, besteht das Hauptmotiv darin, eine „Schlichtungskarte“ zu erwerben, die ihnen Freizügigkeit gewährt und es ihnen ermöglicht, Transaktionen bei staatlichen Einrichtungen, wie z. B. die Beantragung von Reisedokumenten, ohne Angst vor Verhaftung und Inhaftierung durchzuführen (MED Blog 12.12.2022). Die Grauzone bezüglich der Umsetzung der Wehrpflicht hat zur Folge, dass die derzeit rund 30.000 zum Wehrdienst gesuchten Personen Suweida nicht verlassen bzw. nicht in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete reisen können (Alaraby 11.2.2022).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 12.5.2023

■             ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (17.1.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Zöllner als Teil des Sicherheitsapparats, Desertion, militärische und polizeiliche Aufgaben von Zöllnern im Krieg [a-11786], https://www.ecoi.net/d e/dokument/2067698.html, Zugriff 19.5.2023

■             Action PAL - Action Group for Palestinians of Syria (3.1.2023): Syrian Regime Deprives Military Service Evaders of Their Property in Yarmouk Camp, https://www.actionpal.org.uk/en/post/13782 /news-and-reports/syrian-regime-deprives-military-service-evaders-of-their-property-in-yarmouk -camp, Zugriff 12.5.2023

■             Alaraby - New Arab, the (11.2.2022): Why protests in Suweida are deeply troubling for the Syrian regime, https://www.newarab.com/analysis/why-protests-suweida-are-troubling-syrian-regime, Zugriff 19.5.2023

■             AW - Arab Weekly, the (5.12.2022): Syrian regime cracks down on protests in Druze-majority Sweida, https://thearabweekly.com/syrian-regime-cracks-down-protests-druze-majority-sweida, Zugriff 19.5.2023

■             Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

■             COAR - Center for Operational Analysis and Research (30.9.2020): The Syrian Economy at War, https://coar-global.org/2020/09/30/the-economy-of-war-in-syria-armed-group-mobilization-as-liv elihood-and-protection-strategy/, Zugriff 19.5.2023

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria - Military Service, Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February 2020), https://www.ecoi.net/en/file/! ocal/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf, Zugriff 19.5.2023

■             DRC/DIS - Danish Refugee Council [Dänemark]/ The Danish Immigration Service (8.2017): Syria, Recruitment Practices in Government-controlled Areas and in Areas under Opposition Control, Involvement of Public Servants and Civilians in the Armed Conflict and Issues Related to Exiting Syria, https://www.nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/SyrienFFMrapportaugust2017 .pdf?la=da&hash=D5C8D2AB61039CB67C560C07AE47C7F02F16708D, Zugriff 19.5.2023

■             EB - Enab Baladi (2.9.2019): Military Service Exemption Fee: Expensive Return Ticket To Homeland, https://english.enabbaladi.net/archives/2019/09/military-service-exemption-fee-expensive-r eturn-ticket-to-homeland/, Zugriff 19.5.2023

■             EUAA - European Union Asylum Agency (9.2022): Syria: Targeting of Individuals, https://www.ec oi.net/en/file/local/2078321/2022_09_EUAA_COI_Report_Syria_Targeting_of_individuals.pdf, Zugriff 17.5.2023

■             FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+missi on+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 19.5.2023

■             MED Blog - Middle East Directions Blog (12.12.2022): What’s New About the Sweida Protests in Southern Syria?, https://blogs.eui.eu/medirections/whats-new-about-the-sweida-protests-in-sou thern-syria/, Zugriff 19.5.2023

■             NMFA- Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, Mai 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information +report+Syria.pdf, Zugriff 12.5.2023

■             NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 19.5.2023

■             NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2020): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038451/2020_05_MinBZ_NLMFA_COI_Report_ Syria_Algemeen_ambtsbericht_Syrie.pdf,Zugriff 19.5.2022

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022, Antwortschreiben per E-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

■             PAR - Website of the Parliament [Syria] (15.11.2017): ^^I^JI 2017 pIfcJ /35/ p^j ojoI^JI 2007/ pIfcJ /30/ p^j ^fc^j^^JI pj^jpJI^ jji^JI pJfcJI öpj£ OjoI^ J^Jfc^^/ [Gesetz Nr. 35 von 2017 zur Änderung des Militärdienstgesetzes, das durch das Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 verkündet wurde], http://parliament.gov.sy/arabic/index.php?node=201&nid=18681&RI D=-1&Last=10262&First=0&CurrentPage=0&Vld=-1&Mode=&Service=-1&Loc1=&Key1=&SDate =&EDate=&Year=&Country=&Num=&Dep=-1&,Zugriff 19.5.2023

■             Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

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■             SB Berlin - Botschaft der SyrischenArabischen Republik Berlin [Syrien] (o.D.): j^oc. JI [Rekrutierungsangelegenheiten] http://mofaex.gov.sy/berlin-embassy/ar/pages738/%D8%B4%D8%A 4%D9%88%D9%86-%D8%A7%D9%84%D8%AA%D8%AC%D9%86%D9%8A%D8%AF, Zugriff 19.5.2023

■             STDOK-Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): FactFinding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5 618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 19.5.2023

■             Syria Untold (9.1.2020): Men evading military service in southern Syria’s Suwayda feel ‘trapped’, https://syriauntold.com/2020/01/09/men-evading-military-service-in-southern-syrias-suwayda-fee l-trapped/, Zugriff 19.5.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091896.html, Zugriff 19.5.2023

Wehrdienstverweigerung / Desertion

Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).

In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).

Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023).

Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern

In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer „Befreiungsgebühr“ wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt „ihr Land zu verteidigen“. Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit „gerettet“ haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).

Gesetzliche Lage

Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).

Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen „interner Desertion" (farar dakhelee) und „externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vergleiche AA 29.3.2023). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Artikel 102, bei Überlaufen zum Feind und gemäß Artikel 105, bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.3.2023).

Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA4.12.2020; vergleiche DIS 5.2020).

Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben (AA 29.3.2023). Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).

Handhabung

Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vergleiche Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder „verschwindengelassen“ werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).

Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als „Kanonenfutter“), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Ugur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).

Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von „high profile“-Deserteuren der Fall sein, alsoz.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung „ausgesöhnt“ hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der „internen und externen Desertion vom Militärdienst“ aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).

„Versöhnungsabkommen“ und Rückkehr von Wehrpflichtigen

Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am „Versöhnungsprozess“ einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den „versöhnten Gebieten“ Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).

In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die „Versöhnungsabkommen“ Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch (HRW) berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines „Versöhnungsabkommens“ zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).

Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022).Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter „Versöhnungsabkommen“ zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 29.3.2023).

Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber„wahnsinnig“, als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine „Befreiungsgebühr“ bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 12.5.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2042795.html, Zugriff 19.5.2023

■             Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria - Treatment Upon Return, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 23.5.2023

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria - Military Service, Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February 2020), https://www.ecoi.net/en/file/! ocal/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf, Zugriff 23.5.2023

■             FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+missi on+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 23.5.2023

■             HRW - Human Rights Watch (20.10.2021): „Our Lives Are Like Death“ Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, https://www.hrw.org/report/2021/10/20/our-lives-are-death/syrian-ref ugee-returns-lebanon-and-jordan, Zugriff 23.5.2023

■             ICG - International Crisis Group (9.5.2022): Syria: Ruling over Aleppo's Ruins, https://www.ecoi.n et/en/file/local/2072598/234-syria-aleppos-ruins_0.pdf, Zugriff 23.5.2023

■             ICWA - Institute of Current World Affairs (24.5.2022): Syria's young draft-dodgers migrate to Iraq, https://www.icwa.org/syria-draft-dodgers-migrate/, Zugriff 23.5.2023

■             Khaddour, Kheder - Gast-Wissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

■             Landinfo [Norwegen] (3.1.2018): Syria: Reactions against deserters and draft evaders, https: //www.ecoi.net/en/file/local/1441219/1226_1534943446_landinfo-report-syria-reactions-against-d eserters-and-draft-evaders.pdf, Zugriff 23.5.2023

■             Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

■             Üngör, Ugur Ümit- Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]

■             UNHRC - United Nations Human Rights Council (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic*, **, https://www.ecoi.net/en/file/local/2088857 /G2301021.pdf, Zugriff 23.5.2023

Allgemeine Menschenrechtslage

Die Menschenrechtslage in Syrien wird weiterhin - auch bei Wahrnehmung regionaler Unterschiede - vom deutschen Auswärtigen Amt als 'katastrophal’ eingestuft (AA 29.3.2023). Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2023). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht verschiedener Akteure und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNCOI 7.2.2023).

Regierungsgebiete

Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Re- public geht davon, dass die syrische Regierung weiterhin Morde, Folter und Misshandlungen begeht, die sich gegen Personen in Haft richten, darunter auch Praktiken, welche zum Tod in der Haft führen. Hinzukommen willkürliche Haft und Verschwindenlassen. Die UN-Kommission sieht hierin ein Muster von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Im Berichtszeitraum wurden auch Fälle umfassender Verletzungen von Prozessrechten und des Rechts auf ein faires Verfahren im syrischen Justizstrafsystem dokumentiert (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt nennt in Bezug auf die beiden vorhergehenden Berichte [Anm.: vor dem Bericht vom 7.2.2023] der UN-Kommission gezielte als auch wahllose Tötungen, nicht zuletzt durch völkerrechtswidrige Angriffe des Regimes und seiner Verbündeten auf die syrische Zivilbevölkerung in Form von Artilleriebeschuss und Luftschlägen. Hinzukommen: Folter, willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen und Verschwindenlassen, kollektive Bestrafungen vermeintlicher Mitwissender und Familienangehöriger, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten. Nach Einschätzung der UNKommission liegt die Verantwortung für die - in absoluten Zahlen betrachtet - große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften des syrischen Regimes, welche Militär, Sicherheitsund Geheimdienste und in den National Defense Forces (NDF) organisierte Milizen umfassen (AA 29.3.2023, vergleiche UNCOI 8.2.2022, UNCOI 17.8.2022). Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führen etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töten (USDOS 20.3.2023).

In Deutschland wurden in den Jahren 2021 und 2022 zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Syriens wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bzw. Beihilfe dazu, verurteilt (HRW 12.1.2023).

Personen, welche glaubwürdig in Gewaltverbrechen involviert sind, Organisationen innerhalb oder verbunden mit der syrischen Regierung sowie auch der sogenannte Islamische Staat unterliegen weiterhin Sanktionen durch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Großbritannien (HRW 12.1.2023). Die syrische Regierung nutzt die Erdbebenkatastrophe unterdessen, um für ein Ende westlicher Sanktionen zu werben (BAMF 13.2.2023). Die umfassenden Sanktionen gegen Syriens Machthaber, Unternehmer und Institutionen haben bislang nicht dazu geführt, dass Verhaltensänderungen eingetreten, politische Zugeständnisse erfolgt oder Menschenrechtsverletzungen abgestellt worden wären (SWP 4.2020). [Zu den Aus- und Nebenwirkungen der breiter gefassten Sanktionen auf die syrische Wirtschaft siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit (BS 29.4.2020).

Die Verfassung bestimmt die Ba’ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba’ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 wurden international nicht anerkannt und inmitten einer repressiven Ausgangslage und von Anschuldigungen von Wahlbetrug weder als fair noch frei eingestuft. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien - auch jenen, die mit der Ba’ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 20.3.2023). -

Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Personen mit Verbindungen zu lokalen Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 20.3.2023).

Weiterhin besteht laut deutschem Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes in umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert (AA 29.3.2023). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie, auch RückkehrerInnen und Personen in zurückeroberten Gebieten, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben. Es kommt auch weiterhin zu Beschlagnahmungen von Eigentum und Einschränkungen des Zugangs für Rückkehrende in ihre Herkunftsgebiete (HRW 12.1.2023). Ganze Städte und Dörfer wurden durch erzwungenes Verlassen (’forced deportations’) entvölkert (BS 29.4.2020).

Berichten zufolge zögern die Menschen in kürzlich vom Regime zurückeroberten Gebieten aus Angst vor Repressalien, über die dortigen Vorgänge zu reden (USDOS 12.4.2022).

Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023). Außerdem sind Fälle von verhafteten Personen wegen ihres Kontakts zu Verwandten oder Freunden in von der Opposition kontrollierten Gebieten bekannt, bzw. wegen des Reisens zwischen den Gebieten der Regierung und anderer Organisationen. Es gibt auch Beispiele für Verhaftungen zwecks Rekrutierung (SNHR 17.1.2023).

Nach Angaben des Syrian Network for Human Rights (SNHR) sind seit März 2011 fast 15.000 Menschen an den Folgen von Folter gestorben, die meisten von ihnen durch syrische Regierungstruppen (HRW 13.1.2022). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023).

Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021). Für das Jahr 2022 dokumentierte SNHR 2.221 Fälle willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen, darunter 148 Kinder und 457 Frauen. Dabei führte das Amnestiedekret vom 30.4.2022 nicht zu einem Rückgang willkürlicher Verhaftungen. 228 der im Jahr 2022 willkürlich Verhafteten waren zurückgekehrte Geflüchtete oder Binnenvertriebene. Auch wenn besonders der Militärgeheimdienst Verhaftungen vornimmt, so gehen willkürliche Verhaftungen von einer Vielzahl von Akteuren aus, insbesondere der Polizei, einer Vielzahl von konkurrierenden Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023). Laut UNO ist in derartigen Fällen ein zentralisiertes Muster von Verlegungen in den Raum Damaskus erkennbar. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen hiernach verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Oft werden die Familien unter Androhung von Gewalt und Repressionen zu Stillschweigen verpflichtet. Die VN und IKRK haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (AA 29.11.2021).

Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Dieses macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021). Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu verwendet, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen. (AA 29.3.20223).

Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 20.3.2023).

Für das Jahr 2021 (USDOS 12.4.2022) und 2022 lagen keine bestätigten Berichte über den Einsatz der verbotenen Chemiewaffen vor, wobei Syrien weiterhin über reichlich Chemiewaffen sowie über das Knowhow zu deren Produktion und Einsatz verfügt (USDOS 20.3.2023). Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z. B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017, kurz vor dem tödlicheren Einsatz von Sarin in Khan Shaykhun (USDOS 12.4.2022).

Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus und der Cholera sowie über Menschenrechtsverletzungen seitens des Regimes aus. Es verbietet die Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Spannungen und Probleme, mit denen religiösen und ethnischen Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 20.3.2023).

Im April 2022 aktualisierte das syrische Regime sein Cyberkriminalität-Gesetz, Gesetz Nr. 20 (2022), welches nun alle online getätigten Äußerungen unter schwere Strafen stellt, die verschiedene vage Strafbestände wie z. B. die Untergrabung ’des Ansehens des Staates’ oder ’der nationalen Einheit’ betreffen (FH 9.3.2023). Es bleibt zwar vage, welche Tatbestände genau unter das Gesetz fallen, doch die möglichen Strafen wurden drastisch erhöht: Nach Angaben der staatlich-syrischen Nachrichtenagentur Sana können Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren oder Geldstrafen von bis zu 15 Millionen syrischen Pfund verhängt werden. Menschenrechtsgruppen vermuten, dass der einzige Zweck dieses Gesetzes darin besteht, abweichende Meinungen zu verbieten (Qantara 28.6.2022). Die syrischen Behörden überwachen Online-Aussagen z. B. in Blogs und sozialen Medien sowohl von SyrerInnen im Land als auch außerhalb Syriens. Das Ausmaß der Überwachung der 'normalen Bürgerinnen’ soll im Jahr 2021 im Vergleich zu Beginn der Krise abgenommen haben, weil die Behörden sich aufgrund ihres (wiedererlangten) Einflusses weniger vor deren Aussagen fürchten. Kritik im internet über die Wirtschaftskrise verbreitete sich so (NMFA 5.2022) - besonders auch in eigentlich loyalen Kreisen (FH 9.3.2023). Aber dies kann später trotzdem für die Betreffenden zum Problem werden. Gefangene werden teilweise nach ihren Konten in den Sozialen Medien befragt oder sogar zur Erlangung der Zugangsdaten gefoltert (NMFA 5.2022). Die Bestrafung abweichender Aussagen ist auch bei variierendem Einsatz des Überwachungsinstrumentariums hart (FH 9.3.2023).

Die Regierung weitete im Jahr 2022 die Manipulation von Internet-Diensten und -Inhalten wie auch Textnachrichten aus, einschließlich Falschnachrichten zur Unterminierung der Glaubwürdigkeit von Menschenrechtsgruppen und anderen humanitären Organisationen. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z. B. von E-Mails und Sozialen Medien von Gefangenen, Aktivistinnen und anderen ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites, Hackangriffe und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein. Verhaftungen schüren die Sorge, dass die Behörden internetbenutzerinnen jederzeit für Online-Aktivitäten, die als Bedrohung der Regimekontrolle wahrgenommen werden, verhaften könnten (USDOS 20.3.2023). Meta, der Firma zu der Facebook und WhatsApp gehören, z. B. entdeckte und entfernte im Oktober 2021 drei Hackergruppen der Syrian Electronic Army. Diese hatten Zugangsdaten zu Facebook-Konten und weitere sensible informationen (z. B. Fotos, Kontaktlisten, informationen über die verwendeten Geräte) gesucht (NMFA 5.2022)

Am 28.3.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem den Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die angebliche falsche oder übertriebene Nachrichten im Ausland verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist nun jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder anderweitig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das die Verbreitung von Nachrichten bestraft, die als imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.4.2022). Das Gesetz verbietet überdies die Publikation jeglicher informationen über die Streitkräfte (USDOS20.3.2023).

Die syrische Regierung hat auch die Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.5.2020).

Die Verfassung garantiert nominell die Pressefreiheit, aber in der Praxis werden die Medien stark eingeschränkt, und JournalistInnen, die kritisch über den Staat berichten, sind Ziele der Zensur sowie von Verhaftungen, Folter und Tod in Gefangenschaft. Alle Medien benötigen eine Erlaubnis des Innenministeriums. Private Medien im Regierungsgebiet gehören generell Personen mit Verbindungen zum Regime (FH 9.3.2023).

Journalistinnen sind in Syrien allgemein gefährdet, besonders durch Regimekräfte und extremistische Gruppen. Laut Committee to Protect Journalists (CPJ) wurden zwischen 2011 und 2022 142 Medienmitarbeiterinnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Weitere fünf wurden verhaftet und acht Personen gelten mit Stand Dezember 2022 als vermisst (FH 9.3.2023).

Die akademische Freiheit ist stark eingeschränkt. Universitätsprofessorinnen im Regierungsgebiet werden wegen abweichender Meinungen entlassen oder inhaftiert und einige wurden aufgrund ihrer Unterstützung von Oppositionellen getötet (FH 9.3.2023).

Staatliche und nicht-staatliche Akteure begehen Akte sexueller Gewalt gegen Männer, Buben, Transgender-Frauen und non-binäre Menschen. Gemäß Artikel 520 des syrischen Strafrechts ist 'unnatürlicher Geschlechtsverkehr’ mit bis zu drei Jahren Gefängnis strafbar (HRW 12.1.2023, FH 9.3.2023).

Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen

Die Zahl der Übergriffe und Repressionen durch nichtstaatliche Akteure einschließlich der de- facto-Autoritäten im Nordwesten und Nordosten Syriens bleibt unverändert hoch. Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend. in den Gebieten, die durch regimefeindliche bewaffnete Gruppen kontrolliert werden, kommt es auch durch einige dieser Gruppierungen regelmäßig zu Übergriffen und Repressionen (AA 29.3.2023). in ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UNCOi, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlastet. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u. a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay’atTahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, iS - islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. im Fall von Free Syrian Army, HTS, bzw. Jabhat an-Nus- ra, sowie besonders vom iS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNCOi 11.3.2021).

Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten und Rekrutierungen von Kindersoldaten (USDOS 20.3.2023). Personen, welche in Verdacht geraten, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu haben, sind in Gebieten extremistischer Gruppen der Gefahr von Exekutionen ausgesetzt (FH 9.3.2023).

Trotz der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Jahr 2019 (USDOS 12.4.2022) verübt die Gruppe weiterhin Morde, Angriffe und Entführungen (USDOS 12.4.2022, vergleiche USDOS 20.3.2023).

Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren das Rückzugsgebiet für viele moderate, aber auch radikale, teils terroristische Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021) [Anm.: siehe auch Kapitel Sicherheitslage]. HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets der Deeskalisierungszone Idlib dort auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen „Errettungs-Regierung" aufgebaut. Auch unterhält HTS ein eigenes Gerichtswesen, welches die Sharia anwendet, sowie eigene Haftanstalten. HTS konsolidierte seine Machtposition im Nordwesten des Landes im Berichtszeitraum weiter und ging dabei teils brutal gegen Widerstand aus der Zivilgesellschaft vor, insbesondere eine weitere Einschränkung des Raums für zivilgesellschaftliches Engagement und die Verhaftung von Aktivistinnen und Aktivisten sowie anderen HTS-kritischen Akteuren, wiederholt auch ohne Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen und Rechtsbeiständen (AA 29.3.2023). In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Berichtet wurden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten, wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der UNCOI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab as-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden. Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der UNCOI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch HTS-Mitglieder, auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021). Die HTS greift in vermehrtem Ausmaß in alle Aspekte des zivilen Lebens ein, z. B. durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen, Vorschreiben von Kleidungsvorschriften und Frisuren sowie durch das wahllose Einheben von Steuern und Geldbußen. Er beschlagnahmt auch viele Häuser und Immobilien von Christen (HRW 13.1.2022). Zusätzlich verhaftete HTS eine Anzahl von IDPs unter dem Vorwand, dass diese sich weigerten, in Lager für IDPs zu ziehen, und HTS verhaftete auch Bürgerinnen für die Kontaktierung von Familienangehörigen, die im Regierungsgebiet lebten (SNHR 3.1.2023).

In den von der Türkei besetzten Gebieten verletzen die Türkei und lokale syrische Gruppierungen ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung und schränken ihre Freiheiten ein. Im Zuge der türkischen Militäroperation Friedensquelle im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der - mit den türkischen Truppen affiliierten - Milizen der SNA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB 1.10.2021). In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut SNHR willkürlich 162 Personen. Mit Dezember 2019 hatten die türkischen Behörden und die mit ihr verbündete SNA mindestens 63 syrische Staatsbürger verhaftet und illegalerweise in die Türkei verbracht, um sie wegen Anklagen mit potenziell lebenslangen Haftstrafen vor Gericht zu stellen. Fünf der 63 Syrer wurde bereits im Oktober 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt (HRW 13.1.2022). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra’s al ’Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut UN-COI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021). Auch in den von der Türkei bzw. der Türkei-nahen SNA kontrollierten Gebieten im Norden Syriens kam es vielfach zu Übergriffen und Verhaftungen, die laut UNCOI insbesondere die kurdische Zivilbevölkerung betreffen. In vielen Fällen befänden sich Kurdinnen und Kurden hier laut der UN-Kommission in einer doppelten Opferrolle: Nach einer früheren Zwangsrekrutierung durch die kurdischen SDF in vorherigen Phasen des Konflikts mit der Türkei würden sie nun für eben diesen unfreiwilligen Einsatz von der SNA verfolgt und inhaftiert. Auch darüber hinaus sind in SNA-Gebieten Fälle von willkürlichen Verhaftungen, Isolationshaft ohne Kontakt zur Außenwelt sowie Fälle von Folter in Haft von der UN-Kommission verzeichnet. Der grundsätzlich bestehende Rechtsweg, um sich gegen ungerechtfertigte Inhaftierungen rechtlich zur Wehr zu setzen, ist laut UN-Einschätzung aufgrund langer Verfahrensdauern nicht effektiv (AA 29.3.2023).

Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter Angriffe auf Wohngebiete, willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Versammlungs- und Redefreiheit wie auch die willkürliche Zerstörung von Häusern. Die SDF untersuchen die meisten gegen sie vorgebrachten Klagen, und einige SDF-Mitglieder werden wegen Misshandlungen angeklagt, wozu aber keine Statistiken vorliegen (USDOS 20.3.2023). Die SDF führten im Jahr 2021 ’Massenverhaftungen von Zivilisten, darunter Aktivisten, Journalisten und Lehrer’, durch. In der ersten Jahreshälfte 2021 belief sich die Zahl der Verhafteten laut dem SNHR auf 369 Personen (HRW 13.1.2022). Das US-Au- ßenministerium berichtete hingegen für das Jahr 2021 von ’gelegentlichen’ Einschränkungen von Menschenrechtsorganisationen und Schikanen gegen Aktivisten von Seiten der SDF und anderen Oppositionsgruppen, darunter ’in manchen Fällen’ willkürliche Haft (USDOS 12.4.2022). Bezüglich des Jahres 2022 berichtet Human Rights Watch weiterhin von Massenverhaftungen von Zivilisten, darunter Aktivisten, Journalisten und Lehrer. Ende Juli 2022 verhafteten die SDF demnach inmitten erhöhter Spannungen mit der Türkei mindestens 16 AktivistInnen und MedienmitarbeiterInnen unter dem Vorwurf der 'Spionage’ (HRW 12.1.2023). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023).

Nach der territorialen Niederlage des IS im Nordosten Syriens wies Human Rights Watch (HRW) auf die Notwendigkeit hin, dass Entschädigungen für zivile Opfer geleistet, dass Unterstützung bei der Ermittlung des Schicksals der vom IS Entführten angeboten wird, und dass man sich angemessen mit der Notlage von mehr als 60.000 syrischen und ausländischen Männern, Frauen und Kindern, die auf unbestimmte Zeit als IS-Verdächtige und deren Familienmitglieder unter schlechten Bedingungen in geschlossenen Lagern und Gefängnissen festgehalten werden, befasst (HRW 13.1.2022).

In Gebieten, in denen weder die Regierung noch extremistische Gruppen dominieren, ist der Spielraum der Redefreiheit etwas größer, auch wenn die Partei der Demokratischen Union (PYD) und einige andere Oppositionsfraktionen Berichten zufolge auch die Redefreiheit einschränken. Die Medienfreiheit variiert in Gebieten unter der Herrschaft anderer Gruppen, aber lokale Medien stehen normalweise unter großem Druck, die dominante Gruppe ihres Gebiets zu unterstützen. So suspendierte die PYD-geführte Verwaltung im Februar 2022 die Lizenz der im Nordirak ansässigen Rudaw-Mediengruppe unter dem Vorwurf der Falschinformation und Aufhetzung. Mitte März verlangte dieselbe Verwaltung von Journalistinnen den Beitritt zur Union of Free Media, welche sich unter ihrem Einfluss befindet. HTS schikaniert regelmäßig wahrgenommene KritierInnen, einschließlich Journalistinnen (FH 9.3.2023).

Quellen:

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■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3 %BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29 %2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 18.3.2023

■             BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (13.2.2023): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefi ngnotes-kw07-2023.pdf? blob=publicationFile&v=2, Zugriff 18.3.2023

■             BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report - Syria, https://www.ecoi.net/en/ file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 6.7.2023

■             Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2029497/country_report_2020_SYR.pdf, Zugriff 6.7.2023

■             FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/doku ment72088564.html, Zugriff 4.5.2023

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■             HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/do kument72066477.html, Zugriff 25.4.2023

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■             SNHR - Syrian Network for Human Rights: SNHR's 12th Annual Report (17.1.2023): Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2022; Normalizing Relationships with the Syrian Regime is a Blatant Violation of the Rights of Millions of Syrians, https://snhr.org/wp-content/uploads/2023/01 /R221213E.pdf, Zugriff 21.4.2023

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (3.1.2023): At Least 2,221 Arbitrary Arrests/Detentions Documented in Syria in 2022, Including 148 Children and 457 Women (Adult Female), with 213 Cases Documented in December, https://reliefweb.int/attach ments/3c04e970-9bb3-454b-be71-01d014c3d6d8/M230102E.pdf, Zugriff 21.4.2023

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (28.4.2022): Laws 15 and 16 of 2022 Issued by the Syrian Regime: Textually Flawed and Impossible to Implement, https://snhr.org/wp-content/uploa ds/2022/04/R220417E.pdf, Zugriff 25.4.2023

■             SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2020): Wiederaufbau in Syrien. Herausforderungen und Handlungsoptionen für die EU und ihre Mitgliedstaaten, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/ contents/products/studien/2020S07_Syrien.pdf, Zugriff 18.3.2023

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://undocs.org/en/AZHRC/52/69, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syr ia/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (17.8.2022): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://undocs.org/en/A/HRC/51/45, Zugriff 19.4.2023

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (8.2.2022): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://undocs.org/en/A/HRC/49/77, Zugriff 19.4.2023

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (11.3.2021): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?OpenAgent&DS=A/HRC/46/55&Lang =E, Zugriff 7.7.2023

■             USDOS - USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 25.4.2023

Haftbedingungen

Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.3.2023). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind überdies stark überfüllt. Es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind (USDOS 20.3.2023). Diese Lage geht mit grassierenden Krankheiten, einschließlich COVID-19 (AA 29.3.2023), und mit einer entsprechend hohen Sterberate einher (USDOS 20.3.2023). Die hygienischen Zustände sind laut Auswärtigem Amt „katastrophal“. Dies gilt generell, jedoch in besonderem Maße für diejenigen Gefängnisse, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind (AA 29.3.2023), und laut US-Außenmi- nisterium insbesondere in Hafteinrichtungen der Sicherheits- und Nachrichtendienste (USDOS 20.3.2023).

Besondere Bedürfnisse von Frauen werden kaum oder gar nicht berücksichtigt. Berichten zufolge müssen Frauen in Gefängnissen ohne jegliche Unterstützung entbinden und für ihre Kinder sorgen. Eine Versorgung mit Milch oder Hygieneartikeln erfolgt allenfalls durch Besucher, sofern sie in der entsprechenden Haftanstalt erlaubt sind (AA 29.3.2023).

Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).

Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen [Anm.: zu Hinrichtungen und Tod durch Folter - siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtlichen Tötungen sowie Folter und unmenschliche Behandlung] von Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt. Neben gewaltsamen Todesursachen ist eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auch auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).

Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 17.4.2023

■             SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 10.3.2023

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (26.6.2022): The 11th Annual Report on Torture in Syria on the International Day in Support of Victims of Torture, https://snhr.org/wp-content/uploads/202 2/06/R220610E.pdf, Zugriff 9.3.2023

■             STJ - Syrians for Truth & Justice (12.7.2022): Syria: Anti-Torture Law Issued 35 Years After the Convention against Torture Went Effective, https://stj-sy.org/en/syria-anti-torture-law-issued-35-y ears-after-the-convention-against-torture-went-effective/, Zugriff 10.3.2023

■             USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 17.4.2023

Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen

Todesfälle in der Haft und standrechtliche Hinrichtungen wurden in Hafteinrichtungen aller Parteien dokumentiert (UNHRC 17.11.2021). Keine der Konfliktparteien in Syrien veröffentlicht Informationen über den Verbleib von Gefangenen und die Gründe für ihre Verhaftung, noch stellen sie Dokumentationen zu den Urteilen zur Verfügung - auch nicht bei Verhängung der Todesstrafe. Daher ist der Großteil der Familien nicht über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert, zumal die große Mehrheit der Gefangenen „verschwunden“ wird (SNHR 2.2.2023).

Gebiete unter Regimekontrolle

Die syrische Strafgesetzgebung sieht für Mord, schwere Drogendelikte, Terrorismus, Hochverrat und weitere Delikte (AA 29.3.2023), wie auch zum Beispiel die Zerstörung öffentlicher Gebäude und Transport- sowie Kommunikationswege, die Todesstrafe vor (UNHRC 17.11.2021). In der juristischen Praxis wird der Begriff Hochverrat sehr weit gefasst und kann schon bei wahrgenommener Dissidenz erfüllt sein. Dies dient nicht zuletzt politischen Zwecken: Politische Gegner, bewaffnete Rebellen oder die humanitär tätigen syrischen „Weißhelme“ werden weitgehend unterschiedslos als „Terroristen“ eingestuft und sind damit von der Todesstrafe bedroht. Nach Definition des Regimes können bereits die Belieferung von Gebieten unter Kontrolle der Opposition mit humanitären Gütern oder die medizinische Behandlung von Oppositionellen mit der Todesstrafe geahndet werden. Urteile wegen Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft, auf welche ebenfalls die Todesstrafe steht, werden seit einigen Jahren in der Regel in zwölfjährige Freiheitsstrafen umgewandelt (AA 29.3.2023). Seit dem Beschluss eines Gesetzes gegen Folter am 30.3.2022 steht auch auf Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit Vergewaltigung die Todesstrafe. Allerdings ist laut der United Nations Independent International Commission of Inquiry Folter und Misshandlung in Haft in Syrien systematisch - auch im Saydnaya-Gefängnis und mehreren anderen Haftanstalten der syrischen Nachrichtendienste (HRW 12.1.2023).

Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien (so zuletzt Legislativdekret 7/2022) verringern ausgesprochene Todesurteile zum Teil auf lebenslange harte Strafarbeit oder stellen eine Freilassung inAussicht. In der Rechtspraxis kommen dieAmnestien aufgrund großzügig ausgelegter Ausnahmetatbestände und prozeduralen Hindernissen jedoch nur in Einzelfällen zur Anwendung, dabei oftmals infolge der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Amtsträger im Justiz- und Sicherheitswesen (AA 29.3.2023).

Eine quantitative Bewertung von verhängten Todesurteilen bzw. deren Vollstreckung ist auch im Berichtszeitraum nicht möglich, da seit Beginn des bewaffneten Konflikts keine offiziellen Zahlen zu vollstreckten Todesurteilen mehr veröffentlicht werden. Für 2022 sind auch keine Einzelfälle durch das Regime bekannt gemacht worden, so wie zuletzt im Oktober 2021 nach der Hinrichtung von 24 vermeintlich Verantwortlichen für die schweren Waldbrände in Nordsyrien im Jahr 2020. Erschwert wird die Erfassung von vollstreckten Todesurteilen durch Tötungen und Hinrichtungen von Inhaftierten ohne Anklage oder Urteil. Die United Nations Independent International Commission of Inquiry dokumentierte auch im jüngsten Bericht von September 2022 eine hohe Zahl von Fällen solcher außergerichtlichen Hinrichtungen in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.3.2023). Die Todesstrafe wird oftmals ohne vorangegangenes faires Verfahren und im Geheimen vollstreckt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Ein Überprüfungsausschuss, dessen Mitglieder von Präsident Assad eingesetzt werden, ist befugt, die von syrischen Strafgerichten verhängten Todesstrafen zu überprüfen, nicht aber die der Sondergerichte wie Anti-Terrorismus-, Militär- und Feldgerichte (STJ 7.6.2022)

Es gibt zahlreiche Berichte über Todesfälle in Regierungsgewahrsam durch Hinrichtungen ohne fairen Prozess, durch Folter oder durch andere Formen der Misshandlung, wie etwa Mangelernährung und fehlende medizinische Versorgung, namentlich z. B. in der Haftanstalt des Mezzeh Flughafens, in den Abteilungen 215 und 235 des Militärnachrichtendiensts und im Saydnaya Gefängnis (USDOS 20.3.2023).

- Das Gefängnis von Saydnaya/Sednaya

Besonders viele Hinrichtungen entfallen nach zahlreichen Berichten auf das Zentralgefängnis von Saydnaya nahe Damaskus, in dem vornehmlich politische Gefangene festgehalten werden (AA29.3.2023). Amnesty International schätzte 2017 allein die Zahl der zwischen 2011 und 2015 in Saydnaya hingerichteten Personen auf mindestens 13.000 Menschen (AI 22.10.2021). Im Jahr 2017 äußerte die US-Regierung öffentlich die Vermutung, dass syrische Behörden in Saydnaya jeden Freitag eine zwei- bis dreistellige Anzahl Häftlinge hinrichteten und hierfür eigens ein Krematorium angelegt hätten, um die Leichen von Gefangenen ohne Spuren zu beseitigen, was in den Jahren 2018 und 2019 durch Medienrecherchen untermauert wurde (AA 29.3.2023). Auch im Jahr 2021 gab es weitere Berichte über Hunderte Tote im Saydnaya-Gefängnis und den Einrichtungen der Sicherheitsdienste sowie über Dutzende Tote nach einem Gefangenentransfer in dasTishrin Militärhospital. Ehemalige Insassen von Saydnaya berichteten auch über anhaltende Todesfälle durch Folter und unmenschliche Behandlung vor dem Hintergrund von weitverbreitetem Hunger und Tuberkulose (UNCOI 13.8.2021, zu „Salzräumen“ als improvisierte Leichenhallen und Folterkammern siehe z.B. SHRC 1.2023).

- Hinrichtungen und Attentate, die mit dem Beilegungsabkommen von Dara’a in Zusammenhang gebracht werden

Der NGO Global Voices zufolge hielt sich das Regime nie an die Bedingungen des Abkommens und ging weiterhin gegen Mitglieder der Opposition vor. Das Dara’a Martyrs’ Documentation Office meldete im Jänner 2021 die Hinrichtung von 83 militärischen Gegnern des Regimes, welche ein Beilegungsabkommen unter Vermittlung der russischen Militärpolizei angenommen hatten, sowie von 31 weiteren Personen, welche das Abkommen nicht angenommen hatten (USDOS 12.4.2022). Im ersten Halbjahr 2022 wurden über 100 Personen in Dara’a getötet, und was ein Muster Attentaten durch Unbekannte auf ehemalige frühere Mitglieder aufständischer und regierungstreuer Einheiten fortsetzte. Das Dara’a Martyrs’ Documentation Office meldete 90 Attentatsversuche, welche mit dem Tod von 51 Personen endete - darunter 31 Zivilisten sowie frühere Oppositionskämpfer, welche Beilegungsabkommen mit dem Regime unterzeichnet hatten. Letztere gehören zu den Profilen, welche besonders als Ziel für derartige Attentate gestuft werden (USDOS 20.3.2023).

Landesteile außerhalb der Regierungskontrolle

In den oppositionellen Gebieten variieren gesetzliche und gerichtliche Abläufe je nach Ort und dominierender bewaffneter Gruppe. Lokalverwaltungen übernehmen diese Zuständigkeiten teils unter Anwendung von Gewohnheitsrecht, aus der Scharia abgeleitet, teils unter Heranziehung nationaler Gesetze. Urteile in Scharia-Räten führen manchmal zu Hinrichtungen ohne Berufungsprozess oder Besuch von Familienmitgliedern (USDOS 29.3.2023). Im Laufe des bewaffneten Konflikts wurden wiederholt auch Hinrichtungen von gefangenen Angehörigen der syrischen Sicherheitskräfte durch bewaffnete, zumeist radikalislamische Oppositionsgruppen und terroristische Gruppierungen von der UNO dokumentiert (AA 29.3.2023).

Der sogenannte Islamische Staat (IS) führte Hinrichtungen in der Öffentlichkeit durch und zwang die Bewohner - auch Kinder - zuzusehen (UNHRC 17.11.2021). Bis zu seiner territorialen Niederlage im April 2019 tötete der IS Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder durch öffentliche Hinrichtungen, wie Kreuzigungen und Enthauptungen unter dem Vorwurf des Glaubensabfalls, der Blasphemie und der Homosexualität (USDOS 10.6.2020). Im Lager al-Hol wurden von Jänner bis November 2022 mindestens 42 Personen ermordet, darunter vier Kinder (USDOS 20.3.2023; Anmerkung, zum al-Hol Lager siehe auch Unterkapitel über Sicherheitslage in Nordostsyrien sowie zum Rechtsschutz in Nordost-Syrien).

Im Jahre 2020 führten türkische Truppen und die Syrian National Army (SNA) mindestens sieben standrechtliche Hinrichtungen in den von ihnen besetzten Gebieten im Nordosten Syriens durch (HRW 13.1.2021). Im Jahr 2022 führten von der Türkei unterstützte syrische Oppositionsgruppen Berichten zufolge ebenfalls außergerichtliche Hinrichtungen durch. LautSNHR tötete die SNA 24 Zivilisen, darunter sechs Frauen und sieben Kinder. Laut der „Syrischen Interimsregierung" untersuchten Militärgerichte im Jahr 2021 mindestens 169 Fälle von Verbrechen von Kleindiebstahl bis hin zu Mord, aber für 2022 legte sie keine Zahlen vor. Die Angeklagten gehörten zu verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen, und ihre Prozesse fanden in vielen Fällen in absentia statt. Menschenrechtsaktivisten kritisierten die Reformen als nicht glaubwürdig, und dass keine Täter zur Verantwortung gezogen würden (USDOS 20.3.2023).

Auch Hay’at Tahrir ash-Sham, die überwiegend mehrere Regionen in Idlib kontrolliert, hat Berichten zufolge standrechtliche Hinrichtungen durchgeführt (HRW 13.1.2021) - so auch der UN Commission of Inquiry for Syria (COI) zufolge. Den Hingerichteten - darunter auch Frauen - wurden Verbrechen von Mord über Ehebruch bis zu Vergewaltigung vorgeworfen. Mindestens zwei Kinder wurden Berichten zufolge zum Tod verurteilt (UNCOI 13.3.2023).

Das selbst ernannte Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) hat die Todesstrafe im Jahr 2016 abgeschafft (NMFA 5.2022).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt (Deutschland) [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber _die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03. 2023.pdf, Zugriff 18.4.2023

■             AI - Amnesty International (22.10.2021): Syria: Chilling execution spree with 24 people putto death over lastyear’s wildfires, https://www.ecoi.net/de/dokument/2062813.html, Zugriff 18.3.2023

■             HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/do kument/2085501.html, Zugriff 16.3.2023

■             HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2 043510.html, Zugriff 18.3.2023

■             NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Sy ria.pdf, Zugriff 18.3.2023

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021, https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 18.3.2023

■             SHRC - Syrian Human Rights Committee (1.2023): The 21st Annual Report On Human Rights in Syria 2022, https://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2023/01/21st-report_En.pdf, Zugriff 18.3.2023

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (2.2.2023): At Least 178 Arbitrary Arrests/Detentions Documented in Syria in January 2023, Including 14 Children and Seven Women, https://reliefweb.int/attachments/c88bd5e3-89c6-47f7-82ed-5a0e63970653/ M230202E.pdf, Zugriff 16.3.2023

■             STJ - Syrians for Truth & Justice (7.6.2022): Syria: The President Enforces Death Sentences through a Formal Pardon Committee, https://stj-sy.org/en/syria-the-president-enforces-death-sen tences-through-a-formal-pardon-committee/, Zugriff 18.3.2023

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (13.3.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G23/010/21/PDF/G2301021.p df?OpenElement, Zugriff 18.3.2023

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (13.8.2021): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G21/223/82/PDF/G2122382.p df?OpenElement, Zugriff 18.3.2023

■             UNHRC - United Nations Human Rights Council (17.11.2021): Compilation on the Syrian Arab Republic, Report of the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2065950/A_HRC_WG.6_40_SYR_2_E.pdf, Zugriff 18.3.2023

■             USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 18.4.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 18.3.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (11.6.2020): 2019 Report on International Religious Freedom - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2031230.html, Zugriff 18.3.2023

Bewegungsfreiheit

Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens

Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).

Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 % der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).

Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 15.5.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).

Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 15.5.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 29.3.2023). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara’a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).

Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara’a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (FP 1.2.2023).

Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte Versöhnungskarte’ vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019). Es gibt keine Rechtssicherheit, und die Gefahr, Opfer staatlicher Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).

Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.1.2019). Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).

Ausländischen Diplomatinnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) - wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (USDOS 20.3.2023).

Betreten und Verlassen des Regimegebiets

Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).

Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für Zivilistinnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).

Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung Anmerkung, mitHTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung Anmerkung, mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle Bürgerinnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. Bewohnerinnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022).

Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen - landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (NMFA 5.2022).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.5.2023): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung Stand – 15.5.2023 (Unverändert gültig seit: 31.03.2022), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolit ik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278, Zugriff 15.5.2023

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (9.2019): Syria - Access to Damascus Province for Individuals from Former Rebel-held Areas, https://www.ecoi.net/en/file/local/2017468/COI_report_ Syria_Access+to+Damascus+Province_sept_2019.pdf, Zugriff 15.5.2023

■             DIS/DRC - Danish Immigration Service [Dänemark] / Danish Refugee Council (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nyidanmark.dk/-/ media/Files/US/Landerapporter/Syrien_FFM_rapport_2019_Final_31012019.pdf?la=da&hash=A4 D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC, Zugriff 15.5.2023

■             FP - Foreign Policy (Lister, Charles) (1.2.2023): Something Has to Give in Postwar Syria, https: //foreignpolicy.com/2023/02/01/something-has-to-give-in-postwar-syria/, Zugriff 15.5.2023

■             HRW - HRW - Human Rights Watch (20.10.2021): ’Our Lives Are Like Death’; Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2062564/syria1021_web.pdf, Zugriff 15.5.2023

■             NMFA- Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria May 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information +report+Syria.pdf, Zugriff 29.4.2023

■             NMFA- Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria June 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 29.4.2023

■             SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 15.5.2023

■             UNFPA - UN Population Fund, GPC - Global Protection Cluster (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (28.3.2023): Whole of Syria; Gender-Based Violence Area of Responsibility; Voices from Syria 2023; Assessment Findings of the Humanitarian Needs OverView, https://reliefweb.int/attach ments/338b5a3e-2c43-405b-8298-86612ec88e09/Voices%20from%20Syria%202023_FINAL_o nline%20version_En.pdf, Zugriff 29.4.2023

■             USDOS - USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen

Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern. Die Kosten für einen Reisepass von 800 bis 2.000 USD macht diesen für viele unerschwinglich. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch Journalistinnen und Menschenrechtsaktivistinnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten Aktivistinnen oder Journalistinnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).

Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023) Anmerkung, Bzgl. der Schließung von zivilen Flughäfen wegen israelischer Luftangriffe siehe auch Kapitel Sicherheitslage). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise für mehrere Wochen eingestellt werden (AA 29.3.2023).

Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022).

Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen perAntrag an das Innenministerium die Ausreise aus Syrien zu verbieten, auch wenn Frauen, die älter als 18 Jahre sind, eigentlich das Recht haben, ohne die Zustimmung männlicher Angehöriger zu verreisen (USDOS 20.3.2023).

Einige in Syrien aufhältige PalästinenserInnen brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).

Rückkehr

Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).

Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen ’black lists’ betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder

Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde - bedingt durch den Devisenmangel - bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50% (ÖB Damaskus 12.2022).

Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023).

Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren LoginDaten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022).

Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.5.2023): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung Stand -

15.5.2023 (Unverändert gültig seit: 31.03.2022), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolit ik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278, Zugriff 16.5.2023

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

■             NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Sy ria.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand Ende Dezember 2022) [Der Bericht ist in der Staatendokumentation archiviert.]

■             STDOK-Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): FactFinding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/561 8_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 16.5.2023

■             UNCOI - United Nations Independent Internationa! Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://undocs.org/en/A/HRC/52/69, Zugriff 18.3.2023

■             USDOS - USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

Binnenvertriebene (IDPs) und Flüchtlinge

Binnenvertriebene (IDPs)

Ende 2022 waren 12,4 Millionen SyrerInnen weiterhin entweder Flüchtlinge außerhalb des Landes oder Binnenvertriebene (IDPs - internally displacedpersons) in Syrien. Es kam zu keinen bedeutenden Rückkehrbewegungen, und so betrug die Zahl der syrischen Flüchtlinge 5,5 Millionen Menschen. Die Anzahl der IDPs stieg auf 6,9 Millionen Menschen - ein Drittel der Bevölkerung und ein Anstieg um 100.000 Personen seit Ende 2021 (WFP 8.4.2023).UNOCHA weist darauf hin, dass es sich um die höchste Zahl an Binnenvertriebenen weltweit handelt. Bereits vor dem Erdbeben (am 6.2.2023) waren fast 80 Prozent der IDP-Haushalte mindestens fünf Jahre vertrieben, und viele durchlebten mehrere Vertreibungen (UNOCHA 14.2.2023) [Anm.: die genauen Zahlen an Flüchtlingen und IDPs variieren je nach Quelle und Berichtszeitpunkt]. Umfassende und landesweite Informationen über Binnenvertreibung fehlen (UNOCHA 14.2.2023).

Während einige SyrerInnen begannen, in ihre Heime in Gebiete zurückzukehren, wo die Kampfhandlungen nachgelassen haben, kam es im Laufe von 2022 auch zu neuer Gewalt und neuen Fluchtbewegungen (FH 9.3.2023). Bei den intern Vertriebenen (IDPs) blieb mit 356.000 RückkehrerInnen die Zahl gegenüber 2019 (1,2 Mio.) weit zurück, wobei der Großteil der Bewegungen innerhalb der Gouvernements erfolgte. Bis August 2020 kehrten rund 300.000 Menschen zurück, der Großteil davon innerhalb/nach Idlib und Aleppo. Die Zahlen der neu Vertriebenen sind erneut weit höher; es gab 2020 wie im Jahr zuvor 1,8 Mio. IDP-Bewegungen insgesamt. Im Zuge der Eskalation des Konfliktes in Idlib wurden von Dezember 2019 bis März 2020 knapp 1 Mio. Menschen vertrieben (ÖB Damaskus 12.2022).

Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonder vulnerabel bezüglich sexueller Ausbeutung oder durch Arbeit sowie bezüglich Menschenhandel. Dies trifft auch auf die relativ stabilen Gebiete unter Regierungskontrolle zu, denn dort ist der Zugang zu Arbeit und Investitionen oft von persönlichen oder politischen Beziehungen bzw. Beziehungen auf Basis der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, abhängig (FH 9.3.2023).

Im Zeitraum 6. bis 8.2.2023 [Anm.: zum Erdbeben vom 6.2.2023 siehe auch Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft] wurden mehr als 30.000 Fluchtbewegungen in Nordwest-Syrien verzeichnet. Es ist wahrscheinlich, dass viele IDPs nochmals vertrieben werden. Berichte dazu gibt es bereits aus Deir-ez-Zor, Aleppo, Hama, Lattakia und Tartus. Das Erdbeben hat nicht nur weitere Fluchtbewegungen aufgrund beschädigter/unsicherer Unterkünfte verursacht, sondern auch die Aussichten für eine sichere Rückkehr von denjenigen bereits binnenvertriebenen Personen verringert, die ursprünglich aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten stammen (UNOCHA 14.2.2023).

Sicheres Obdach ist eines der Hauptbedürfnisse nach dem Erdbeben (UNOCHA 14.2.2023). Im Dezember 2022 [Anm.: also noch vor dem Erdbeben vom 6.2.2023] lebten in Syrien bereits 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien - in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des Humanitarian Needs Assessment Programme der UNO von 2020 wohnten 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023). Im August 2022 lebten 30 Prozent der IDPs außerhalb von Lagern, und 43 Prozent der zurückgekehrten, ehemals binnenvertriebenen Haushalte in Nordwest-Syrien lebten in risikoanfälligen Unterkünften, z. B. bezüglich Wetterereignissen und Naturkatastrophen (UNOCHA 14.2.2023).

Besonders problematisch blieb auch lautCol (United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) die Lage im Vertriebenenlager in Rukban innerhalb der von den USA garantierten sogenannten ’deconflicting zone’ an der Grenze zu Jordanien. Schätzungen zufolge leben in diesem Lager noch rund 10.000 Menschen (rund 80 Prozent davon Frauen und Kinder) unter prekären Bedingungen - ohne zuverlässige Versorgung und hinreichenden Zugang zu medizinischen Einrichtungen. Von der UNO unterstützte Versuche einer Evakuierung des Lagers in dafür vorgesehene Aufnahmelager im durch das Regime kontrollierten Homs waren 2019 gescheitert, vermutlich in erster Linie aus Sicherheitserwägungen. Im Jahr 2021 haben örtlichen Angaben zufolge rund 5.000 Personen das Camp verlassen (AA 29.3.2023).

Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut dieser Berichte haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 29.3.2023). Die Regierung verwendete weiterhin Gesetz Nr. 10 bezüglich Zonen für einen Wiederaufbau, um regierungstreue Personen zu belohnen, und Flüchtlinge und IDPs daran zu hindern, ihr Eigentum einzufordern oder in ihre Heimat zurückzukehren (USDOS 2.6.2022). Als Gründe für die Rückkehr/Nichtrückkehr wird von den Betroffenen neben der Sicherheitslage zunehmend die schlechte wirtschaftliche Situation ins Treffen geführt. Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom sogenannten Islamischen Staat gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir-Ez-Zor). Laut Mitteilung von UNMAS (United Nations Mine Action Service) vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen - also rund 50 Prozent der Bevölkerung - dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs. Ein Drittel aller Opfer von Explosionen ist gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden, und mehr als 20 Prozent haben Gehör- oder Sehvermögen verloren. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand (ÖB Damaskus 12.2022).

Quellen:

■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

■             FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, 2023, https://www.ecoi.net/d e/dokument/2088564.html, Zugriff 10.7.2023

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand Ende Dezember 2022) [Der Bericht ist bei der Staatendokumentation einsehbar.]

■             UNOCHA - - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.2.2023): Flash Appeal: Syrian Arab Republic Earthquake (February - May 2023) [EN/AR], https://reliefweb.int/re port/syrian-arab-republic/flash-appeal-syrian-arab-republic-earthquake-february-may-2023-enar, Zugriff 10.5.2023

■             USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Reli- gious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2073954.html, Zugriff 17.5.2023

■             WFP-World Food Programme (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (8.4.2023): Syrian Arab Republic Annual Country Report 2022 - Country Strategic Plan 2022 - 2023, https://reliefweb.int/atta chments/bb3f5122-1518-4232-8d8b-ba6d194be7c0/WFP-0000147991.pdf, Zugriff 2.5.2023

Grundversorgung und Wirtschaft

Erdbeben vom 6. Februar 2023

Am 6.2.2023 ereignete sich ein Erdbeben in der Türkei der Stärke 7,8, gefolgt von einem starken Nachbeben der Stärke 7,5 auf der Richter-Skala. Das erste Beben betraf, zumindest moderat, auch fast ganz Syrien. Am schwersten betroffenen waren die Gebiete im Nordwesten des Landes bzw. entlang der türkisch-syrischen Grenze. Das Nachbeben beschränkte sich auf die nördliche Landeshälfte, wieder mit besonders schwer betroffenen Gebieten entlang der Grenze (TNYT 6.2.2023).

Mehr als 7.000 SyrerInnen wurden getötet und geschätzte 5,3 Millionen wurden obdachlos (USIP 14.3.2023). 350.000 Menschen in dem Land wurden durch die Katastrophe vertrieben (Zeit 15.2.2023). So waren laut UN-Koordinator für Syrien 10,9 Millionen Menschen in Syrien von den Erdbebenfolgen in den Gouvernements Hama, Lattakia, Idlib, Aleppo und Tartus betroffen (UN News 8.2.2023). Nachbeben führten dazu, dass Menschen immer wieder ins Freie flüchteten (UN News 12.2.2023). Die Erdbeben verstärkten die humanitäre Krise, und der Cholera-Ausbruch [seit August 2022 - Anmerkung, siehe auch Kapitel Medizinische Versorgung] unterstreicht die Fragilität des Gesundheitssystems sowie der Wasser- und Abwassersysteme (USIP 14.3.2023).

Die Weltbank beurteilte die Lage in den Gouvernements Aleppo, Hama, Idlib, Lattakia, Raqqah und Tartus mit einer tiefer gehenden Prüfung der Städte Aleppo, Harem, Jableh, Afrin, Ad-Dana, Jandairis, Azaz, Sarmada und Lattakia. Demnach trat der größte Schaden bei Unterkünften auf - 24 %, gefolgt vom Transportbereich, der Umwelt (Kosten für die Räumung des Schutts) und der Landwirtschaft, welche gemessen am Ausfall der Lebensmittel den größten Schaden aufweist. Die meisten Schäden werden im Gouvernement Aleppo mit 44 % aller Schäden verzeichnet - besonders in den Bereichen Obdach und Landwirtschaft, gefolgt von Idlib mit 21 %. Die Stadt Aleppo steht mit 60 % der Gesamtschäden an der Spitze der am meisten betroffenen Städte, gefolgt von Lattakia mit 12 % und Azaz mit 10 % (Weltbank 17.3.2023).

Insgesamt kritisierten z. B. die USAID-Chefin Samantha Power die Langsamkeit der Hilfe in Syrien. Zu den am schwersten betroffenen Gebieten in Syrien zählt die Provinz Lattakia, die vom Assad-Regime kontrolliert wird. Dort kommt vor allem humanitäre Hilfe der UN-Organisationen und des Welternährungsprogramms an (Zeit 15.2.2023). UNHCR konzentrierte sich z. B. auf Hilfe für Obdach und Hilfsgüter in den Sammelzentren für die Vertriebenen in Form von Zelten, Plastikplanen, Thermodecken etc. vor dem Hintergrund einer 'Krise in der Krise’, in welcher noch Schneestürme in manchen Gegenden und durch die Erdbeben beschädigte Straßen hinzukamen. Bereits vor dem Erdbeben gab es laut UNHCR 6,8 Millionen Binnenvertriebene in Syrien (UNHCR 10.2.2023). Die Weltgesundheitsorganisation arbeitete in allen Teilen des Erdbebengebiets und verstärkte ihren Einsatz einschließlich im besonders betroffenen Nordwesten des Landes. Bereits vor dem Erdbeben waren nur gerade die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen in Betrieb. Nationale und internationale Organisationen, ebenso wie Nachbarn, Moscheen, Kirchen und Gruppen beeilten sich, mit Lebensmitteln, sauberem Wasser, medizinischer Versorgung und sicheren Schlafplätzen zu helfen (UN News 12.2.2023). Nach dem Erdbeben lockerte die EU vorübergehend ihre Sanktionen gegenüber dem Regime. Hilfsflüge aus Deutschland, Dänemark und Norwegen landeten direkt in Damaskus (Qantara 28.2.2023). Als Folge der Erdbeben eröffnen sich für den Iran in vielen Sektoren neue Einflussmöglichkeiten in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Unterkünfte und Transport in Gebieten, wo die syrische Regierung nicht ausreichend den Erdbebenopfern humanitäre Hilfe leisten kann. In der Küstenregion Baniyas, Jableh and Lattakia setzt Iran bereits humanitäre Hilfe als ’soft power’ ein, denn neben dem militärischen Einfluss sucht Iran auch wirtschaftlichen Einfluss in Syrien (L’Orient 16.2.2023). Gleichzeitig gibt es Berichte, dass unter der Deckung humanitärer Hilfe Waffen ins Land gebracht wurden (L’Orient 12.4.2023) und UN-Hilfsgüter von Regierungsangestellten abgezweigt oder sonst in einer Form Einfluss genommen wurde (FDD 15.3.2023). Berichten zufolge fließt die aktuelle Nothilfe zu 90 % an das Regime(gebiet), obwohl 88 % der syrischen Erdbebenopfer in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (Qantara 28.2.2023).

In einer Geberkonferenz wurden mittlerweile 911 Millionen Euro für Erdbebenhilfe für Syrien zugesagt, welche von den UN-Organisationen und international anerkannten NGOs verwaltet werden. Faktoren bei der Vergabe der Verwaltung an die UNO (und nicht an die syrische Regierung) sowie Herausforderungen für die Umsetzung sind: das Ausmaß der Zerstörung, viele politische Einschränkungen, das als ’bankrott und korrupt’ bezeichnete Regime sowie die Anzahl an politischen Akteuren in Nordsyrien. Dazukommt die Notwendigkeit von Wachsamkeit, dass es nicht zu demographischen Manipulationen entlang der türkischen Grenze kommt (CMEC 3.4.2023).

In das Oppositionsgebiet gelangten zuerst 80 LKW-Ladungen der International Organization for Migration (IOM) über die beiden neu für humanitäre Hilfe geöffneten Grenzübergänge Bab al-Salam und Al Ra’ee (IOM 21.2.2023). Hintergrund ist, dass die syrische Regierung weiterhin Hilfslieferungen in Gebieten außerhalb ihrer Kontrolle einschränkt oder verhindert. Allein im Nordwesten leben in solchen Gebieten mindestens vier Millionen Menschen in schlechten Bedingungen, die völlig auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Auch bewaffnete Oppositionsgruppen verhinderten Hilfslieferungen aus dem Regimegebiet. Darüber hinaus verhinderte die syrische Regierung Hilfslieferungen an die hauptsächlich kurdischen Stadtteile in Aleppo Stadt, die vom ’kurdischen Zivilrat’ kontrolliert werden, und welche stark vom Erdbeben betroffen waren. Die kurdische Selbstverwaltung wurde von der Regierung bei Hilfslieferungen in Regierungsgebieten und den Nordwesten eingeschränkt, bzw. die Lieferungen verzögert. Im nördlichen Teil des Gouvernements schränkten pro-türkische Oppositionsgruppen die Lieferung von Hilfe an Kurdinnen ein und behinderten Rettungsbemühungen (AI 2.2023).

Aufgrund der Erdbeben vom 6.2.2023 und (dem besonders starken Nachbeben) vom 20.2.2023 wird von der Weltbank ein Schrumpfen der Wirtschaft um 5,5 % prognostiziert. Wenn der Wiederaufbau vor dem Hintergrund beschränkter öffentlicher Ressourcen, schwacher privater Investitionen und beschränkt einlangender Hilfe langsamer als erwartet stattfinden sollte, könnte die Schrumpfung größer ausfallen (Weltbank 17.3.2023). Laut Einschätzung von Ärzte ohne Grenzen werden die Folgen des Erdbebens noch monate- und jahrelang in Nordsyrien spürbar sein. Menschen, deren Häuser nicht wiederaufgebaut werden können, werden in Lagern verbleiben (Standard 3.3.2023).

Die allgemeine sozioökonomische Lage

Die wirtschaftliche und die humanitäre Lage in Syrien bleibt laut deutschem Auswärtigem Amt desolat und hat sich durch das Erdbeben am 6.2.2023 noch einmal deutlich verschärft (AA 29.3.2023). Die UN Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Repu- blic kam bereits in ihrem Bericht von September 2022 zu dem Schluss, dass sich Syrien in der schwersten wirtschaftlichen und humanitären Krise seit Ausbruch des Konflikts befindet (UNCOI 17.8.2022). Mehr als 90 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Aktuell sind mit steigender Tendenz 15,3 Mio. Menschen von humanitärer Hilfe abhängig (5 % bzw. 0,7 Mio. mehr als 2022), die jedoch laut Vereinten Nationen nicht in benötigtem Maße zur Verfügung gestellt werden kann. In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage weiterhin besonders angespannt. Die ohnehin schlechte Wirtschaftslage hat 2022 durch die rasant fortschreitende Devisen- und Währungskrise (Einbruch des BIP um 60 % zwischen 2010 und 2020, Währungsverfall des syrischen Pfunds um 51,7 % im Vergleich zum Vorjahresmonat (Februar 2022) und um 99,4 % gegenüber dem US-Dollar auf dem Schwarzmarkt seit Konfliktbeginn 2011) sowie durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und die Wirtschaftskrise im Libanon einen neuen Tiefpunkt erreicht (AA 29.3.2023). Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, weil die Situation regional unterschiedlich ist und davon abhängt, unter wessen Kontrolle das jeweilige Gebiet steht (BS 29.4.2020). Auch basiert das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken, die regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019). Die syrische Regierung kontrolliert auch die Sammlung von Daten (EIP 7.2019).

Aufgrund deutlich gestiegener Lebensmittel- und Kraftstoffpreise hat sich in den letzten zwölf Monaten die Versorgungslage nochmals deutlich verschlechtert. Insgesamt sind 12,1 Mio. Menschen von Hunger bedroht (68 % der Bevölkerung), ein Anstieg von etwa 55 % seit 2019. Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 (2022) auf 609.979 (2023). Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zw. sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Die Kosten für Lebensmittel haben sich seit 2020 um über 800 % erhöht. Die Kosten für einen Lebensmittelkorb des Welternährungsprogramms haben sich um 91 % im Vergleich zum Vorjahr erhöht (AA 29.3.2023). Das Welternährungsprogramm führt Syrien noch vor dem Jemen als Land mit der weitesten Verbreitung von ungenügender Ernährung im Nahen Osten und Nordafrika an. 10, 4 Millionen Menschen können nur ungenügend Nahrung zu sich nehmen. Das sind 58 % der Bevölkerung in den Gebieten Syriens, zu denen das Welternährungsprogramm Erhebungen durchführen konnte (WFP 10.5.2023). Der UN-Koordinator für Syrien warnte nach dem Erdbeben, dass die Zahlen für humanitären Bedarf nach oben revidiert werden müssen (UN News 8.2.2023).

Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, aber steigen tendenziell landesweit an. Der Mangel an Treibstoff und Elektrizität birgt laut United Nations Officefor the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) Risiken für ca. sechs Mio. Menschen, die sich nicht angemessen vor Winterbedingungen schützen können, und dies betrifft nun 33 % mehr Haushalte als im zurückliegenden Jahr. Etwa 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 % der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023).

Die Wintersaison 2023 war besonders herausfordernd für bereits fragile Gemeinschaften und Menschen mit bereits bestehenden gesundheitlichen und sozialen Schwächen. Die Wintermaßnahmen sollten ursprünglich zwei Mio. Menschen unterstützen, die überwiegend in Lagern leben und als am verletzlichsten eingestuft werden. Dazu gehören Binnenvertriebene (IDP), die bereits das zwölfte Jahr in Zelten oder provisorischen Unterkünften bei Minustemperaturen, Schnee und Regen verbracht haben. Hinzu kamen nach dem Erdbeben am 6.2.2023 laut UN-Anga- ben weitere 11.000 Familien aus verschiedenen Teilen Syriens, deren Häuser eingestürzt sind bzw. schwer beschädigt wurden. 5,37 Mio. brauchen Hilfe bei der Unterbringung. Die geplante humanitäre Reaktion ist in allen Bereichen erheblich unterfinanziert. Laut Humanitarian Response Plan (HRP) 2022-23, herausgegeben von UNOCHA, waren mit Stand Dezember 2022 lediglich 47,4 % der Bedarfe finanziert (AA 29.3.2023). Einer anderen Aussage vom 6.5.2023 zufolge waren trotz der Erdbeben nur sieben % des benötigten Betrags bisher für das ohnedies unterfinanzierte Hilfsprogramm eingelangt (Al-Jazeera 6.5.2023).

Aufgrund der Unterfinanzierung erreichten die humanitären Hilfen in den Bereichen Unterkunft und Non-Food-Items (NFI) mindestens 1,2 Mio. der angestrebten 2,2 Mio. Menschen nicht. 2023 gab es 5,3 Mio. NFI-Bedürftige, ein Zuwachs um 15 % zum Vorjahr. 85 % der Bevölkerung gaben an, dass ihr monatliches Einkommen nicht zur Deckung der notwendigen Ausgaben reiche. Ein Großteil der Bevölkerung verfügt nach zwölf Jahren Konflikt über keine Ersparnisse mehr, 69 % der Haushalte haben sich folglich seit 2021 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Subventionierte Basisgüter sind nur in begrenztem Umfang und in Regime-kontrollierten Gebieten über eine elektronische Karte zu beziehen. Im Februar 2022 entzog Syriens Regierung über 600.000 Haushalten mit 2,5 Mio. Personen die Berechtigung zum Bezug subventionierter Güter (AA 29.3.2023).

Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 12.2022).

- Der Nordosten

Auch im Nordosten Syriens bleibt die humanitäre Lage angespannt. In Nordostsyrien leben 2,7 Mio. Menschen, von denen rund 1,8 Mio. auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Prekär bleibt die Situation besonders für die etwa 630.000 Binnenvertriebenen in der Region, von denen 89 % bereits seit mindestens vier Jahren vertrieben sind. Nur vier % dieser Personen planen, innerhalb des nächsten Jahres in ihre Heimatorte zurückzukehren (AA 29.3.2023).

Mitte 2020 führten die türkisch-kontrollierten Gebiete in Nordsyrien die türkische Lira als Währung ein, um das volatile syrische Pfund zu umgehen (AA 4.12.2020). Die türkische Lira hat jedoch im Jahr 2022 ungefähr 30 % ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren und 44 % bereits im Jahr davor (Reuters 9.3.2023). Da die türkische Lira im Nordwesten Syriens mittlerweile eine weitverbreitete Währung ist, hat ihre Abwertung negative Auswirkungen auf die Menschen und die humanitäre Hilfe (UNOCHA 16.12.2021). Im Dezember 2021 wurde von Panikkäufen aufgrund des Währungsverfalls der türkischen Lira berichtet (The National 8.12.2021). Die selbst ernannte 'syrische Errettungsregierung’ hat daraufhin beschlossen, die Preise für Ölprodukte, die in den von Hay’at Tahrir ash-Sham kontrollierten Teilen des Gouvernements Idlib verkauft werden, in US-Dollar statt in türkischen Lira anzugeben (TSR 14.12.2021).

Die allgemeine Wirtschaftslage

Mit 2021 belief sich der wirtschaftliche Schaden des Kriegs auf 1,2 Billionen US-Dollar, hauptsächlich durch die Zerstörung von Infrastruktur und die massiven Vertreibungen durch Einsatz verbotener Kriegstaktiken primär durch die syrischen und russischen Streitkräfte (HRW 13.1.2022). Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die sich weiter verschlechternde katastrophale wirtschaftliche Lage und infolgedessen die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch teils seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen. Die Wirtschaftskrise im Libanon, dem vor allem auch im Hinblick auf die Sanktionen eine zentrale Rolle als Umschlags-und Finanzplatz für die syrische Wirtschaft zukommt, und COVID-19 verschärften die Situation ab 2019 weiter. Es kommt immer wieder zu Verknappungen von Benzin und Diesel, der für Heizzwecke und angesichts der völlig unzureichenden öffentlichen Stromversorgung auch für Generatoren benötigt wird. Auch bei dem Grundnahrungsmittel Brot gibt es Engpässe. Die Preise für beide Güter wurden stark erhöht und die Subventionen zurückgefahren. Mit derzeit mehr als 15 Mio. von Nahrungsmittelunsicherheit betroffenen Menschen ist diese Zahl höher als am Höhepunkt des Konfliktes. Der Preis für den Nahrungsmittelkorb erhöhte sich seit 2019 um 800 %. Der Konflikt hat die soziale Ungleichheit verschärft. Die Gehälter bewegen sich zwischen 70.000 und 120.000 syrische Pfund (SYP), dies entspricht umgerechnet zum Marktkurs rund 20 bzw. 35 US-Dollar. 90 % der Menschen leben in Armut. Im Land begegnet überall der Eindruck des Fehlens jeglicher Hoffnung auf Besserung (ÖB Damaskus 12.2022), und die Wirtschaft taumelt am Rande des Kollaps (MEE 3.4.2023). Die Arbeitslosenrate wird auf 57 % geschätzt. Andererseits gibt es einen Mangel an qualifiziertem Personal in bestimmten Sektoren und Gebieten, u.a. bedingt durch die Vertreibung, Flucht und Abwanderung. Ein Drittel des Wohnungsbestandes wurde ganz oder teilweise zerstört (ÖB Damaskus 12.2022).

Nach zwei Jahren Wachstum brach die Wirtschaft 2020 um 8 % ein. Die Inflation betrug 2022 geschätzt 121,5 %. Der Verfall des syrischen Pfunds hat sich weiter beschleunigt. Einem offiziellen Kurs von 3.000 SYP/USD steht ein inoffizieller Kurs von 6.100 SYP/USD gegenüber, der Unterschied beträgt demnach bereits über 50 % und steigt weiter. Die Überweisungen der im Ausland lebenden Syrer bilden einen wesentlichen Plusposten. Die Währungsreserven sind von 21 Mrd. USD (2010) dem Vernehmen nach heuer zeitweise auf nur 100.000 USD gesunken. Der Verfall der Währung führt zur Verstärkung der wirtschaftlichen Zentrifugalkräfte in den Regionen. - Im Nordwesten wird verstärkt die türkische Lira im Zahlungsverkehr genützt. Das BIP schrumpfte auf ein Fünftel gegenüber 2010, das Budget beträgt real 2022 rund zehn des Budgets von 2010. Die Ölproduktion fiel von 380.000 auf 25.000 Barrel pro Tag. Der Konflikt verursachte auch erhebliche Schäden an der physischen Infrastruktur (ÖB Damaskus 12.2022).

Sieht man von Russland und Iran (v. a. im Grundstoffbereich) sowie in geringerem Ausmaß von China ab, sind keine größeren Auslandsinvestitionen zu erwarten; auch die syrische Diaspora zeigt sich sehr zurückhaltend. Die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sind derzeit nicht gegeben; die Perspektiven haben sich vielmehr verschlechtert. Mit dem Iran sieht sich ein wichtiger Kreditgeber und Erdöllieferant aufgrund der US-Sanktionen und aktuell aufgrund massiver Proteste im Land und weiterer Sanktionsschritte des Westens selbst massiv unter wirtschaftlichem Druck (ÖB Damaskus 12.2022).

Während die Staatsinstitutionen und -funktionen in Instrumente des Regimes transformiert wurden, wurden unter der Regimeführung illegale Wirtschaftsaktivitäten massiv ausgeweitet. Diese stellen nun eine immer wichtigere Einnahmequelle dar. Dazu gehören die Drogenproduktion (Captagon) im großen Stil, Schmuggel, Schutzgelderpressungen, informelle Besteuerung von Warenhandel über die Frontlinien hinweg, Erpressung etc. Hochrangige Militärs wie Maher al-As- sad und die Vierte Division sind dabei zentral in dieser ’Parallelwirtschaft’ (Brookings 27.1.2023).

Laut Economist stellen Produktion und Schmuggel von Drogen - besonders von Captagon - mittlerweile die Hauptquelle Syriens für Devisen dar (USDOS 20.3.2023), es stellt das wichtigste Exportgut des Landes dar (Spiegel 17.6.2022). Die Produktion und der Schmuggel erfolgen durch Elemente mit Verbindungen zu Regimefunktionären und der Hizbollah: Die Vierte Gepanzerte Division der Syrischen Armee und Maher al-Assad dominieren auch hierbei (USDOS 20.3.2023), bzw. verdienen mit (Spiegel 17.6.2022).

Größere Produktionsstätten liegen der folgenden Karte gemäß in und um Damaskus sowie in Lattakia sowie weiteren Regionen vor allem im Westen, Südwesten und Nordwesten des Landes. Im Gebietsstreifen zwischen Homs und Damaskus entlang der libanesischen Grenze ballen sich zahlreiche kleinere Produktionsstätten (Spiegel 17.6.2022).

In Europa und dem Nahen Osten erfolgen große Beschlagnahmungen von Captagon, die aus regimekontrollierten Gebieten in Syrien stammten (USDOS 20.3.2023). Allerdings gibt es keinen Hinweis, dass die Captagon-Produktion der syrischen Bevölkerung in irgendeiner Weise wirtschaftlich helfen würde. Stattdessen scheint Captagon Syrien in einen ’Narco-Staat’ mit einer Abhängigkeit vom Drogenhandel zu verwandeln, in welchem die Staatsführung - auch privat - finanziell profitiert. Durch die Einnahmen in US-Dollar ist der Captagon von besonderer Bedeutung, weil die Sanktionen gegen Syrien den Zugang zu Dollars unterbinden sollen. So helfen die Profite von Captagon bei der Bezahlung von Assad-Unterstützern, Milizen und Leibwächtern, und schützen so die Assad-Loyalisten vor ihren heimischen Gegnern (Soufan 13.4.2023). Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden dabei nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität eingesetzt, sondern auch zum Schutz der wirtschaftlichen Privilegien (Brookings 27.1.2023). Währenddessen erlebt die syrische Bevölkerung nach UN-Einschätzung vom März 2023 eines der schwersten Jahre, verschlechtert durch die Zerstörungen durch das Erdbeben und durch verschiedene kumulierende Entwicklungen davor, einschließlich der anhaltenden Cholera-Epidemie (UNFPA 28.3.2023).

• Die Rolle der al-Muwafaqa al-Amniyeh (Sicherheitsgenehmigung) bei Wirtschaftstransaktionen im Regierungsgebiet

Sicherheitsgenehmigungen sind von Immobilientransaktionen bis hin zu kommerziellen oder industriellen Aktivitäten sowie Dienstleistungen - oder sogar für Künstler für ein Konzert nötig - ebenso für verschiedene Personenstandsangelegenheiten wie Registrierungen von Geburten und Todesfällen. Die Liste genehmigungspflichtiger Aktivitäten wurde stetig länger - wie z.B. das Mieten eines Hauses. Die Vollmachten für einige Personenstandsangelegenheiten wie Geburtenregistrierungen und Eheschließungen sowie Reisepässe und Freikäufe vom Wehrdienst (von Syrern im Ausland) wurden im Jahr 2018 wieder von der Regelung ausgenommen. So kann die syrische Regierung bezüglich Personenstandsangelegenheiten im Ausland am Laufenden bleiben, bzw. durch die Reisepass- und Befreiungsgebühren US-Dollars einnehmen. Vollmachten für vermisste und abwesende Personen bedürfen jedoch laut einem späteren Erlass weiterhin einer Sicherheitsgenehmigung, was für die Familien und besonders für weibliche Familienmitglieder von Vermissten nachteilige Folgen hat. Der Erlass bricht laut Beurteilung der NGO STJ (Syrians for Truth and Justice) syrisches Gesetz und die Verfassung. Die beiden Erlässe zu den Sicherheitsgenehmigungen dienen in Augen von STJ zur demografischen Umgestaltung von Gebieten, die zuvor von bewaffneten Oppositionsgruppen gehalten wurden. Auch verwenden Mitarbeiter des Sicherheitsapparats die Genehmigung zur Erpressung von BürgerInnen, verweigern diese auf Basis böswilliger Berichte oder profitieren durch Bestechungsgelder für die Erteilung der Genehmigung oder deren Beschleunigung (STJ 1.2023).

- Oppositionsgebiete

Auch Gebieten außerhalb staatlicher Kontrolle etablierten oder übernahmen die an der Macht befindlichen Bündnisse Institutionen, um ihre Autorität zu legitimieren. Neben rudimentären Sozialleistungen regulieren sie die lokalen Märkte und den Handel über Grenzen und Frontlinien hinweg. Sie verwalten die Verteilungen essenzieller Waren und humanitärer Hilfe und heben Steuern ein. Dies ermöglicht auch kriminelle Praktiken und Ausübung von Zwang, was das wirtschaftliche Überleben der bewaffneten Gruppen sichert, und ihre Anführer bereichert. Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität der Gruppen eingesetzt, sondern auch zum Schutz ihrer wirtschaftlichen Vorteile. Während im Regimegebiet Organisierte Kriminalität staatliche Strukturen ausbeutet und durchdringt, kann in den Rebellengebieten eine Art 'Staatsaufbau’ durch Organisierte Kriminalität wahrnehmen (Brookings 27.1.2023).

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Zugang zu Einkommen und Arbeit

Allgemeines zum Arbeitsmarkt

Im Verlauf des Konflikts hat sich eine Kriegsökonomie herausgebildet, von der die syrische Regierung und ihr nahestehende Individuen und Gruppen profitieren (AA 29.11.2021). Durch den Bürgerkrieg haben sich bestehende Einkommens- und Vermögensungleichheiten verschärft, indem gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben, und die Konsolidierung einer wohlhabenden Wirtschaftselite in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ermöglicht wurde. Die Mittelschicht ist landesweit verschwunden (BS 29.4.2020). 90 % der syrischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze (Omran 23.1.2023). Es zeichnet sich ein Muster der Ungleichheit innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete ab: Ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind anfälliger für die Verletzung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten (durch Plünderungen und Einschüchterungen) und haben weniger Chancen, von Wiederaufbaugeldern zu profitieren. Die Entwicklungsungleichheit folgt zunehmend der historischen Loyalität einer Region gegenüber dem Regime Assads und nicht mehr dem ethnischen oder religiösen Status (BS 29.4.2020). Insbesondere in Gebieten, in denen lokal Ansässige mit (rückkehrenden) Binnenvertriebenen um Ressourcen konkurrieren - wie im Norden und Nordosten des Landes - bestehen kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Es gibt zudem erhebliche Unterschiede zwischen den Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung, der kurdischen Selbstverwaltung und derSyrian Salvation Government im Nordwesten: In Regierungsgebieten haben 49 % der Haushalte mehr als einen Versorger. Im Nordosten sind es 33 %, im Nordwesten nur 21 %. Laut Medienberichten liegt die Arbeitslosenquote in Nordsyrien (West und Ost) bei etwa 85 % (AA 29.3.2023).

Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die katastrophale wirtschaftliche Lage und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen (ÖB Damaskus 1.10.2021). Wirtschaftliche Verluste führten zum Verlust von Arbeitsplätzen. Bereits im Jahr 2020 gingen laut GIZ drei von vier Erwachsenen keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach (GIZ 9.2020). Das deutsche Auswärtige Amt berichtete im selben Jahr hingegen, dass 50 % der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos waren (AA 4.12.2020). Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonders vulnerabel bezüglich Ausbeutung in der Arbeit - auch in relativ stabilen Gebieten unter Regierungskontrolle, weil der Zugang zu Arbeit und Investitionskapital oft von persönlichen, politischen oder gemeinschaftsbasierten Zugehörigkeiten abhängt (FH 9.3.2023).

DerThink Tank Middle East Institute berichtete schon 2018, dass es in Damaskus immer schwierigerwurde, ohne Beziehungen (wasta) eine Arbeitsmöglichkeit zu finden (MEI 6.11.2018). Das Operations and Policy Center (OPC) veröffentlichte Daten, die darauf hindeuten, dass obwohl Menschen in Damaskus eine der längsten Arbeitswochen der Welt haben, ihre Ausgaben unter die globale Armutsgrenze fallen. Ein großer Teil der Menschen in Damaskus (und de facto ganz Syriens) sind auf externe Einkommensquellen angewiesen, um sich zu versorgen. Ein Viertel der im Rahmen des OPC-Berichts Befragten gaben an, dass Überweisungen aus dem Ausland eine Haupteinkommensquelle sind, während 41 % auf Bargeldzahlungen von Hilfsorganisationen angewiesen sind (OPC 22.6.2021).

Aufgrund von Treibstoffknappheit verteuern sich auch viele Grundprodukte, und die Preise öffentlicher Verkehrsmittel erhöhten sich teilweise um bis zu 200 % (AA 4.12.2020). Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA29.11.2021). Von Jänner bis Mai 2022 stieg der Preis von Treibstoff um weitere 40 % (AM 29.6.2022).

Der öffentliche Sektor als richtungsweisender Teil des Arbeitsmarkts Syriens

Die syrische Regierung verwendet einen Großteil des bereits limitierten Staatshaushalts für die Instandhaltung der Armee und der Sicherheitsbehörden sowie für laufende Militäroperationen (AA 29.11.2021). Trotz der geringen Gehälter sind Stellen im Staatsdienst aufgrund weniger Alternativen, der Aussicht auf Bestechungsgelder und günstiger Kredite gefragt (New Lines 4.6.2021).

Der starke Wettbewerb um Stellen stellt sicher, dass nur diejenigen einen Posten bekommen, die am besten vernetzt sind und als loyal angesehen werden (New Lines 4.6.2021). Im Allgemeinen haben AlawitInnen, falls sie gute Beziehungen (auf Arabisch ’wasta’) haben, viel bessere Chancen auf eine Arbeit im öffentlichen Sektor als andere Gruppen wie Christinnen, sunnitische Araberinnen oder Kurdinnen. Hinzukommt, dass diese Bevölkerungsgruppen von den Geheimdiensten angesprochen werden können, für sie als Informantinnen zu arbeiten, um ihre Arbeit ausüben zu dürfen (DIS 6.2019) [Anm.: weitere Informationen zum Informantenwesen siehe auch besonders Kapitel Rückkehr, Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen]. Offiziell wird unmittelbaren Angehörigen von gefallenen Soldaten und Soldaten, die ihren gewöhnlich mehr als acht Jahre dauernden Dienst abgeleistet haben, Vorrang eingeräumt. Allerdings ist auch in dieser Gruppe mit Vorrang die Arbeitslosigkeit hoch (New Lines 4.6.2021). Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies gilt der Eintritt in die Streitkräfte als ’die einzige vielversprechende Karriereoption für junge Syrer’ im Regierungsgebiet (Omran 23.1.2023).

Vor 2011 betrug das durchschnittliche Gehalt für Staatsangestellte 20.000 syrische Lira, umgerechnet etwa 400 US-Dollar. Trotz wiederholter Gehaltserhöhungen konnten die Löhne nicht mit der Inflation Schritt halten: Ein Durchschnittsgehalt von 55.000 Lira ist ungefähr 15 US-Dollar wert und reicht aufgrund der Lebensmittelteuerung für ungefähr drei Tage, um eine fünfköpfige Familie mit Basisgütern zu versorgen. Daher bessern die Staatsangestellten ihre Einkommen mit Zusatzjobs [Anm.: im Privatsektor, siehe Omran 23.1.2023] und Bestechungsgeldern auf (New Lines 4.6.2021) oder sie sind von Überweisungen aus dem Ausland abhängig. Im Fall der Militärs verfügen sie über Einkommensquellen, die allesamt illegal sind: Plündern, Erpressung, Schutzgelderpressung und Checkpoint-Steuern. Dazukommt auch noch Korruption bei Einkäufen und Verträgen des Verteidigungsministerium, von der nur bestimmte Offiziere und Unteroffiziere profitieren (Omran 23.1.2023).

Im Zuge des Kriegs fand gleichzeitig eine Aufwertung der Militärgehälter im Vergleich zu den Löhnen der Zivilangestellten des öffentlichen Diensts statt: So ist mittlerweile das Netto-Einstiegs- gehalt eines einfachen Soldaten mit Gundschulabschluss (auch aufgrund der Steuerbefreiung) höher als das Einstiegsgehalt vonAkademikerInnen mit Doktorat. Insgesamt fördert diese Bevorzugung des Militärapparats die Militarisierung der Gesellschaft, und vermittelt laut Omran for Strategic Studies die Botschaft an junge Leute, dass der Eintritt ins Militär einer (höheren) Schulbildung vorzuziehen ist. Diese Gehaltspolitik hat auch zur Verstärkung der Auswanderung besonders gebildeter Schichten geführt, wobei die Auswanderung junger Leute ebenfalls Teil dieser Politik ist, damit die AuslandssyrerInnen später Geld an ihre Familien überweisen. Das Regime profitiert dabei nicht nur von diesen Devisen, sondern auch von den sehr hohen Summen für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst (Omran 23.1.2023).

Das US-Außenministerium zieht weiterhin einen Bericht des Danish Immigration Service (DIS) heran, wonach das Regime das unerlaubte Verlassen, bzw. Fernbleiben von der Arbeit im öffentlichen Dienst als politische oder regierungsfeindliche Aktion ansieht (USDOS 20.3.2023): Von 2011 bis 2017 wurden ungefähr 138.000 derartige Fälle vor syrische Gerichte gebracht. Ein Urteil erfolgte in 50.000 Fällen, und die meisten Betroffenen wurden in absentia verurteilt. Im Fall einer Rückkehr riskieren die Verurteilten eine Verhaftung. Hochrangige ehemalige Mitarbeiterinnen laufen Gefahr, unter dem Anti-Terror-Gesetz von 2012 angeklagt zu werden, weil ihr Verlassen des Diensts als politischer bzw. oppositioneller Akt ausgelegt wird. Fälschungen von Gerichtsurteilen werden eher von außerhalb Syriens als in Syrien berichtet. Die Amnestien von September 2019 und März 2020 decken auch Verurteilungen und offene Verfahren von ehemaligen Angestellten des öffentlichen Diensts, wenn das Verlassen des öffentlichen Diensts nicht als politisch motiviert eingestuft wird. Im Fall einer Rückkehr nach Syrien würde trotzdem erst eine Verhaftung bis zum Entscheid über eine etwaige Anwendung der Amnestie erfolgen (DIS 4.2021).

Auch ist der öffentliche Sektor von Treibstoffknappheiten betroffen, welche zu Verspätungen der MitarbeiterInnen oder in einigen Fällen zum Einstellen des Erscheinens bei der Arbeit aufgrund der hohen Transportkosten führten. So kam es im Jahr 2021 im April wegen der Treibstoffknappheit auch zu angeordneten Arbeitszeitreduzierungen für viele Angestellte um 60 % und zu einer ursprünglich für zwei Wochen angekündigten Schließung von Schulen und Universitäten, die jedoch Anfang Juni 2021 noch anhielt (New Lines 4.6.2021).

Quellen

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Ergänzende Informationen zum Zugang zu Lebensmitteln und humanitärer Hilfe

Ergänzende Informationen zur Lebensmittelversorgung

Im Jahr 2022 lebten 90 % der SyrerInnen unter der Armutsgrenze, und mindestens zwölf Millionen SyrerInnen waren vor dem Hintergrund steigender Lebensmittelpreise von Unsicherheit in der Lebensmittelversorgung betroffen. Mehr als 600.000 Kinder waren chronisch unterernährt (HRW 12.1.2023): Die Kosten für Grundnahrungsmittel für eine Familie haben sich seit

Kriegsbeginn verdreißigfacht. 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel aus, in drei Viertel der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei. Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, steigen tendenziell aber landesweit weiter an. 87 % der Bevölkerung haben keinerlei Ersparnisse mehr, 71 % der Haushalte haben sich seit 2019 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch, z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten. Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich: Mittlerweile sind subventionierte Basisgüter nur in begrenztem Umfang über eine elektronische Karte zu beziehen. Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021).

Im Jahresverlauf 2020 stieg die Zahl der Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist, dramatisch an. Zu den Gebieten mit der größten Ernährungsunsicherheit gehörten Lattakia, Raqqa und Aleppo (FAO 13.8.2020). Anfang 2021 waren 12,4 Mio. Menschen in Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen (WFP 3.2021), eine Steigerung um 56 % von 7,9 Millionen 2019 (UNOCHA 3.2021a). Mittlerweile benötigen 15,3 Millionen SyrerInnen humanitäre Hilfe und von diesen verfügen vier Fünftel nicht über genug Nahrung (BBC 31.1.2023). In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage besonders angespannt. Die kritische Versorgungslage hat in Regionen mit einem besonders hohen Anteil Binnenvertriebener (z. B. Provinz Idlib, aber auch Zufluchtsorte in den Provinzen Homs, Damaskus, Lattakia und Tartus) darüber hinaus vereinzelt zu Ablehnung und Abweisung von Neuankömmlingen geführt, die als Konkurrenten in Bezug auf die ohnehin sehr knappen Ressourcen gesehen werden (UNOCHA 3.2021b).

Im Februar 2022 wurde der Ausschluss von ungefähr 600.000 Familien vom Subventionsprogramm bekannt gegeben, das Gas und Heiztreibstoffe, Brot und andere Basisgüter wie Mehl und Zucker beinhaltet. Das löste Proteste in Suwaida sowie online aus (HRW 12.1.2023). Der Zugang zu Sozialleistungen wird auch häufig durch die geografische Lage und die politische Kontrolle bestimmt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten waren bestimmte Sozialleistungen eine wichtige Stütze für die 'Leistungsfähigkeit des Staates’, vor allem der fortgesetzte Zugang zu subventioniertem Brot. Das Regime versucht jedoch auch, den Zugang zu Sozialleistungen in Rebellengebieten zu verhindern. Dies geschieht häufig durch die Ausbeutung von Hilfslieferungen an Checkpoints durch Regimekräfte sowie durch andere bewaffnete Gruppen. Mangelnde Überwachung bedingt außerdem, dass die Hilfe, selbst wenn sie die betroffenen Gebiete erreicht, oft nach politischen Loyalitäten oder familiären Verbindungen verteilt wird. Die Regierung verlässt sich zunehmend auf Wohltätigkeitsverbände bei der Vergabe von Sozialleistungen und Unterstützungen (BS 29.4.2020).

Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, da es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.2.2022).

In Damaskus und den Gouvernements Lattakia und Tartus ist der Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung und gesundheitlicher Versorgung grundlegend gewährleistet, während sich die Versorgungslage aufgrund der Wirtschaftskrise wieder deutlich verschlechtert hat (AA 4.12.2020). Einer Mitte Oktober 2022 durchgeführten Befragung hauptsächlich im Bevölkerungssegment von 16 bis 35 Jahren zufolge stehen z. B. in Homs 9 % genug Essen zur Verfügung, während es in Aleppo 23 % und in Damaskus 33 % der Befragten sind. 3 % in Damaskus sowie 12 % in Aleppo und 20 % in Homs schaffen es nicht, ihre Familien mit ausreichend Lebensmittel zu versorgen. In Damaskus kommen 21 % gerade noch bei der Lebensmittelversorgung über die Runden. In Aleppo sind es 27 % und in Homs 28 % (COID/SL 2022).

Trotz der Brotkrise weigerte sich das Regime oft, private Bäcker in Gebieten, die zuvor von der Opposition kontrolliert wurden, zuzulassen. Seit Kriegsbeginn zerstörten das Regime- und Pro-Regime-Kräfte systematisch Bäckereien und Öfen, was die Produktion und Verteilung von Brot in umstrittenen Gebieten einschränkte. Auch der Wiederaufbau von Bäckereien durch die Regierung erfolgt nach politischer Ausrichtung eines Viertels statt nach dem Bedarf. Human Rights Watch (HRW) berichtete, dass Regierungskräfte den Bäckereien Brot wegnahmen, um es am Schwarzmarkt zu verkaufen. Bäckereien mit Regierungsunterstützung haben separate Warteschlangen für Einwohner, IDPs, Militärs undAngehörige der Geheimdienste, wobei Kunden mit Regierungszugehörigkeit Vorrang haben (USDOS 20.3.2023). Bereits im September 2020 berichtet wurde, dass die Benzin- und Brotknappheit typisch für Regierungsgebiete ist. Die Lebensmittelpreise sind erheblich gestiegen, wobei urbane Regionen stärker betroffen sind - auch Damaskus (UNHCR 3.2021).

Einschränkungen beim Zugang zu humanitärer Hilfe im Regierungsgebiet

Die Lebensmittelpreise stiegen in den beiden letzten Jahren um mehr als 500 %, was die Deckung der Grundbedürfnisse für die zwölf Millionen SyrerInnen, welche unter Lebensmittelunsicherheit leiden, unerreichbar macht (WFP 19.10.2022). Der Anteil an Menschen mit Bedarf an humanitärer Hilfe stieg im Jahr 2021 um 21 % und erreichte eine Gesamtzahl von 13,4 Millionen Menschen, von denen sich laut UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) 1,48 Millionen in schwerster Not befanden (HRW 13.1.2022). Im Jahr 2022 wurde der bisherige Höchststand an humanitären Bedarf erreicht, und im Jahr 2023 benötigen 15,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe - eine Steigerung um 700.000 Personen im Vergleich zu 2022. Unter den von Lebensmittelunsicherheit Betroffenen befinden sich 3,75 Millionen Kinder (UNPFA 28.3.2023).

Ausreichender humanitärer Zugang und Schutz der Zivilbevölkerung stellen weiter die größte Herausforderung dar. Die syrische Regierung gewährt weiterhin keinen ausreichenden Zugang zu den zurückeroberten Gebieten (AA 19.5.2020). Der Syria Humanitarian Response Plan (HRP) erhält immer weniger Geld möglicherweise wegen anderer Krisen wie jener in der Ukraine (UNPFA28.3.2023). Laut UN-Aussage sind nur elf % der von der UNO budgetierten Hilfe für 2023 abseits der Erdbebennothilfe finanziert. Das Welternährungsprogramm (World Food Programme

-             WFP) der UNO hat seine Hilfe in Syrien reduziert - trotz ihres vorhergehend publizierten Hinweises einen Monat vor den Erdbeben, dass der Hunger in Syrien den Höchststand in den zwölf Jahren Krieg erreicht hat. Eine Verschlechterung der Lage seit den Erdbeben ist offensichtlich. DIe WFP-Rationen sind sukzessive kleiner geworden und mit Juli 2023 muss die Hilfe für 40 % der RezipientInnen eingestellt werden, sollten nicht die 280 Millionen US-Dollar für die Fortführung seiner Programme einlangen (TNH 6.6.2023).

Die syrische Regierung hält weiterhin strenge Restriktionen bei der Lieferung humanitärer Hilfe in den Regimegebieten Syriens und darüber hinaus im Land aufrecht. Hilfe wird zur Bestrafung oppositioneller Meinung umgeleitet. Fehlende Sicherungsmaßnahmen der Beschaffungspraxis von UN-Organisationen bergen ein ernstes Risiko, Missbräuchlichkeiten durch syrische Organisationen zu unterstützen (HRW 12.1.2023) [Anm.: siehe dazu auch Kapitel Medizinische Versorgung]. Die UNO-Organisationen müssen den Regierungsvorgaben gemäß Partnerschaften mit syrischen Organisationen unter Regimekontrolle wie dem Syria Trust und dem Syrian Arab Red Crescent eingehen. Als Maßnahme, um diese Kooperation sicherzustellen, verweigert das syrische Außenministerium Personen Visa, von denen sie eine mangelnde Zusammenarbeit erwartet (FDD 15.3.2023). Quasi-NGOs, besonders der von PräsidentengattinAsma al-Assad geführte Syria Trust, sind immer einflussreicher geworden, seit internationale NGOs gezwungen sind, ihre Hilfe über diese zu verteilen. Unterabteilungen des Syria Trusts wurden zwecks Profit von dieser Hilfe eingerichtet. Es gibt zudem den Trend, neue Quasi-NGOs zu gründen oder alte umzubenennen, sodass die Überwachung der Geber über deren Hintergrund verkompliziert wird (BS 23.2.2022). Selbst wenn das UN-Personal alle diese Herausforderungen meistert, so können syrische Sicherheitskräfte dennoch aus den Konvois Güter für sich entwenden. Zudem konnte sich Bashar al-Assad mehr als 100 Millionen US-Dollar von Hilfe in den Jahren 2019 bis 2020 durch die Manipulation der Wechselkurse aneignen (FDD 15.3.2023)

Mit der fortgesetzt steigenden Zahl an Syrern und Syrerinnen in Not wird die Regierung al-As- sad immer versierter darin, humanitäre Unterstützung als politisches Instrument zu verwenden, weshalb Hilfe, die dem syrischen Volk helfen soll, in wachsendem Maß die Regierung politisch und finanziell stärkt. Sie schöpft Hilfe ab, zweckentfremdet sie und leitet sie für eigenen Zwecke um - sowohl in den Gebieten unter seiner Kontrolle wie auch in anderen Landesteilen, indem es den internationalen Zugang lenkt (CSIS 14.2.2022). Die syrische Regierung hat immer wieder auch humanitäre Hilfe als strategische Waffe eingesetzt, um ihre Konfliktziele zu erreichen, wie zum Beispiel während der Belagerung von Dara’a Stadt zwischen 24.6. und 26.7.2021 (COAR 19.7.2021). Auch wird z. B. die UNO daran gehindert, den Hilfsbedarf der Bevölkerung zu ermitteln (FDD 15.3.2023).

- Landwirtschaftliche Produktion

Die lange andauernden kriegerischen Handlungen führten auch zu einer Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur. Die COVID-19-Krise hat dies noch weiter verschärft (FAO 13.8.2020). Der Agrarsektor, der vor dem Krieg zu rund einem Fünftel zum BIP beitrug, ist nach Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) seit 2011 um 90 % eingebrochen. Damit ist Syrien als vormaliger Agrarexporteur mittlerweile auf Nahrungsmittelimporte angewiesen, insbesondere auch aus Russland. Ein wesentlicher Teil der syrischen Agrarprodukte (Weizen, Oliven(-öl), Gemüse) wird teils in oppositionellen Gebieten produziert (Idlib, al-Hassakah). Für die Nahrungsversorgung der syrischen Bevölkerung spielt Weizen eine tragende Rolle. Der Bedarf an Weizen für Syrien wird laut FAO auf ca. 3,5 Mio. Tonnen pro Jahr geschätzt. Während die Produktion 2007 noch 4 Mio. Tonnen betrug, lag sie 2022 laut FAO bei nur noch 1,05 Mio. Tonnen. Der Ertrag des Gerstenanbaus ist ebenfalls stark zurückgegangen, er fiel im Vergleich zum Vorjahr um 75 %. Heute sind etwa 15 Mio. Syrerinnen und Syrer auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Die starke Dürre 2020/2021 im Nordosten, wo 80 % der jährlichen Getreideproduktion Syriens erwirtschaftet wird, hat bis heute fatale Auswirkungen auf die Ernteerträge. 40 % der Ackerflächen liegen brach, in al-Hassakah sogar die Hälfte. Die VN sprachen von der schlimmsten Trockenheit seit 70 Jahren. Die Situation hat sich seither nicht verbessert, die VN rechnen aufgrund hoher Temperaturen und Trockenheit mit schweren Ernteausfällen auch für 2023. Laut einer OPC-Studie (Juni 2022) sind womöglich noch weniger Anbauflächen nutzbar als 2021 (AA 29.3.2023).

Neben der Dürre sind viele Anbaugebiete durch Kampfmittel schwer kontaminiert, was ihre Nutzung teilweise unmöglich macht. Die Transportwege in Regimegebiete sind teils blockiert oder aufgrund zahlreicher Straßensperren, an denen Milizen Wegzoll verlangen, sehr teuer. Das syrische Regime hat nach glaubhaften Berichten gezielt die Zerstörung von Anbaugebieten,

Lebensmittelvorräten und Saatgut in von der Opposition gehaltenen Gebieten als Mittel der Kriegsführung eingesetzt und versucht, gleichzeitig so viel der Weizenernte im Nordosten wie möglich aufzukaufen - aufgrund der knappen Devisen mit nur mäßigem Erfolg (AA 29.3.2023). Auch im Nordosten sorgen rasant steigende Lebensmittelpreise, wachsende Sicherheitsprobleme und eine Verdopplung der Bevölkerung durch IDPs für eine vergrößerte Armutsrate. Viele Menschen sind nun auf humanitäre Hilfe für ihr Überleben angewiesen, aber Budgetknappheiten (der Hilfsorganisationen) und logistische Einschränkungen bedeuten, dass nicht alle Hilfsbedürftigen erreicht werden. Die UNO hat Schwierigkeiten, Hilfe in das Gebiet zu bekommen seit Russland und China im Jahr 2020 die Resolution über die Fortsetzung von Hilfslieferungen über einen irakischen Grenzübergang blockierten. Seither sind die Menschen im Nordosten auf Hilfslieferungen via Regimegebiet angewiesen. Was davon dann im Nordosten ankommt, geht meist in IDP-Lager und die am meisten vom Krieg getroffenen Gebiete wie Raqqa und Deir az-Zour, während die ländlichen Gebiete dazwischen quasi übersehen werden (BBC 31.1.2023).

Quellen:

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■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe?func=ll&objId=23477210&ob jAction=Open&nexturl=%2FOTCS%2Fcs%2Eexe%3Ffunc%3Dll%26objId%3D23521818%26obj Action%3Dbrowse%26viewType%3D1, Zugriff 3.3.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3 %BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C _04.12.2020.pdf, Zugriff 2.6.2023

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Wohnsituation und Infrastruktur

Wohnsituation sowie Enteignungen

Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, welche die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen (AA 29.11.2021). Einer Untersuchung der Weltbank (2017) zufolge ist ein Drittel des gesamten Bestandes an Häusern und Wohnungen in Syrien im Rahmen des Konfliktes in Mitleidenschaft gezogen worden, wobei sieben Prozent zerstört und 20 Prozent beschädigt sind. Aufgrund der Kämpfe in den sog. Deeskalationszonen (Ost-Ghouta, Dara’a, Homs, Id- lib), v. a. 2018, dürfte der Schaden an Infrastruktur heute noch höher sein (AA 29.3.2023). In Gebieten, welche von der Regierung zurückerobert wurden, berichtete die Mehrheit der von Human Rights Watch interviewten Personen über komplett oder teilweise zerstörte Häuser, der Wiederaufbau oder Renovierung sie sich nicht leisten konnten. Die syrische Regierung stellt keine Wiederaufbauhilfe zur Verfügung - auch nicht Jahre nach der Rückeroberung. Daher leben viele Bewohnerinnen in behelfsmäßigen Zelten, weil sie es sich nicht leisten können, anderswo etwas zu mieten (HRW 13.1.2022). Mindestens 5,7 Mio. Menschen lebten vor dem Erdbeben im Februar 2023 in von UNHCR als ’unzulänglich’ kategorisierten Unterkünften, vielfach ohne Heizung und entsprechende Isolierung gegen Kälte und Regen. Aufgrund der Erdbebenkatastrophe sind laut UNHCR weitere 5,37 Mio. Menschen in Syrien auf Hilfe bei der Unterbringung (ShelterAssistance) angewiesen. Laut einer Studie der NRO Norwegian Refugee Council von Mai 2022 kann nur einer von zehn Syrern die monatlichen Ausgaben, wie etwa für Miete, Strom und Lebensmittel, bezahlen. Im Dezember 2022 lebten in Syrien 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften, außerhalb der Lager sind es zwei Prozent. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien - in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des VN- Humanitarian Needs Assessment Programme von 2020 wohnen 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023) [Anm.: bzgl. des Einflusses der Erdbeben auf den Zugang zu Obdach siehe auch Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft].

In Damaskus haben sich fast eine Million Binnenvertriebene vorübergehend oder dauerhaft niedergelassen, während ein großer Teil der Wohnhäuser am ehemals von den Rebellen gehaltenen östlichen und südlichen Stadtrand zerstört ist (Wind/Ibrahim 2.2020). Die Nachfrage nach Wohnraum ist enorm, während das Angebot auf dem Wohnungsmarkt begrenzt ist. Neue Stadtentwicklungsprojekte sind luxuriös und unerschwinglich für Familien, die ihr Zuhause aufgrund des Krieges verloren haben. Daher hat der informelle Wohnungsbau am südlichen und nördlichen Rand der Stadt stark zugenommen (Wind/Ibrahim 2.2020; vergleiche Syria Times 21.6.2020). Aufgrund der Abwertung des syrischen Pfunds sind die Wohnungspreise im Laufe des Jahres 2020 stark gestiegen (Syria Times 21.6.2020). Bereits im Jahr 2021 überstiegen die Preise in und um Damaskus das Durchschnittsgehalt der Angestellten im öffentlichen Dienst (DIS 10.2021). Für die Gültigkeit von Kauf- oder Mietverträgen wird eine Sicherheitsüberprüfung verlangt. Personen, die an Immobilientransaktionen interessiert sind, werden vom Sicherheitsapparat dahingehend überprüft, ob 'Familienmitglieder unter dem Verdacht terroristischer Aktivitäten stehen, ob sie aus dem Land geflohen sind oder ob der Antragsteller aus einem von Rebellen kontrollierten Gebiet umzieht'. Bereits im September 2012 hat die syrische Regierung mit Präsidialdekret 66/2012 eine rechtliche Grundlage für die Ausweisung von Stadtentwicklungsgebieten in zwei informellen Siedlungen in Damaskus (Marota City im Stadtteil Basateen al-Razi und Basilia City in mehreren südlichen Stadtvierteln) geschaffen. Da viele geflohene oder vertriebene Bewohner nicht nach Syrien zurückkehren konnten, um ihre Eigentumsrechte geltend zu machen, bzw. keine Eigentumsdokumente vorweisen konnten, verloren in Marota rund 50.000 Menschen ihr Zuhause ohne angemessene Entschädigung oder Erhalt einer alternativen Unterkunft (AA 29.11.2021).

Übereinstimmenden Berichten von VN und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property - HLP) seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentiert auch die Col (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) in ihrem jüngsten Bericht von September 2022. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut diesen Berichten haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert. Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen. Auf der Grundlage des Dekrets 63/2012 wurde die vorsorgliche Beschlagnahme von Eigentum und Vermögen von mindestens 10.000 Personen gerechtfertigt. Diese Form der Bestrafung führt nicht nur zu Repressalien gegen die Inhaftierten, sondern dient auch als kollektive Bestrafung von deren Familien. Die Ausübung von Eigentumsrechten wird außerdem behindert, indem für die Gültigkeit von Kaufoder Mietverträgen eine Sicherheitsüberprüfung verlangt wird, in welcher die Familienmitglieder auf angebliche terroristische Aktivitäten sowie auf die Flucht außer Landes überprüft werden und ob sich die AntragstellerInnen aus einem Oppositionsgebiet zurückkehren. Zudem erlaubt Dekret 63/2012 dem Finanzministerium den Besitz und das Vermögen aller, die unter die AntiTerror-Gesetzgebung fallen, zu beschlagnahmen. Laut eines Berichts des Syrian Network for Human Rights (SNHR) wurden zwischen 2014 und Oktober 2020 mindestens 3.970 solcher Fälle dokumentiert. Die Konfiszierungslisten sollen neben den Daten der Betroffenen selbst, auch die Namen ihrer Familienmitglieder enthalten. Die Anwendung des Dekrets kann auch auf diese ausgedehnt werden. Das Regime konfisziert Eigentum nicht nur unter rechtlichem Vorwand, sondern beschlagnahmt auch Grundstücke von Gefangenen, Oppositionellen und Vertriebenen für militärische Zwecke und zum Verkauf an iranische Milizionäre (AA 29.3.2023).

In wiedereroberten Teilen von Idlib und Hama konfiszieren so z. B. die syrischen Behörden mittels Pro-Regime-Milizen und der staatlich kontrollierten Bauerngewerkschaft ungesetzlicherweise die Heime und das Land von SyrerInnen, welche vor den syrisch-russischen Angriffen geflüchtet waren. Der Besitz wird dann durch Auktionen versteigert (HRW 13.1.2022). Zu Beginn 2021 beschlagnahmte das Regime mehr als 44.000 ha landwirtschaftliche Flächen in den Gouvernements Hama, Aleppo und Idlib, und gab diese öffentlich zur Versteigerung frei. Diese Flächen waren als Land in Staatseigentum (’Amiriland’) zur langfristigen Nutzung im Besitz von im Konflikt vertriebenen Syrern, von denen sich die meisten außerhalb des Landes befinden und deshalb ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Bewirtschaftung des Bodens nicht nachkommen konnten (AA 29.11.2021). In Ost-Ghouta und Douma hat die Regierung viele Grundstücke beschlagnahmt, die in erster Linie Personen gehören, die nach Nordsyrien oder in die Türkei vertrieben wurden oder die vom Militär zu anderen bewaffneten Kräften übergelaufen sind. Diese Grundstücke wurden an Familien von Militärangehörigen vergeben oder werden als militärische Quartiere genutzt (AA 29.3.2023).

Während des gesamten Konflikts gab es zudem Berichte über Luftangriffe, die direkt auf Standes- und Katasterämter abzielten. Dadurch wurden in großem Umfang Personenstands- und Eigentumsdokumente zerstört, sodass es für viele Menschen schwierig ist, ihre Eigentumsansprüche nachzuweisen. Mit dem Gesetz 10/2016 hat das Regime bestimmte Gebiete - insbesondere Gebiete außerhalb der staatlichen Kontrolle - als ’Sicherheitsrisiko’ eingestuft, um damit Änderungen in den Eigentumsregistern in diesen Gebieten zu verbieten. Immobilientransaktionen von Syrerinnen und Syrern in Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung werden damit nicht anerkannt. Weiterhin wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern (AA 29.3.2023).

Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist. Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023). Im Februar 2021 veröffentlichte das Ministerium für Medien und Information ein Video des Chefs der Abteilung für die Befreiung vom Militärdienst der syrischen Armee, in dem dieser die sofortige Beschlagnahme von Vermögenswerten ohne vorherige Benachrichtigung ankündigte, sofern die Zahlung des Ersatzgeldes nicht bis spätestens drei Monate nach Vollendung des 43. Lebensjahres erfolge. Eine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, fehlt laut Human Rights Watch. Außerdem wird dadurch ein zusätzliches Rückkehrhindernis geschaffen (AA 29.11.2021).

Milizen konfiszieren in unterschiedlichem Ausmaß Privatbesitz. Das Gesetz Nr. 10 von 2018 erlaubt dem Staat, Gebiete für den Wiederaufbau zu bestimmen. Personen, welche eine Anzahl von Kriterien zum Beweis ihres Besitzes nicht erfüllen können, riskieren diesen ohne Kompensation zu verlieren (FH 9.3.2023). Die Eigentümer werden innerhalb einer einmonatigen Ankündigungsfrist verständigt und haben dann ein Jahr Zeit, ihre Eigentumsansprüche einzubringen, damit sie Anspruch auf Kompensation (auch Eigentumsansprüche auf neu errichtete Wohneinheiten auf ihren Grundstücken) erheben können. Anvisierte Bezirke oder Gebiete waren zuvor mehrheitlich in der Hand der Rebellen. De facto stellt dies auch eine Enteignung jener Flüchtlinge dar, die aus Angst vor politischer Verfolgung oder aus anderen Gründen nicht nach Syrien zurückkehren können, um ihre Ansprüche anzumelden (WKO 10.2019). Die in Dekret 10/2018 festgelegte Vorgehensweise bei der Berechnung des Entschädigungswerts bei Neubebauung kommt laut UN-Experten einer „marktbasierten Enteignung" gleich. Die meisten Binnenvertriebenen oder Flüchtlinge haben weder ausreichend Ressourcen noch die notwendigen Urkunden, um ihren Anspruch zu registrieren (AA 29.11.2021).

Dekret 42/2018 wurde bislang nicht umgesetzt. Stattdessen findet zunehmend Dekret 23/2015 Anwendung, demzufolge Grundstücke auch in Abwesenheit der ursprünglichen Eigentümer genutzt werden können. Insbesondere informelle Viertel, die aufgrund der rapiden Urbanisierung in den 1980er und 1990er-Jahren in den meisten syrischen Städten entstanden waren, sind der Regierung ein Dorn im Auge. Eigentumsverhältnisse sind für von dort geflohene Bewohner nur schwer nachweisbar. Zahlreiche syrische Staatsangehörige scheuen zudem den Kontakt mit offiziellen staatlichen Stellen, weil sie Befragungen durch die Sicherheitsbehörden befürchten. Menschen aus ehemals belagerten Gebieten trauen sich oftmals aus Angst vor Repressionen nicht, persönlich die Ausstellung eigener Personenstandsdokumente zu beantragen. Bei Anwendung von Gesetz 10/2018 könnten daher zahlreiche Rückkehrerinnen und Rückkehrer kurz- bis mittelfristig enteignet werden. Es gibt außerdem immer wieder Berichte über Rückkehrende, die verhaftet wurden, als sie ihre Besitzansprüche gegenüber syrischen Behörden geltend machen wollten (AA 29.11.2021).

Frauen sind bezüglich Grundstückbesitzes mit gesellschaftlichen Normen konfrontiert, welche Frauen bzgl. Immobilienbesitz entmutigen, zusätzlich zu Personenstandsgesetzen, die Frauen bei Erbschaften diskriminieren (FH 9.3.2023).

In der selbsternannten Autonomieverwaltung AANES (Autonomous Administration of North and East Syria) wird die dortige angewachsene Zahl an Immobilienstreitfällen (auch durch gefälschte Dokumente) durch die Existenz zweier Rechtssysteme - dem nationalen und dem der AANES - für die Betroffenen erschwert, wobei dieAANES-Gerichte mangels eigener Landregister auf die Unterlagen der Regierungsgerichte zurückgreifen müssen. Das Problem der Immobilienstreitigkeiten aufgrund gefälschter Dokumente ist mittlerweile in mehreren syrischen Provinzen verbreitet und führte zu mehreren Erlässen des syrischen Justizministeriums, um das Phänomen einzudämmen (Enab 31.1.2023).

Infrastruktur allgemein

Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP 20.7.2020). Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren, und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa, Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 20.4.2020).

Die syrische Regierung bemüht sich, den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten dient eher der internen Propaganda, bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein politisches Signal zu senden, und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019). Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa, die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten IS befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzukommt die immense Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die Hafenstädte Tartus und Lattakia (AA 4.12.2020). Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche, und der Beschädigungsgrad variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen klare Spuren des Krieges auf, und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018). Vor allem im westlichen Teil des Landes ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).

Das öffentlicher Verkehrssystem in Syrien funktionierte mit Stand 2021 kaum noch: Es war für die Fahrer viel profitabler, ihre subventionierten Treibstoffrationen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Das führte zu langen Wartezeiten zu Beginn und am Ende der Arbeitstage. Dies traf auch den öffentlichen Dienst in Form zu spät kommender Angestellter und in Form von Nicht-Erscheinen an vielen Arbeitstagen von Angestellten aufgrund der hohen Transportkosten (New Lines 4.6.2021). Im Februar 2023 war z. B. in Lattakia der Preis für Diesel, der in der Landwirtschaft, im Transport und zum Heizen benötigt wird, 14-mal höher als drei Jahre zuvor (WFP 14.3.2023). Im nordwestlichen Syrien, wo außerhalb der Regierungskontrolle die türkische Lira eingeführt wurde, wächst die Schere zwischen niedrigen Einkommen und steigenden Preisen für Treibstoffe und Transport weiter (The NewArab 26.5.2023).

Wasser- und Stromversorgung

13, 6 Mio. Menschen benötigen im Jahr 2023 Zugang zu Trinkwasser, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen, darunter 6 Mio. Kinder - ein Anstieg um 2,6 Prozent zum Vorjahr (AA 29.3.2023).

- Zugang zu Trinkwasser

Syriens sieben größte Trinkwasseranlagen versorgen etwa 9,5 Mio. Menschen. Die maroden Systeme verfallen aufgrund von Konflikt und fehlender Wartung zunehmend. Die Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung ist infolge gezielter Zerstörung vor allem in umkämpften Gebieten eingeschränkt. Für viele Syrerinnen und Syrer bedeutet der Kauf von Trinkwasser eine große finanzielle Belastung: Haushalte geben sieben Prozent ihres monatlichen Einkommens für Wasser aus. Anfang 2023 hatten 52 Prozent der syrischen Bevölkerung keinen Zugang zur regulären leitungsbasierten Wasserversorgung, im Vorjahr waren es 47 Prozent. 6,9 Mio. Menschen erhalten nur 2-7 Tage im Monat Leitungswasser, da u. a. nicht ausreichend Strom für die Pumpwerke vorhanden ist. Insbesondere der Süden (Gouvernements Dara‘a und Quneitra), der Norden (Gouvernements Idlib, Aleppo, al-Hassakah) sowie nahezu die gesamte in Zeltlagern lebende

Bevölkerung ist nach wie vor in hohem Maße auf durch Lastwagen im Rahmen der humanitären Hilfe geliefertes Wasser angewiesen (AA 29.3.2023).

Die Krise gefährdet die Wasserversorgung von rund 5,5 Mio. Menschen, die in den an den Euphrat grenzenden Provinzen leben. Das Generaldirektorat der EU-Kommission für Zivilschutz und humanitäre Hilfsmaßnahmen (ECHO) warnte im Juli 2022 mit Verweis auf jüngste Wetterprognosen der World Meteorological Organisation (WMO) vor einer „extremen und langfristigen“ Dürre in Syrien (AA 29.3.2023) [Anm.: zur Wassersituation in Relation zum Ausbruch der Cholera siehe Kapitel Medizinische Versorgung und Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Die regenarme Saison, die zu Wasserknappheit und dürftiger Ernte geführt hatte, führte bereits früher in Nordsyrien zu Spannungen. Die Wasserknappheit verschlimmert sich durch den Einsatz von Wasserversorgung als Waffe durch die Konfliktparteien, besonders durch das Regime, die Autonome Administration und die Türkei, sowie durch das Missmanagement und die Übernutzung des Grundwassers (COAR 5.7.2021). Neben dem humanitären und gesundheitlichen Aspekt der Zerstörung der Wasserinfrastruktur trägt dies auch zu einem Wassermangel bei der landwirtschaftlichen Bewässerung bei (Insecurity 19.4.2023).

Im Sommer 2021 wurde der Nordosten von einer Wasserkrise heimgesucht, wie sie zuletzt 2008 stattfand (AA 29.3.2023): In al-Hassakah hatten im Jahr 2021 eine Million Menschen seit fast zwei Jahren keinen Zugang mehr zu Wasser (MSF 27.9.2021). Diese dreifache Wasserkrise bestand aus: (1) einer Dürre aufgrund geringer Niederschläge im Winter, (2) einem überdurchschnittlich niedrigen Wasserstand am Euphrat (200m3/s statt 500m3/s Durchfluss) und (3) häufigen Unterbrechungen im Wassersystem, allen voran der Alouk-Wasserstation, die knapp 460.000 Menschen in al-Hassakah inklusive der Flüchtlingslager Roj und Al Hol versorgt (AA 29.3.2023). Neben einem Sommer mit extrem wenig Niederschlag im Jahr 2021 machten Vertreter der kurdisch geführten Verwaltung die türkische Regierung für die Verlangsamung der Wassermenge, die über den Euphrat ins Land fließt, verantwortlich (TNH 20.12.2021).

Aufgrund zerstörter Kläranlagen werden mindestens 70 Prozent des Abwassers nicht behandelt (AA 29.3.2023). Medienberichten zufolge erreicht die Verschmutzung wichtiger Gewässer ein kritisches Niveau. In vielen Gebieten ist das verschmutzte Wasser nicht mehr für den Konsum geeignet (TNH 20.12.2021)

- Stromversorgung

Die Stromversorgung funktioniert u. a. aufgrund der Treibstoffknappheit, der zerstörten EnergieInfrastruktur und des niedrigen Wasserstandes an den Staudämmen in manchen Gebieten Syriens nur noch für wenige Stunden pro Tag. Insgesamt erhalten drei Viertel aller Haushalte weniger als acht Stunden Strom am Tag. In Nordostsyrien war Elektrizität im September 2021 täglich nur 5-6 Stunden verfügbar; in Nordwestsyrien täglich 7-8 Stunden (Stand 2022). Der Pro-Kopf-Konsum von staatlicher Elektrizität beträgt lediglich 15 Prozent gegenüber 2010 (AA 29.3.2023).

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■             WKO - Wirtschaftskammer Österreich - Außenwirtschaftscenter Amman (11.2018): Außenwirtschaft: Update Syrien, Zugriff 1.3.2019 [Der Link ist nicht mehr zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]

Medizinische Versorgung

Der im gesamten Land ohnehin überlastete und in Teilen dysfunktionale öffentliche Gesundheitssektor ist weiterhin gemäß Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts unzureichend: 41 Prozent der öffentlichen Krankenhäuser sind nicht oder nur teilweise funktionsfähig. Große Teile der Gesundheitsinfrastruktur sind infolge militärischer Auseinandersetzungen und fehlender Instandhaltung weiterhin nicht oder nur eingeschränkt nutzbar (Stand August 2022). Notfalltransporte sind durch einen Mangel an Krankenwagen stark beeinträchtigt. Im Zeitraum 2015-2021 wurden 159 Ambulanzfahrzeuge beschädigt oder zerstört. Trotz einer Erhöhung der Zuweisungen durch die syrische Regierung im Jahr 2022 bleibt der syrische Gesundheitssektor chronisch unterfinanziert. Die Ausgaben wurden nominal um 97,1 Prozent und real um 4,2 Prozent im Vergleich zu 2021 erhöht. Das Defizit wird durch rückläufige finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland verstärkt. Überdies meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im September 2022 eine Finanzierungslücke von 69 Prozent (179 Mio. US-Dollar) (AA 29.3.2023).

Mehr als 15,3 Mio. Menschen sind derzeit auf Gesundheitshilfe angewiesen, eine Erhöhung um 3,2 Mio. im Vergleich zum Vorjahr. Der Anstieg 2023 wird unter anderem auf die sich verschlechternden sozioökonomische Lage der Gemeinden, COVID-19 und den Cholera-Ausbruch zurückgeführt. Der Zugang zu medizinischer Versorgung war schon vor der COVID-19-Pande- mie stark eingeschränkt; medizinische Grund- und Notversorgung waren u. a. aufgrund von gezielten Angriffen auf das Gesundheitswesen kaum gewährleistet (AA 29.3.2023). Syrische Regierungstruppen und ihre Verbündeten waren mit Berichtszeitpunkt Juli 2021 für 90 Prozent von 600 verifizierten Angriffen auf medizinische Einrichtungen verantwortlich. Diese machten medizinische Einrichtungen sowohl für das medizinische Personal als auch für die Patienten zu tödlichen Orten und dezimierten den Gesundheitssektor im ganzen Land (PHR 7.2021). Auch werden Mitarbeiterinnen von Gesundheitseinrichtungen Ziel von Verhaftungen und Folter (US- DOS 20.3.2023). Die syrische Regierung betrachtet medizinisches Personal als Staatsfeinde, wenn dieses diskriminierungsfrei medizinische Versorgung in Gebieten, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, anbietet (NMFA 5.2020), und auch sonst sind Mitarbeiterinnen des Gesundheitssektors spezifische Ziele wegen ihres Berufs oder ihrer tatsächlichen oder angenommenen medizinischen Versorgung von Oppositionellen: Verhaftungen betrafen so auch z. B. Gesundheitspersonal, das mit internationalen Medien über COVID-19 gesprochen hatte oder sonst dem strengkontrollierten offiziellen Narrativ über die Pandemie widersprach. Gegen diese wird Folter eingesetzt, z. B. um Informationen über Aktivitäten zur Gesundheitsversorgung oder über anderes medizinisches Personal zu erhalten oder auch um Verbrechen zu gestehen, welche die Gefolterten gar nicht begangen hatten. Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR - Syrian Network for Human Rights) sind weiterhin mindestens 3.407 Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs von Verschwindenlassen oder Haft betroffen, wobei die syrischen Regimekräfte für mehr als 3.358 Fälle verantwortlich sind (USDOS 20.3.2023). SNHR dokumentierte von 2011 bis November 2021 den von 861 MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors, PHR (Physicians for Human Rights) verzeichnete den Tod von 930 Personen aus dem medizinischen Bereich, wobei das Regime sowie die russischen Truppen für mehr als 90 % der Fälle die Verantwortung trugen (USDOS 12.4.2022). Aufgrund der Kampfhandlungen in der Provinz Idlib und der Abwanderung großer Teile des Gesundheitspersonals mussten seit Dezember 2019 mindestens 83 Gesundheitseinrichtungen schließen (Stand 2021). Zahlreiche Ärzte und Pflegekräfte wurden zudem bei Angriffen getötet: 2022 kamen bei 17 Angriffen 25 Patienten und drei Pflegekräfte ums Leben, knapp 100 wurden verletzt (AA 29.3.2023).

Gewalt macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung laut US-Außenministerium gefährlich und teuer, z. B. durch die fallweise Verweigerung des Passierens von schwangeren Frauen an Regime-Checkpoints oder durch die Bombardierung von Gesundheitseinrichtungen in Oppositionsgebieten, von denen zwei Fälle vom Jahr 2022 erwähnt werden (USDOS 20.3.2023).

Im Süden Syriens, in den Provinzen Dara’a, Quneitra und Sweida, sind fünf von sechs Krankenhäusern beschädigt und nur bedingt funktionstüchtig. Laut WHO können komplexere Operationen und spezialisierte Behandlungen für chronische Krankheiten derzeit ausschließlich in Damaskus oder den Küstenorten Tartus und Lattakia durchgeführt werden. Bei lebensrettenden Arzneimitteln, medizinischem Personal und Ausstattung sind erhebliche Engpässe ermittelt worden, insbesondere im Hinblick auf die medizinische Behandlung verletzter und chronisch kranker Personen. Dies hat auch zur Rückkehr übertragbarer Krankheiten wie Polio geführt. Aufgrund kritischer hygienischer Bedingungen sowie unzureichender vorbeugender Maßnahmen und Behandlungen mehren sich landesweit Cholera-, Diphtherie- und Leishmaniose-Fälle (AA

29.3.2023) . Die verfügbaren Daten für Nicht-COVID-19-Bezogene Krankheiten zeigen, dass grippeähnliche Erkrankungen, akute Diarrhö, Leishmaniose und mutmaßlich Hepatitis in allen Altersgruppen die Hauptursachen für Sterblichkeit sind. Dies gilt insbesondere für Lager von Binnenvertriebenen, in denen die Indikatoren für den Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygienediensten durchwegs schlechter sind als außerhalb. Vertriebene sind aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, Überbevölkerung und anderen Risikofaktoren einem erhöhten Risiko von Infektionskrankheiten ausgesetzt (WHO 3.2021).

Gewalt gegen Mitarbeiter im Gesundheitsbereich und Angriffe auf medizinische Einrichtungen, verbunden mit den Folgen von COVID-19, erschweren den Zugang zu medizinischer Versorgung, auch für Personen mit konfliktbedingten Behinderungen (USDOS 12.4.2022) [Anm.: speziell zur Lage von Kindern mit Behinderungen siehe USDOS 20.3.2023]. 28 Prozent der Bevölkerung haben - mehrheitlich konfliktbedingte - Behinderungen, fast doppelt so viele wie der internationale Durchschnitt (15 Prozent). In Nordostsyrien sind es sogar 37 Prozent. Insgesamt 59 Prozent der syrischen Erwachsenen mit Behinderung sind arbeitslos und knapp 50 Prozent ohne Zugang zu medizinischer Versorgung (AA 29.3.2023). Menschen mit Behinderungen benötigen Rehabilitations- und Hilfsdienste (WHO 3.2021). 25 Prozent der Über-Zwölf-Jährigen in Syrien haben eine Beeinträchtigung und 36 Prozent der Binnenvertriebenen. Die Hälfte der Binnenvertriebenen zwischen zwölf und 23 Jahren mit Beeinträchtigung besucht die Schule im Vergleich zu 69 Prozent der Binnenvertriebenen ohne Beeinträchtigung (HNAP 7.4.2021). Frauen und Menschen mit Beeinträchtigung scheinen im Nordwesten stärker betroffen zu sein, wo mehr als die Hälfte der Frauen und mehr als 40 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung von einem Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten berichten, im Vergleich zu etwas mehr als 35 Prozent der Frauen und fast 20 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung im Nordosten (USAID 16.04.2021).

Einer Studie zufolge leiden 60 Prozent der syrischen Bevölkerung an Symptomen, die auf eine mittelschwere bis schwere psychische Störung hindeuten. Schätzungen zufolge leiden eine Million SyrerInnen an schweren psychiatrischen Störungen, wobei 2018 nur 80 Psychiater im Land tätig waren (1 pro 100.000 Einwohner) (BJPSYCH 8.2021). Syrien ist unter den Ländern mit der höchsten Traumarate weltweit. Laut Angaben der Vereinten Nationen litten im Jahr 2020 36,9 Prozent der Bevölkerung unter Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD). Die Traumata bleiben häufig unbehandelt: Eine psychosoziale Betreuung der hohen Anzahl traumatisierter Menschen wird nur punktuell und fast ausschließlich durch Maßnahmen der WHO gewährleistet. Sexualisierte Gewalt ist so weit verbreitet, dass sie laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts inzwischen ’zum traurigen Alltag’ insbesondere von Frauen und Mädchen gehört (AA 29.3.2023).

Die Folgen des Erbebens vom 6.2.2023

Der Mangel an Sanitäreinrichtungen, abgefülltem Trinkwasser und Wasser zum Baden sowie das [Anm.: im Frühjahr noch] kalte Wetter in stark überbelegten Sammelunterkünften und Zelten stellen ein Risiko für durch Wasser übertragbare Krankheiten und schwere Risken im Bereich reproduktiver Gesundheit, wie Infektionen dar. Es kam bereits zu Ausbrüchen von Krätze und anderen Krankheiten. Es gibt ein hohes Risiko für einen Cholera-Ausbruch in den betroffenen Gebieten. Mit Berichtszeitpunkt 3.3.2023 war bereits ein Anstieg der Cholera-Fälle von zwölf Prozent seit dem Erdbeben zu verzeichnen, darunter beinahe 1.700 Verdachtsfälle innerhalb einer Woche. Der Mangel an Laborausrüstungen und -materialien zur Überwachung der Qualität des Trinkwassers behindert die Prävention von durch Wasser übertragbare Krankheiten. Aus Lattakia, Tartus und Hama wird ein Mangel an Waschgelegenheiten gemeldet, was das Risiko von Läusen, Krätze, ansteckenden und infektiösen Krankheiten erhöht (DEEP 10.3.2023).

Gebiete außerhalb der Regierungskontrolle

Der Gesundheitssektor litt bereits vor den Erdbeben nach zwölf Jahren Krieg unter einem schweren Mangel an Ausstattung und medizinischem Personal (Al Jazeera 6.5.2023). Die Versorgung mit Medikamenten sowie die Abdeckung mit medizinischem Personal ist laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes noch schlechter als in Regimegebieten. Während es in Damaskus, Lattakia und Tartus immerhin 38-41 Pflegekräfte und Ärzte pro 10.000 Einwohner gibt, sind es in al-Hassaka, Raqqa und Dara’a lediglich 5-6 pro 10.000 Einwohner. Durch Vertreibungen aus in den vergangenen Monaten und Jahren vom Regime belagerten Gebieten, u. a. im Südwesten des Landes, wird das ohnehin extrem angespannte Gesundheitssystem im nicht vom Regime kontrollierten Nordwesten des Landes weiter belastet (AA 29.3.2023).

Die Erdbeben [Anm.: vom 6.2.2023 sowie Nachbeben] haben die Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung in Nordwest-Syrien verschärft, weil viele Gesundheitseinrichtungen beschädigt wurden, und daher nicht mehr in Betrieb sind. Weitere 42 medizinische Einrichtungen weisen eine Beschädigung von 20 bis 50 Prozent auf. Mehrere MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs starben, während bereits zuvor eine Knappheit an ausgebildeten MitarbeiterInnen herrschte (Al Jazeera 6.5.2023).

Auch die chronische Unterernährung von Kindern unter fünf Jahren ist in Nordost-Syrien doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Die Menschen im Nordwesten leiden unter Kampfhandlungen, Vertreibung und großer Armut, von den rund 4,6 Mio. Menschen dort leben knapp 1,8 Mio. notdürftig in Zelten. Aufgrund einer Finanzierungslücke von 82 Prozent sind im kommenden Winter laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs etwa 2,5 Mio. Menschen vom Erfrieren bedroht (AA 29.3.2023).

Humanitäre Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Sicherstellung einer Basisgesundheitsversorgung der Menschen dort werden vom Regime gezielt behindert bzw. verhindert. Auch gezielte Angriffe des Regimes gegen zivile Gesundheitseinrichtungen dauern an. Zwischen 2016-2019 wurden im Nordwesten 337 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gezählt, von den 606 durch die WHO erfassten Gesundheitseinrichtungen in Nordwestsyrien sind 131 funktionsunfähig. LautAid Worker Security Database steht Syrien mit insgesamt 337 (Stand Oktober 2022) Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen auf Platz drei weltweit - hinter dem Südsudan und Afghanistan. Hauptursachen waren Luftangriffe, Beschuss sowie Detonationen von Kampfmitteln (lEDs). Hilfsprogramme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in von der bewaffneten Opposition (Idlib) oder der kurdischen sog. „Selbstverwaltung“ kontrollierten Gebieten werden vom Regime durch Androhung einer Einstellung aller WHO-Operationen regelmäßig verhindert (AA 29.3.2023). Physicians for Human Rights (PHR) berichtete, dass schwangere Frauen in steigendem Maß Kaiserschnitte als Geburtsmethode wählten, um die Zeit in Krankenhäusern zu verringern, die als Ziel für Angriffe bekannt sind. Im Lauf des Jahres 2022 kam es weiterhin zu Luftangriffen des Regimes und der russischen Luftwaffe auf zivile Ziele, darunter auch Krankenhäuser (USDOS 20.3.2023).

Die Gesundheitsversorgung in den oppositionellen Gebieten wird weitestgehend von Nichtregierungsorganisationen geleistet, die von Zuwendungen der internationalen Gebergemeinschaft abhängig sind (AA 29.3.2023). Die aktuelle internationale Hilfe deckt laut einer Quelle vor Ort nur 25 Prozent des aktuellen Bedarfs an Medikamenten und medizinischer Ausstattung (Al Jazeera 6.5.2023). Die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, haben laut Aussagen humanitärer Helferinnen nicht annähernd mit der UNO vergleichbare Kapazitäten für den Ankauf und Transport von Hilfsgütern in den Nordwesten, wobei Russland wiederholt gedroht hat, mit einem Veto den UN-Hilfslieferungen und den UN-Geldern via Türkei ein Ende zu machen.

Millionen Menschen in Nordost- und Nordwest-Syrien sind auf Lebensmittel, Medikamente und andere lebensnotwendige Hilfe - einschließlich COVID-19-Impfstoffen - über die syrisch-türkische Grenze angewiesen. In Nordost-Syrien konnten die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, nicht kompensieren, dass die UNO im Jänner 2020 ihre Hilfslieferungen vom Irak aus nach Syrien einstellen musste (HRW 12.1.2023). PatientInnen in den nordwestlichen Oppositionsgebieten, die vor den Erdbeben Behandlungen gegen Krebs in türkischen Spitälern erhalten konnten, können nicht lokal versorgt werden - ebenso wie auch Herzpatienten mit Operationsbedarf (Al Jazeera 6.5.2023).

Der Cholera-Ausbruch seit August 2022

Der Cholera-Fall vom 22.8.2022 gilt als der erste bekannte Fall (WHO 18.10.2022). Der Ausbruch begann in der Provinz Aleppo und ist höchstwahrscheinlich auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen, das zur Bewässerung von Feldern eingesetzt wurde, aber auch als Trinkwasser dient (AA 29.3.2023).Seit August 2022 hat sich die Cholera in Syrien ausgebreitet, wobei vor allem die Küste (ÖB Damaskus 12.2022) sowie die Provinzen Aleppo, Raqqa, Deir ez-Zor und Al-Hassakah am schlimmsten betroffen sind, obgleich in allen 14 Gouvernements Cholera-Fälle verzeichnet wurden (AA 29.3.2023). 23 Prozent von 84.607 Verdachtsfällen von Cholera aus ganz Syrien betreffen das Gouvernement Aleppo (DEEP 10.3.2023). Zwischen August 2022 und Januar 2023 wurden 100 zugeschriebene Todesfälle bei einer Fallsterblichkeitsrate von 0,13 Prozent verzeichnet. Zwar hat sich die Zahl der gemeldeten Verdachtsfälle in einigen Gouvernements mittlerweile deutlich verringert, insgesamt nehmen die kumulierten Fälle aber weiter zu. Die Gesundheitsbehörden in Nordostsyrien, deren Angaben nicht vom Gesundheitsministerium in Damaskus berücksichtigt werden, meldeten bis Ende Oktober 2022 152 positive Fälle und 29 Tote. (AA 29.3.2023)

Es wurde mittlerweile mit Impfungen gegen Cholera begonnen (UN Secretary General 21.2.2023).

Laut der WHO stellen das fragile Gesundheitssystem Syriens, Zugangsbeschränkungen zu Gebieten mit bewaffneter Gewalt und die mangelhafte Wasser-, Sanitäts- und Hygienesituation (Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Erschwinglichkeit von Wasser) bei hohen Preisen für sicheres Wasser die derzeit größten Herausforderungen dar (WHO 18.10.2022). Hinzu kommen Berichte, dass die Türkei keinen geregelten Wasserfluss in den Euphrat garantiert, und daher das Problem des Wassermangels zusätzlich verstärkt, während die syrische Regierung Hilfslieferungen für das Selbstverwaltungsgebiet behindert (AP News 7.11.2022, vergleiche HRW 7.11.2022).

COVID-19

Am 22.3.2020 wurde der erste Fall einer COVID-19 infizierten Person in Syrien bestätigt (ÖB Damaskus 29.9.2020). Unbestätigte Berichte deuteten damals darauf hin, dass das Virus schon früher entdeckt worden war, dies aber vertuscht wurde (Reuters 23.3.2020). Die offiziell verlautbarten Zahlen (rund 70 000 Fälle und 3300 Tote per Anfang Juli) für die von der Regierung kontrollierten Landesteile sind sehr niedrig; detto die der Testungen; die Dunkelziffer ist sehr hoch. Es folgten weitreichende Maßnahmen (u. a. Ausgangssperren, Verkehrsbeschränkungen, Schließungen von Bildungseinrichtungen und Geschäften), die zwischenzeitig weitgehend aufgehoben wurden. Die Pandemie traf ein Land mit einem Gesundheitssystem, das durch den Konflikt schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies trifft gerade auch für die humanitären Brennpunkte mit Hunderttausenden IDPs vor allem im Nordwesten zu (ÖB Damaskus 12.2022). Die vierte Welle erreichte das Land im Sommer 2021. Die WHO stufte Syrien aufgrund nicht vorhandener Kapazitäten im Gesundheitsbereich bereits zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 als Hochrisikoland ein. Impfstofflieferungen im Rahmen von COVAX verzögerten sich zu Beginn jedoch stark und die Auslieferung in Oppositionsgebiete wurde zeitweise durch das Regime zurückgehalten. Aufgrund fehlender persönlicher Schutzausrüstung, völlig unzureichender Test-, Isolations-, Kontroll- und Versorgungskapazitäten und aktiver Vertuschung der Pandemie durch das Regime gingen Nichtregierungsorganisationen mit Stand November 2021 von über einer halben Million tatsächlicher Infektionen aus (AA 29.11.2021). Die Informationen bzgl. der COVID-19 Pandemie sind landesweit weiterhin unzulänglich; laut syrischem Gesundheitsministerium gab es bis Ende Oktober 2022 57.354 Ansteckungen, 3.163 Menschen sind infolge einer Erkrankung verstorben. Bis Ende Juli 2022 erhielten 13,9 % der Syrerinnen und Syrer eineCOVID-19-Impfung, 9,5 % sind doppelt geimpft (AA 29.3.2023).

Die Regierung erhielt mit Stand März 2021 geschätzte 120.000 Test-Sets und andere Ausrüstung von unterschiedlichen Ländern und soll diese an private Labore verkauft haben, statt sie im öffentlichen Gesundheitssystem zu verteilen. Es gibt auch Anschuldigungen, dass die Regierung Lieferungen, die für oppositionelle Gebiete bestimmt waren, für ähnliche Zwecke beschlagnahmt hat, bzw. sich bemüht, Hilfsgüter in die eigenen Gebiete zu lenken. Auch verweigerte die Regierung verschiedene kooperative Maßnahmen mit dem Selbstverwaltungsgebiet, was die dortigen Anti-Covid-Maßnahmen untergrub (COAR 10.3.2021).

Im Jahr 2020 berichteten die unterbesetzten medizinischen Fachkräfte, dass sie ihre Aufgaben unter der Aufsicht der mächtigen Sicherheitsdienste erfüllen mussten, welche die staatlichen Gesundheitseinrichtungen überwachen. Dies soll abschreckend auf Patienten wirken, die bereits zögern, sich in einem Land behandeln zu lassen, in dem die Angst vor dem Staatsapparat groß ist und jede kritische Diskussion über den Umgang mit der Pandemie als Bedrohung für eine Regierung angesehen werden könnte, die entschlossen ist, eine Botschaft der Kontrolle zu vermitteln (Al Jazeera 5.10.2020). Menschenrechtsaktivisten zufolge verhaftete das Regime MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs, die mit internationalen Medien über die COVID-19- Krise sprachen oder dem streng kontrollierten Narrativ über die Auswirkungen der Pandemie auf das Land widersprachen (USDOS 20.3.2023).

Gewalt durch Mitarbeiterinnen medizinischer Berufe sowie Korruptionsberichte besonders bzgl. der Weltgesundheitsorganisation in Syrien

Im Jänner 2022 begann in Deutschland ein Gerichtsverfahren gegen den syrischen Arzt Alaa Mousa, der eines Mordes und der Folter in 18 Fällen in Militärhospitälern in Homs und Damaskus angeklagt ist. Folterungen finden Berichten zufolge in mehreren Militärkrankenhäusern statt (US- DOS 20.3.2023).

Im Oktober 2022 wurden Berichte über Korruption, Betrug und Übergriffen im Syrien-Büro der WHO bekannt. So soll die LeiterinAkjemal Magtymova laut der Associated Press Hilfsgelder in Millionenhöhe veruntreut und Regierungsvertreter mit kostspieligen Geschenken beeinflusst haben. Des Weiteren beschuldigen WHO-Mitarbeiter ihre Chefin, inkompetente Verwandte von teils fragwürdigen Staatsfunktionären angestellt und während der COVID-19-Pandemie dringend benötigte Gelder, die für humanitäre Hilfeleistungen vorgesehen waren, anderweitig ausgegeben zu haben. Dadurch konnte und kann die WHO laut eigenen Mitarbeitern in Syrien das Gesundheitssystem, welches beinahe gänzlich auf internationale Hilfeleistungen angewiesen ist, nicht adäquat unterstützen, vor allem da das letztjährige Budget nur ca. 115 Millionen US-Dollar betrug. Eine interne Untersuchung der WHO der berichteten Missstände war damals bereits seit mehreren Monaten am Laufen (AP News 20.10.2022, vergleiche TG 20.10.2022). Zusätzlich zu den Fällen bei der WHO sollen die Ehefrau und ein Bruder des syrischen Außenministers Faisal Mekdad sowie Angehörige anderen Spitzen des syrischen Staatsapparats ebenfalls im Lauf der Zeit in den Genuss von Anstellungen bei UN-Organisationen in Syrien gekommen sein (FDD 15.3.2023).

Quellen:

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■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3 %BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29 %2C_29.11.2021.pdf,Zugriff 19.5.2023

■             Al Jazeera (6.5.2023): Syrians still fear building collapses three months on from quakes, https: //www.aljazeera.com/news/2023/5/6/syrians-still-fear-building-collapses-three-months-on-from-q uakes,Zugriff 6.5.2023

■             Al Jazeera (5.10.2020): In COVID-hit Syria, people ’prefer to die than come to hospital’, https: //www.aljazeera.com/features/2020/10/5/covid-19-syria-hospital, Zugriff 19.5.2023

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■             AP News - Associated Press News (Cheng, Maria) (20.10.222): WHO Syria boss accused of corruption, fraud, abuse,AP finds, https://apnews.com/article/WHO-syria-bce4ad6714a8b9e29b1 5c4db39f66720, Zugriff 19.5.2023

■             AWSD - Aid Worker Security Database (10.2022): Aid Worker Security Report 2022: Collateral violence: Managing risks for aid operations in major conflict, https://www.humanitarianoutcomes.o rg/sites/default/files/publications/awsr_2022.pdf, Zugriff 17.5.2023

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■             HNAP - Humanitarian Needs Assessment Programme, veröffentlicht von UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: Humanitarian Needs Assessment Programme (HNAP) (7.4.2021): Syrian Arab Republic: Disability Prevalence and Impact - IDP Report Series Fall 2020, https: //reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/syrian-arab-republic-disability-prevalence-and-impact-i dp-report-series, Zugriff 17.5.2023

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■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 19.5.2023

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (29.9.2020): Asylländerbericht Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038328/Asyländerbericht+2020+(Stand+29092020)+.p df, Zugriff 19.5.2023

■             PHR - Physicians for Human Rights (7.2021): „No Place römisch eins s Safe for Health Care“: The Attack on Syria's al-Atareb Hospital, https://phr.org/issues/health-under-attack/attacks-in-syria/al-atareb-sur gical-hospital-no-place-in-syria-is-safe-for-health-care/, Zugriff 19.5.2023

■             Reuters (23.3.2020): Shattered by years of war, Syria braces for coronavirus spread, https://www. reuters.com/article/us-health-coronavirus-syria/shattered-by-years-of- war-syria-braces-for-coro- navirus-spread-idUSKBN21A39M, Zugriff 19.5.2023

■             The Guardian (Chulov, Martin) (20.10.2022): Head of WHO's Syria Office faces allegations of fraud and abuse, https://www.theguardian.com/world/2022/oct/20/head-of-who-syria-office-allegations -dr-akjemal-magtymova, Zugriff 19.5.2023

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■             UN News - United Nations News (8.2.2023): Earthquake disaster latest: fresh snow compounds Syrians' misery, https://news.un.org/en/story/2023/02/1133277, Zugriff 17.2.2023

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■ WHO - World Health Organization (3.2021): WHO Emergency Appeal, March - 2021, SyrianArab Republic, http://www.emro.who.int/images/stories/syria/2021-whole-of-syria-appeal.pdf?ua=1, Zugriff 17.5.2023

Rückkehr

Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten. Gleichzeitig steigt durch die diplomatische Normalisierung zwischen Syrien und der Arabischen Liga in manchen Staaten der Druck auf die Flüchtlinge, trotz der für sie unsicheren Lage nach Syrien zurückzukehren (CNN 10.5.2023).

Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 12.1.2022) RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023, vergleiche Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Schikanen durch die syrischen Behörden (HRW 12.1.2023). Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere - aber nicht nur - solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften an Rückkehrenden, die sich an verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassen Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen - insbesondere auch bei Rückkehrenden - zeigt nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).

Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023).

Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019:187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).

Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).

Hindernisse für die Rückkehr

Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation ’Friedensquelle’ im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr.

10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z.B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).

Laut einer Erhebung derSyrian Association for Citizen’s Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).

Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).

Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z.B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialen wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].

Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer ’sehr begrenzten’ und ’abnehmenden’ Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl derSyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).

Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 6.6.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2059734.html, Zugriff 6.6.2023

■             Al Jazeera (17.5.2023): Syrian refugees in fear as Lebanon steps up deportations, https://www.al jazeera.com/news/2023/5/17/syrian-refugees-in-fear-as-lebanon-steps-up-deportations, Zugriff 19.5.2023

■             Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall

■             BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/fi le/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             CNN - Cable News Network.(10.5.2023): ForSyrian refugees, Assad's rehabilitation prompts fear of forced return, https://edition.cnn.com/2023/05/10/middleeast/syria-refugees-fear-assad-rehabil itation-mime-intl/index.html, Zugriff 6.6.2023

■             HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/do kument/2085501.html, Zugriff 24.5.2023

■             HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/do kument72066477.html, Zugriff 6.6.2023

■             NMFA- Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (7.2019): Country of Origin Information Report Syria: The security situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2016076/Country+of+Origin +Information+Report+Syria+%28July+2019%29.pdf, Zugriff 6.6.2023

■             ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien (Stand Ende Dezember 2022) (in der Staatendokumentation aufliegend)

■             ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 6.6.2023

■             The Guardian (24.4.2023): Scandal of Syria's stolen homes: fraudsters use courts to legitimise thefts from refugees, https://www.theguardian.com/global-development/2023/apr/24/scandal-of-s yrias-stolen-homes-fraudsters-use-courts-to-legitimise-thefts-from-refugees, Zugriff 6.6.2023

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023

■             UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (6.2022): Protection Analysis Update June 2022, https://www.globalprotectioncluster.org/wp-content/uploads/GOS-and-NES-PAU-Jun e-2022-Final.pdf, Zugriff 6.6.2023

■             Weltbank (2020): The Mobility of Displaced Syrians, https://openknowledge.worldbank.org/bitstrea m/handle/10986/31205/9781464814013.pdf, Zugriff 6.6.2023

Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr

Die Bedeutung von Überweisungen von SyrerInnen im Ausland und die Rolle der syrischen Lohnpolitik für Angestellte des öffentlichen Diensts dabei

Neben dem wachsenden Auswanderungsdruck auf gebildete SyrerInnen durch die Bevorzugung der Militärs bezüglich Gehälter zielt die syrische Lohnpolitik im öffentlichen Sektor laut einer Studie von Omran for Strategic Studies darauf ab, junge Leute dazu zu bewegen, ins Ausland zu gehen, damit sie später Geld an ihre Familien schicken. So profitiert Syrien von den Devisenüberweisungen in die Gebiete unter Regimekontrolle sowie von den großen Summen, welche für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst zu zahlen sind (Omran 23.1.2023). Rücküberweisungen aus dem Ausland (remittances) sind angesichts der Wirtschaftskrise eine wichtige Einnahmequelle für viele Syrerinnen und Syrer. Seit Konfliktbeginn sind sie merklich angestiegen: 2010 betrugen sie laut der syrischen Zentralbank (CBS) 906 Mio. USD. 2019 waren es 3.01 Mrd. USD (elf Prozent des BIP). Seither hat die CBS keine Zahlen mehr veröffentlicht. Laut Medienberichten lagen die Rücküberweisungen 2022 bei über drei Mrd. US-Dollar (20 Prozent des gesamten BIP 2022; laut Weltbank etwa 15,5 Mrd. US-Dollar). Sie sind weiterhin eine signifikante Einnahmequelle für die Bevölkerung. Gleichzeitig verbreiteten Syrien und Russland bei einer Konferenz Mitte Oktober 2022 den Vorwurf, 'der Westen' würde eine Rückkehr von Geflüchteten verhindern (AA 29.3.2023). Das Regime wünscht sich laut Experten-Einschätzung RückkehrerInnen mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021) oder ehemalige Flüchtlinge, zumal die Regierung, nicht die Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten hätte, für die ehemaligen Flüchtlinge zu sorgen (The Guardian 23.3.2023).

Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies werden rückkehrende Syrer mehrheitlich als Folge der obigen Lohnpolitik sich gezwungenermaßen einer militärischen Einrichtung oder einer Miliz anschließen müssen, denn diese Organisationen bieten als einzige eine berufliche Perspektive in den Regime-kontrollierten Gebieten (Omran 23.1.2023).

Wahrnehmung von RückkehrerInnnen ja nach Profil

Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert (AA 20.3.2023). Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023, vgl, Balanche 13.12.2021). Insgeheim werden jene, die das Land verlassen haben, als 'Verräter’ angesehen (AA 29.3.2023; vergleiche Balanche 13.12.2021), bzw. als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z.B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 29.3.2023).

Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z.B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021), zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (The Guardian 23.2.2023).

Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).

Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z.B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023).

Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:

• Der Syrien-Experte Ugur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Präsident Erdogans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen [Anm.: siehe hierzu das Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen und das Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage bzgl. der Gesetze zur Schädigung des Ansehens im Ausland sowie bzgl. positiver Äußerungen über Staaten, mit denen Syrien verfeindet ist] über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021).

•             Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdogans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein 'erweitertes Syrien’, und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im LibanonKorruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).

•             Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als 'Krankheitserreger’ sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).

•             Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).

Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 29.3.2023). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).

Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die ’davongelaufen’ sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khad- dour 24.12.2021; vergleiche Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich ’sauber’ [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021).

Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 6.6.2023

■             AI - Amnesty International (9.2021): ’You’re going toyour death - Violations against Syrian Refugees returning to Syria’, https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-09/Amnesty-Bericht-Syrien-F olter-Inhaftierungen-Rueckkehrende-Abschiebung-Geheimdienst-September-2021.pdf, Zugriff 6.6.2023

■             Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall

■             Khaddour, Kheder - Gastwissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videocall

■             ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 6.6.2023

■             Omran for Strategic Studies (23.1.2023): alary Increases A Syrian Regime Policy Driving the Militarization of Society, https://omranstudies.org/index.php/publications/papers/salary-inc reases-a-syrian-regime-policy-driving-the-militarization-of-society.html, Zugriff 22.5.2023

■             Rasheed, Mohamad - Syrischer Journalist und Medienexperte (28.12.2021): Interivew, per Videocall

■             The Guardian (23.3.2023): 'It’s a kind of revenge’: Damascus suburb demolished as Assad builds a ‘new Syria’, https://www.theguardian.com/global-development/2022/mar/23/its-a-kind-of-reven ge-damascus-suburb-demolished-as-assad-builds-a-new-syria, Zugriff 23.5.2023

■             Üngör, Ugur Ümit- Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videocall

■             UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (6.2022): Protection Analysis Update June 2022, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/protection-analysis-update-june-2022, Zugriff 6.6.2022

Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort

Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen

Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als ’Sicherheitsüberprüfung’ (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der Antragstellerlnnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten ’Statusregelungsverfahren’ (arabisch: taswiyat wade) beantragen die Antragstellerinnen, wie es in einigen Quellen heißt, die Versöhnung’, sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022). Es gibt jedoch keine einheitlichen, bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und verfügbare Rechtswege (AA 29.3.2023).

Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, zur Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und zu gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) berichtet von Menschenrechtsverletzungen in ihrem Berichtszeitraum, darunter den Tod eines Rückkehrers in Haft, dem man lebensrettende medizinische Versorgung verweigert hatte. Er war Anfang 2022 bei seiner Rückkehr nach Syrien trotz eines erfolgten Beilegungs-, bzw. ’Versöhnungsprozesses’, verhaftet worden (UNCOI 7.2.2023).

So gilt es zum Beispiel für die Rückkehr nach Homs, in die von der Regierung gehaltenen Teile von Idlib sowie ins Umland von Damaskus (Rif Dimashq) mehrere und sich überlappende Genehmigungsprozesse bei einer Reihe von Behörden zu durchlaufen. Oft beinhalten diese Prozedere eine geheimdienstliche Sicherheitsgenehmigung oder ein Beilegungsabkommen Anmerkung, auch ’Versöhnungsabkommen’) oder beides, je nachdem woher die Rückkehrenden kommen, wo sie hingehen, und was ihre Profile sind. Einige mussten etwa schon vor ihrer Rückkehr ihren Status bei Zentren zur ’Statusklärung’ in Regierungsgebieten ’klären’, indem Verwandte oder Freunde vor Ort dies für sie durchführten. Andere gingen direkt zu diesen Zentren, nachdem sie durch Schmuggelrouten in das Gebiet zurückkehrten oder nachdem sie an einem Grenzübergang um eine ’Statusklärung’ angesucht hatten. Andere wiederum mussten eine Sicherheitsgenehmigung für einen Wohnsitz, bzw. Aufenthalt (’residence’) bereits vor ihrer Rückkehr einholen. Andere versuchten an kollektiven Rückkehraktionen aus dem Libanon teilzunehmen (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: siehe dazu Unterkapitel Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa].

Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener

Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 29.3.2023).

Sicherheitsüberprüfungen (besonders al-Muwafaqa al-Amniyeh, die Sicherheitsgenehmigung) vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzzusagen

Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht (AA 19.5.2020). Gemäß einem Rechtsexperten der ÖB Damaskus hat prinzipiell jeder syrische Staatsbürger das Recht, sich auf dem syrischen Staatsgebietzu bewegen sowie es zu verlassen. Er darf gemäßArtikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 nicht an der Rückkehr gehindert werden. Daraus folgt, dass von syrischen Staatsbürgerinnen vor ihrer Rückkehr keine Sicherheitsgenehmigung verlangt wird, oder sie um eine solche ansuchen müssen. Der Konflikt hat die Sicherheitsgenehmigung jedoch ins Zentrum gerückt. Viele syrische Staatsbürgerinnen haben die Rückkehr nach Syrien erwägt, fürchten allerdings, von den syrischen Behörden verhaftet zu werden. Da die syrische Regierung bestrebt war, zu zeigen, dass Syrien sicher ist, und für die Rückkehr von Flüchtlingen offen steht, damit diese am Wiederaufbau des Landes teilnehmen, hat die syrische Regierung zur Erleichterung der Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien zugestimmt, in manchen Fällen bekannt zu geben, ob jemand gemäß ihrer Aufzeichnungen in Syrien gesucht wird. Dies ist bei der freiwilligen Rückkehr von Gruppen von Syrern aus dem Libanon der Fall, erleichtert durch die Kooperation des General Security Office (GSO) [Anm.: libanesischer Nachrichtendienst] im Libanon mit den syrischen Behörden. Das heißt, bei der Teilnahme an einer GSO-unterstützten Rückkehr führt das GSO akkordiert mit den syrischen Behörden eine Sicherheitsüberprüfung durch und leitet die persönlichen Daten der Rückkehrerinnen an die syrischen Behörden weiter. Letztere informieren das GSO dann darüber, welche Personen eine Sicherheitsfreigabe erhalten haben. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch bei individuellen Rückkehrern aus Jordanien vermerkt: Rückkehrer müssen hierzu bei der syrischen Botschaft in Amman um eine Sicherheitsfreigabe ansuchen (AA 29.3.2023).

Laut einer in Syrien tätigen Menschenrechtsorganisation überprüfen die syrischen Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung Informationen über den/die Antragstellerin, Familienmitglieder und eventuell auch seine/ihre erweiterte Familie. Das syrische Außenministerium ermöglichte im Rahmen des letzten Amnestiegesetzes (Gesetzesdekret Nr. 7/2022 vom 30.4.2022), welches alle von syrischen Staatsbürgerinnen vor dem 30.4.2022 verübten 'terroristischen Verbrechen’ ohne Todesopfer beinhaltet, dass syrische Staatsbürgerinnen im Ausland durch die diplomatischen Vertretungen überprüft werden, ob sie unter das Amnestiegesetz fallen. Die betroffenen Personen müssen bei der syrischen Botschaft ihres Wohnorts erscheinen, und einen gesonderten Antrag ausfüllen. Die syrische Botschaft leitet den Antrag dann an das Außenministerium weiter, das eine Liste mit den persönlichen Daten der Antragstellerinnen vorbereitet, und sie an das syrische Innenministerium weiterleitet. Letzteres gleicht die Namen auf der Liste mit einer zentralen Datenbank ab, um zu überprüfen, ob eine Person Verbindungen zu 'terroristischen’ Gruppierungen hat (Rechtsexperte 27.9.2022). Das Auswärtige Amt weist jedoch darauf hin, dass jeder Geheimdienst auch eigene Fahndungslisten führt. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.3.2023).

Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.5.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Personen, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.5.2020). Auch nach Angaben der International Crisis Group stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde auf der Grundlage von Befragungen, dass SyrerInnen, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete dem DIS hingegen, dass nur SyrerInnen im Libanon, die über eine 'organisierte Gruppenrückkehr’ nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020).

Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl und keine Probleme mit dem Regime haben, auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z. B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht (Balanche 13.12.2021). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt demnach immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann (AA29.3.2023), zum Teil, um von den Rückkehrenden Geld zu erpressen (UNCOI 7.2.2023; vergleiche Balanche 13.12.2021).

Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. SyrerInnen aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.), stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsgenehmigung zu bekommen, und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichterstatten müssen (Üngör 15.12.2021).

Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw. Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vergleiche Khad- dour 24.12.2021, Rechtsexperte 27.9.2022). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021). Personen, die erfahren, dass sie von den Behörden gesucht werden, bezahlen große Summen an Vermittler und Mitglieder der Sicherheitskräfte, um bei der Rückkehr eine Verhaftung zu vermeiden (UNCOI 7.2.2023).

'Versöhnungsanträge', Statusregelungsverfahren

Das Regime hat einen Mechanismus zur Erleichterung der 'Versöhnung’ und Rückkehr geschaffen, der als 'Regelung des Sicherheitsstatus’ (taswiyat al-wadaa al-amni) bezeichnet wird. Das Verfahren beinhaltet eine formale Klärung mit jedem der vier großen Geheimdienste und eine Überprüfung, ob die betreffende Person alle vorgeschriebenen Militärdienstanforderungen erfüllt hat. Einzelne Personen in Aleppo berichteten jedoch, dass sie durch die Teilnahme am ’Versöhnungsprozess’ einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden (ICG 9.5.2022). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, werden aufgefordert, ihren Status zu ’regularisieren’, bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vergleiche SD 16.1.2019).

Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf Versöhnung’ stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen über ihre Aktivitäten während ihres Auslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. SyrerInnen, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nach Angaben des Generals einen ’Versöhnungsantrag’ ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen SyrerInnen, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020; vergleiche EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020). Zwei Quellen berichteten EASO Anmerkung, nun EUAA), dass, wenn ein/e RückkehrerIn durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. ’wasta’) herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).

Im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert - ebenso wie bei lokaler ’Versöhnungs- abkommen’ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen nicht eingehalten. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden (AA 29.3.2023).

Rückkehrverweigerungen

Die Regierung verweigert gewissen Bürgerinnen die Rückkehr nach Syrien, während andere Syrerinnen, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchten (USDOS 12.4.2022). Der %satz der Antragstellerinnen, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020): Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen aus den Jahren 2018 bis 2022 auf 5 % (SD 16.1.2019), 10 % (Reuters 25.9.2018), 20 % (Qantara 2.2.2022) oder bis zu 30 % (ABC 6.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integration von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.4.2022). Einige BeobachterInnen und humanitäre HelferInnen geben an, dass die Bewilligungsquote für AntragstellerInnen aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.2.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vergleiche ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019).

Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen

Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr. Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB Damaskus 12.2022).

Es mussz. B. bei Abschluss eines Immobilienkaufvertrags, bevor die Immobilie übertragen werden kann, bei den Sicherheitsbehörden um eine Freigabe Anmerkung, al-Muwafaqa al-Amniyeh - die Sicherheitsgenehmigung) angesucht werden. Bei Mietverträgen wurde diese Regelung jüngst vereinfacht, sodass die Daten erst nach Abschluss des Vertrags an die Gemeinde übermittelt werden mussten. Diese Information wird dann an die Sicherheitsbehörden weitergegeben, die im Nachhinein einen Einspruch erheben können. Diese Regelung wurde aber nach aktuellen Informationen nur in Damaskus umgesetzt, außerhalb muss die Genehmigung nach wie vor vorab eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen. Die Niederlassung ist dementsprechend - für alle Gebiete unter Regierungskontrolle - von einer Zustimmung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 12.2022). Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, welche die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).

Gefährdungslage

Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt gemäß deutschem Auswärtigem Amt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023)

Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-) kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 29.3.2023). Einer Umfrage des Middle East Institute im Februar 2022 zufolge berichteten 27 % derRückkehrerInnen, dass sie oder jemand Nahestehender aufgrund ihres Herkunftsorts, für das illegale Verlassen Syriens oder für das Stellen eines Asylantrags Repression ausgesetzt sind. Ein Rückkehrhindernis ist zudem laut Menschenrechtsberichten das Wehrdienstgesetz, das die Beschlagnahmung von Besitz von Männern ermöglicht, die den Wehrdienst vermieden haben, und nicht die Befreiungsgebühr bezahlt haben (USDOS 20.3.2023).

Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu dürfen. Die RückkehrerInnen sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019).

Gemäß der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Unterlassen einer klaren Information über die Rückkehrverfahren und das Vorenthalten der Gründe für Rückkehrverweigerungen, bzw. einer Einspruchsmöglichkeit in solchen Fällen eine 'willkürliches Vorenthalten des Rechts auf Einreise von SyrerInnen im Ausland in ihr eigenes Land' durch die syrische Regierung darstellen. Dieses Vorgehen könnte auch als Verletzung des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts gelten (UNCOI 7.2.2023).

Rückkehr an den Herkunftsort

Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen durften. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). SyrerInnen, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen (ÖB Damaskus 21.8.2019). Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020).Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 4.12.2020). Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021).

Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) sowie Betroffenen zufolge finden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property - HLP) seitens des Regimes fortgesetzt statt. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, die die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen. Die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen verweigern den Vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte (AA 29.11.2021). Das Gesetz Nr. 10 von 2018 wird weiterhin zur Belohnung von regimeloyalen Personen verwendet und schafft Hürden für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die in ihre Heime zurückkehren möchten. Laut Berichten ersetzt die Regierung so ehemalige Bewohnerinnen von vormaligen Oppositionsgebieten durch ihr gegenüber loyalere Personen. Dies betrifft disproportional sunnitische Flüchtlinge und IDPs. Laut Einschätzung von SNHR (Syria Network for Human Rights) steckt die Regierungsstrategie dahinter, durch einen demografischen und gesellschaftlichen Wandel des Staats, automatisch eine Hürde für die Rückkehr von IDPs und Flüchtlingen zu schaffen (USDOS 2.6.2022).

Andere RückkehrerInnen müssen Berichten zufolge Bestechungsgelder an die Lokalverwaltung zahlen, um Zugang zu ihren Heimen zu erhalten. Anderen wird der Zugang zu ihren Heimen verwehrt. Auch gibt es Fälle, wo Immobilien von Nachbarn übernommen wurden, und die Rückkehrwilligen bedrohen, wenn sie versuchen, ihren Besitz wieder zu beanspruchen. Eine regierungstreue Miliz erlangte z. B. durch öffentliche Versteigerungen an enteignetes Land, was einer bereits dokumentierten Praxis entspricht. Gegenmaßnahme für derartige Situationen fehlen oder sind ineffektiv (UNCOI 7.2.2023).

Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara’a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können, und eine Sicherheitsfreigabe vorliegt. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten dort 160.000 PalästinenserInnen zusätzlich zu SyrerInnen) (TOI 17.11.2022). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen oder aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wohnung nicht zurück. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem ’Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur’ (TOI 17.11.2022).

Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (Weltbank 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer ’sehr begrenzten’ und ’abnehmenden’ Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94 % um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022), wenngleich von der UNO auch Fälle dokumentiert sind, dass Binnenvertriebene von aktuell oppositionell gehaltenen Gebieten aus nicht in ihre Heimatdörfer im Regierungsgebiet zurückkehren durften - trotz vorheriger Genehmigung (UNCOI 7.2.2023).

Laut Einschätzung der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Vorgehen der Regierung möglicherweise eine Verletzung von Unterkunfts-, Land- und Besitzrechten dar. Die Duldung der Inbesitznahme von Immobilien durch Dritte könnte eine Verletzung des Schutzes genannter Rechte darstellen. Sie haben auch mögliche Verletzungen des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts zur Folge bezüglich der Besitzrechte von Vertriebenen (UNCOI 7.2.2023).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 16.6.2023

■             AA-Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2059734.html, Zugriff 16.6.2023

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deu

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■             ABC - ABC News - Australian Broadcasting Cooperation (6.10.2018): Syrians return home after years as unwelcome refugees, but there's little cause for celebration, https://www.abc.net.au/new s/2018-10-06/syria-refugees-returning-home-from-lebanon/10319154, Zugriff 16.6.2023

■             AI - Amnesty International (9.2021): 'You're going toyour death - Violations against Syrian Refugees returning to Syria', https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-09/Amnesty-Bericht-Syrien-F olter-Inhaftierungen-Rueckkehrende-Abschiebung-Geheimdienst-September-2021.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             Al Jazeera (17.5.2023): Syrian refugees in fear as Lebanon steps up deportations, https://www.al jazeera.com/news/2023/5/17/syrian-refugees-in-fear-as-lebanon-steps-up-deportations, Zugriff 19.5.2023

■             Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall

■             BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/fi le/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria. Treatment Upon Return, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 15.6.2023

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (12.2020): Syria: Security clearance and status settlement for returnees, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042786/COI_Report_Syria-security_cl earance_and_status_settlement_dec_2020.pdf, Zugriff 15.6.2023

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (6.2019): Consequences of illegal exit, consequen- ces of leaving civil a servant position without notice and the situation of Kurds in Damascus, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011587/Report_syria_june_2019.pdf, Zugriff 15.6.2023

■             EASO - European Asylum Support Office (nunmehr EUAA) (6.2021): Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060547/2021_06_EASO_COI_Report_Syria _Situation_returnees_from_abroad_DE.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             Enab - Enab Baladi (8.7.2020): Property rights report: Palestinians of Syria victims of reconstruction plans, https://english.enabbaladi.net/archives/2020/07/property-rights-report-palestinians-of-syria -victims-of-reconstruction-plans/#, Zugriff 16.6.2023

■             FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+missi on+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 16.6.2023

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■             Khaddour, Kheder - Gastwissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, perVideocall

■             MEI - Middle East Institute (6.5.2020): Talking about water pipes: The fraught reconstruction of Syria's Yarmouk camp, https://www.mei.edu/publications/talking-about-water-pipes-fraught-recon struction-syrias-yarmouk-camp, Zugriff 16.6.2023

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■             ÖB Damaskus- Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien (Stand Ende Dezember 2022), per E-Mail (liegt in der Staatendokumentation auf)

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff

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■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (29.9.2020): Asylländerbericht Syrien 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038328/Asyländerbericht+2020+(Stand+290920 20)+.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (21.8.2019): Auskunft, via E-mail (liegt in der Staatendokumentation auf)

■             Qantara - Qantara.de (Scheller, Bente) (2.2.2022): Normalisierung auf Kosten der Syrer, https: //de.qantara.de/inhalt/assads-rehabilitation-normalisierung-auf-kosten-der-syrer, Zugriff 16.6.2023

■             Rasheed, Mohamad - Syrischer Journalist und Medienexperte (28.12.2021): Interivew, per Videocall

■             Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (27.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

■             Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail (liegt in der Staatendokumentation auf)

■             Reuters (25.9.2018): Fifty thousand Syrians returned to Syria from Lebanon this year: official, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-lebanon-refugees/fifty-thousand-syrians-r eturned-to-syria-from-lebanon-this-year-official-idUSKCN1M51OM, Zugriff 16.6.2023

■             SD - Syria Direct (16.1.2019): In first ‘organized' refugee returns from Jordan, dozens of Syrians head back to Damascus suburb, https://syriadirect.org/in-first-organized-refugee-returns-from-jor dan-dozens-of-syrians-head-back-to-damascus-suburb/, Zugriff 16.6.2023

■             TOI - Times of Israel (17.11.2022): Some Palestinians return to Syria's war-battered Yarmouk camp, https://www.timesofisrael.com/some-palestinians-return-to-syrias-war-battered-yarmouk-camp/, Zugriff 16.6.2023

■             TWP - The Washington Post (2.6.2019): Assad urged Syrian refugees to come home. Many are being welcomed with arrest and interrogation, https://www.washingtonpost.com/world/assad-urg ed-syrian-refugees-to-come-home-many-are-being-welcomed-with-arrest-and-interrogation/201 9/06/02/54bd696a-7bea-11e9-b1f3-b233fe5811ef_story.html?utm_term=.e0a2c27a072f, Zugriff 16.6.2023

■             Üngör, Ugur Ümit- Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videocall

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023

■             UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (6.2022): Protection Analysis Update June 2022, https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/protection-analysis-update-june-2022, Zugriff 16.6.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 6.7.2023

■             USDOS - US Department of State [USA](2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2073954.html, Zugriff 11.7.2023

■             USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 16.6.2023

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Ergänzende Informationen zur Behandlung bei und nach der Rückkehr

Am 10.5.2023 erklärten die Außenminister von Russland, Türkei, Iran und Syrien, dass erst die nötige Infrastruktur für eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien geschaffen werden müsse (SNHR 6.2023). Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang von UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB Damaskus 29.9.2020).

Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude Anmerkung, über die Rückkehr) der RückkehrerInnen (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von RückkehrerInnen (TN 10.12.2018; vergleiche TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vergleiche TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat sind immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021). BürgerInnen in von der Regierung rückeroberten Gebieten wie auch Rückehrende gehören zu den verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. RückkehrerInnen und Binnenvertriebene sind am ehesten von gesellschaftlichem Ausschluss und einem Mangel an Zugang zu öffentlichen Leistungen in der näheren Zukunft ausgesetzt (BS 23.3.2022). Enteignungen dienen der Schaffung von Hürden für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene und der Belohnung von regimeloyalen Personen mit einer daraus resultierenden demografischen Änderung in ehemaligen Hochburgen der Opposition (USDOS 15.5.2023).

Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023). Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z. B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Die Definition des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, ist nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020). So folgten z. B. Abschiebungen aus dem Libanon im April 2023 von mindestens 130 Menschen - darunter auch unbegleitete Minderjährige - Berichte, wonach es zu Verhaftungen [Anm.: die Zahlen variieren je nach Quelle z.B. mindestens vier dokumentierte Verhaftungen] und zwangsweisem Einzug zum Wehrdienst [Anm.: keine Zahlenangaben, nur Beispiele] kam (Reuters 1.5.2023).

Generell ist es schwer, in Erfahrung zu bringen, was der Status einer Person bezüglich der syrischen Regierung ist. Für Menschen mit Geld und guten Beziehungen zu den Behörden oder einflussreichen Personen besteht die Möglichkeit, nachzuforschen, ob ihre Namen auf Suchlisten stehen. Allerdings kann die Suche nach diesen Informationen diese auch exponieren bzw. die Personen, welche für sie nach Informationen suchen. Es gibt keine Garantie, dass sie dabei nicht mit Schwierigkeiten konfrontiert sein werden, darunter das Risiko einer Verhaftung (DIS 9.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse. Laut dieser Berichte haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert. Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen. (AA 29.3.2023).

Neben der allgemein instabilen Sicherheitslage bleibt die mangelnde persönliche Sicherheit in Verbindung mit der Angst vor staatlicher Repression das wichtigste Hindernis für die Rückkehr (AA 19.5.2020; vergleiche SACD 21.7.2020, ICG 13.2.2020). Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 29.3.2023).

Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte beinahe 2.000 Verhaftungen von Rückkeh- rerlnnen nach Syrien von 2014 bis 2019. Ein Drittel von ihnen wurde 'verschwunden gelassen’ (BS 23.3.2022). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden Berichten von 2019 zufolge nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein Versöhnungsabkommen’ mit der Regierung unterzeichnet hatten. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vergleiche EIP 7.2019). Amnesty International legte in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vor, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des 'Terrorismus’, weil sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 RückkehrerInnen, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen. Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was laut Amnesty International darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).

Eine gemeinsame Studie von Zivilgesellschaftsorganisationen im Frühjahr 2022 (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens dokumentiert schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 29.3.2023).

Quellen:

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■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 16.6.2023

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deu

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■             AI - Amnesty International (9.2021): 'You're going toyour death - Violations against Syrian Refugees returning to Syria', https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-09/Amnesty-Bericht-Syrien-F olter-Inhaftierungen-Rueckkehrende-Abschiebung-Geheimdienst-September-2021.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/fi le/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023

■             COAR/HRW/HBS et. al. - Human Rights Watch / Heinrich Böll Stiftung (19.4.2021): Denmark: Flawed Country of Origin Reports Lead to Flawed Refugee Policies, Joint Statement, https://www. ecoi.net/de/dokument/2050054.html, Zugriff 16.6.2023

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria. Treatment Upon Return, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (9.2019): Syria - Access to Damascus Province for Individuals from Former Rebel-held Areas, https://www.ecoi.net/en/file/local/2017468/COI_report_ Syria_Access+to+Damascus+Province_sept_2019.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             EIP - European Institute of Peace (7.2019): Refugee return in Syria: Dangers, security risks and information scarcity, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018602/EIP+Report+-+Security+and+Ref ugee+Return+in+Syria+-+July.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+missi on+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             FP - Foreign Policy (6.2.2019): A Deadly Welcome Awaits Syria’s Returning Refugees, https: //foreignpolicy.com/2019/02/06/a-deadly-welcome-awaits-syrias-returning-refugees/, Zugriff 16.6.2023

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■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (29.9.2020): Asylländerbericht Syrien 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038328/Asyländerbericht+2020+(Stand+290920 20)+.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             Reuters (1.5.2023): Syrian refugees deported from Lebanon face arrest, conscription, say relatives https://www.reuters.com/world/middle-east/syrian-refugees-deported-lebanon-face-arrest-conscri ption-say-relatives-2023-05-01/, Zugriff 16.6.2023

■             SACD - Syrian Association for Citizen's Dignity (21.7.2020): We are Syria, https://syacd.org/wp-c ontent/uploads/2020/07/SACD_WE_ARE_SYRIA_EN.pdf, Zugriff 16.6.2023

■             SD - Syria Direct (16.1.2019): In first ‘organized’ refugee returns from Jordan, dozens of Syrians head back to Damascus suburb, https://syriadirect.org/in-first-organized-refugee-returns-from-jor dan-dozens-of-syrians-head-back-to-damascus-suburb/, Zugriff 16.6.2023

■             SNHR - Syrian Network for Human Rights (Autor) veröffentlicht von ReliefWeb (6.2023): Most Notable Human Rights Violations in Syria in May 2023,

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■             TN - The National (10.12.2018): Uncertainty over fate of Syrian refugees who return home, https: //www.thenational.ae/world/mena/uncertainty-over-fate-of-syrian-refugees-who-return-home-1.8 01269, Zugriff 16.6.2023

■             TWP - The Washington Post (2.6.2019): Assad urged Syrian refugees to come home. Many are being welcomed with arrest and interrogation, https://www.washingtonpost.com/world/assad-urg ed-syrian-refugees-to-come-home-many-are-being-welcomed-with-arrest-and-interrogation/201 9/06/02/54bd696a-7bea-11e9-b1f3-b233fe5811ef_story.html?utm_term=.e0a2c27a072f, Zugriff

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■             USDOS - US Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091896.html, Zugriff 16.6.2023

Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa

Syrische Rückkehrende aus Europa

Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann laut deutschem Auswärtigen Amt für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und andere Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 29.3.2023).

Die verfügbaren Informationen über SyrerInnen, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es auch aufgrund deren geringer Zahl keine Angaben (ÖB Damaskus 12.2022): Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn SyrerInnen bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 SyrerInnen mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Europäische Union selbst sowie der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), bleiben bei ihrer Einschätzung, dass Syrien nicht sicher für eine Rückkehr von Flüchtlingen ist. Im Juli 2022 entschied das Netherlands Council of State, dass syrische Asylsuchende nicht automatisch nach Dänemark transferiert werden dürften angesichts der dortigen Entscheidung, Teile Syriens für 'sicher’ zu erklären (HRW 12.1.2023). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Sy- rian Arab Republic (Col) kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr in Würde nicht gegeben sind, auch angesichts von Fällen von Rückkehrverweigerungen, willkürlichen Verhaftungen und der Verhinderung der Rückkehr zu ihren Heimen in Regierungsgebieten (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt weist darauf hin, dass UNHCR, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die International Organization for Migration (IOM) unverändert die Auffassung vertreten, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. UNHCR bekräftigte, dass sich seine Position und Politik nicht geändert hätten. Im Einklang mit dieser Einschätzung führt laut deutschem Auswärtigem Amt weiterhin kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union Rückführungen nach Syrien durch (AA 29.3.2023). Auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht nicht die menschenrechtlichen Voraussetzungen für Abschiebungen nach Syrien gegeben (Die Presse 5.6.2023).

Quellen:

■             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), 5https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_LageJn_der_Arabischen_Republik_Syrie n_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf,Zugriff 14.4.2023

■             Al Jazeera (17.5.2023): Syrian refugees in fear as Lebanon steps up deportations, https://www.al jazeera.com/news/2023/5/17/syrian-refugees-in-fear-as-lebanon-steps-up-deportations, Zugriff 19.5.2023

■             BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (7.11.2022): Briefing Notes - Gruppe 62 - Informationszentrum Asyl und Migration, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw45-2022.pdf? blob=publica

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■             CIA - Central Intelligence Agency [USA] (30.5.2023): The World Factbook: Syria - People and Society, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/syria/#people-and-society, Zugriff 21.6.2023

■             Daily Sabah (15.6.2020): At least 1,000 Syrians returned home from Germany since 2017, https: //www.dailysabah.com/politics/at-least-1000-syrians-returned-home-from-germany-since-2017/ news?gallery_image=undefined#big, Zugriff 21.6.2023

■             Die Presse (5.6.2023): UNO-Hochkommissar warnt vor Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan, https://www.diepresse.com/6295929/uno-hochkommissar-warnt-vor-abschiebungen-nach-s yrien-und-afghanistan, Zugriff 6.6.2023

■             DIS -Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria. Treatment Upon Return, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 21.6.2023

■             EASO - European Asylum Support Office (6.2021): Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060547/2021_06_EASO_COI_Report_Syria_Situation_returne es_from_abroad_DE.pdf, Zugriff 21.6.2023

■             HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 -Syria, https://www.ecoi.net/de/do kument/2085501.html, Zugriff 16.3.2023

■             HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/do kument/2066477.html, Zugriff 21.6.2023

■             HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Annual report on the human rights situation in 2018 - Syrian Arab Republic, https://www.ecoi.net/en/document/2002172.html, Zugriff 21.6.2023

■             NMFA- Netherlands Ministy of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin Information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Sy ria.pdf, Zugriff 8.3.2023

■             Now (4.4.2023): Scapegoating Refugees, https://nowlebanon.com/scapegoating-refugees/, Zugriff 19.4.2023

■             ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien (Stand Ende Dezember 2022) (in der Staatendokumentation aufliegend)

■             Qantara - Qantara.de (Scheller, Bente) (2.2.2022): Normalisierung auf Kosten der Syrer, https: //de.qantara.de/inhalt/assads-rehabilitation-normaNsierung-auf-kosten-der-syrer, Zugriff 21.6.2023

■             Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (27.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

■             Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail

■             Reuters (1.5.2023): Syrian refugees deported from Lebanon face arrest, conscription, say relatives https://www.reuters.com/world/middle-east/syrian-refugees-deported-lebanon-face-arrest-conscri ption-say-relatives-2023-05-01/, Zugriff 16.6.2023

■             SD - Syria Direct (6.5.2020): Ineligible for government aid, Syrians in Jordan struggle amidst COVID-19 lockdowns, https://syriadirect.org/ineligible-for-government-aid-syrians-in-jordan-strug gle-amidst-covid-19-lockdowns/, Zugriff 21.6.2023

■             SJAC - Syria Justice and Accountability Centre (8.10.2020): Turkey continues to deport Syrians to Idlim, violating international law, https://syriaaccountability.org/updates/2020/10/08/turkey-continu es-to-deport-syrians-to-idlib-violating-international-law/, Zugriff 1.12.2022

■             STJ - Syrians for Truth and Justice (14.2.2022): Turkey Continues to Forcibly Return Refugees, Ignoring International Warnings that Syria is Still Unsafe, https://stj-sy.org/en/turkey-continues -to-forcibly-return-refugees-ignoring-international-wamings-that-syria-is-still-unsafe/, Zugriff 21.6.2023

■             SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (5.2.2020): Syrian Refugees in Turkey: Changing Attitudes and Fortunes, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/comments/2020C05_Kinikli oglu.pdf, Zugriff 21.6.2023

■             TN - The National (3.10.2019): Syrians struggling to survive in Jordan face difficult decision, https: //www.thenational.ae/world/mena/syrians-struggling-to-survive-in-jordan-face-difficult-decision-1 .917568, Zugriff 21.6.2023

■             UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023

■             UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (11.5.2023): Durable Solutions; 31 March 2023; Egypt, Iraq, Jordan, Lebanon, and Türkiye, https://data.unhcr.org/en/documents/download/! 00338, Zugriff 15.6.2023

■             UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (30.11.2022): Durable Solutions dash- board - Egypt, Iraq, Jordan, Lebanon, and Türkiye - November 2022, https://data.unhcr.org/en/situ ations/syria_duable_solutions, Zugriff 21.6.2023

■             USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Aussagen gegenüber der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auskünfte aus dem Strafregister, dem zentralen Melderegister und dem Informationsverbund zentrales Fremdenregister wurden ergänzend zum vorgelegten Verwaltungsakt eingeholt.

Die Feststellung, dass seine Herkunftsregion zum Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien gehört, ergibt sich aus der Aussage des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung, die in Einklang steht mit einer Einschau in die öffentlich zugängliche „Syria Live Map“. Auch dem angefochtenen Bescheid wurde diese Feststellung zugrunde gelegt.

Die Feststellungen zu seinem Militärdienst ergeben sich im Wesentlichen aus den Aussagen des Beschwerdeführers. Die belangte Behörde war davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer nicht desertiert sei, sondern seinen Wehrdienst abgeleistet habe und entlassen worden sei. Das diesbezügliche Vorbringen des Beschwerdeführers war allerdings stringent und konsistent und auch nicht, wie im angefochtenen Bescheid behauptet, vage und unglaubhaft, wie sich aus seinen Aussagen in der mündlichen Verhandlung, zu der kein Vertreter der belangten Behörde erschienen war, ergab. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer sein Militärbuch nicht vorlegen konnte, steht auch nicht im Widerspruch zu seinem Vorbringen, wird dieses während der Ableistung des Militärdienstes doch einbehalten. Die Authentizität des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Strafregisterauszuges vom 13.08.2023, welcher eine Fahndung nach dem Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Desertion verzeichnet, erscheint aus Sicht der erkennenden Richterin zweifelhaft, doch vermag dies nichts daran zu ändern, dass das Vorbringen insgesamt glaubhaft erscheint.

Die Feststellung, dass die syrischen Militärbehörden in den AANES-Gebiete keinen Zugriff auf den Beschwerdeführer haben, ergibt sich aus der Feststellung in den unter Punkt 1.3. wiedergegebenen Länderinformationen, wonach die syrische Armee in diesen Gebieten auch keine Rekrutierungen durchführen kann. Die Behauptung des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde, dass die syrischen Behörden bereits in den Nachbardörfern gewesen seien, findet keinen Niederschlag in den zugänglichen Quellen. Auch im Themendossier von ACCORD zu „Syrien: Wehrdienst“ vom 16.01.2024 wird festgehalten, dass die syrische Regierung in von der AANES kontrollierten Gebieten mit Ausnahme der Regierungsenklaven in Qamischli und Hasaka nicht in der Lage ist, die Wehrpflicht durchzusetzen oder Oppositionelle zu verhaften. Der Beschwerdeführer gesteht selbst im Rahmen der Verhandlung zu, dass derzeit keine Gefahr für ihn besteht, indem er diese als nur hypothetisch („wenn das Regime die Kontrolle hat“) beschreibt und bestätigt, dass derzeit die Kurden die Kontrolle über sein Dorf hätten. Zusammenfassend ist sohin festzuhalten, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich seines Herkunftsortes nicht glaubhaft machen konnte, dass dort die syrischen Behörden Zugriff auf ihn hätten.

Der Vollständigkeit halber ist auszuführen, dass sich aus den Länderinformationen ergibt, dass der Beschwerdeführer in seinen Herkunftsort über den Grenzübergang zwischen der Stadt Faysh Khabur im Irak und dem Ort Semalka im Distrikt Malikiya in Syrien, der auf irakischer Seite von der Demokratischen Partei Kurdistan (KDP) verwaltet und auf syrischer Seite von der SDF kontrolliert wird, einreisen könnte, ohne vom syrischen Regime angehalten und kontrolliert zu werden. Somit ist es dem Beschwerdeführer möglich, vom Grenzübergang in seinen Herkunftsort zu reisen, ohne Gebiete durchqueren zu müssen, die sich im Einflussbereich des syrischen Regimes befinden.

Die Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus einem vom Bundesverwaltungsgericht am 16.04.2024 eingeholten Strafregisterauszug.

Die Feststellung zu seiner Schilddrüsenerkrankung und dem erfolgten bzw. geplanten operativen Eingriff ergibt sich aus den Aussagen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung und den vorgelegten Befunden (Kurzarztbrief vom 25.04.2024, radiologischer Befund vom 26.04.2024).

2.2. Die Feststellungen zur Lage in Al Hasaka ergeben sich aus European Union Agency for Asylum (EUAA; ehemals: European Asylum Support Office, EASO): Country Guidance: Syria; April 2024, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/file/local/2107183/2024_Country_Guidance_Syria_EN.pdf, S 138-142. Soweit im angefochtenen Bescheid vermerkt wurde: „Die Provinz Al Hasaka gilt als zumutbar sicher und ist gefahrenlos zu erreichen.“, ist für das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennbar, auf welche Quellen sich die belangte Behörde in diesem Zusammenhang stützt. Nachdem sich eine Einschätzung als „zumutbar sicher“ nicht mit den unter Punkt 1.2. wiedergegebenen Feststellungen des aktuellen EUAA-Berichts in Einklang bringen lässt, folgt die erkennende Richterin der Beurteilung durch die EUAA, die sich auf aktuelle Berichte zur Sicherheitslage (etwa von ACLED) stützt.

2.3. Zur Lage in Syrien wurde das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 11, vom 27.03.2024 herangezogen und auszugsweise, soweit entscheidungsrelevant, unter Punkt 1.3. wiedergegeben.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Zur Abweisung des Antrages hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht und keiner der in Artikel eins, Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, mwN).

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. – des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste vergleiche VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).

Wie unter Punkt römisch II.2.1. beweiswürdigend dargelegt, besteht für den Beschwerdeführer im gegenständlichen Fall keine Gefahr, im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatdorf mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit wegen der Desertion von der syrischen Armee verfolgt zu werden. Seine Herkunftsregion steht unter Kontrolle der kurdischen SDF und besteht kein Zugriff der syrischen Behörden.

Dem Beschwerdeführer ist es damit nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung von maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Auch haben sich im Verfahren ansonsten keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Verfolgung des Beschwerdeführers aus asylrelevanten Gründen im Herkunftsstaat maßgeblich wahrscheinlich erscheinen ließen. Die allgemeine Lage in Syrien ist auch nicht dergestalt, dass automatisch jedem Antragsteller aus Syrien der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müsste.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. war daher spruchgemäß abzuweisen.

3.2. Zur Gewährung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides):

Unter der Überschrift „Voraussetzungen für subsidiären Schutz“ definiert Artikel 15c der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) einen ernsthaften Schaden als „eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“ Dies wird in Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 umgesetzt, indem festgelegt wurde, dass einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten unter anderem dann zuzuerkennen ist, wenn er zwar den Status eines Asylberechtigten nicht erhalten hat, eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in seinen Herkunftsstaat aber „für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes“ mit sich bringen würde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt (VwGH 03.05.2021, Ra 2020/01/0485).

EUAA trifft in seinem aktuellen Bericht vom April 2024 hinsichtlich des Gouvernement Hasaka die Annahme, dass dort die willkürliche Gewalt ein so hohes Ausmaß erreicht hat, dass stichhaltige Gründe dafür vorliegen, dass ein Zivilist, der in das Gouvernement zurückkehrt, allein aufgrund seines Aufenthaltes der tatsächlichen Gefahr einer ernsten Bedrohung ausgesetzt ist, von welcher in Artikel 15c der Qualifikationsrichtlinie gesprochen wird (EUAA; ehemals: European Asylum Support Office, EASO) (Autor): Country Guidance: Syria; April 2024, abrufbar unter:
https://www.ecoi.net/en/file/local/2107183/2024_Country_Guidance_Syria_EN.pdf, S 121). Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass die Türkei immer wieder Militäreinsatze in Form von Luft-, Drohnen- und Artillerieangriffen durchführt und die Sicherheitslage im Gouvernement Hasaka allgemein volatil ist, wobei die Grenzgebiete zu den am stärksten vom Konflikt betroffenen Gebieten in Syrien gehören. Die Angriffe der Türkei richteten sich auch gegen Wasser- und Energieinfrastruktur sowie Ölanlagen im Gouvernement Hasaka. Berichten zufolge haben auch ISIL-Angriffe in der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 deutlich zugenommen und ereigneten sich auch im Jahr 2023. Nach dem Ausbruch des Israel-Hamas-Konflikts im Oktober 2023 haben vom Iran unterstützte bewaffnete Gruppen US-Streitkräfte in Syrien mit Drohnenangriffen, improvisierten Raketen und Mörsergranaten angegriffen, unter anderem im Gouvernement Hasaka, was zu Gegenschlägen der USA führte.

Das Gouvernement ist weitgehend mit improvisierten Minen und anderen improvisierten Geräten verseucht, die der Zivilbevölkerung schweren Schaden zufügen. Diese Gefahr ist für den Beschwerdeführer, der als Schafhirte und Landwirt tätig war, gegenüber der Allgemeinbevölkerung zusätzlich erhöht.

Artikel 10, Absatz 3, Litera b, der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) sieht es als Pflicht der Mitgliedstaaten an zu gewährleisten, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck hätten die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa EASO und UNHCR sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller. Auch nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung ist den Richtlinien des UNHCR und der EUAA (früher: EASO) besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“) (VwGH 18.4.2023, Ra 2022/18/0219, mwH; VfGH 19.09.2023, E 1668/2022 ua.).

Im Fall des Beschwerdeführers kann es daher gegenständlich dahingestellt bleiben, ob er tatsächlich, wie im Beschwerdeschriftsatz behauptet, bei einer Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten würde. Für die Möglichkeit, sich eine grundlegende Existenz zu sichern, spricht der Umstand, dass seine Familie landwirtschaftliche Flächen besitzt; allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass durch die Angriffe der Türkei relevante Infrastruktur, darunter auch die Wasserversorgung, die für die Landwirtschaft relevant ist, zerstört bzw. behindert wurde. Nachdem aber für den Beschwerdeführer eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen des innerstaatlichen Konfliktes mit der Rückkehr verbunden wäre, ist nicht näher auf die Frage der Grundversorgung bzw. der medizinischen Versorgung einzugehen.

Die Gewährung eines Status nach Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 setzt voraus, dass die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung des Artikel 3, EMRK aufgezeigt wird vergleiche zuletzt VwGH, 21.05.2019, Ro 2019/19/0006). Eine solche reale Gefahr besteht im Falle einer Rückkehr für den Beschwerdeführer für seine Herkunftsregion.

Im gegenständlichen Fall kann auch nicht von einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgegangen werden. Die Provinzen Damaskus, Quneitra, Homs, Tartus und Latakia, in denen laut EuAA (EUAA S 121) ein geringes Risiko für Zivilisten besteht, im Sinne des Artikels 15c der Qualifikationsrichtlinie Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, stehen unter der Kontrolle der syrischen Regierung. Der Beschwerdeführer hatte sich unerlaubt während der Ableistung seines Militärdienstes von diesem entfernt und droht ihm daher eine Bestrafung von Seiten der syrischen Militärbehörden. Laut EuAA droht einem Deserteur, der das Land verlassen hat, eine Freiheitsstrafe in der Höhe von bis zu 15 Jahren. Deserteure werden strenger bestraft als Wehrdienstverweigerer und ihnen drohen Inhaftierung, Folter und teilweise auch die Todesstrafe (EUAA S 48f). Es ist dem Beschwerdeführer daher jedenfalls nicht zumutbar, in ein Gebiet zu flüchten, welches unter Kontrolle der syrischen Regierung steht.

Das einzige Gebiet, das sich nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung befindet und in dem zwar ein hohes Maß an Gewalt besteht, aber noch nicht in einem Ausmaß, das allein ein Aufenthalt die tatsächliche Gefahr einer ernsten Bedrohung beinhaltet, ist der nördliche Teil des Gouvernements Raqqa, der unter Kontrolle der kurdischen SDF steht (EUAA S 121, 156). Dennoch erscheint auch Raqqa im Fall des Beschwerdeführers nicht als innerstaatliche Fluchtalternative zumutbar: Er verfügt dort über kein soziales Netzwerk und würde als Angehöriger der arabischen Volksgruppe auch nur schwerer Zugang zu Schutz haben. Wie EuAA berichtet ist Raqqa auch immer wieder Ziel türkischer Angriffe, die zivile Todesopfer fordern. Zudem haben die Kurden den syrischen Truppen Zugang zu ihrem Gebiet gewährt, um den türkischen Übergriffen besser Einhalt gebieten zu können; wie bereits erwähnt droht dem Beschwerdeführer aber Verfolgung durch das syrische Regime. Angesichts dessen, dass er in Raqqa über keine Anknüpfungspunkte verfügt und die Lage in dem Gouvernement laut EuAA noch sehr volatil ist, scheidet auch Raqqa als innerstaatliche Fluchtalternative aus.

Ausschlussgründe im Sinne des Paragraph 9, AsylG 2005 liegen nicht vor. Dem Beschwerdeführer ist daher der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen und eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 zu erteilen.

3.3. Zur Aufhebung der sonstigen Spruchpunkte (Spruchpunkte römisch III., römisch IV., römisch fünf. und römisch VI. des angefochtenen Bescheides)

Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt wird.

Da im gegenständlichen Fall dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, liegen die Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung, für die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach Paragraph 57, AsylG 2005, für die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und für die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise nicht (mehr) vor.

Daher waren die entsprechenden Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides aufzuheben.

Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2024:I403.2290378.1.00