Bundesverwaltungsgericht
23.05.2024
W124 2263095-1
W124 2263095-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Felseisen als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , römisch 40 geb., StA. Somalia, vertreten durch römisch 40 , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom römisch 40 , Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am römisch 40 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am römisch 40 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Am römisch 40 erfolgte seine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Rahmen welcher er angab, er sei somalischer Staatsangehöriger und habe im „Dorf römisch 40 Somalia“ seine Wohnsitzadresse gehabt. Seine Eltern, drei Schwestern sowie römisch 40 und römisch 40 würden alle in Somalia leben. In Österreich oder einem EU-Staat habe er keine Familienangehörige mit Status. Den Entschluss zur Ausreise aus dem Herkunftsstaat habe er im römisch 40 gefasst. Im römisch 40 sei er aus seinem Wohnort und im römisch 40 aus dem Herkunftsstaat ausgereist. Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt in der Türkei und einem ein Jahr und drei Monate dauernden Aufenthalt in Griechenland habe er sich über Mazedonien nach Serbien begeben, wo er einen Monat aufhältig gewesen sei, und sei anschließend über Ungarn nach Österreich gelangt.
Sein Land habe er verlassen, weil Al Shabaab ihn aufgefordert habe, bei ihnen dabei zu sein und sich ihnen anzuschließen. Sie hätten ihn mit dem Tod bedroht, wenn er sich weigere. Er habe hiermit alle seine Gründe und die dazugehörigen Ereignisse angegeben, warum er nach Österreich gereist sei, und er habe keine weiteren Gründe einer Asylantragstellung. Im Falle einer Rückkehr fürchte er den Tod durch Al Shabaab. Al Shabaab suche nach ihm, sie würden ihn töten.
2. Am römisch 40 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) statt, welche folgenden Verlauf nahm:
„(…)
F: Haben Sie gegen eine oder mehrere der hier anwesenden Personen irgendwelche Einwände?
A: Nein
(…)
F: Haben Sie die obigen Ausführungen verstanden?
A: Ja
F.: Sind Sie mit amtswegigen Erhebungen vor Ort unter Wahrung ihre Anonymität,
eventuell unter Beiziehung der österreichischen Botschaft und/oder eines
Vertrauensanwaltes einverstanden? Sind Sie damit einverstanden, dass Ihre Angaben
im Rahmen einer landesinternen Recherche durch einen Sachverständigen überprüft
werden?
A.: Ja
F: Welche Sprachen sprechen Sie?
A: Somali
F: Welche Sprachen können Sie lesen und schreiben?
A: Somali
F: Der Dolmetsch ist für die Sprache Somali bestellt und beeidet worden. Sind Sie dieser Sprache mächtig und einverstanden, in der Sprache Somali einvernommen zu werden?
A: Ja
F: Verstehen Sie den Dolmetsch einwandfrei?
A: Ja
Sie werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Sie im Fall von Verständigungsschwierigkeiten jederzeit rückfragen können. Ihnen wird weiters zur Kenntnis gebracht, dass die nachträgliche Behauptung von Verständigungsschwierigkeiten der freien Beweiswürdigung unterliegt.
F: Sind Sie in diesem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl
anwaltlich vertreten?
A: Nein
F. Sind Sie körperlich und geistig in der Lage die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu
beantworten?
A: Ja
Anmerkung: Der Asylwerber wird gebeten, das Handy auszuschalten und auf den Tisch
zu legen.
A.: Wenn Sie während der Befragung etwas trinken möchten, es steht frisches Wasser
neben Ihnen, dürfen Sie sich jederzeit etwas einschenken.
F: Haben Sie im Verfahren bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht,
wurden Ihnen diese jeweils rückübersetzt und korrekt protokolliert? Wollen Sie etwas
richtigstellen?
A: Es wurde alles richtig protokolliert. Das Geburtsdatum meiner beiden Schwestern ist
nicht korrekt.
F: Können Sie Identitätsdokumente vorlegen?
A: Nein. Ich habe nur Kursbestätigungen mit.
F.: Welche Dokumente befinden sich noch in Ihrem Herkunftsstaat (Geburtsurkunde,
Personalausweis)?
A.: Keine
F.: Können Sie diese Dokumente im Original oder Kopie besorgen?
A.: Nein.
F: Haben Sie Beweismittel, die sie heute noch vorlegen möchten?
A: Ich lege die Kursbestätigung vor.
F: Wie geht es Ihnen gesundheitlich?
A: Ich bin gesund
F: Nehmen Sie Medikamente, sind Sie in ärztlicher Behandlung oder Therapie?
A: Nein
F: Bitte nennen Sie Ihren korrekten Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihre Staatsbürgerschaft
oder Staatsbürgerschaften, Ihre Volks-/Clangruppen, Ihre Religionszugehörigkeit und
Ihren Familienstand.
A: römisch 40 , geboren am römisch 40 , StA: Somalia, Sheekhal – römisch 40
römisch 40 , Religion: Moslem/Sunnit, geschieden.
F: Welche Staatsbürgerschaft haben Ihre Eltern?
A: Somalia.
F: Sind Sie verheiratet? Falls ja, traditionell und/oder standesamtlich? Haben Sie
Kinder? Falls ja, wer ist der andere Elternteil?
A: Geschieden, ich habe keine Kinder.
F: Schildern Sie bitte chronologisch Ihren Lebenslauf.
A: Geboren in Somalia/Kismayu, 6 Jahre Schule + Koranschule, nie gearbeitet, aber ich
habe mit dem Vater mitgeholfen. Dieser hat Brot verkauft und ich habe ihn manchmal
vertreten.
Anmerkung: Die Angaben über die Familienangehörigen im Herkunftsland oder einem
anderen Drittstaat der Erstbefragung werden abgefragt und mit Erstbefragung
verglichen.
Anmerkung: die angegebenen Daten stimmen mit der Erstbefragung überein.
Änderungen/Zusatz: römisch 40
römisch 40
F: Haben Sie in Somalia den Wehrdienst abgeleistet?
A: Nein
F: Schildern Sie bitte kurz Ihren Reiseweg.
A: Türkei – Griechenland – Nordmazedonien – Serbien – Ungarn.
F: Haben Sie in einem anderen Land, außer Österreich, um Asyl angesucht? Wurden
Sie in einem anderen Land registriert? Hatten Sie Kontakt zu Behörden oder der
Polizei?
A: In GR wurden mir die Fingerabdrücke abgenommen. Dort war ich 1 Jahr und 3
Monate. Ich bekam dort eine Karte. Nachgefragt: Ich war in einer Asylunterkunft. Die
Einvernahme habe ich nicht bekommen.
F.: Welchem Clan gehören Sie an?
A.: Sheekhal – römisch 40
F.: Ist Ihr Clan in der Heimat weit verbreitet?
A.: Nein
F.: Ist Ihr Clan in Ihrer Heimatstadt weit verbreitet?
A.: Nein.
F.: Man sagt jedem Clan in Ihrer Heimat gewisse Eigenschaften und Fähigkeiten nach
(Handwerker, Viehzüchter, Landwirte usw.). Was zeichnet Ihren Clan in der Heimat
aus?
A.: Einige sind Viehzüchter und einige leben in den Städten.
F.: Wie heißt der Clan Älteste Ihres Clans in der Heimat?
A.: Ich kenne ihn nicht. Nachgefragt: Von meinem Clan weiß ich es auch nicht.
F.: In welchen Gebieten ist Ihr Clan verbreitet?
A.: In Kismayu, Lower Juba.
F.: Haben Sie Kontakt zu Ihrem Clan in der Heimat?
A.: Nein
F: Welche Angehörigen der Kernfamilie (Eltern, Geschwister) leben noch in Ihrer Heimat? Geben Sie Provinz, Distrikt, Stadt oder Dorf an.
A: Sie leben in Kismayu.
F.: Haben Sie noch weitere Verwandte in der Heimat?
A.: Ich habe 1 Onkel ms und 1 Tanten ms in der Heimat.
F.: Wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu Ihren Angehörigen?
A.: Als ich GR verlassen wollte, römisch 40
F.: Wie gestaltet sich der Kontakt zu Ihrer Familie? Kommunizieren Sie auch über
soziale Netzwerke und neue Medien?
A.: Damals hatte ich Kontakt per Telefon. Ich habe keine Nummer von meiner Familie.
Ich habe mein Handy und meinen Reisepass in der Türkei – GR (Fluss) verloren.
F.: Hat Ihre Familie irgendwelche Besitztümer in Ihrem Heimatland, z.B. Häuser,
Grund?
A.: Nein
F: Wovon bestreiten Ihre Angehörigen den Lebensunterhalt?
A: Mein Vater arbeitet und sorgt für die Familie.
F.: Haben Ihre Verwandten auch Probleme in der Heimat?
A.: Nein.
F.: Schildern Sie die Lebensumstände Ihrer Verwandten. (Arm, Mittelstand, Reich)
A.: Wir hatten alles, was wir am Tag konsumieren konnte, mehr nicht.
F.: Mussten Sie oder jemand aus Ihrer Familie je Hunger leiden?
A.: Ja, manchmal. Nachgefragt: Mein Vater muss die Ware, welche er nicht verkaufen
kann, zurückbringen. Er verkauft Ware eines anderen.
F: Haben Sie Verwandte in Europa?
A: Nein
F.: Haben Sie bis zu Ihrer Ausreise gearbeitet?
A.: Nein, ich habe nicht gearbeitet. Nachgefragt: Ich habe bis zu meiner Ausreise
meinem Vater helfen können.
H.: Haben Sie in Ihrem Heimatort am sozialen Leben teilgenommen, sind Sie Essen
gegangen, haben Sie sich mit Freunden getroffen?
A.: Ja, das machte ich manchmal
F.: Auch bis zu Ihrer Ausreise?
A.: Nein, ich war in einem anderen Ort ( römisch 40 /Jubadda dhexe – middle Juba)
F.: Wann haben Sie zum ersten Mal daran gedacht, dass Sie Ihren Herkunftsstaat
verlassen?
A.: Als ich Probleme bekam, nachgefragt: römisch 40
F.: Wann haben Sie aufgrund von welches Ereignisses den Ausreiseentschluss gefasst?
A.: Meine Familie hat mir gesagt, dass ich nicht hierbleiben kann und das Land
verlassen soll.
F.: Wann haben Sie ihren Heimatort bzw. Heimatland tatsächlich verlassen?
A.: römisch 40 (Heimatort), römisch 40 (Heimatland)
F.: Wo waren Sie die letzte Nacht vor ihrer Ausreise aus dem Heimatort aufhältig?
A.: Mogadischu, nachgefragt: zuletzt war ich in römisch 40 /Kismayu, da lebt meine Familie.
F.: Wie lautete Ihre genaue Adresse in der Heimat?
A.: römisch 40 /Kismayu, in der Nähe von römisch 40 .
F.: Um welche Art von Unterkunft handelt es dabei, Mietwohnung, Haus,
Eigentumswohnung?
A.: Ein Miethaus aus Blech.
Auf Nachfrage gebe ich an, es leben jetzt meine Eltern und Geschwister darin.
F.: Reisten Sie schlepperunterstützt nach Österreich ein?
A.: Ja.
F.: Wie hoch war Ihr Monatseinkommen?
A.: Ich hatte kein Einkommen. Nachgefragt: Mein Vater verkaufte manchmal 50 Stück,
manchmal mehr und weniger.
F.: Wie viel kostete die Schleppung insgesamt?
A.: Mein Onkel hat die Ausreise für mich finanziert, ich weiß es nicht. Nachgefragt: Ich
habe die 2000 USD bei der Erstbefragung nicht angegeben.
F.: Warum war Österreich das Ziel Ihrer Reise?
A.: Ich wollte in GR bleiben, als nichts weiterging, habe ich es verlassen. IN Serbien
konnte ich mich nicht registrieren lassen, Österreich war dann das erste Land.
F.: Geben Sie chronologisch und lückenlos die Aufenthaltsorte der letzten drei Jahre in
Ihrer Heimat an.
A.: Nur in Kismayu
F.: Haben Sie den von ihnen angegebenen Familiennamen in ihrem Herkunftsstaat
auch schon geführt?
A.: Ja
F: Verfügen Sie über ein Aufenthaltsrecht in einem anderen EU-Land oder in einem
anderen Land als Somalia?
A: Nein
F.: Sind Sie ein religiöser Mensch?
A.: Ja
F.: Wann war Ihr letzter Moschee Besuch?
A.: Vor zwei Wochen in römisch 40 , dort ist eine türkische Moschee.
F.: Wie geht es Ihnen mit der Vielfalt in Österreich? Wie stehen Sie zur homosexuellen
Szene in Österreich?
A.: Ich finde es gut. Ich werde von jedem begrüßt. Ich fühle mich wohl. Nachgefragt:
Ich respektiere diese Szene und es ist kein Problem für mich.
F: Beantworten Sie die nachstehenden Fragen mit „Ja“ oder „Nein“. Sie haben später
noch die Gelegenheit, sich ausführlich zu diesen Fragen zu äußern:
F: Sind Sie in Ihrem Heimatland oder in einem anderen Land vorbestraft, waren Sie in
Ihrem Heimatland inhaftiert oder hatten Sie Probleme mit den Behörden in der
Heimat?
A: Nein
F: Bestehen gegen Sie aktuelle staatliche Fahndungsmaßnahmen wie Haftbefehl,
Strafanzeige, Steckbrief, etc.?
A: Nein
F: Sind oder waren Sie politisch tätig?
A: Nein
F: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei?
A: Nein
F: Hatten Sie in ihrem Herkunftsstaat aufgrund Ihres Religionsbekenntnisses bzw. Ihrer
Volksgruppen- bzw. Clanzugehörigkeit irgendwelche Probleme?
A: Nein
F: Hatten Sie gröbere Probleme mit Privatpersonen (Blutfehden, Racheakte etc.)?
A: Ja
F: Nahmen Sie in Ihrem Heimatland an bewaffneten oder gewalttätigen
Auseinandersetzungen aktiv teil?
A: Nein
F: Hatten Sie Kontakt zu Islamisten oder anderen extremistischen Gruppierungen?
A: Nein
F: Schildern Sie die Gründe, warum Sie Ihr Heimatland verlassen und einen Antrag auf
internationalen Schutz gestellt haben, von sich aus vollständig, detailliert und
wahrheitsgemäß. Sie werden darauf hingewiesen, dass falsche Angaben die
Glaubwürdigkeit Ihres Vorbringens beeinträchtigen können. Soweit Sie auf Ereignisse
Bezug nehmen, werden Sie auch aufgefordert, den Ort und die Zeit zu nennen, wann
diese stattfanden und die Personen, die daran beteiligt waren.
Sie haben jetzt auch Gelegenheit, sich zu den Fragen, die von ihnen mit „Ja“ oder
„Nein“ beantwortet wurden, zu äußern.
A: Ich habe in Kismayu gelebt. Meine Tante lebte in römisch 40 . Während sie ein Kind
gebar, verstarb sie selbst. Aufgrund dessen wurde ein kleines Fest veranstaltet. Ich
ging nach römisch 40 . Währenddessen habe ich am Abend einen Teeshop besucht und
habe einen Tee getrunken. Während dem Aufenthalt im Teeshop, wurde ich von
einem Mann, der einen weißen Khamis trug, angesprochen. Er forderte mich auf
aufzustehen. Ich weigerte mich. Die Frau, welche dort den Shop betreibt, nachgefragt,
was er wolle. Er sagt, dass er mich bräuchte. Die Frau sagte mir, dass der Mann von Al
Shabab (AS) wäre und ich mitgehen sollte. Er fragte, woher ich komme, und ich
antwortete, dass ich in Kismayu wohne. Er meinte, dass ich ein Spion sei. Er zog seine
Pistole und forderte mich auf zu knien. Ich musste die Hände hochhalten und er zog
mir das T-shirt aus und verband mir die Hände mit dem T-shirt hinter meinem Rücken.
Er nahm sein Tuch, verband mir die Augen und hat mich in sein Auto befördert. Er fuhr
mich mit dem Auto außerhalb der Stadt. Ich wusste nicht, wo das war. Dort habe ich
dann einen Mann, welcher auch AS-Mitglied ist und arabisch sprach, getroffen. Er hat
mir die Fragen auf Arabisch gestellt, der Mann, welcher mich mitnahm, übersetzte. Die
Fragen waren, ob ich ein Spion sei. Ich verneinte. Er sagte darauf, wenn ich das nicht
zugebe, werde ich es morgen zugeben. Sie haben mir die Augen wieder verbunden
und wieder im Auto mitgenommen. Sie brachten mich zu einem Ort, wo mehrere
Soldaten von ihnen waren. Sie sperrten mich in einen Raum, wo auch 3 andere
Jugendliche eingesperrt waren. Ich war für 14 Tage dort. Während dieser Zeit haben
sie nachts hinausgebracht und gefoltert. Sie haben uns geschlagen und mit Wasser
beschüttet. In der letzten Nacht fragten sie uns, ob wir mit ihnen arbeiten möchten,
oder wir werden getötet. Am nächsten Tag stimmten wir zu, dass wir mit ihnen
arbeiten. Sie haben uns besseres Essen gegeben. Wir waren aber weiterhin dort
eingesperrt. Diese Nacht haben sie uns aber nicht gefoltert. Sie haben 2 von den 3
Jungs, mitgenommen. Ich weiß nicht was mit ihnen passiert ist. An diesem Tag sind
viele Autos gekommen und brachten verletzte Soldaten. Es hat Chaos geherrscht, auf
uns wurde nicht mehr zu aufgepasst. Wir hatten das Fenster offen. Ich und dieser
andere Jugendliche sind gemeinsam geflohen. Wir sind in eine Richtung gelaufen. Sie
haben es bemerkt und sind uns nachgelaufen. Wir haben ein Loch gefunden, wo Kohle
verbrannt wird (Bäume verbrannt werden, um Kohle herzustellen). Dort haben wir uns
versteckt. Als wir bemerkten, dass sie nicht mehr da sind, sind wir gemeinsam
gegangen und haben einen kleinen Ort gefunden. Dort fragten wir, wo wir sind und
wie wir nach Kismayu kommen könnten. Sie haben uns bei ihnen versteckt, bei einer
Familie haben wir Zuflucht gefunden. Am nächsten Tag machten wir uns auf den Weg
in diese Richtung. Am Weg haben wir einen Traktor gesehen. Wir fragten ihn, ob er
uns nach Kismayu bringen könnte. Er fragte nach unserem Clan und brachte uns nach
Kismayu. Ich bin zu meinem Onkel ms in Kismayu gegangen. Er sagte, dass sie
glaubten, dass ich verstorben sei. Sie erfuhren, dass ich von AS mitgenommen wurde.
Ich war 3 Tage bei meinem Onkel. Danach setzte er mich in einen Lastwagen und
dieser brachte mich nach Mogadischu. Der Onkel kontaktierte einen Schlepper und
dieser brachte mich von römisch 40 Markt/Mogadischu in eine Wohnung. Ich glaube,
dass ich 1 Monate und 3 Tage bei ihm war. AS hat meine Familie kontaktiert. Mein
Onkel hat mich auch informiert, dass dieser Mann mich in die Türkei bringt, somit
habe ich dann Somalia verlassen.
F: Gibt es noch weitere Gründe, weshalb Sie Somalia verlassen haben?
A: Nein
F: Was konkret würde passieren, wenn Sie nach Somalia zurückkehren?
A: Ich werde von dieser Gruppe umgebracht.
F.: Haben Sie Verwandte in Österreich?
A.: Nein
F.: Besuchen Sie in Österreich Kurse, eine Schule oder die Universität?
A.: Ja. A1.
F: Wie sind Ihre Deutschkenntnisse? Haben Sie Prüfungen abgelegt?
A: Ich kann ein bisschen Deutsch. Überprüft: AW versteht einfache Fragen nicht und
gibt keine Antworten.
F.: Wie finanzieren Sie sich den Aufenthalt in Österreich?
A.: Ich lebe von der Grundversorgung
F.: Sind Sie derzeit berufstätig?
A.: Ich arbeite nicht.
F.: Haben Sie sich beim AMS um eine Arbeitsbewilligung bemüht?
A.: Nein, ich möchte zuerst die Sprache lernen, um arbeiten zu gehen.
F.: Wie sieht Ihr Alltag in Österreich aus?
A.: Ich gehe zum Kurs und nachmittags spiele ich Fußball. Am Abend mache ich
Hausaufgaben.
F.: Haben Sie in Österreich Freunde bzw. Bekannte (Name, Staatszugehörigkeit)?
A.: Ja. nachgefragt: Arabische Freunde, auch österreichische Freunde. Ich treffe sie am
Fußballplatz und weiß nicht, wie sie heißen.
F: Haben Sie in Österreich eine Beziehung?
A: Nein
F.: Sind Sie in irgendwelchen Vereinen oder ehrenamtlich tätig?
A.: Nein
F.: Welche Integrationsschritte haben Sie seit Ihrer Einreise nach Österreich gesetzt?
A.: Ich besuche einen Deutschkurs.
F.: Verfügen Sie über Vermögen oder sonstige Werte?
A.: Nein
F: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht verurteilt bzw. kamen Sie mit
dem Gesetz in Konflikt?
A: Nein
F: Haben Sie den Dolmetscher während der Einvernahme einwandfrei verstanden?
A: Ja
Dem AW wird mitgeteilt, dass den Behörden die Lage in Somalia bekannt ist. Der AW
kann das Länderinformationsblatt auf seinen Wunsch hin ausgehändigt bekommen
und innerhalb von 2 Wochen Stellung darüber beziehen.
AW verzichtet auf die Ausfolgung und die Stellungnahme.
F: Es wird Ihnen nunmehr die Niederschrift rückübersetzt und Sie haben danach die
Möglichkeit noch etwas richtig zu stellen oder hinzuzufügen.
Anmerkung: Die Niederschrift wird wortwörtlich rückübersetzt.
F: Wurde Ihre Einvernahme richtig und vollständig protokolliert? Falls nein, welche
Einwände haben Sie?
A: Ja, als Korrektur gebe ich an: römisch 40 ist römisch 40 geboren, römisch 40 ist römisch 40 geboren. Der
Reisepass ist von der Türkei nach GR verloren gegangen und das Handy als ich GR
verlassen wollte.
F: Möchten Sie eine Pause machen?
A: Nein
Eine Pause von 15 Minuten wird eingelegt
F.: Haben Sie die Übergriffe auf Sie bei den Behörden (Polizei) in Ihrer Heimat
angezeigt?
A.: Als ich vermisst war, hat meine Familie die Polizei informiert. Sie sagten, dass sie da
nicht helfen können. Sie können nur helfen, bei Taten die sie sehen. Nachgefragt: Ich
war entführt und als ich vermisst war zeigte mein Onkel das an.
F.: Haben Sie die Übergriffe auf Sie bei den Behörden (Polizei) in Ihrer Heimat
angezeigt?
A: Als ich bei meinem Onkel war, sind wir zur Polizei gegangen. Sie fragten nach
meinem Namen. Da ich nicht mehr gefangen war, sagten sie, dass ich gehen konnte.
Nachgefragt: Ich sag die Wahrheit, wir sind zur Polizei gegangen.
F: Beim Vorbringen des Fluchtgrundes, schilderten Sie sehr detailliert Ihr
Fluchtvorbringen, jedoch erwähnten Sie in keiner Weise, dass Sie selbst zur Polizei
gegangen sind. Was sagen Sie dazu?
A: Mein Onkel hat das gemeldet, als ich weg war von zuhause. Als ich zurückkam, bin
ich gemeinsam mit meinem Onkel zur Polizei gegangen, um die Verletzungen zu
zeigen, welche sie mir angetan haben.
F.: Haben Sie sonst eine etwaige Hilfe in Ihrer Heimat in Anspruch genommen?
A.: Nein.
F: Welche Verletzungen hatten Sie?
A: Sie haben mich nackt mit einem Stock geschlagen. Sie haben mich ausgepeitscht.
Ich hatte Verletzungen auf der Haut. Nachgefragt: Sie haben uns überall getroffen,
aber am Meisten am Rücken.
F: Wie wurden Ihre Verletzungen versorgt?
A: Ich habe Salbe für die Wunden bekommen. Nachgefragt: Von meiner Mutter, sie
hat mir die Salbe gebracht.
F: Haben Sie jetzt noch Rückstände von Verletzungen?
A: Am Kiefer habe ich manchmal Schmerzen beim Kauen. Ansonsten nicht.
Nachgefragt: Ich wurde am Rücken verletzt.
Anmerkung: AW zeigt den Rücken. Es wurden keine Wunden/Narben erkannt.
F.: Wieso wurden gerade Sie von der Al-Shabaab bedroht und angegriffen?
A.: Ich war neu in diesem Ort, deshalb haben sie mich angesprochen und für einen
Spion gehalten.
F.: Wie oft kam es zu diesen Angriffen auf Ihre Person?
A.: Persönlich war es das erste Mal. Nachgefragt: Es war das einzige Mal.
F.: Wann wurden Sie von der Al-Shabaab entführt?
A.: Das war römisch 40 . Nachgefragt: Ich weiß, dass es Anfang römisch 40 war, den Tag kann
ich nicht sagen. Die 14 Tage Entführung weiß ich, aber mehr weiß ich nicht.
F.: Wo wurden Sie gefangen gehalten?
A.: Sie haben mich 2 Mal gefahren, ich weiß nicht wo dieser Ort ist.
F: Sie sind doch geflohen, weshalb können sie den Ort nicht rückverfolgen?
A: Ich kann mich nur an die Zeit erinnern, wie lange wir unterwegs waren, 1 Stunde zu
Fuß und 2 Stunden mit dem Traktor.
F: Haben Sie die Familie, welche sie nach der Flucht aufgenommen hat, nicht gefragt
wo Sie jetzt sind?
A: Nein, sie hatten selbst Vorbehalt. Sie hatten Angst, dass sie selbst Probleme
bekommen könnten. Wir haben uns gegenseitig nicht viel gefragt. Sie gaben und eine
Schlafmöglichkeit und sind in der Früh weggegangen.
F.: Gab es Mitgefangene?
A.: Ja, drei Jugendliche. Nachgefragt: Sie hießen römisch 40
römisch 40 begleitete mich am Schluss.
F: Woher ist römisch 40 ?
A: Alle drei waren aus römisch 40 .
F.: Beschreiben Sie den Alltag während Ihrer Gefangenschaft!
A.: Wir waren immer dort eingesperrt. Wir haben einen Kübel erhalten und als Toilette
verwendet. Zu Mittag haben wir Brot und Wasser bekommen. In der Nacht haben wir
auch Brot bekommen.
F.: Beschreiben Sie den Raum, in dem Sie gefangen gehalten wurden!
A.: Der Raum hatte ein Fenster, gegenüber der Tür. Der Raum ist dunkel und wir
hatten kein Licht. Am Boden hatten wir Sali (traditioneller Teppich). Das war alles.
F: Wie groß war das Fenster?
A: Das Fenster war quadratisch. Ca. 40x 40cm. Nachgefragt: das Fenster wird von
innen geöffnet. Normalerweise, waren viele Männer draußen. an diesem Tag sind viele
Autos mit verletzten Soldaten gekommen.
F: War das Fenster versperrbar?
A: Wir konnten das Fenster ganz normal von innen aufmachen.
F.: Beschreiben Sie, was Sie für die Al-Shabaab tun hätten sollen.
A.: Wir sollten das Land und die Religion vor der Regierung verteidigen.
F.: Beschreiben Sie genau Ihre Flucht, wann war diese?
A.: Als viele Autos mit verletzten Soldaten kamen, sind alle in eine Richtung zu den
Verletzten gegangen. Da erkannten wir unsere Chance und ergriffen die Flucht.
Nachgefragt: Sie bemerkten dies und sind uns nachgefolgt und wir konnten uns
verstecken. Auf uns wurde nicht geschossen. Ich glaube sie haben uns nicht gesehen.
Aber wir sahen, dass sie und folgten.
F.: Wie geht es jetzt Ihrer Familie in der Heimat? Ist sie von Sanktionen durch die Al-
Shabab wegen Ihrer Flucht betroffen?
A.: Ich weiß nur, dass sie zu meiner Familie gesagt haben, dass sie mich umbringen.
Nachgefragt: Meine Familie hat bis jetzt kein Problem zuhause.
F.: Somalia ist ein großes Land. Es ist ca. 7,5Mal so groß wie Österreich. Haben Sie nie
darüber nachgedacht, in einem anderen Teil Ihrer Heimat, zum Beispiel Puntland, neu
anzufangen?
A.: Nein, AS ist überall.
F.: Wieso nicht?
A.: Es sind viele AS in Mogadischu. Nachgefragt: Ich hatte keinen Kontakt mit AS in
Mogadischu.
F: Ich beende jetzt die Befragung. Hatten Sie Gelegenheit alles vorzubringen, was
Ihnen wichtig erscheint? Wollen Sie noch etwas hinzufügen?
A: Ja.
F: Haben Sie den Dolmetscher während der gesamten Einvernahme einwandfrei
verstanden?
A: Ja
F: Es wird Ihnen nunmehr die Niederschrift rückübersetzt und Sie haben danach die
Möglichkeit noch etwas richtig zu stellen oder hinzuzufügen.
Anmerkung: Die Niederschrift wird wortwörtlich rückübersetzt.
F: Wurde Ihre Einvernahme richtig und vollständig protokolliert? Falls nein, welche
Einwände haben Sie?
A: Ja
(…)“
3. Mit Bescheid des Bundesamtes vom römisch 40 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch eins.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.) und gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.). Die Abschiebung nach Somalia wurde gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG für zulässig erklärt (Spruchpunkt römisch fünf.) und gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt römisch VI.).
Begründend wurde zu Spruchpunkt römisch eins. im Wesentlichen ausgeführt, es habe nicht festgestellt werden können, dass der BF in Somalia einer Verfolgung durch Al Shabaab unterliege. Aus näher dargelegten Gründen gehe das Bundesamt nicht von einer glaubwürdigen Darstellung in Bezug auf sein Fluchtvorbringen aus. Es bestehe vielmehr der Eindruck, dass es sich bei seinem Vorbringen nicht um tatsächlich erlebte Ereignisse, sondern vielmehr um ein auf die Erlangung von Asyl ausgerichtetes Konstrukt handle. Auch aus dem sonstigen Ergebnis des Ermittlungsverfahrens hätten sich bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise auf das Vorliegen eines Sachverhaltes ergeben, welcher zur Gewährung von Asyl führen würde, weshalb spruchgemäß zu entscheiden gewesen sei.
Zu Spruchpunkt römisch II. legte das Bundesamt dar, in seinem Fall liege eine relevante Gefährdungslage in Bezug auf seine unmittelbare Heimatregion, nicht aber Somalia allgemein, vor. Die Sicherheitslage sei in Mogadischu ausreichend sicher und er könne Mogadischu über einen internationalen Flughafen erreichen, ohne einer besonderen Gefährdung ausgesetzt zu sein. Er verfüge über eine sechsjährige Schulbildung und Berufserfahrung. Der BF sei wirtschaftlich genügend abgesichert und könne für seinen Unterhalt grundsätzlich sorgen. Er könne bei einer Rückkehr auch auf die Unterstützung der Familie und seines Clans zurückgreifen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er im Falle einer Rückkehr nach Somalia in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung begründete das Bundesamt damit, dass kein Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK im Bundesgebiet bestehe. Der BF habe nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des bloß vorübergehenden Aufenthaltsrechts des Asylverfahrens verfügt und sei in Österreich kaum integriert. Er verfüge über Bindungen zum Herkunftsstaat und sei mit der somalischen Kultur bestens vertraut. Seinen schwächer ausgeprägten privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt in Österreich würden die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen gegenüberstehen, welche im vorliegenden Fall schwerer wiegen würden als seine Interessen am Verbleib in Österreich. Eine Rückkehrentscheidung sei daher zulässig.
4. Mit fristgerechter Beschwerde vom römisch 40 wurde dieser Bescheid in vollem Umfang vom BF im Wege seiner Vertretung angefochten. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der BF sein Vorbringen ausführlich und widerspruchsfrei erstattet habe und es nicht nachvollziehbar sei, dass das Bundesamt das Vorbringen als unglaubhaft erachte. Den beweiswürdigenden Erwägungen werde aus näher dargelegten Gründen entgegengetreten. Bei richtiger Beweiswürdigung hätte das Bundesamt von der Glaubhaftigkeit der zwangsweisen Rekrutierung durch Al Shabaab, der Entführung, Gefangennahme und Flucht ausgehen müssen. Ferner hätte berücksichtigt werden müssen, dass nach dem Länderinformationsblatt auch Deserteure von Al Shabaab gezielt angegriffen werden würden. Da Al Shabaab über die Kapazität verfüge, selbst in Mogadischu menschliche Ziele aufzuspüren, müsse dies umso mehr für alle anderen Gebiete in Süd-/Zentralsomalia gelten. Es sei zu prognostizieren, dass der BF, der sich der Aufforderung zur Mitarbeit bei Al Shabaab widersetzt habe und sich ihrer Gewalt entzogen habe, indem er aus Somalia geflohen sei, jedenfalls in deren Blickfeld geraten und im Fall einer Rückkehr sehr wahrscheinlich mit Bedrohungen bzw. Übergriffen zu rechnen haben werde. Es liege eine Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vor und es sei auch eine Anknüpfung an einen Konventionsgrund gegeben, weil der Grund für die Verfolgung des BF in der ihm zugeschriebenen oppositionellen politischen Gesinnung liege. Der BF könnte vor dieser Bedrohung nicht ausreichend staatlich geschützt werden, denn selbst in Mogadischu sei ein Deserteur nicht zwangsläufig sicher. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei im gegenständlichen Fall zu verneinen.
Aus den Länderfeststellungen gehe überdies hervor, dass die Grundversorgung Somalias in weiten Landesteilen nach wie vor nicht gewährleistet sei. Einem ecoi.net-Themendossier zu Somalia zur humanitären Lage vom 7. Mai 2021 zufolge werde es im September 2021 zu einer weit verbreiteten Krise (IPC-Stufe 3) kommen. Nach dem Länderreport 44 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge befinde sich Somalia in einer anhaltenden humanitären Krise und seit Anfang 2020 würden zudem Überschwemmungen, die Wüstenheuschreckenplage und die Covid-19-Pandemie zu einer Verschlechterung der humanitären Bedingungen führen. Die Wirtschaft befinde sich in einer schweren Rezession und zugleich seien die Preise für Grundnahrungsmittel und Rohstoffe aufgrund der Covid-19-Pandemie gestiegen, was zusätzlich Risiken für die Ernährungssicherheit biete. Die medizinische Grundversorgung sei in einem nur sehr begrenzten Umfang möglich. Aufgrund der desaströsen Versorgungslage hätte dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden müssen. In diesem Zusammenhang werde auf die aktuelle Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.09.2022, Zl. W189 2173327-2/6E, verwiesen, wonach selbst eine innerstaatliche Fluchtalternative, etwa in Mogadischu, nicht zumutbar sei.
5. Am römisch 40 langte die Beschwerdevorlage beim Bundesverwaltungsgericht ein.
6. Nachdem mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom römisch 40 Länderinformationen zu Somalia (Version 4 vom 27.07.2022) übermittelt worden waren, wurde in Vorbereitung der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in einer schriftlichen Stellungnahme vom römisch 40 zusammengefasst vorgebracht, in aktuellen Berichten werde die Situation in Mogadischu derzeit als „instabil“ und „unsicher“ beschrieben, Al Shabaab halte eine versteckte, aber für alle klar erkennbare Präsenz aufrecht. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 17.03.2023 (Version 5) gehe hervor, dass Al Shabaab dort indirekt die Kontrolle ausübe, nach wie vor in Mogadischu aktiv sei und keinesfalls davon ausgegangen werden könne, dass Al Shabaab keinen Zugriff mehr auf Personen in Mogadischu habe. Dem Länderinformationblatt zufolge bleibe Mogadischu ein Hotspot terroristischer Gewalt und auch im Bericht der EUAA von Februar 2023 werde aufgezeigt, dass Al Shabaab für viele Anschläge im Jahr 2022 im Süden Somalias verantwortlich gewesen sei. Die Herkunftsregion Lower Juba sei dem Länderinformationsblatt zufolge ebenso zum Teil von Al Shabaab kontrolliert, Al Shabaab kontrolliere vor allem die Hauptversorgungsrouten um Kismayo, auch wenn die Stadt selbst unter Kontrolle der Regierung und ATMIS stehe, und Al Shabaab führe nach wie vor auch Rekrutierungen in Mogadischu durch.
Laut UNHCR sei angesichts der derzeitigen Sicherheits-, Menschenrechts-, Wirtschafts- und humanitären Lage in Mogadischu eine IFA in der Stadt generell nicht möglich, sondern komme nur ausnahmsweise in Betracht. Bei der Volksgruppe der Sheekhal (auch Sheikal), welcher der BF angehöre, handle es sich laut Anfragebeantwortung vom 08.01.2018 um eine Minderheit und auch aus dem Bericht der EUAA von Juli 2021 gehe hervor, dass die Volksgruppe der Sheikhal in Mogadischu präsent sei, jedoch keine Mehrheit darstelle. Der BF könnte laut dem Länderinformationblatt auch keine ausreichende rückkehrspezifische Unterstützung als Rückkehrer nach Somalia erhalten und müsste sich deshalb in ein IDP-Lager begeben, welche von der humanitären Krise besonders hart betroffen seien. Der BF hätte sohin in Mogadischu keinen Zugang zur Unterstützung durch einen Mehrheitsclan und daher auch keinen Zugang zu den von UNHCR vorausgesetzten Ressourcen. Darüber hinaus habe der BF keinen Kontakt mehr zu seinen Familienangehörigen, die dauernde Pflege der Kontakte sei den Länderberichten zufolge jedoch unabdingbar, um effektive Unterstützung durch die Familienangehörigen zu erhalten. Bei einer Rückkehr würde er daher keine Hilfe vorfinden.
Laut einem Bericht von UNOCHA habe sich die Ernährungsunsicherheit in Somalia seit Anfang 2022 drastisch verschlechtert und ein aktueller IPC-Bericht vom 13.12.2022 spreche von einem „unprecedented level of need“. Zwischen April und Juni 2023 würden voraussichtlich 8,3 Millionen Menschen in ganz Somalia von einer Krise (IPC-Phase 3) oder noch schlimmerer Ernährungsunsicherheit betroffen sein, für die Binnenvertriebenen in Mogadischu werde sogar eine Hungersnot (IPC-Phase 5) prognostiziert. Aus dem Länderinformationsblatt gehe hervor, dass die Herkunftsregion des BF mittlerweile ein als IPC-Phase 2 eingestuftes Gebiet sei, dennoch zeige die Prognose für 2023 ein düsteres Bild. Die Situation sei schlimmer als zur Hungersnot in den Jahren 2010/11, wie im Länderinformationsblatt zur humanitären Lage festgehalten und aufgezeigt werde.
Aus den genannten Gründen bestehe keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative für den BF und sei aufgrund der asylrelevanten Verfolgung der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. In eventu sei subsidiärer Schutz zu gewähren, diesbezüglich werde auf die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.08.2022, Zl. W261 2250899-1, und vom 23.02.2023, Zl. W105 2249923-1, verwiesen. Vor dem Hintergrund, dass die Heimatregion des BF als IPC-Phase 2 eingestuft sei und er außerhalb seines Herkunftsortes keine Anknüpfungspunkte habe bzw. zu niemandem Kontakt pflege und in einem IDP-Lager Unterkunft suchen müsste, könne ihm eine Rückkehr angesichts der schlechten Ernährungssituation in den IDP-Lagern nicht zugemutet werden. Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative könne aufgrund der in Mogadischu drohenden und bestehenden Hungersnot nicht angenommen werden. Demnach würden aufgrund der schlechten Versorgungslage die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gegenwärtig vorliegen.
Zum Beweis seiner fortschreitenden Integration lege der BF eine Kursanmeldungsbestätigung vom Verein römisch 40 vom römisch 40 und ein Empfehlungsschreiben des Österreichischen römisch 40 vom römisch 40 vor.
7. Am römisch 40 erfolgte unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Somalisch sowie in Anwesenheit der Rechtsvertretung des BF eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Die Verhandlung nahm im Wesentlichen folgenden Verlauf:
„(…)
R: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Somali.
R an den Dolmetscher: In welcher Sprache übersetzen Sie für den Beschwerdeführer?
D: In Somali.
R befragt den Beschwerdeführer, ob er den Dolmetscher gut verstehe, dies wird bejaht.
BF: Ja.
R befragt den Beschwerdeführer, ob dieser geistig und körperlich in der Lage ist der heutigen Verhandlung zu folgen bzw. ob irgendwelche Hindernisgründe vorliegen. Nun wird der Beschwerdeführer befragt, ob er gesund ist oder ob bei ihm (Krankheiten) und /oder Leiden vorliegen. Diese Fragen werden vom Beschwerdeführer dahingehend beantwortet, dass keine Hindernisgründe oder chronische Krankheiten und Leiden vorliegen. Der Beschwerdeführer ist in der Lage der Verhandlung in vollem Umfang zu folgen.
BF: Es geht mir gesundheitlich sehr gut. Ich nehme keine Medikamente.
Dem Beschwerdeführer wird dargelegt, dass er am Verfahren entsprechend mitzuwirken hat bzw. auf die Fragen wahrheitsgemäß zu antworten hat. Andernfalls dies sich entsprechend im Erkenntnis im Bundesverwaltungsgerichtes auswirken würde.
R: Haben Sie noch neue Beweismittel, die Sie beim BFA oder bzw. bei der Polizei noch nicht vorgelegt haben?
BF: Nein.
(…)
R: Wie ist Ihr Name? Wann und wo sind Sie geboren?
BF: Ich heiße römisch 40 , bin geboren am römisch 40 in Kismayo, in Somalia.
R: Sind Sie bei der Behörde unter einen anderen Namen aufgetaucht?
BF: Nein, das ist mein einziger Name.
R: Haben Sie schon in einem anderen Land einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt?
BF: In Griechenland habe ich einmal einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
R: Wie ist über diesen Antrag auf internationalen Schutz entschieden worden?
BF: Man hat mich dort nicht einvernommen. Dort war ich 1 Jahr und 3 Monate. Unterstützung habe ich nicht von der Behörde bekommen, dann habe ich mich entschlossen das Land zu verlassen.
R: Wurde über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden?
BF: Nein, man hat mich nicht einmal einvernommen.
R: Wurde darüber entschieden, auch wenn Sie nicht einvernommen wurden?
BF: Nein.
R: Sind die Angaben, die Sie beim BFA und bei der Polizei gemacht haben korrekt und halten Sie diese weiterhin aufrecht?
BF: Ja.
R: Wo haben Sie von Geburt an bis zu Ihrer Ausreise aus Somalia gelebt. Geben Sie bitte chronologisch an, an welchen Städten, Dörfern Sie in welchen Zeiträumen gelebt haben.
BF: Von meiner Geburt bis im römisch 40 lebte ich in Kismayo. Danach bin ich nach Mogadischu gefahren und ich war 1 Monat und 3 Tage in Mogadischu. Anschließend flog ich von dort weg.
R: Haben Sie in Kismayo von ihrer Geburt bis römisch 40 durchgehend gelebt?
BF: Ja, in unserem Haus habe ich gelebt.
R: Wenn Sie sagen in unserem Haus haben Sie gelebt, mit wem haben Sie zusammengelebt?
BF: Dort lebten meine Eltern und meine 5 Geschwister (3 Schwestern und 2 Brüder).
R: Wie alt sind ihre Brüder?
BF: römisch 40 ist im Jahr römisch 40 geboren. römisch 40 ist im Jahr römisch 40 geboren.
R: Wie geht es Ihren Familienangehörigen?
BF: Momentan habe ich keinen Kontakt zu meiner Familie. Im römisch 40 habe ich mit meiner Mutter gesprochen. Es ging ihnen damals mittelmäßig.
R: Wurde seither nochmals ein Gespräch geführt?
BF: Nein. Die Nummer, die ich hatte existierte nicht mehr.
R: Was war der Inhalt des letzten Gespräches mit ihrer Mutter im römisch 40 ?
BF: Wir haben uns gegenseitig Fragen gestellt. Ich fragte meine Mutter, wie es ihnen jetzt geht. Meine Mutter hat mir auch die gleiche Frage gestellt. Ich habe meine Mutter auch gefragt, nachdem ich das Land verlassen habe, ob sie Probleme wegen mir gehabt haben. Sie meinte, dass sie mehrmals zu ihr gekommen seien und nach mir gefragt hätten.
R: Haben Sie zwischenzeitig versucht wieder Kontakt mit ihren Eltern oder ihren Geschwistern aufzunehmen?
BF: Ja, ich habe es mehrmals versucht. Ein paar Nummern, die ich hatte, habe ich auch angerufen. Keiner konnte mir etwas sagen. Über Facebook habe ich meine Geschwister versucht zu erreichen, aber erfolglos.
R: Haben Sie versucht über ihren Clan bzw. Community Kontakt zu ihren Familienangehörigen herzustellen?
BF: Ja, ich habe alles versucht um den Kontakt mit meiner Familie wiederherzustellen.
R: Haben Sie versucht über das Rote Kreuz bzw. über den roten Halbmond Kontakt herzustellen?
BF: Nein.
R: Wie lange sind Sie jetzt in Österreich?
BF: Seit römisch 40 .
R: Wann sind Sie in Griechenland angekommen?
BF: Dort war ich seit römisch 40 .
R: Warum haben Sie sich nicht diesbezüglich an das rote Kreuz bzw. roten Halbmond gewandt?
BF: Das habe ich nicht gewusst.
R: Haben Sie für die Schleppung von Somalia nach Griechenland Geld zahlen müssen?
BF: Für die Schleppung von Somalia bis in die Türkei hat es mein Onkel bezahlt und von der Türkei bis nach Serbien war ich mit einer arabischen Gruppe unterwegs. Dafür musste ich nichts zahlen. Von Serbien bis nach Österreich habe ich dann 600 Euro bezahlt.
R: Wie viel Geld hat ihr Onkel dafür bezahlt?
BF: Das weiß ich nicht.
R: Am römisch 40 haben Sie in der Niederschrift vor dem BFA gesagt, dass ihr Onkel 2000 USD gezahlt hätte. Heute sagen Sie, Sie wissen nicht, wie viel Ihr Onkel bezahlt hätte.
BF: Nein, beim BFA habe ich auch diese Antwort angegeben.
R: Woher hatte ihr Onkel Geld gehabt, dass er überhaupt bezahlen konnte?
BF: Ich weiß es nicht. Ich konnte meinem Onkel diese Frage nicht stellen.
R: Welchen Beruf übt ihr Onkel vs aus?
BF: Er besitzt ein großes Lebensmittelgeschäft.
R: Wo?
BF: In Kismayo.
R: Wie viel Brüder hat ihr Vater?
BF: Mein Vater hat nur einen einzigen Bruder und eine einzige Schwester.
R: Wie viele Geschwister hat ihre Mutter?
BF: Sie hatte eine einzige Schwester, diese ist verstorben und einen Bruder, der hat in Kismayo gelebt.
R: Lebt er noch?
BF: Ja.
R: Hat er auch noch in Kismayo gelebt?
BF: Zuletzt hat er in Kismayo gelebt.
R: Wie hat der Onkel ms seinen Lebensunterhalt bestritten?
BF: Er arbeitete als Träger. Er hat Waren getragen (wie Obst und Gemüse).
R: Welche Schul- und Berufsausbildung haben Sie selbst?
BF: Ich habe in Somalia nur 6 Jahre Koranschule besucht. Dort habe ich gelernt, wie man somalisch schreiben und lesen lernt. Bei der Einvernahme beim BFA protokollierte man, dass ich jeweils 6 Jahre die GS und 6 Jahre die Koranschule besucht habe. Das stimmt jedoch nicht.
R: Wie bestreitet ihr Vater seinen Lebensunterhalt in Somalia?
BF: Er verkaufte Semmeln.
R: Woher hat er diese Semmeln gehabt?
BF: Von einer Bäckerei hat er diese bekommen.
R: Ist er in der Gegend herumgefahren und hat die Semmeln verkauft?
BF: In der Früh bekommt er die Semmeln und mein Vater ist dann mit den Semmeln herumgegangen. Am Abend hat er die Reste von den Semmeln gebracht und von den Semmeln, die er verkauft hat, hat er Geld bekommen.
R: Wie haben Sie ihren Lebensunterhalt bestritten bzw. wie haben Sie zu dem Lebensunterhalt ihrer Familie beigetragen?
BF: Ich habe nie gearbeitet, aber ich habe meinem Vater ab und zu bei der Arbeit geholfen.
R: Gehen Sie in Österreich einer Arbeit nach?
BF: Nein, ich habe mehrmals versucht eine Arbeitsstelle zu bekommen, aber es ist nicht gegangen.
R: Haben Sie sich um eine Arbeitsstelle als Saisonnier oder Schausteller beworben?
BF: Nein. Ich war bei römisch 40 und sie meinten, sie würden mich anstellen, wenn sie eine freie Stelle haben würden.
R: Schicken Sie Geld nach Somalia?
BF: Nein.
R: Haben Sie Verwandte in Österreich?
BF: Nein.
R: Welchem Clan, Subclan und Subsubclan gehören Sie an?
BF: Ich gehöre dem Clan Sheikal, dem Subclan römisch 40 und dem Subsubclan römisch 40 an.
R: Sind Sie in Österreich in einem Verein oder einer Organisation Mitglied?
BF: Nein.
R (Frage auf Deutsch): Sprechen und verstehen Sie Deutsch?
BF (auf Deutsch): Nein.
R (Frage auf Deutsch): Haben Sie schon einen Deutschkurs besucht?
BF (auf Deutsch): Ich bin.
R (auf Somalisch): Haben Sie schon einen Deutschkurs besucht?
BF:(auf Somalisch): Ja, ich habe 1-2 Monate den Deutschkurs besucht auf A1 Niveau.
R (Frage auf Deutsch): Haben Sie den Deutschkurs abgeschlossen?
BF (auf Deutsch): Nein.
R (auf Somalisch): Fragewiederholung auf Somalisch.
BF: (auf Somalisch): Ja, ich habe eine Prüfung abgelegt, aber nicht bestanden.
R: Lernen Sie jetzt Deutsch?
BF: Jetzt nicht, aber ich habe schon einen Termin. Der Kurs beginnt erst im Mai.
R: Lernen Sie selbst aus Eigeninitiative Deutsch?
BF: Ab und zu schaue ich deutsche Filme.
R: Was würden Sie befürchten, wenn Sie nach Somalia zurückkehren müssten?
BF: Wegen den Al Shabaab habe ich das Land verlassen. Sie sind noch immer dort und ich habe Angst, von ihnen getötet zu werden.
R: Warum sollten Sie von der Al Shabaab getötet werden?
BF: Im römisch 40 starb meine Tante in der Stadt römisch 40 . Wir wollten sie begraben und die Stadt war in den Händen der Al Shabaab. Nachdem wir unsere Tante begraben haben, ging ich in ein Teelokal, um dort Tee zu trinken. Dann ist ein Mann zu mir gekommen, welcher ca. 40 Jahre alt war. Er kam zu mir und sagte, ich solle mit ihm mitkommen. In diesem Lokal war eine Verkäuferin und ich sagte zu ihr, ich kenne ihn nicht, wieso solle ich mitkommen. Wer ist dieser Mann.
R: Sie haben gesagt, Sie sind in die Stadt römisch 40 gegangen oder gefahren?
BF: Wir sind gefahren.
R: Wenn Sie sagen, wir sind gefahren. Wer ist noch aller mitgefahren?
BF: Von unserer Familie war ich alleine, aber in diesem Minibus waren noch viele andere Leute, die in diese Stadt fahren.
R: Warum sind ihre Eltern nicht mitgefahren, nachdem ihre Tante verstorben ist?
BF: Meine Mutter war krank und mein Vater konnte nicht hingehen, weil er arbeiten musste. Ich bin der älteste von den Kindern und musste daher hinfahren.
R: Wie weit ist dieses römisch 40 von ihrem Elternhaus entfernt?
BF: Genau weiß ich es nicht. Ich war das erste Mal in römisch 40 , aber von Kismayo bis dahin haben wir ca. 3-5 Stunden gebraucht.
R: Waren Sie in diesem Teehaus vor dem Begräbnis oder danach?
BF: Nach dem Begräbnis.
R: Wie spät war es da?
BF: Ca. 17 Uhr am Nachmittag.
R: Wer außer ihnen war noch in diesem Teehaus? Sie haben gesagt, die Verkäuferin und ein Mann.
BF: Ich war nicht alleine dort. Wir waren ca. 15 Personen in diesem Teehaus.
R: Können Sie sich vorstellen, warum dieser Mann ausgerechnet zu Ihnen gekommen ist?
BF: Das weiß ich nicht, aber ich war neu dort und keiner hat mich gekannt. Wahrscheinlich ist er deswegen zu mir gekommen.
R: Was wollte dieser Mann genau von ihnen?
BF: Nachdem er gesagt hat, ich sollte mit ihm mitkommen, ging ich mit. Wir sind dann hinter das Teehaus gegangen und er nahm eine Pistole heraus und forderte mich auf, auf die Knie zu gehen. Er fragte mich danach, woher ich herkommen würde. Daraufhin sagte ich, dass ich aus Kismayo stammen würde. Dann fragte er mich, ob ich für die Regierung arbeiten würde. Ich verneinte dies. Ich hatte so ein T-shirt getragen und er meinte ich solle dieses T-shirt ausziehen. Er hat dann meine Hände am Rücken gefesselt mit dem T-shirt.
R: Sie sind hinausgegangen mit diesem Mann. Wieso sind Sie mit diesem Mann hinausgegangen, wenn Sie ihn nicht gekannt haben?
BF: Nachdem ich die Teeverkäuferin gefragt habe, wer dieser Mann sei, sagte sie zu mir, ich solle mit ihm mitgehen. Es ist mir gleich eingefallen, er könnte nur Mitglied der Al Shabaab sein. Dann bin ich mit ihm mitgegangen.
R: Wieso ist ihnen eingefallen, dass er Mitglied der Al Shabaab sein könnte?
BF: Weil die Frau zu mir sagte, er sei Mitglied jener Personen, die diese Stadt regieren würden.
R: Wieso sind Sie dann gefolgt, nachdem dann auch noch 15 Personen in diesem Raum gewesen sind?
BF: Weil er mich aufforderte mitzukommen.
R: Haben Sie überlegt dieser Aufforderung nicht zu folgen?
BF: Am Anfang habe ich gesagt, ich will nicht mit ihm nach draußen kommen. Die Leute, die im Teehaus waren, haben geschaut und keiner hat mit mir gesprochen, außer der Teeverkäuferin, die behauptete, dass er Mitglied jener Leute sei, die diese Stadt regieren würden. Danach bin ich mit ihm mitgegangen.
R: Jetzt hat der Mann Sie das T-Shirt ausziehen lassen. Was hat der Mann genau von Ihnen gewollt?
BF: Nachdem er meine Hände am Rücken gefesselt hat, hat er auch einen Stoff gehabt, mit dem er meine Augen zugebunden hat.
R wiederholt die Frage.
BF: Ich weiß es nicht, was der Mann von mir wollte, aber die Frage, die er mir stellte, war, ob ich für die Regierung arbeiten würde und warum ich hierherkommen würde.
R: Haben Sie ihm das erklärt?
BF: Ich sagte, nein. Ich sagte ihm weiter, dass ich aus Kismayo sei, aber trotzdem hat er das nicht geglaubt.
R: Haben Sie ihm erklärt, warum Sie nach römisch 40 gekommen sind?
BF: Er hatte mir keine Chance gegeben, dass ich ihm gesagt hätte, das ich wegen dem Begräbnis hierhergekommen sei. Er sagte immer wieder, ich solle mit ihm mitkommen.
R: Warum sollten Sie mit ihm mitkommen?
BF: Das weiß ich nicht, aber er wollte mich wahrscheinlich an einen Ort bringen, wo uns niemand sehen würde.
R: Warum hätte er Sie an einen Ort bringen sollen, wo man Sie nicht sehen hätte sollen?
BF: Das weiß ich nicht. Ich habe ihn immer wieder gefragt, was er von mir wolle, aber darauf hat er nicht geantwortet.
R: Was haben Sie gemacht, nachdem er nicht darauf geantwortet hat?
BF: Ich konnte nichts machen, weil er bewaffnet gewesen ist.
R: Was heißt, Sie konnten nichts machen? Was haben Sie getan, was mussten Sie tun?
BF: Ich bin mit ihm mitgegangen und er hat mich hinter das Teelokal gebracht.
R: Haben Sie dort das Tshirt ausziehen müssen oder war das noch im Lokal?
BF: Ja, hinter diesem Teehaus.
R: Was ist dann weiter passiert?
BF: Nachdem er mir die Hände und die Augen zugebunden hat, hat er mich mitgenommen und wir gingen ein paar Schritte zu Fuß. Anschließend hat er mich in ein Auto einsteigen lassen. Ich weiß nicht, wer dieses Auto gefahren hat. Nach 2 Stunden hat er mich in einen Ort gebracht.
R: Sind Sie jetzt 2 Stunden gefahren oder haben Sie gewartet und sind dann 2 Stunden gefahren?
BF: Wir sind dann 2 Stunden mit dem Auto gefahren. Danach sind wir in einen unbekannten Ort gefahren, Als wir dort ankamen und aus dem Auto ausgestiegen sind, hat man mir die Augenbinde runtergenommen. Dort waren viele Al Shabaab Männer.
R: Woher wussten Sie, dass das Al Shabaab Männer gewesen sind?
BF: Dort wo wir angekommen sind, waren nicht nur Somalier, sondern auch ein paar Araber. Al Shabaab Mitglieder und Araber sind immer gemeinsam, sie arbeiten zusammen. Außerdem ist diese Stadt in der Hand der Al Shabaab.
R: Welche Stadt war das, wo Sie waren?
BF: Ich habe römisch 40 gemeint, aber wo sie mich hingebracht haben, war außerhalb von römisch 40 .
R: Haben Sie, als Sie nach römisch 40 gefahren sind, Vorkehrungen getroffen, nachdem Sie gewusst haben, dass dieses Gebiet bzw. Stadt in der Hand der Al Shabaab gewesen ist?
BF: Ja, das habe ich mir auch gedacht. Meine Eltern haben mir gesagt, ich solle auf mich aufpassen und nach dem Begräbnis solle ich so schnell wie möglich von dort nach Kismayo fahren, aber als ich an der Bushaltestelle gestanden bin und nach Kismayo fahren wollte, gab es keinen Bus. Der erste Bus wäre am nächsten Tag in der Früh gefahren. Dann wollte ich dort Tee trinken und zum Haus meiner verstorbenen Tante gehen.
R: Wer hat noch in dem Haus der verstorbenen Tante gewohnt?
BF: Meine Tante war verheiratet und hatte viele kleine Kinder.
R: Wer hat auf die vielen kleinen Kinder aufgepasst?
BF: Ihr Ehemann und die Geschwister von diesem Ehemann.
R: Wie weit war dieses Haus von dem Teehaus entfernt?
BF: Von diesem Haus bis zum Teehaus habe ich ca. 20 Minuten zu Fuß gebraucht.
R: Warum sind Sie eigentlich nicht gleich von der Bushaltestelle zu dem Haus ihrer Tante zurückgekehrt, nachdem Sie ja gewusst haben, dass diese Gegend römisch 40 gefährlich sein könnte und ihre Eltern Sie ja ausdrücklich gewarnt hatten?
BF: Das weiß ich nicht, aber ich wollte dort nur Tee trinken und dann wieder zum Haus der Tante kommen.
R: Konnten Sie sich an dem Ort, an dem Sie hingebracht worden sind, orientieren?
BF: Nein, das Camp kannte ich nicht. Dieses Camp lag in einem Wald.
R: Was haben Sie dann dort gemacht in diesem Camp?
BF: Dann ist ein Mann gekommen, der war Araber und kein Somali. Er fragte mich, ob ich hierhergekommen bin, um hier zu spionieren. Ich verneinte dies. Er meinte, wenn ich heute nicht die Wahrheit sagen würde, würde ich die Wahrheit morgen sagen. Dann haben sie meine Augen wieder zugebunden und sie brachten mich wieder in das Auto, mit dem wir zuvor gekommen waren. Von dort fuhren wir dann weiter weg. Nach ca. 1 Stunde kamen wir an einen Ort an. Wir stiegen aus dem Auto aus. Dann haben sie meine Augen und meine Hände befreit und mich in ein Zimmer gebracht. In diesem Zimmer waren 3 Männer, die ebenfalls entführt wurden. Dort waren wir ca. 14 Tage. Jede Nacht haben sie uns nach draußen gebracht und haben unsere Hände gefesselt und haben einen Kübel kaltes Wasser auf uns geschüttet. Ab und zu haben sie uns auch ausgepeitscht.
R: Sie haben gesagt, Sie waren in einem Zimmer. Ist dieses Zimmer bewacht gewesen?
BF: Ja, dort waren viele Al Shabaab Mitglieder.
R: Von wie vielen Al Shabaab Mitgliedern wurde dieses Zimmer bewacht?
BF: Das Zimmer hatte auch ein Fenster. Wenn man aus dem Fenster geschaut hat, waren viele Männer draußen. Sie stammten aus verschiedenen Nationen. Sie haben immer auf uns aufgepasst.
R: Von wie vielen Männern wurde das Zimmer bewacht?
BF: Genau kann ich es ihnen nicht sagen, aber immer wieder kamen Mitglieder der Al Shabaab zu uns.
R: Wenn Sie sagen, Sie können es nicht genau sagen, wie viele ungefähr?
BF: Ich weiß es nicht, aber das Zimmer, wo sie uns eingesperrt haben, waren rundherum Al Shabaab Mitglieder. Sie sind entweder miteinander gesessen und haben miteinander geredet. Wir konnten keine Bewegung machen.
R: Wenn Sie sagen, bei dem Zimmer waren rundherum Al Shabaab Mitglieder. Waren auf jeder Seite Fenster?
BF: Das Zimmer hatte nur ein einziges Fenster, aber wenn sie uns nach draußen gebracht haben, habe ich gesehen, dass sie rundherum gesessen sind.
R: Haben Sie vom Zimmer aus dem Fenster hinaussehen können?
BF: Ja, das Fenster gegenüber der Tür, sowie in diesem Verhandlungsaal. Wenn ich aufgestanden bin, habe ich gesehen, was draußen gewesen ist.
R: Sie haben beim BFA gesagt, auf die Aufforderung hin, diesen Raum zu beschreiben, indem Sie gefangen worden seien, dass der Raum ein Fenster gehabt habe, dieses sich gegenüber der Tür befunden habe. Der Raum dunkel gewesen sei und kein Licht im Raum gewesen sei. Was sagen Sie dazu?
BF: Ja, stimmt. Das war dunkel, aber am Tag war es nicht sehr dunkel, weil die Sonne draußen geschienen hat und auf dem Boden gab es einen Teppich und wir haben darauf geschlafen.
R: Haben Sie die anderen 3 Personen die in dem Zimmer waren, gekannt?
BF: Nein.
R: Warum sind diese 3 Personen dort angehalten worden?
BF: Sie haben gesagt, dass sie in die Stadt gekommen sind und sie wurden entführt.
R: Waren das 3 Personen die miteinander unterwegs waren oder waren das 3 Freunde?
BF: Ich habe diese Frage nicht gestellt, weil jeder Angst hatte.
R: Warum hatte jeder Angst, wenn jeder eine Frage untereinandergestellt hätte?
BF: Jeder hatte wirklich Angst. Was die Al Shabaab mit uns vorhatten, hatte ich nicht gewusst. Ob sie uns töten, ob sie uns freilassen würden.
R: Haben Sie mit diesen anderen 3 Personen jemals gesprochen?
BF: Ja, wir haben miteinander gesprochen, aber wir haben die gleiche Frage gestellt, die ich vorhin erwähnt habe.
R: Wie lange wurden Sie dort festgehalten mit diesen anderen 3 Personen?
BF: Die 3 waren vor mir dort, ich war 2 Wochen dort.
R: Was haben Sie in diesen 2 Wochen mit diesen Personen gesprochen?
BF: Wir haben uns gefragt, wann die Al Shabaab und ob sie uns freilassen werden und so weiter.
R: Hat es in den 14 Tagen über das hinaus eine Kommunikation mit den 3 Personen gegeben?
BF: Ja stimmt, 2 Wochen war ich mit ihnen zusammen in einem Zimmer und wir haben auch miteinander geredet. An alles kann ich mich nicht erinnern. Die wichtigsten Fragen waren, die ich bereits erwähnt habe. Wir haben uns gefragt, wie wir von dort entkommen könnten.
R: Woher sind die 3 Personen gekommen?
BF: Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube aus römisch 40 bzw. Umgebung.
R: Sie haben gesagt, Sie sind dann auch ab und zu von den Mitgliedern der Al Shabaab ab und zu geschlagen worden. Was heißt ab und zu?
BF: Meistens haben sie auf uns in der Nacht kaltes Wasser geschüttet und sie haben uns nach draußen gelassen. Manchmal haben sie uns ausgepeitscht.
R: Haben Sie davon Schmerzen davongetragen?
BF: Ja, davon habe ich auch Verletzungen davongetragen. Der Vorfall war vor 2 Jahren. Sie sind alle geheilt. Ich kann ihnen sie Ihnen am Rücken zeigen.
R: Sie sagten, Sie haben solche Verletzungen davongetragen. Haben Sie schlafen können?
BF: Nein, ich hatte Schmerzen gehabt. Solange ich die Schmerzen hatte, konnte ich nicht schlafen.
R: Sind die Verletzungen dort verarztet worden?
BF: Nein.
R: Waren die Wunden offen?
BF: Ja, aber sie wurden nicht behandelt.
R: Waren Sie dadurch in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt?
BF: Ja, wenn ich eine Bewegung gemacht habe, hat es Schmerzen verursacht. Wenn ich geschlafen habe, konnte ich nur auf der Seite schlafen.
R: Haben Sie sich bewegen können, wenn Sie nach draußen gebracht worden sind, nachdem man Sie ausgepeitscht hat?
BF: Sie haben mich mehrmals weitergeschlagen, obwohl ich die Narbe bzw. Striemen auf dem Rücken gehabt habe.
R: Hat man das, nachdem man Sie geschlagen hat, hinausgezogen oder haben Sie selbst hinausgehen können?
BF: Wenn sie zu dir kommen und sagen, du sollst nach draußen gehen, kann man nicht nein sagen, weil sie bewaffnet waren.
R: Konnten Sie noch hinausgehen?
BF: Wenn sie zu mir gekommen sind, waren es mindestens 4 Personen. 2 von ihnen haben eine Pistole angelegt und 2 von ihnen haben gesagt, komm, und haben mich gleichzeitig angegriffen und nach draußen gezerrt.
R: Wie oft sind Sie da von diesen Al Shabaab Mitgliedern in diesen 14 Tagen geschlagen worden?
BF: Alle 14 Tage.
R: Was heißt jetzt alle 14 Tage? Jeden Tag?
BF: Alle 24 Stunden einmal bin ich geschlagen worden.
R: Ist ihre Bewegungsfreiheit dadurch schlechter geworden? Hat sich dies verschlechtert?
BF: Ja, diese wurde schlechter. Mein T-Shirt, dass ich gehabt habe, war blutig.
R: Wenn Sie jeden Tag geschlagen worden sind, wurde das irgendwie behandelt in diesen 14 Tagen?
BF: Nein.
R: In welcher Höhe hat sich das Fenster in diesem Raum befunden?
BF: Wenn ich aufgestanden bin, ist das Fensterbrett mir bis zur Brusthöhe gestanden. Ich konnte nach draußen sehen.
R: Wie groß war das Fenster?
Der BF zeigt mit den Händen zwischen dem Verhandlungssaal von der Kante des Tisches am Verhandlungssaal wegzuzeigen.
R: War die Länge gleich wie die Breite oder war es unterschiedlich?
BF: zwischen Länge und Breite war nicht sehr viel Unterschied.
R: Wie viele Centimeter waren es ca?
BF: Ich kann es nicht genau sagen.
BF zeigt unterschiedliche Breite und Länge am Verhandlungstisch.
R: War dieses Fenster verschlossen?
BF: Ja, man kann es aber auf- und zusperren.
R: Wer hat den Schlüssel für dieses Fenster gehabt?
BF: Man braucht keinen Schlüssel. Wenn es kalt war, haben wir zugesperrt und wenn es heiß war, haben wir aufgesperrt.
R: Mit was haben Sie aufgesperrt?
BF: Im Zimmer hat es einen Rigel gegeben, den konnte man hin- und herschieben.
R: Das heißt, das Fenster war nicht zugesperrt?
BF: Nein.
R: Was wollten die Al Shabaab Mitglieder von ihnen?
BF: Sie dachten, dass ich für die Regierung spioniere, aber ich habe es jedes Mal verneint.
R: Haben Sie den Al Shabaab Mitgliedern irgendwelche Anhaltspunkte gegeben, dass Sie für die Regierung arbeiten würden?
BF: Nein, aber immer, wenn sie mich geschlagen haben, sagten sie mir, ich soll die Wahrheit sagen. Sie haben mir vorgeworfen, dass ich für die Regierung hierhergekommen wäre und für diese spionieren würde.
R: Wie haben Sie darauf geantwortet?
BF: Nein, ich bin nicht hierhergekommen, um zu spionieren. Ich bin wegen dem Begräbnis hierhergekommen.
R: Hat man Sie um den Namen ihrer verstorbenen Tante gefragt?
BF: Niemand hat mich gefragt.
R: Hat die Al Shabaab gewusst, dass Sie bei diesem Begräbnis waren?
BF: Nein, aber ich habe es ihnen gesagt, aber sie haben mir nicht geglaubt.
R: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat man Sie so lange festgehalten, bis Sie zugegeben hätten, dass Sie für die Regierung spionieren.
BF: Ja, aber man hat uns gefragt, ob wir mit ihnen zusammenarbeiten wollen.
R: Hat man Sie verdächtigt, dass Sie ein Spion sind oder nicht?
BF: Nachdem sie mich mehrmals geschlagen haben und mir mehrmals die Frage gestellt haben, ob ich für die Regierung arbeite und ich dies verneinte, ist ein Mann von Al Shabaab zu uns gekommen und stellte uns diese Frage, ob wir mit ihnen zusammenarbeiten würden.
R: Waren die Mitglieder der Al Shabaab dann überzeugt, dass Sie keine Spione gewesen sind?
BF: Das weiß ich nicht, aber ich glaube schon, dass sie mich nicht mehr verdächtigt haben.
R: Wieso sind Sie nicht länger als 14 Tage dort angehalten worden?
BF: Das weiß ich nicht. Ich habe immer die Wahrheit gesagt, dass ich nicht hierhergekommen bin, um zu spionieren.
R: Warum hat man Sie dann freigelassen?
BF: Sie haben uns nicht freigelassen. In der Nähe unserer Unterbringung hat es eine Auseinandersetzung zwischen der Al Shabaab und den Regierungstruppen gegeben. Alle Mitglieder der Al Shabaab mussten an diesem Kampf teilnehmen. Dort sind auch einige verletzte Mitglieder der Al Shabaab hingebracht worden. Nachdem wir die verletzten Mitglieder der Al Shabaab gesehen haben und alle Al Shabaab Mitglieder nervös und beschäftigt waren, haben wir uns entschlossen die Chance zu nützen und von dort zu flüchten. Durch das Fenster sind wir alle nach draußen gesprungen und geflohen.
R: Ist Ihnen das aufgrund Ihrer starken Beschränkung Ihrer Bewegungsfreiheit möglich gewesen?
BF: Ja, wir konnten das, weil es um Leben und Tod ging.
R: Beim BFA sagten Sie, dass Fenster war ca. 40x40 cm. Ist es Ihnen gelungen mit Ihren Verletzungen durch dieses Fenster durchzudringen?
BF: Ja, wenn es um Leben und Tod geht, macht man alles.
R: Wie Sie dann draußen waren, sind Sie von Al Shabaab Mitgliedern gesehen worden?
BF: Ja, ich habe viele Al Shabaab Mitglieder gesehen, aber die waren alle beschäftigt. Ich habe auch Schüsse gehört, während ich von dort weggelaufen bin.
R: Ist es dort noch zu Kampfhandlungen gekommen?
BF: Ja.
R: Wie Sie dann draußen waren, sind Sie von Al Shabaab Mitgliedern gesehen worden?
BF: Nein, sie haben uns nicht gesehen, aber ich habe sie gesehen.
R: Konnten Sie sich dort dann orientieren?
BF: Nein, ich habe mich dort nicht ausgekannt, aber wir sind in eine Richtung gelaufen. Nachdem wir länger gelaufen sind, haben wir ein Erdloch gesehen und dort mussten wir uns verstecken. Wir haben dort die Nacht verbracht. Am nächsten Tag war es ruhig und dann gingen wir weiter. Anschließend haben wir eine Nomadenfamilie gesehen und diese um Hilfe gebeten.
R: Sie sagten zuerst, Sie wurden von den Al Shabaab Mitgliedern nicht gesehen, aber ich habe sie gesehen. Wissen Sie, ob Ihnen wer gefolgt ist?
BF: Ich bin mir nicht sicher, aber während wir weggelaufen sind, hat man in unsere Richtung geschossen und die Schüsse waren immer in unserer Nähe.
R: Aus welcher Entfernung wurde auf Sie geschossen?
BF: Die Entfernung, wenn ich schätze, könnte ca. 2 km von uns entfernt gewesen sein.
R: Haben Sie diese Schüsse dann vom Hören her vermindert wahrgenommen, nachdem Sie sich weiter entfernt haben?
BF: Ja, aber mit der weiteren Entfernung waren die Schüsse weniger laut hörbar.
R: Wie haben Sie dann dort diese Nacht in diesem Erdloch verbracht?
BF: Wir sind in diesem Erdloch gestanden und haben nicht geschlafen.
R: Wann sind Sie dann wieder von diesem Erdloch weg weitergezogen?
BF: Wir sind in diesem Erdloch weiter geblieben, kurz bevor die Sonne aufgegangen ist. Es war noch etwas dunkel, dann gingen wir zu Fuß weiter. Nach ca. 3 Stunden haben wir diese Nomadenfamilie gesehen.
R: Wo hat sich diese Nomadenfamilie aufgehalten? Wie hat dieser Ort geheißen, wo sich diese aufgehalten hat?
BF: Diesen Ort kannte ich nicht, aber nachdem wir bei der Familie nachgefragt haben, haben sie uns gesagt, wie dieser Ort heißt. Ich habe die Familie gefragt, wie weit es von dort nach Kismayo ist.
R: Wie hat dieser Ort geheißen?
BF: Das ist ein kleines Dorf, aber ich kann mich an den Namen nicht mehr erinnern, aber dieses Dorf liegt in der Richtung auf dem Weg von römisch 40 bis Kismayo.
R: Wie sind Sie dann von dort nach Kismayo gelangt?
BF: Die Familie hat uns den Weg nach Kismayo gezeigt. Sie haben uns eine Straße, die durch diesen Ort durchgeht, gezeigt und wir mussten dieser Straße entlang folgen. Nachdem wir längere Zeit zu Fuß gegangen sind, haben wir einen Traktor gesehen. Wir haben den Fahrer gebeten uns mitzunehmen. Er hat uns nach unserem Clan gefragt. Nachdem wir ihm gesagt haben, hat er gesagt, „ok kommt mit, ich werde euch helfen“.
R: War er vom selben Clan?
BF: Das weiß ich nicht, wir haben ihn nicht gefragt.
R: Wie konnten Sie sicher gehen, dass es sich bei diesem Mann nicht um ein Al Shabaab Mitglied oder einen Sympathisanten handelt?
BF: Das war die einzige Möglichkeit, die wir hatten. Wir waren in einem mir unbekannten Ort und es war niemand anders dort.
R an BFV: Haben Sie Fragen an den BF?
BFV: Mit wem sind Sie gemeinsam geflohen?
BF: Sein Name war römisch 40 (phonetisch).
BFV: Kennen Sie die Namen der anderen Mitgefangenen?
BF: römisch 40 (beide phonetisch).
BFV: War das Zimmer bewacht?
BF: Ja.
R: Von wie viel Personen wurde das Zimmer bewacht?
BF: Wenn sie zu uns ins Zimmer hereingekommen sind, waren sie immer zwischen 3 und 4 Personen. Ich nehme an, dass diese 3-4 Personen das Zimmer bewacht haben.
BFV: Haben Sie die Größe des Fensters vor dem BFA konkret angegeben oder haben Sie die Größe des Fensters wie heute mit den Händen gezeigt?
BF: Vor dem BFA habe ich keine konkrete Maße gesagt, sondern geschätzt.
BFV: Wie war ihre finanzielle Lage ihrer Familie in Somalia?
BF: Sehr sehr schlecht. Manchmal haben wir etwas zu essen gehabt, manchmal nicht.
R: Hätte ihnen ihr Onkel, der die Reise von Somalia in die Türkei für Sie finanziert hat, unterstützen können?
BF: Nein, er hat uns nicht unterstützt.
R: Können Sie sich dann vorstellen, warum ihr Onkel die Reise von Somalia in die Türkei für Sie finanziert hat?
BF: Ich weiß es nicht, aber wahrscheinlich hat er mir dieses Mal geholfen, weil es um Leben und Tod geht.
BFV: Haben Sie noch Kontakt zu ihren Onkeln bzw. Tante?
BF: Nein.
BFV: Hatten Sie in der Vergangenheit zu ihnen ein gutes Verhältnis?
BF: Nein, ich habe sie nicht oft gesehen.
R: Wieso hat ihr Onkel dann die Reise von Somalia in die Türkei finanziert, wenn Sie kein gutes Verhältnis zu ihm gehabt haben?
BF: Mein Onkel hat mir geholfen, nachdem er gehört hat, dass ich von der Al Shabaab geflohen bin und sie mich immer noch suchen.
R: Von wem hat er das gehört, dass die Al Shabaab noch immer nach Ihnen suchen?
BF: Meine Mutter hat es ihm gesagt.
R: War ihre Mutter in Kontakt mit ihrem Onkel?
BF: Nein, oft nicht, aber wenn es um dringende Sachen geht, dann schon.
R: Hat Ihnen Ihr Onkel bei wichtigen Sachen geholfen bzw. Ihrer Familie geholfen?
BF: Nein, aber ich bin mir nicht sicher. Eines Tages war einer meiner Brüder sehr krank und in Somalia musste man für die ärztliche Behandlung zahlen. Ich glaube, er hat es einmal gemacht, aber ich bin mir nicht sicher.
BFV: Standen Sie vor diesem Vorfall mit Ihren Onkeln bzw. Tanten in Kontakt?
BF: Was meinen Sie damit genau?
R: Haben Sie vor dem Vorfall Kontakt gehalten zu Ihrer Tante bzw. Onkel? Hat es einen Austausch gegeben?
BF: Nein.
R: Warum nicht?
BF: Ich hatte nicht Kontakt zu ihnen. Manchmal hat meine Mutter oder mein Vater mit ihnen gesprochen.
R: Hat ihre Mutter oder ihr Vater wegen der Finanzierung der Flucht auch mit ihrem Onkel gesprochen?
BF: Das weiß ich nicht.
BFV: Keine weiteren Fragen.
BFV: Keine weiteren Fragen an den BF.
R: Wollen Sie eine Stellungnahme abgeben?
BFV: Es wird auf die Stellungnahme vom römisch 40 verwiesen.
(…)“
8. Mit Schreiben vom römisch 40 teilte die den BF vertretene BBU im Rahmen des dem BF eingeräumten Parteiengehörs im Wesentlichen mit, dass der BF im Falle einer Rückkehr in seinen Heimatstaat mit maßgbelicher Wahrscheinlichkeit von der Al Shabaab aufgespürt werden würde. Deserteure würden entsprechend den Ausführungen der EUAA Guidance Note zu Somalia von Al Shabaab bestraft werden, um ein schockierendes Beispiel für andere zu geben. Im aktuellen LIB würde es durchaus als möglich angesehen werden, dass den Verweigerern Al Shaabab mit der Exekution drohe und Desertuere öffentlich exekutiert werden würden. Aus dem aktuellen LIB vom 08.01.2024 gehe hervor, dass die Schwelle, um von der Al-Shabaab als politischer Gegner eingestuft zu werden, sehr gering liege.
Zum Zugang zu Arbeitsplätzen von Rückkehrern wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich Rückkehrer:innen selbst in Orten unter staatlicher Kontrolle, wie Mogadischu, Kismayo oder Baido, nicht auf staatliche Dienstleistungen verlassen könnten. Von zentraler Bedeutung bei einer Rückkehr sei das Vorhandensein familiärer Netzwerke und inwieweit diese auch während der Zeit im Ausland gepflegt bzw. deren Mitglieder in Somalia unterstützt worden seien.
Dem LIB zufolge könne der BF auch keine ausreichende rückkehrspezifische Unterstützung als Rückkehrer nach Somalia erhalten. Er müsse sich deshalb in ein IDPs Lager begeben, welche von der humanitären Krise besonders hart betroffen sein würden. Im Hinblick auf die Länderberichte müsse daher davon ausgegangen werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Somalia nicht mit der nötigen Wahrscheinlichkeit seinen notdürftigsten Lebensunterhalt erwirtschaften und dadurch für ihn in kürzester Zeit eine existenzbedrohende Lage entstehen könnte, zumal derzeit auch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass er in Somalia ausreichend finanziell oder in sonstiger Weise unterstützt werden würde.
Einen Bericht des UNHCR vom September 2022 zu Folge, habe dieser dazu ausgeführt, dass auf Grund der zu diesem Zeitpunkt geltenden Sicherheits-, und Menschrechtslage sowie der wirtschaftlichen und humanitären Situation in Mogadischu eine IFA als generell nicht zulässig halte. Auf Grund dieser Situation in Somalia, wo es auf Grund der vorherrschenden Dürre zu einer Hungersnot gekommen sei, würde der BF in eine ausweglose existenzbedrohende Lage geraten. Der BF könne weder in seinen Heimatort noch nach Mogadischu zurückkehren und müsste in einem IDP-Lager Unterkunft suchen.
Aus dem EUAA-Bericht Februar 2023 und EASO Country of Origin Information Report vom August 2023 würde sich ergeben, dass Al Shabaab über eine erkennbare Präsenz in Mogadischu verfügen würde.
Anhand der aktuellen Länderberichte zu Somalia könne kein Zweifel daran auskommen, dass die Sicherheitslage in Somalia, speziell auch in Mogadischu, katastrophal sei. Dem BF würde auf Grund der aktuellen katastrophalen Sicherheits-, und Versorgungslage sowie dem mangelnden sozialen Unterstützungsnetzwerk im Herkunftsstaat eine existentbedrohende Notalge im Fall der Rückkehr bestehen. Bei einer Rückkehr nach Somalia liege daher eine Gefährdung des Artikel 2 und 3 EMRK vor.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF
Der ledige und kinderlose BF ist somalischer Staatsangehöriger, gehört dem Clan der Sheikhal an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Somalisch. Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der BF stammt aus der Stadt Kismayo in der Region Lower Juba. Dort lebte er mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in einem Miethaus. Der Lebensunterhalt der Familie wurde von der Erwerbstätigkeit des Vaters des BF als Verkäufer bestritten. Der BF verfügt über eine sechsjährige Schulbildung und unterstützte seinen Vater ab und zu bei dessen Arbeit.
Die Eltern und Geschwistern des BF leben in der Stadt Kismayo. Ein Onkel väterlicherseits des BF besitzt ein großes Lebensmittelgeschäft in Kismayo. Ein Onkel mütterlicherseits lebte zuletzt in Kismayo und bestritt seinen Unterhalt als Träger von Waren. Es ist nicht glaubhaft, dass der BF derzeit keinen Kontakt mit seinen Eltern oder Geschwistern hat. Im Fall einer Rückkehr könnte der BF bei seinen Eltern Unterkunft nehmen und von seinen Eltern, Geschwistern und Onkeln Unterstützung erhalten.
1.2. Zum Verfahrensgang
Am römisch 40 stellte der BF einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom römisch 40 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch eins.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.) und gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.). Die Abschiebung nach Somalia wurde gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG für zulässig erklärt (Spruchpunkt römisch fünf.) und gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt römisch VI.).
1.3. Zum Privatleben des BF in Österreich
Es halten sich keine Familienangehörige oder Verwandte des BF im Bundesgebiet oder in der EU auf und es sind auch sonst keine engen sozialen Bindungen hervorgekommen.
Der BF bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und geht in Österreich keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach. Im Rahmen von Remunerationsprojekten arbeitete er bei Reinigungstätigkeiten und Aufräumarbeiten mit und er organisierte sich Arbeiten über Dienstleistungsschecks. Der BF unterstützte das BetreuerInnenteam im Asylquartier bei diversen Tätigkeiten wie etwa bei der Müllentsorgung. Vom römisch 40 besuchte er einen Deutschkurs für das Sprachniveau A1 und vom römisch 40 besuchte er einen weiteren Deutschkurs. Er ist nicht Mitglied in einem Verein, einer Organisation, einem Club oder dergleichen.
1.4. Zum Fluchtvorbringen des BF
Das Vorbringen des BF, dass er von Al Shabaab festgenommen, inhaftiert, misshandelt, als Spion verdächtigt, zur Zusammenarbeit aufgefordert und aus deren Lager geflüchtet wäre, ist nicht glaubhaft. Auch ist nicht glaubhaft, dass die Familie des BF von Al Shabaab bedroht worden wäre.
Es ist nicht wahrscheinlich, dass der BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab ausgesetzt wäre.
Es kann insgesamt nicht festgestellt werden, dass der BF im Herkunftsstaat aus politischen Gründen, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität oder wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe von staatlicher Seite oder von privaten Dritten verfolgt wird.
1.5. Zur Rückkehrmöglichkeit nach Somalia
Ferner steht nicht fest, dass dem BF im Fall einer Rückkehr in seine Heimatstadt Kismayo ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde oder er Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, nicht befriedigen zu können.
Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde, da er mit Blick auf sein Alter und seinen Gesundheitszustand keiner spezifischen Risikogruppe hinsichtlich dieser Krankheit angehört.
1.6. Zur COVID-19-Krankheit:
COVID-19 (coronavirus disease 2019 "Coronavirus-Krankheit 2019") ist eine durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachte Infektionskrankheit. Sie wurde erstmals 2019 in Metropole Wuhan (Provinz Hubei) beschrieben, entwickelte sich im Januar 2020 in der Volksrepublik China zur Epidemie und breitete sich schließlich zur weltweiten COVID-19-Pandemie aus. Die genaue Ausbruchsquelle ist derzeit noch unbekannt. Es wird angenommen, dass sich das Virus wie andere Erreger von Atemwegserkrankungen hauptsächlich durch Tröpfcheninfektion verbreitet vergleiche https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Uebertragbare-Krankheiten/Infektionskrankheiten-A-Z/Neuartiges-Coronavirus.html; Stand 22.02.2023).
SARS-CoV-2 Infektionen zeichnen sich vorrangig durch folgende Symptome aus: Fieber, Husten, Müdigkeit, Kurzatmigkeit und Atembeschwerden. Es kann auch zu Geruchs- und Geschmacksverlust, Durchfall und Erbrechen kommen. In schwereren Fällen kann die Infektion eine Lungenentzündung, ein schweres akutes Atemwegssyndrom, Nierenversagen und sogar den Tod verursachen. Es gibt auch milde Verlaufsformen (Symptome einer Erkältung) und Infektionen ohne Symptome. Ca. ¼ (bis zu einem Drittel) der Sars-CoV-2 Infektionen verlaufen asymptomatisch. […] Man geht derzeit bei SARS-CoV-2 von einer Sterblichkeit von ca. 0,3 Prozent aller infizierten Personen aus. Allerdings ist die Sterblichkeit von Land zu Land teilweise sehr unterschiedlich und variiert nach Altersgruppen. Bei unter 25-Jährigen liegt die Sterblichkeit bei fast null, bei 25 bis 50-Jährigen unter 0,1 % und bei über 65-Jährigen je nach Risikofaktoren zwischen 1 und 10 %, in Ausnahmefällen sogar noch höher. Weitere Risikofaktoren für einen schweren Verlauf sind Vorerkrankungen wie z.B. Diabetes und Krebs. Die Gefährlichkeit des Virus hängt zudem noch von der Variante und dem Immunschutz ab. vergleiche https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/faq-coronavirus/, Stand 01.03.2023).
Die Wahrscheinlichkeit von schweren Erkrankungen und Todesfällen steigt bei Personen über 60 Jahren und bei Personen mit definierten Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen, Krebs und Fettleibigkeit deutlich an. Diese Risikogruppen sind bis heute für die Mehrheit der schweren Erkrankungen und Todesfälle verantwortlich (s. www.who.int, health topics, coronavirus, Stand 29.12.2022).
1.7. Feststellungen zur allgemeinen Situation in Somalia
„(…)
COVID-19
Letzte Änderung: 14.03.2023
Mit Stand 1.1.2023 waren in Somalia insgesamt 27.300 Infektionen registriert worden. Zu diesem Zeitpunkt waren 12.757 aktive Fälle gemeldet (ACDC 1.1.2023). Bis 9.1.2023 sind im Land offiziellen Angaben zufolge 1.361 Menschen an COVID-19 verstorben (WHO 9.1.2023).
Mit Stand 22.12.2022 waren insgesamt 8.520.930 Impfungen verabreicht worden, 6.324.409 Menschen waren voll immunisiert (WHO 9.1.2023). Allerdings zögern viele Menschen, sich impfen zu lassen (AI 18.8.2021, Sitzung 18; vergleiche WB 6.2021, Sitzung 20). U. a. lässt das durch fehlende öffentliche Informationen befeuerte, mangelnde Bewusstsein der Öffentlichkeit hinsichtlich COVID-19 viele Menschen zögern, sich impfen zu lassen; dies gilt sogar für medizinisches Personal (AI 29.3.2022). Andere Gründe für die geringe Durchimpfung sind: eine niedrige Zahl an Neuinfektionen; die nicht vorhersagbare Verfügbarkeit von Impfstoffen; die geringe Haltbarkeit der Impfstoffe; und der mangelnde Zugang zu Impfzentren aufgrund von Unsicherheit oder geografischer Entfernung (UNOCHA 12.4.2022). Im August 2022 hat Somalia rund 1,6 Millionen Dosen an Impfstoff von Schweden und Tschechien erhalten (FTL 31.8.2022). Die USA haben Somalia im Mai (USEMB 25.5.2022) und im Juli 2022 mehrere Hunderttausend Dosen COVID-19-Impfstoff gespendet (Sonna 28.7.2022).
Der Umgang der somalischen Regierung mit der COVID-19-Pandemie war und ist völlig inadäquat. Die tatsächliche Zahl an COVID-19-Fällen und -Toten ist vermutlich höher als die offiziellen Zahlen darstellen (AI 18.8.2021, Sitzung 5; vergleiche AI 29.3.2022). So liegt die Zahl an COVID-19-Toten im Zeitraum März bis September 2020 gemäß einer Studie mindestens 32-mal höher als offiziell angegeben. Während die von der Regierung angegebene Zahl bei 99 liegt, schätzen Experten die Zahl an Toten auf 3.200-11.800. Die Regierung zählt üblicherweise nur jene Toten, die an COVID-19 in medizinischen Einrichtungen verstorben sind. Außerhalb davon gab und gibt es in Somalia kein System für eine Registrierung von Todesfällen (VOA 19.10.2021). Auch insgesamt sind bei den Infektionen nur jene Fälle registriert worden, wo es Erkrankte überhaupt bis zu einer Gesundheitseinrichtung geschafft haben und dort dann auch tatsächlich getestet wurden. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs – viele mehr sind zu Hause gestorben (AI 18.8.2021, Sitzung 14).
Problematisch sind die - auch weiterhin - extrem geringen Testkapazitäten (UNFPA 5.2022), das mit COVID-19 verbundene Stigma, das geringe Vertrauen in Gesundheitseinrichtungen sowie teils auch die Leugnung von COVID-19 (UC 13.6.2021, Sitzung 9). COVID-19 wurde (und wird) von Falschinformationen und einem Stigma begleitet. So wurden z. B. Menschen, die Maske tragen, als infiziert oder sogar als gottlos erachtet, Abstandsregeln als kulturell inakzeptabel und unhöflich empfunden. Es wurde versucht, diesen Stigmata mit Aufklärungsarbeit entgegenzuwirken (BBC 2.2022).
Testungen sind v. a. auf Städte beschränkt (UC 13.6.2021, Sitzung 2). Viele Infektionen werden wegen der geringen Testkapazitäten nicht erkannt (UNFPA 5.2022).
Humanitäre Partner hatten schon im April 2020 für einen Plan zur Eindämmung von COVID-19 insgesamt 256 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt (UNSC 13.11.2020, Absatz 51,). Anfangs gab es nur ein speziell für COVID-19-Patienten zugewiesenes Hospital, das Martino Hospital in Mogadischu. Dieses ist allerdings unterbesetzt und schlecht ausgerüstet; von 150 Betten verfügten im Feber 2021 nur 11 über ein Beatmungsgerät und Sauerstoffversorgung (Sahan 25.2.2021c). Viele COVID-19-Patienten sind in Spitälern aus Mangel an Sauerstoffversorgung oder wegen eines Stromausfalls gestorben (AI 18.8.2021, Sitzung 13f). Es gibt so gut wie keine präventiven Maßnahmen und Einrichtungen. Menschen, die an COVID-19 erkranken, bleibt der Ausweg in ein Privathospital – wenn sie sich das leisten können (Sahan 25.2.2021c). Die Situation war derart ernst, dass sich Akteure aus dem privaten Sektor engagiert und zusätzliche COVID-19-Kapazitäten geschaffen haben (AI 18.8.2021, Sitzung 14). Ab August 2021 gab es in Mogadischu schon drei Krankenhäuser, wo COVID-19-Patienten versorgt werden konnten (AI 29.3.2022). Der türkische Rote Halbmond hat Somalia im Feber 2021 weitere zehn Beatmungsgeräte zukommen lassen (AAG 26.2.2021). Im März 2021 spendete die Dahabshil Group dem Staat Sauerstoffverdichter, mit denen insgesamt 250 Patienten versorgt werden können. Die Firma übernimmt auch die technische Instandhaltung (Sahan 11.3.2021). Ende September 2021 wurde in Mogadischu die erste öffentliche Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff eröffnet. Diese wurde von der Hormuud Salaam Stiftung angekauft und gespendet. Der Sauerstoff wird an öffentlichen Spitälern in Mogadischu kostenlos zur Verfügung gestellt (Reuters 30.9.2021). Außerdem hat die EU gemeinsam mit der WHO dem Martino Hospital in Mogadischu eine eigene Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff geschenkt. Die Anlage wurde im März 2022 übergeben. Der Sauerstoff wird zur Behandlung von COVID-19 aber auch für andere Patienten verwendet. Zwei weitere solche Anlagen werden in Garoowe und Hargeysa installiert (EC/WHO 20.3.2022). Taiwan unterstützt Somaliland bei Testungen, Masken, Sauerstoffanlagen sowie mit Impfstoff (TRO 4.4.2022).
Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Die Mehrheit der Empfänger berichtete von Rückgängen von über 10 % (IPC 3.2021, Sitzung 2). Nach anderen Angaben erwies sich der Remissenfluss als resilient. Demnach haben sich die Überweisungen von 2,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 auf 2,8 Milliarden im Jahr 2020 erhöht. Die Überweisungen an Privathaushalte erhöhten sich von 1,3 auf 1,6 Milliarden (WB 6.2021, Sitzung 11f). In Somaliland sind die Remissen im Jahr 2020 jedenfalls gegenüber jenen im Jahr 2019 gestiegen (ISIR 1.3.2022).
Der Export von Vieh – der wichtigste Wirtschaftszweig – ist wegen der Pandemie zurückgegangen (ISIR 1.3.2022). 45 % der Kleinstunternehmen mussten schließen (UNSC 10.8.2021, Absatz 17,). Die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - haben sich verstärkt. Schätzungen zufolge mussten beim Ausbruch von COVID-19 21 % der Somali ihre Arbeit niederlegen; und das, obwohl nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnimmt. 78 % der Haushalte berichteten über einen Rückgang des Einkommens (WB 6.2021, Sitzung 23). Familien - und hier v. a. von Frauen geführte - spüren auch im Jahr 2022 die Auswirkungen der Pandemie - sei es durch Jobverlust oder den Verlust von Kaufkraft. Manche Unternehmen müssen Mitarbeiter entlassen, um die Folgen der Pandemie zu bewältigen; andere haben mit einem Minimum an Personal wieder den Betrieb aufgenommen (UNFPA 14.4.2022).
Geimpfte Reisende nach Süd-/Zentralsomalia und Somaliland müssen einen Impfnachweis mit sich führen und brauchen keinen Test vorzuweisen. Reisende mit COVID-19-Symptomen müssen sich in Mogadischu u.U. einem Antigen-Schnelltest unterziehen und müssen im Falle eines positiven Tests auf eigene Kosten in einem Hotel in Quarantäne. Nicht oder nicht vollständig geimpfte Reisende müssen ein negatives PCR-Testergebnis mitführen, das nicht mehr als 72 (Mogadischu) bzw. 96 (Hargeysa) Stunden alt ist. Ungeimpfte, die ohne negatives COVID-19-Testergebnis ankommen, müssen sich in Hargeysa für 14 Tage in Selbstquarantäne begeben. Auch in Mogadischu müssen im Falle eines positiven Antigentests auf eigene Kosten in Quarantäne (UKGOV 23.11.2022; vergleiche USEMB 11.10.2022). Nach neueren Angaben brauchen Ein- und Ausreisende in Somaliland ab Jänner 2023 keinen PCR-Test mehr vorzuweisen (RD 19.12.2022).
Die Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 wurden weitgehend gelockert bzw. aufgehoben (GW 19.4.2022).
(…)
Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten
Letzte Änderung: 03.01.2024
Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst - und in noch geringeren Teilen vom Islamischen Staat in Somalia - während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 1.12.2023).
Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind Hargeysa, Berbera, Burco, Garoowe und – in gewissem Maße – Dhusamareb sichere Städte. Alle anderen Städte variieren demnach von einem Grad zum anderen. Auch Kismayo selbst ist sicher, aber hin und wieder gibt es Anschläge. Bossaso ist im Allgemeinen sicher, es kommt dort aber zu gezielten Attentaten. Dies gilt auch für Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle sind Baidoa, Jowhar und Belet Weyne diesbezüglich innerhalb des Stadtgebietes wie Kismayo zu bewerten (BMLV 1.12.2023). Laut einer anderen Quelle sind alle Hauptstädte der Bundesstaaten relativ sicher (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).
(…)
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Letzte Änderung: 03.01.2024
Die Sicherheitslage bleibt volatil (BS 2022a), mit durchschnittlich 234 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat (Zeitraum Feber-Juni 2023). Insgesamt gab es im Zeitraum 8.2.-7.6.2023 935 Vorfälle, davon 355 mit terroristischem Hintergrund. Al Shabaab führt immer wieder komplexe Angriffe durch, so etwa am 19. und 22.4. in Bud Bud und Masagway (Galgaduud) und am 26.5. in Buulo Mareer (Lower Shabelle). U.a. bei Sprengstoffanschlägen kommen Menschen ums Leben oder werden verletzt (UNSC 15.6.2023). Weiterhin führt der Konflikt zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (ÖBN 11.2022). Im o.g. Zeitraum waren 11 % der davon Betroffenen Zivilisten. Die Zahl an terroristischen Vorfällen war im ersten Quartal 2023 überdurchschnittlich. Am meisten von Sprengsätzen betroffen waren in diesem Zeitraum Mogadischu/Benadir, Lower Shabelle, Hiiraan und Lower Juba. Mogadischu wird immer wieder auch von indirektem Feuer der al Shabaab getroffen (UNSC 15.6.2023). Im Zusammenhang mit der laufenden Offensive am meisten betroffen sind Middle Shabelle, Mudug, Galgaduud und Hiiraan (ACAPS 17.8.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023). Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt (ÖBN 11.2022), während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet (AA 15.5.2023).
In den vergangenen Jahren wurden Offensiven gegen al Shabaab durchgeführt, die sich zunächst aus militärischer Sicht als erfolgreich erwiesen haben. Anfängliche territoriale Erfolge bringen aber oft eine weitaus schwierigere Herausforderung mit sich: die Stabilisierung eroberter Gebiete. Das Versäumnis, befreite Gebiete wirksam zu stabilisieren, hat wiederholt zum Rückzug von Regierungskräften geführt. Und das Versäumnis, gespaltene Gemeinschaften zu versöhnen, hat dazu geführt, dass auch in Absenz von al Shabaab neue Konflikte entstehen konnten. So wurde al Shabaab etwa im Rahmen der Operation Badbaado in Lower Shabelle in den Jahren 2019–2020 aus mehreren Städten vertrieben. Drei Jahre danach kämpft die Bundesregierung aber immer noch darum, die befreiten Gebiete zu stabilisieren. Hilfsleistungen und staatliche Dienstleistungen bleiben unzureichend und oberflächlich (Sahan/SWT 4.8.2023). Generell hat es die Bundesregierung nach wie vor nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten (BMLV 1.12.2023). Ein Experte merkt allerdings an, dass sich sowohl die Verwaltung der Bundesregierung als auch die Bundesarmee verbessert haben, und dadurch bei der Bevölkerung der Widerstandswille gegen al Shabaab gewachsen ist (AQ21 11.2023).
ATMIS hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete (BS 2022a). Die somalische Regierung und ATMIS können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren (AA 20.10.2023).
Generell ist die Regierung nicht in der Lage für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS, aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen (BMLV 9.2.2023; vergleiche BS 2022a). Dabei wurde ATMIS im Juni 2023 um 2.000 Mann reduziert, die nächste Truppenreduktion um 3.000 Mann steht mit Ende Dezember 2023 an. Die Ausbildung neuer Soldaten für die Bundesarmee machte 2023 gute Fortschritte, es mussten aber auch hohe Verluste hingenommen werden. Das größte Problem derzeit ist neben der Truppenstärke die fehlende Ausrüstung (schwere Waffen, Luftkomponente, etc.) (BMLV 1.12.2023). Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist das Szenario, wonach al Shabaab bei einem Abzug von ATMIS das Land übernimmt, nicht mehr plausibel (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine weitere Quelle gibt an, dass die Bundeskräfte nach einem Abzug von ATMIS nicht kollabieren werden, und al Shabaab nicht nach Mogadischu zurückkehren wird (Think/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle erklärt, dass es für al Shabaab nun sehr schwer geworden ist, die Bundesregierung zu überrennen (AQ21 11.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass nur bei völligem Wegfall jeglicher externen Unterstützung der Fall eintreten könnte, dass die Bundesregierung zusammenbricht (BMLV 1.12.2023).
Macawiisley-Offensive: Gegen Ende der Amtsperiode von Ex-Präsident Farmaajo war al Shabaab stärker denn je (Bryden/TEL 8.11.2021). Insgesamt konnte die Gruppe unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS sogar Geländegewinne erzielen (HIPS 8.2.2022). Die Situation war lange Zeit statisch (THLSC 20.3.2023). Doch seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten im Mai 2022 und dem Beschluss der USA, wieder Truppen in Somalia zu stationieren, haben die militärischen Operationen gegen al Shabaab zugenommen (UNSC 10.10.2022). Die im August 2022 begonnene neue Offensive baut auf die gestiegene Unzufriedenheit bzw. Entfremdung der Lokalbevölkerung in einigen Gebieten Zentralsomalias mit al Shabaab. Die Gruppe hat lokale Clans genötigt, Buben zu übergeben, hat trotz der anhaltenden Dürre weiterhin Steuern eingetrieben, hat zu gewaltsamen Maßnahmen und Kollektivstrafen gegriffen (ICG 21.3.2023) und lokale Clans gezwungen, der Gruppe Frauen und Mädchen zuzuführen. Letztendlich hat sich al Shabaab im Zuge der Dürre als wenig hilfreich erwiesen (Sahan/SWT 23.9.2022).
Mehrere Subclans Zentralsomalias haben al Shabaab schon zuvor Widerstand geleistet (ICG 21.3.2023) - laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 bereits ab 2018 (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Manche Clans haben später aber Abkommen mit al Shabaab geschlossen, was zu einer Form der Koexistenz geführt hat. So wurde al Shabaab etwa bei den Hawiye / Habr Gedir / Saleban, die in Galmudug leben, toleriert. Aufgrund der politischen Streitigkeiten in Mogadischu konnte al Shabaab in Zentralsomalia expandieren. 2019 forderte die Gruppe junge männliche Rekruten. Dies war für die streng im Sufismus verankerten Saleban zuviel. Die Verweigerung der Rekrutierungen stieß eine Konfliktspirale an (ICG 21.3.2023), lokale (Clan-)Milizen, die Macawiisley, begannen eine Revolte gegen al Shabaab (Sahan/SWT 23.9.2022). Als Letztere den Hauptort der Saleban, Baxdo, im Juni 2022 angriff, töteten Saleban-Milizen schätzungsweise 70 Kämpfer der al Shabaab. Ein anderes Beispiel sind die Hawiye / Hawadle in Hiiraan, die nie gute Beziehungen zu al Shabaab hatten. Als Letztere 2021 die Straße von Belet Weyne nach Galmudug unterbrach, und Belet Weyne damit von mehreren Seiten abgeschnitten war, wuchs der Zorn der Lokalbevölkerung (ICG 21.3.2023). Die Unterdrückung der Hawadle und anderer Clans durch al Shabaab bildete also das Rückgrat der erfolgreichen Offensive (Sahan/SWT 13.9.2023).
Während vorherige Offensiven immer von ATMIS bzw. AMISOM geführt worden waren, handelte es sich dieses Mal um eine somalische Offensive. An der Spitze des Kampfes standen die Macawiisley. Sie kennen das Terrain und die Bevölkerung und sind motiviert für ihr eigenes Gebiet zu kämpfen (Economist 3.11.2022; vergleiche Sahan/SWT 4.8.2023, ICG 21.3.2023). Diese lokalen Milizen, die von den UN "community defence forces" genannt werden (UNSC 15.6.2023) und die sich v.a. aus Hawiye zusammensetzen, haben in ihrem Kampf gegen al Shabaab die Bundesregierung um Hilfe gerufen (Detsch/FP 23.8.2023). Nach anderen Angaben wurde die erfolgreiche Offensive der Clans von der Bundesregierung mehr oder weniger "gekapert" (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Die Bundesarmee bot und bietet den Macawiisley Aufklärung, Informationen und Versorgung, ATMIS und die USA sowie türkische Drohnen geben Luftunterstützung (Economist 3.11.2022; vergleiche ICG 21.3.2023, Researcher/STDOK/SEM 4.2023, IO-D/STDOK/SEM 4.2023); u.a. kamen auch die Spezialeinheiten Danaab und Gorgor zum Einsatz (IO-D/STDOK/SEM 4.2023).
Jedenfalls befand sich al Shabaab in der Defensive. Koordinierte Bundes- und regionale Kräfte eroberten zusammen mit den Macawiisley rasch Teile des von al Shabaab kontrollierten Territoriums, darunter mehrere Städte und wichtige Routen (Sahan/SWT 7.6.2023). Es konnten die größten territorialen Gewinne seit Mitte der 2010er-Jahre erzielt werden. Bundesarmee und lokale Milizen haben al Shabaab aus signifikanten Teilen Zentralsomalias vertrieben (ICG 21.3.2023; vergleiche Economist 3.11.2022, Sahan/SWT 13.9.2023). Die Offensive wird als größter Erfolg seit der vollständigen Einnahme von Mogadischu im Jahr 2011 erachtet (Detsch/FP 23.8.2023). Die Gebietsgewinne wurden in der ersten Phase der Offensive - bis etwa Jänner 2023 - erzielt. Al Shabaab wurde aus mehreren Gebieten in den Regionen Middle Shabelle, Hiiraan, Galgaduud und Mudug vertrieben und verlor die Kontrolle über mehrere strategische Städte wie die Hafenstadt Xaradheere (Mudug), Ceel Dheere, Adan Yabaal (BBC 15.6.2023; vergleiche ICG 21.3.2023), Galcad und Runirgod (Galgaduud und Middle Shabelle). Diese Städte wurden fast 15 Jahre lang von al Shabaab kontrolliert und leisteten einen erheblichen Beitrag zu ihren Finanzen (BBC 15.6.2023). Zudem verlor die Gruppe die Kontrolle über Orte wie Tedan, Rage Ceele, Gulane, Darusalaam und Mabah (Sahan/SWT 15.9.2023). Insgesamt hat die Bundesregierung mehr als 100 Orte einnehmen können (ACLED 15.9.2023) - insgesamt ein Drittel des Gebietes der Gruppe (VOA/Maruf 28.3.2023). Während früher vorwiegend Städte erobert wurden, hat man diesmal außerdem versucht, al Shabaab auch aus dem Zwischengelände zu vertreiben (BBC 15.6.2023). Die Möglichkeit dazu war durch die Teilnahme von Clanmilizen und Ältesten gegeben (Sahan/SWT 4.8.2023).
Die Gruppierung der al Shabaab in Galmudug und Hiiraan wurde von jener im Süden getrennt (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Zudem hält al Shabaab derzeit keine Räume oder Orte mehr an der Küste in Galmudug oder HirShabelle, allerdings wird diese auch nicht lückenlos von der Regierung kontrolliert (BMLV 1.12.2023). Trotzdem ist dies hinsichtlich von Waffenlieferungen aus dem Jemen und dem Iran von Bedeutung (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Durch die Gebietsgewinne seitens der Regierung wurde al Shabaab von lukrativen Handelsrouten abgedrängt (Economist 3.11.2022). Die Gruppe kann nun teilweise nicht mehr einfach aus dem ländlichen Raum heraus zu Hauptrouten vordringen und diese blockieren oder Konvois angreifen. Insgesamt wurde die Zahl an Angriffen reduziert: Al Shabaab selbst hat angegeben, im Zeitraum Oktober 2022 bis Jänner 2023 monatlich durchschnittlich 153 Anschläge und Angriffe durchgeführt zu haben; im Zeitraum Feber bis April 2023 waren es demnach hingegen durchschnittlich nur 104 (BBC 15.6.2023). Für den Zeitraum Juli-Oktober 2023 werden folgende Zahlen für Süd-/Zentralsomalia angegeben: 150 Gefechte und 60 Vorfälle mit Sprengstoff monatlich. Im November gab es aufgrund der Regenfälle einen merklichen Rückgang von 50 % (BMLV 1.12.2023).
Eine Darstellung der Offensive mit Stand 9.4.2023:
Rafal R./X 9.4.2023
Operation Black Lion (OBL): Die sogenannte Frontline States Task Force ist eine regionale Initiative von Nachbarstaaten Somalias. Diese ist mit ATMIS übereingekommen, die Zusammenarbeit im Kampf gegen al Shabaab zu verstärken (ATMIS 6.8.2023; vergleiche GO 9.8.2023). Am 1.2.2023 verkündeten der somalische Präsident und die sogenannten "Frontstaaten" (Kenia, Äthiopien, Dschibuti) eine Einigung zur Entsendung zusätzlicher Truppen dieser Länder. Damit hätte die von der Regierung geplante OBL unterstützt werden sollen (Sahan/SWT 3.7.2023; vergleiche UNSC 15.6.2023). Diese sollte sich auf Jubaland und insbesondere auf Middle Juba konzentrieren. In der Vergangenheit ging es maßgeblich um die Eindämmung von al Shabaab; im Raumen von OBL steht deren Vernichtung im Vordergrund (GO 9.8.2023; vergleiche Detsch/FP 23.8.2023). Al Shabaab soll so weit dezimiert bzw. ihr die relevanten finanziellen Pfründe ausgetrocknet werden, dass die Gruppe für Somalia und die Nachbarstaaten keine Gefahr mehr darstellt. Damit soll gleichzeitig der Abzug von ATMIS ermöglicht werden (ATMIS 6.8.2023; vergleiche IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Die Regierung versucht, für OBL ein gemeinsames Kommando von Bund und Bundesstaaten einzurichten (GN 28.8.2023).
Tatsächlich waren bis Anfang Juli 2023 hinsichtlich einer neuen Offensive kaum Fortschritte zu beobachten (Sahan/SWT 3.7.2023), die Frontlinie verblieb für Monate statisch (Sahan/STDOK/SEM 4.2023), "they took a break" (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Der tatsächliche Zeithorizont für künftige Offensiven ist ungewiss (BMLV 14.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 1.9.2023). Somalia hat sich diesbezüglich von den Nachbarstaaten abhängig gemacht (AQ21 11.2023). Es bleibt unklar, ob Kenia, Äthiopien und Dschibuti – wie im Jänner 2023 vereinbart – tatsächlich zusätzliche Truppen für eine nächste Phase der Offensive entsenden werden (GN 28.8.2023; vergleiche IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Dschibuti hat bereits erklärt, nur mit Material und Gerät unterstützen zu wollen. Kenia wird Truppen keinesfalls östlich des Juba einsetzen und nur mitmachen, wenn Äthiopien dies auch tut; Äthiopien wiederum kann aufgrund der internen Probleme u.U. gar keine Truppen freimachen (BMLV 14.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 1.9.2023). Zudem sind die Clans am Juba in Südsomalia weniger organisiert, schlechter bewaffnet und auch in geringerem Maße bereit, den Kampf gegen al Shabaab aufzunehmen (Detsch/FP 23.8.2023; vergleiche ICG 21.3.2023, Economist 3.11.2022). Viele dieser Clans befinden sich tendenziell auf der Seite von al Shabaab - wenn auch teils durch Nötigung (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). In diesem Sinne ist die Regionalregierung auch weitaus weniger bereit, die Clans im selben Maß zu bewaffnen, wie dies in HirShabelle oder Galmudug der Fall war (BMLV 1.12.2023). Die Kräfte im SWS sind zu schwach, um eine Offensive führen zu können. Ein Experte erklärt, dass eine neue Offensive bei gleichzeitigem Auffüllen von durch ATMIS geräumten Stützpunkten auf keinen Fall möglich sein wird. Neu aufgestellte Brigaden der Bundesarmee sind qualitativ nicht in der Lage, sich gegen al Shabaab zu verteidigen. Folglich kann OBL in Südsomalia erst stattfinden, wenn die Offensive in Zentralsomalia beendet und al Shabaab dort besiegt ist (BMLV 14.9.2023).
Trend: Nach den Erfolgen der Macawiisley-Offensive hat man es wieder nicht geschafft, erobertes Gebiet ausreichend abzusichern. Dort wo die Bundesarmee in Richtung neuer Ziele abgerückt ist, konnte al Shabaab teils schnell wieder an Einfluss gewinnen (Sahan 22.3.2023). Ein Grund dafür ist das Fehlen von Darawish-Kräften, die mit lokalen Gegebenheiten und der Lokalbevölkerung vertraut sind (Sahan 22.3.2023; vergleiche Sahan/SWT 9.8.2023, INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Generell stehen keine bzw. zu wenige leistungsfähige und verlässliche Truppen zur Verfügung, um diese Orte zu halten, wenn die Angriffstruppen weiterziehen (BMLV 1.12.2023). Die Macawiisley erfüllen eine wichtige Hilfsfunktion, man kann sich jedoch nicht darauf verlassen, dass sie als wirksame Haltetruppe in neu eroberten Gebieten dienen (Sahan/SWT 9.8.2023). Zudem könnten sie sich selbst zum Problem entwickeln: Sie sind schwer zu kontrollieren (IO-D/STDOK/SEM 4.2023) und können jahrelang schwelende Clankonflikte befeuern (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).
Gleichzeitig ist es kontraproduktiv, al Shabaab nur mit militärischer Gewalt zu bekämpfen, weil die Gruppe in vielen Bereichen als Pseudostaat agiert. Da al Shabaab nämlich Güter und Dienste zur Verfügung stellt, besteht nach Angriffen auf die Gruppe die Gefahr, dass lebenswichtige Hilfe und öffentliche Dienste gestört und dadurch vulnerable Gemeinschaften im Stich gelassen werden (Rollins/HIR 27.3.2023). Zudem kennen viele Menschen dort kein anderes System, als jenes von al Shabaab. Viele erachteten die Gruppe als Befreier. Sie haben so lange unter al Shabaab gelebt, dass es großer Anstrengungen bedarf, um die Gehirnwäsche rückgängig zu machen und eine Akzeptanz der neuen Verhältnisse zu erlangen. Doch das geschieht nicht automatisch, es braucht dafür die Zurverfügungstellung gewisser Dienste (DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Tatsächlich gibt es keine Kapazitäten, um die befreiten Gebiete zu administrieren (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023, Sahan/STDOK/SEM 4.2023), und man hat es versäumt, eine adäquate Verwaltung für neu eingenommene Gebiete vorzubereiten (AQ21 11.2023). Vor Ort gibt es entweder überhaupt keine Verwaltungsstrukturen mehr oder aber eine rudimentäre Verwaltung über die Clans (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Vielen Gemeinden, die "befreit" worden sind, werden keine sinnvollen grundlegenden Dienstleistungen zur Verfügung gestellt. Die Bundesarmee hat zwar eine Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln aufgebaut – dies aber zusätzlich zu ihrer bereits bestehenden Doppelfunktion, nämlich Gebiete zu räumen und zu halten (Sahan/SWT 9.8.2023). So geben mehrere Quellen der FFM Somalia 2023 an, dass das Hauptproblem der Offensive die Nachhaltigkeit ist (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche Researcher/STDOK/SEM 4.2023, UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023, DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Die neu befreiten Gebiete brauchen Stabilität (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die Menschen dort brauchen Rechtsstaatlichkeit, Wasser, Infrastruktur, medizinische Versorgung, Lehrer - zumindest all das, was zuvor von al Shabaab geboten worden ist (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023). Bei einem Vakuum und ohne funktionierende Verwaltung (Sahan/STDOK/SEM 4.2023) sowie einer Überdehnung der Regierungskräfte kann al Shabaab bald wieder Raum gewinnen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Doch auch bis etwas aufgebaut werden kann, müssen die Gebiete gehalten werden (DIPL-X/STDOK/SEM 4.2023).
Nach anderen Angaben tut die Regierung ihr bestes, um die Bevölkerung zumindest in einigen Gebieten mit Medikamenten und Nahrungsmittelhilfe zu versorgen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle hat die Regierung verstanden, dass sie nicht alleine mit militärischen Mitteln gewinnen kann (GO 25.8.2023). Sie stützt sich bei ihrer Offensive daher wesentlich auf Clans, um die Unterstützung lokaler Gemeinden zu mobilisieren (GO 25.8.2023; vergleiche ACAPS 17.8.2023). Zudem werden Gemeinden und Älteste eingebunden, und es wird versucht, grundlegende Dienste zur Verfügung zu stellen (GO 25.8.2023). So wurde etwa in Galmudug ein Programm zur Rehabilitierung von Schulen in neu eroberten Gebieten eingerichtet, die Städte Ceel Dheere, Galcad und Xaradheere stehen dabei im Fokus (Halqabsi 27.8.2023). In wichtigen Orten, wie Adan Yabaal (Middle Shabelle) und Maxaas (Hiiraan) gibt es Stabilisierungsmaßnahmen (z.B. Installation von Solarleuchten, Bau von Verwaltungsgebäuden), in anderen neu eingenommenen Gebieten, darunter Xaradheere und Ceel Dheere (Galgaduud), Verteilung von Hilfsgütern und Wassertransporte (UNSC 15.6.2023).
Die Beziehungen der Bundesregierung zu manchen im Kampf gegen al Shabaab erfolgreichen Clans (v.a. die Hawadle) haben sich aufgrund politischer Verwerfungen abgekühlt. Al Shabaab konnte daraus Vorteile ziehen und hat mit einigen Clanmilizen in HirShabelle und Galmudug Abkommen ausgehandelt. Während al Shabaab nun versucht, den einen Teil der Hawiye gegen die Bundesregierung zu mobilisieren (v.a. Habr Gedir Mohamud Hirab, Murusade und Abgal Wacaysle), versucht die Bundesregierung, den anderen Teil (z.B. Habr Gedir) gegen al Shabaab in Stellung zu bringen (ACLED 15.9.2023). Al Shabaab hat versucht sich anzupassen – etwa im Umgang mit der Lokalbevölkerung. Die Gruppe setzt nun mehr auf Anreize als auf Zwang und Erpressung. Bereits Ende Dezember 2022 wurde mit Teilen der Saleban ein neues Abkommen geschlossen (ICG 21.3.2023). Gleichzeitig schürt al Shabaab unter den Clans Angst, dass fremde Clanmilizen über sie herzufallen drohen. Diese Propaganda dient auch als Rekrutierungsmittel, z.B. bei den Murusade in Zentralsomalia (BMLV 14.9.2023). Spannungen in neu eroberten Gebieten haben teils zu Kampfhandlungen zwischen Clans geführt (AQ21 11.2023).
Dahingegen konnte auch der Präsident neue Clankräfte mobilisieren. Zudem haben sich mehrere Brigaden der Bundesarmee neu organisiert. Insgesamt steht eine äußerst komplexe Säuberungsoffensive in Zentralsomalia bevor, die durch die Gebietsverluste Ende August noch komplizierter geworden ist (Sahan/SWT 13.9.2023). Denn die Front der Offensive im südlichen Galmudug ist Ende August 2023 zusammengebrochen (Sahan/SWT 1.9.2023). Schon seit Anfang 2023 (Ende der ersten Phase der Offensive) mussten die Regierungstruppen erhebliche Rückschläge hinnehmen, dadurch wurde die zweite Phase der Offensive verzögert (Sahan/SWT 7.6.2023). Ein verheerender Angriff der al Shabaab auf Kräfte der Bundesarmee im Dorf Osweyne hat einen kaskadenartigen Rückzug der Armee aus mehreren strategisch relevanten Städten ausgelöst – darunter Bud Bud, Galcad und Wabxo. Auch aus Ceel Buur hat sich die Armee zurückgezogen, al Shabaab ist dort wieder eingezogen (Sahan/SWT 1.9.2023; vergleiche ACLED 15.9.2023) und hat die Kontrolle über Teile der verlorenen Gebiete wiedererlangt. Teils haben sich Sicherheitskräfte und Clanmilizen aus Angst vor Angriffen der al Shabaab zurückgezogen (ACLED 15.9.2023). Anderswo haben sich Clanmilizen aufgrund politischer Querelen zurückgezogen, etwa aus einigen Orten in Hiiraan (ACAPS 17.8.2023). Der Konkurrenzkampf zwischen den Clans um die Kontrolle über befreite Gebiete in Teilen von HirShabelle löste etwa wochenlange angespannte Auseinandersetzungen und in einigen Fällen tödliche Zusammenstöße aus. Viele befreite Gebiete sind mittlerweile wieder in einen Zustand der Halbanarchie zurückgekehrt, ohne dass eine klare Autorität erkennbar wäre. Dies hat die Armee überdehnt, und sie hat dadurch auch die Kontrolle über mehrere FOBs verloren (Sahan/SWT 9.8.2023).
Auch die FOBs von ATMIS haben bisher entscheidend zum Halten und zur Sicherung einiger von al Shabaab befreiter Gebiete beigetragen (Sahan/SWT 23.6.2023; vergleiche ACAPS 17.8.2023). ATMIS ist maßgeblich an der Kontrolle des Territoriums beteiligt. Zudem bietet die Mission Munition sowie medizinische und logistische Unterstützung. römisch fünf.a. in städtischen Gebieten fungiert ATMIS als Haltetruppe und ist für die Sicherheit der somalischen Führung und der Wirtschaftsquellen des Landes, einschließlich Häfen und Flughäfen, maßgeblich verantwortlich. Dahingegen konzentrieren sich die somalischen Sicherheitskräfte auf das Vordringen in weniger besiedelte Gebiete. ATMIS wird aber Stück für Stück reduziert. Ein fortgesetzter Abzug der Mission verringert die Fähigkeit der somalischen Kräfte, zurückeroberte Gebiete zu halten und zu kontrollieren. Bei einer Ausweitung der Offensive verringert sich diese Fähigkeit noch weiter, weil die Zahl der zu sichernden Standorte zunimmt. Daher ist mit einer Intensivierung der Angriffe durch al Shabaab zu rechnen (ACAPS 17.8.2023). Die Bundesarmee ist zunehmend überdehnt (Sahan/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Mit Ende September wäre ATMIS planmäßig um 3.000 Mann auf 14.626 reduziert worden (ATMIS 27.8.2023), sechs Stützpunkte wären davon betroffen gewesen (BMLV 1.12.2023). Am 19.9.2023 hat Somalia bei den UN allerdings eine 90-tägige vorübergehende "technische Pause" beim Abzug von ATMIS erbeten, damit Mogadischu sich von den jüngsten Rückschlägen auf dem Schlachtfeld erholen und sich neu organisieren kann (Sahan/SWT 25.9.2023). Dieser Aufschub ist gewährt worden. Demnach muss ATMIS bis Ende des Jahres 2023 3.000 Mann abziehen (BMLV 1.12.2023). Die entsprechende Finanzierung ist allerdings unklar (AQ21 11.2023).
Dementsprechend ist die Hoffnung, dass bald ein größerer Vorstoß in den Süden Somalias möglich sein würde, ist dadurch geschwunden (Sahan/SWT 1.9.2023). Es wird geschätzt, dass die Regierung in den letzten Monaten über 3.000 Soldaten verloren hat (Sahan/SWT 25.9.2023). Jedenfalls hat ein Mangel an Kräften der Regierung dazu geführt, dass sich al Shabaab in einigen der befreiten Gebiete wieder einrichtet, was wiederum Versuche, eine Zivilverwaltung und grundlegende Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, erschwert (Sahan/SWT 22.5.2023). Zudem hat al Shabaab auf die Offensive mit Terror reagiert. Alleine im Jänner 2023 detonierte die Gruppe in Städten Zentralsomalias zwölf in Fahrzeugen verbaute Sprengsätze (ICG 21.3.2023). Insgesamt ist die Offensive dort am erfolgreichsten, wo der Widerstand der Lokalbevölkerung gegen al Shabaab am größten ist. Dort wo der lokale Widerstand geringer ist, tun sich die Regierungskräfte in der Offensive ungleich schwerer. In diesem Sinne kann die gesamte Offensive als eine Serie von Kriegen zwischen einzelnen Clans und al Shabaab charakterisiert werden, wobei die Regierungskräfte die Clans unterstützen (ICG 21.3.2023).
Insgesamt ist also die Offensive seit Anfang 2023 zum Stillstand gekommen (Sahan/SWT 4.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 23.6.2023). Al Shabaab hat diese Pause genutzt, um sich zu konsolidieren (Weiss/LWJ 6.10.2023), um Rekrutierung und Ausbildung zu intensivieren, Erpressungsaktivitäten auszuweiten und Angriffe auf hochwertige Ziele zu verstärken (Sahan/SWT 3.7.2023; vergleiche ACLED 30.6.2023). Die Gruppe hat flexibel auf die Offensive reagiert: Kämpfer und Waffen wurden aus bedrohten Gebieten abgezogen und dort gesammelt, wo lokale Gemeinden der Gruppe positiv gegenüberstehen (BBC 15.6.2023). Die übliche Ramadan-Offensive wurde 2023 nicht durchgeführt, um Kräfte für die anstehenden Kämpfe aufzusparen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Laut zweier Quellen ist al Shabaab nun stärker als zuvor (BMLV 1.12.2023; vergleiche Sahan/SWT 3.7.2023). Die letzten Monate waren geprägt von zusätzlichen Rekrutierungen, wobei al Shabaab gleichzeitig größere Verluste vermeiden konnte – anders als die Bundesarmee. Selbst während der intensiven Phase der Gefechte erlitt die Gruppe geringere Verluste als ihr Gegner (BMLV 1.12.2023). Im September 2023 hat al Shabaab so viele Selbstmordattentate versucht und ausgeführt wie in keinem Monat zuvor: 14, drei davon wurden vereitelt. Die Hälfte der Attentate ereignete sich in Zentralsomalia (Weiss/LWJ 6.10.2023).
Al Shabaab überrannte einen Stützpunkt von Danaab in Galcad (Galmudug) und einen Stützpunkt der Bundesarmee in Janay Abdale in der Nähe von Kismayo (Sahan/SWT 3.7.2023). Zudem griff die Gruppe im Mai 2023 den ugandischen ATMIS-Stützpunkt in Buulo Mareer an, Dutzende Soldaten wurden getötet (BBC 15.6.2023; vergleiche Soufan 3.7.2023). Am 7.6.2023 führte al Shabaab einen (weniger erfolgreichen) Angriff gegen äthiopische Truppen in Doolow. Am 9.6.2023 stürmten Kämpfer das Pearl Beach Hotel in Mogadischu, der erste größere Angriff dort innerhalb von drei Monaten. Mindestens 15 Menschen kamen dabei ums Leben (BBC 15.6.2023). Alles deutet darauf hin, dass es al Shabaab in den letzten Monaten gelungen ist, mehr Waffen und Munition zu erbeuten als in den vier Jahren zuvor (Sahan/SWT 3.7.2023). Gleichzeitig haben politische Streitigkeiten eine weitere Offensive der Bundesregierung verzögert (ACLED 15.9.2023; vergleiche ACAPS 17.8.2023). Am 13.7.2023 hat al Shabaab die Kontrolle über den Stützpunkt der Bundesarmee und jubaländischer Darawish in Geriley (Gedo) übernommen. Dieser Stützpunkt, der nur 12 km von der kenianischen Grenze entfernt liegt, war nur zwei Wochen vorher von ATMIS (Kenia) geräumt und an die Bundesarmee übergeben worden. Der Stützpunkt war von den Kenianern fast ein Jahrzehnt lang besetzt worden (Sahan/SWT 21.7.2023). Bemannt werden übergebene FOBs von in Uganda, Eritrea oder Ägypten schlecht ausgebildeten neuen Brigaden, die nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen. Von den bisher übergebenen FOBs wurden Stand Mitte September bereits sechs von al Shabaab vernichtet. Dieses Vorgehen hat System, denn solche Stützpunkte wieder aufzubauen und aufzufüllen – mit Männern, Ausrüstung und Material – ist für die Bundesarmee mit sehr großem Aufwand verbunden (BMLV 14.9.2023; vergleiche Sahan/SWT 25.9.2023). Al Shabaab hat also im August 2023 eine eigene Offensive begonnen, um die Gewinne der Bundesarmee wieder aufzulösen. Dazu hat die Gruppe auch einen Brückenkopf am Ostufer des Shabelle eingerichtet (Rafal R./X 9.4.2023).
Zentralsomalia aus Sicht des ISW vom 4.10.2023:
ISW/Karr 4.10.2023
Durch Konflikte Vertriebene: Mitte November wurde angegeben, dass 2023 über 1,5 Millionen Menschen zu Vertriebenen im Land geworden sind, 473.000 davon aufgrund von Dürre und 419.000 aufgrund von Überschwemmungen. Ca. 600.000 wurden durch Konflikte vertrieben. Die meisten neuen IDPs aufgrund von Konflikten gab es - abseits von Somaliland - 2023 bis Mitte November in den Regionen Galgaduud (101.000), Mudug (82.000), Lower Shabelle (53.000) und Middle Shabelle (48.000). Dahingegen wurden in Benadir/Mogadischu (800), Bari (1.000) und Hiiraan (2.000) deutlich weniger Menschen neu vertrieben (UNHCR 2023).
Al Shabaab [siehe auch Al Shabaab] stand gemäß Aussagen des Experten Rashid Abdi vom November 2022 mit dem Rücken zur Wand. Die Gruppe hatte viele Gebiete verloren und stand gleichzeitig einer Revolte mehrere Clans gegenüber. Damit befand sich auch das Wirtschaftsimperium al Shabaab unter Druck (GN 5.11.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Die Gruppe hatte in den ersten Monaten der Offensive zig Millionen US-Dollar und laut einer Quelle 1.200 (Gorfayn 27.3.2023), laut somalischen Regierungsangaben vom Juni 2023 sogar 3.000 getötete und 3.700 verletzte Kämpfer zu verkraften. Laufende Erfolge von al Shabaab lassen hinsichtlich dieser Zahlen allerdings Skepsis aufkommen (BBC 15.6.2023). Trotz der nominell hohen Verluste, die al Shabaab durch Luftangriffe und Gefechte zugefügt worden sind, hat die Gruppe jedenfalls keinen Mangel an Kämpfern. Zumindest ist es nicht gelungen, Angriffe von al Shabaab auf Militärstützpunkte einzudämmen. Sie ist auch immer noch in der Lage, Angriffe in Mogadischu, gegen Stützpunkte der ATMIS und über die Grenzen der ATMIS-Mitgliedsstaaten Äthiopien und Kenia hinweg zu verüben (Soufan 3.7.2023). Al Shabaab greift weiterhin regierungsnahe Kräfte und Ziele sowie Zivilisten im ganzen Land an. Die Gruppe übt Druck auf Zivilisten aus, ihre extremistische Ideologie zu unterstützen (USDOS 15.5.2023). Angegriffen werden Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, aber auch Hotels, Märkte und andere öffentliche Einrichtungen (AA 20.10.2023). In Zentralsomalia hält sich al Shabaab weiterhin im freien Gelände zwischen den Ortschaften auf und greift bei jeder Gelegenheit die Orte selbst bzw. die Bewegungen zwischen den Ortschaften an. Insgesamt haben die militärischen Kräfte der al Shabaab in Zentralsomalia zwar hohe Verluste hinnehmen müssen, sind aber bei Weitem nicht geschlagen (BMLV 1.12.2023).
Al Shabaab verwendet gewalttätige, extremistische Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Sie ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Die Gruppe bedient sich neben politischen und kriminellen Mitteln (wie Einschüchterung, Erpressung, etc.) zur Kontrolle der Bevölkerung im militärischen Bereich zur Erreichung der Ziele der gesamten Bandbreite der asymmetrischen Kriegsführung. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte Hit-and-Run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z.B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen. Al Shabaab verfolgt eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus (BMLV 1.12.2023).
Als al Shabaab an den Fronten an Boden verloren hat, steigerte die Gruppe ihre terroristischen Aktivitäten. Dadurch soll suggeriert werden, dass die Gruppe jederzeit an jedem Ort zuschlagen kann (Sahan/SWT 14.12.2022). Beim Einsatz von improvisierten Sprengsätzen ist hinsichtlich der Anzahl in den letzten Jahren keine Veränderung eingetreten. Allerdings sind die Opferzahlen seit 2020 stetig nach oben gegangen. Im Jahr 2020 wurden 501 Menschen durch improvisierte Sprengsätze getötet; 2021 waren es 669; und in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 gab es mindestens 855 Opfer (UNSC 10.10.2022). Auch die Zahl an terroristischen Vorfällen im ersten Quartal 2023 war überdurchschnittlich. Es wurden 61 Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen gezählt (höchste Zahl seit 2017), bei denen 291 Menschen ums Leben gekommen sind. Als Reaktion auf die anhaltende Offensive werden häufig Regierungs- und lokale Clanmilizen ins Visier genommen. Am meisten davon Sprengsätzen betroffen waren Mogadischu/Benadir, Lower Shabelle, Hiiraan und Lower Juba. Mogadischu ist immer wieder auch von indirektem Feuer der al Shabaab betroffen (UNSC 15.6.2023).
Während eines Großteils der Trump-Jahre konnten Kämpfer der al Shabaab aufgrund der Intensität der Luftangriffe nicht in Konvois reisen (Sahan/SWT 2.8.2023). Heute ist besorgniserregend, wie leicht sich die Gruppe in weiten Teilen Somalias bewegen kann, z.B. als sie Anfang Juli 2023 den Stützpunkt der Bundesarmee in Geriley (Gedo) angegriffen hat (Sahan/SWT 2.8.2023; vergleiche BMLV 14.9.2023). Al Shabaab ist nun wieder in der Lage, Hunderte Kräfte zu konzentrieren, um Stützpunkte der Bundesarmee oder ihrer Verbündeten zu vernichten (BMLV 14.9.2023).
Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab (AA 15.5.2023; vergleiche AA 20.10.2023, ÖBN 11.2022). Die aktuelle Offensive konzentriert sich im Wesentlichen auf die Regionen Galgaduud, Hiiraan, Middle Shabelle und Mudug. Sie soll zu einem späteren Zeitpunkt auf den SWS und Jubaland ausgeweitet werden (ACAPS 17.8.2023; vergleiche AA 15.5.2023). Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (USDOS 20.3.2023). Die Schwerpunkte sicherheitsrelevanter Vorfälle verlagern sich aber mitunter. So gibt ACLED für den Zeitraum 27.5.-23.6.2023 Lower Shabelle als Schwerpunkt an (ACLED 30.6.2023). Für Juli-September 2023 wird der Schwerpunkt der Kampfhandlungen mit Galgaduud und Middle Shabelle angegeben. Insgesamt verzeichnet ACLED im Zeitraum 22.7. bis 8.9.2023 375 sicherheitsrelevante Vorfälle. Davon war die überwiegende Mehrheit direkte Kampfhandlungen (230) und Explosionen (100) (ACLED 15.9.2023).
Gebietskontrolle: Innerhalb der letzten zehn Jahre ist es der Regierung und den Truppen von AMISOM/ATMIS gelungen, die Kontrolle über viele Teile des Landes zurückzuerlangen (THLSC 20.3.2023). Al Shabaab wurde erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖBN 11.2022). Während ATMIS und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen (USDOS 15.5.2023; vergleiche BBC 15.6.2023). Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen (USDOS 15.5.2023). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 15.5.2023). In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin. Viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. Gebessert hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle, wo auch Bewegungen zwischen den Orten möglich sind (BMLV 1.12.2023). In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen (UNSC 6.10.2021; vergleiche BMLV 1.12.2023, AQ21 11.2023). Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (HRW 12.1.2023). Als "Inseln" zu bezeichnen sind etwa Xudur, Waajid, Diinsoor, Wanla Weyne und Baraawe (BMLV 1.12.2023). In den zuletzt von der Regierung eroberten Gebieten findet sich die Bundesarmee v.a. in kritischen Teilen - etwa entlang der Hauptversorgungsrouten (Sahan/STDOK/SEM 4.2023).
Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind:
1. das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;
2. Jamaame und Badhaade in Lower Juba;
3. größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;
4. Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;
5. der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor;
6. Gebiete rechts und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;
7. die südliche Hälfte von Galgaduud mit der Stadt Ceel Buur (PGN 23.1.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023); nach neueren Angaben reicht das Gebiet dort nur ein Stück nach Galgaduud hinein (IO-D/STDOK/SEM 4.2023);
8. sowie die Region Bakool abzüglich eines Streifens entlang der äthiopischen Grenze und der Städte Xudur und Waajid (BMLV 1.12.2023).
In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden. – Insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch ATMIS und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden. Immer wieder gelingt es al Shabaab, kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (BMLV 1.12.2023). Al Shabaab hat sich – in begrenztem Ausmaß – fähig gezeigt, Territorien, die bereits durch die Bundesarmee und ATMIS befreit wurden, wieder zurückzuerobern. In der Vergangenheit war das Scheitern, eroberte Territorien erfolgreich zu halten, mit dem Mangel an Polizeipräsenz in den eroberten Gebieten und der allgemein schlechten Moral in der Bundesarmee verbunden, die auf sehr geringe und oftmals verzögerte Besoldung zurückzuführen war (ÖBN 11.2022).
Andere Akteure: Kämpfe zwischen Clans und Subclans, insbesondere um Wasser- und Landressourcen sind weit verbreitet, insbesondere in den Regionen Hiiraan, Galmudug, Lower und Middle Shabelle bzw. in Regionen, in denen die Regierung oder staatliche Behörden schwach oder nicht vorhanden sind (ÖBN 11.2022). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 20.10.2023) sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen (AA 15.5.2023). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten (USDOS 20.3.2023). Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer - generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter - Gewalt verbunden sein (BMLV 1.12.2023).
Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 15.5.2023). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub („Carjacking“), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (AA 20.10.2023).
Im Zeitraum August 2022 bis Juni 2023 erwähnen die Berichter der UN nur einen Angriff des sogenannten Islamischen Staats in Somalia (ISIS), namentlich die Ermordung eines hochrangigen Beamten in Mogadischu mit einem improvisierten Sprengsatz (UNSC 16.2.2023; vergleiche UNSC 15.6.2023). ISIS ist in Puntland weiterhin präsent, verfügt jedoch nicht über die Fähigkeit, große Gebiete zu kontrollieren oder bedeutende Operationen durchzuführen (UNSC 31.7.2023).
Zivile Opfer: Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich [siehe Tabelle weiter unten]. Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an (C4/Jamal 15.6.2022; FDD/Roggio 11.10.2023). Laut einer Quelle trifft es zwar zu, dass al Shabaab bei Sprengstoffanschlägen meist nicht mutwillig Zivilisten angreift und diese Taktik im Vergleich zu anderen Gruppen gezielter anwendet; dennoch wählt sie in regelmäßigen Abständen Ziele aus, bei denen die Gruppe weiß, dass viele Zivilisten Kollateralschäden erleiden werden - etwa bei Angriffen auf Hotels, Kaffee- oder Teehäuser, Restaurants oder belebte Straßenkreuzungen (FDD/Roggio 11.10.2023). Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu den somalischen Sicherheitskräften und vermehrt auch Führungspersonen aus Clans, die sich dem Kampf gegen al Shabaab verpflichtet haben (AA 15.5.2023). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (BMLV 9.2.2023).
Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von ATMIS bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28 % der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es 20 % (Sahan/Bryden 6.4.2021).
Von der UN werden die Zahlen ziviler Opfer (Tote und Verletzte) wie folgt angegeben:
(UNSC 15.6.2023; UNSC 16.2.2023; UNSC 1.9.2022b; UNSC 13.5.2022; UNSC 8.2.2022; UNSC 11.11.2021; UNSC 10.8.2021; UNSC 19.5.2021; UNSC 17.2.2021; UNSC 13.11.2020; UNSC 13.8.2020; UNSC 13.5.2020; UNSC 13.2.2020)
Die letzte halbwegs glaubwürdige Volkszählung wurde im Jahr 1975 durchgeführt - auch diese mit signifikanten Einschränkungen (Sahan/SWT 10.5.2023). Neueste Schätzungen gehen von rund 17 Millionen Einwohnern aus (IPC 13.12.2022). In diesem Zusammenhang lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:10.235 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen].
Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v.a. durch die USA. Unter der Trump-Regierung wurden innerhalb von vier Jahren fast 220 Luftangriffe durchgeführt (Sahan/SWT 2.8.2023). Dahingegen waren es 2021 nur elf (HRW 13.1.2022) und 2022 15 (BMLV 9.2.2023). Im Zeitraum Jänner-August 2023 waren es 13 (Sahan/SWT 2.8.2023). Bei Luftangriffen auf al Shabaab und den ISIS sind zwischen 2017 und 2021 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden (HIPS 2021). Auch Kenia führt nach wie vor Luftschläge in Somalia durch, z.B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (GN 22.6.2022); und es kommt auch zu äthiopischen Luftangriffen (VOA 8.8.2022), z.B. am 30.7.2022 in der Region Bakool (SG 31.7.2022). Nach Angaben somalischer Armeevertreter sind auch türkische Drohnen bei Operationen gegen al Shabaab aktiv (VOA/Maruf 30.11.2022). Generell hat die Zahl an Luftangriffen aber erheblich abgenommen, die durchgeführten konzentrieren sich auf höherrangige Angehörige der al Shabaab (BMLV 1.12.2023).
(…)
Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba)
Letzte Änderung: 03.01.2024
Jubaland kontrolliert nur Teile des eigenen Gebietes. Middle Juba wird weiterhin von al Shabaab dominiert. Die Region Gedo steht nicht auf einer Linie mit der Führung von Präsident Madobe, und nur zwei von sechs Bezirken in Lower Juba stehen unter der Kontrolle von Jubaland (Sahan/SWT 14.6.2023; vergleiche Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche PGN 23.1.2023). Den ländlichen Raum kontrolliert weitgehend al Shabaab. Auch die Gebiete zwischen Afmadow und Kismayo sowie zwischen der kenianischen Grenze und Kismayo werden von der Gruppe kontrolliert (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche PGN 23.1.2023). Nach anderen Angaben befindet sich die Verbindung Kismayo-Afmadow-Kenia unter Kontrolle der Regierung. Jubaland nahm mit Anfang Feber 2023 den Kampf gegen al Shabaab wieder auf. Derzeit konzentrieren sich die Operationen auf den Unterlauf des Juba-Flusses. Laut Präsident Madobe ist die Einnahme von Buale das Ziel Jubalands (BMLV 1.12.2023).
Lower Juba: Die Region steht in Teilen unter Kontrolle von ATMIS, der kenianischen Armee, Kräften von Jubaland; und al Shabaab. Die Städte Kismayo, Afmadow und Dhobley sowie die Orte Tabta, Dif, Koday und Kolbiyow werden von Regierungskräften und ATMIS kontrolliert. Jamaame steht unter Kontrolle von al Shabaab; dies gilt auch für den nördlichen Teil Lower Jubas. Auch Badhaade und das Umland in Richtung Norden werden von al Shabaab kontrolliert (PGN 23.1.2023). Die Front zu al Shabaab verläuft an der Straße Richtung Jamaame bei Bar Sanguuni, wo auch immer wieder Angriffe stattfinden (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Afmadow und Dhobley sind Bastionen von Jubaland, dort gibt es starke Checkpoints und eine große Präsenz. Beide Städte können laut einer Quelle als ziemlich sicher bezeichnet werden (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). In Dhobley befinden sich das Kommando der Kenianer und ein Ausbildungslager, in Afmadow, Tabda und Bilis Qooqaani jeweils Stützpunkte. Diese Achse - inkl. Hosingow - kann als relativ sicher (BMLV 1.12.2023) und hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (BMLV 9.2.2023).
Kismayo: Die Stadt gilt als sicher (AJ 14.9.2022) bzw. friedlich (BMLV 1.12.2023; vergleiche Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Die Stadt hat hinsichtlich Sicherheit das Niveau von Garoowe (Puntland) erreicht. Der einzige Unterschied ist, dass die Front hier erheblich näher ist. Das letzte auffällige Ereignis hinsichtlich der Sicherheitslage in Kismayo war die Unruhe rund um die Wiederwahl von Präsident Madobe im Jahr 2019 (BMLV 1.12.2023). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass Kismayo eine der sichersten Städte in Somalia außerhalb Somalilands und sicherer als Städte in Puntland ist (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle erklärt, dass es sehr sicher ist, sich in Kismayo aufzuhalten, auch wenn es hin und wieder zu Anschlägen kommt (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass Kismayo definitiv nicht der sicherste Dienstort ist, aber die Lage dort besser ist, als beispielsweise in Baidoa (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). In der Stadt wird versucht, Clanstreitigkeiten friedlich zu lösen. Die Bevölkerung hat verstanden, dass sie von einer Friedensdividende profitiert (BMLV 1.12.2023). Es gibt ein funktionierendes Gerichtssystem (Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021), die Regierung gilt als relativ stabil (BMLV 1.12.2023; vergleiche ACCORD 31.5.2021). Ihr ist es zudem gelungen, eine Verwaltung zu etablieren. Diese ist gefestigt und funktioniert (BMLV 1.12.2023).
In Kismayo gibt es kenianische Kräfte. Die Sicherheitskräfte von Jubaland haben eine gute Reputation und eine starke Präsenz in der Stadt (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Regierungskräfte kontrollieren Kismayo, es gibt ausreichend Sicherheitskräfte. Der Aufbau von Polizei und Justiz wurde und wird international unterstützt. Die Polizei wurde in den letzten Jahren von AMISOM bzw. ATMIS, Kenia und UN ausgebildet, sie hat ein relativ gutes Ausbildungsniveau erreicht. Es gibt eine klare Trennung zwischen Polizei und anderen bewaffneten Kräften (BMLV 1.12.2023). Die Sicherheitskräfte in Kismayo bauen auch auf Informationen aus der Bevölkerung. Die Bedrohungslage durch al Shabaab in der Stadt wurde reduziert (NMG 25.10.2022; vergleiche Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Durch die fähige nachrichtendienstliche und Sicherheitsstruktur wurde auch die Kriminalität eingeschränkt (Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Das verhängte Waffentrageverbot in der Stadt wird umgesetzt, die Kriminalität ist auf niedrigem Niveau, es gibt kaum Meldungen über Morde. Folglich lässt sich sagen, dass die Polizei in Kismayo entsprechend gut funktioniert. Zivilisten können sich in Kismayo frei und relativ sicher bewegen (BMLV 1.12.2023).
Jubaland kontrolliert etwa einen Umkreis von 30 km um Kismayo (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023, BMLV 1.12.2023, PGN 23.1.2023). Hier ist es Jubaland gelungen, ein sicheres Umfeld zu schaffen (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Gemäß einer anderen Quelle handelt es sich hingegen nur um einen Umkreis von 15 km (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Ein Mitarbeiter einer Organisation für bilaterale Entwicklungszusammenarbeit gibt an, dass sich die eigenen internationalen Mitarbeiter in Kismayo bei Tag in der ganzen Stadt normal bewegen können. Es gibt kaum Einschränkungen. Bestimmte Einschränkungen gibt es für IDP-Lager am Rande der Stadt, größere Einschränkungen für solche außerhalb der Stadt. Entlang des Juba bewegen sich Mitarbeiter dieser Organisation bis Goobweyn. Allerdings gibt es im Schnitt jedes Monat eine Woche, in welcher die Sicherheitsbestimmungen verschärft und damit die Bewegungen für internationale Mitarbeiter komplett eingeschränkt werden (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023).
Al Shabaab ist nur sehr eingeschränkt in und um Kismayo aktiv. Die Gruppe hat keinen großen Einfluss in der Stadt. Dies beweist auch, dass die Kooperation zwischen Polizei und Bevölkerung funktioniert (BMLV 1.12.2023; vergleiche Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Anschläge durch al Shabaab in Kismayo sind zur Seltenheit geworden (BMLV 1.12.2023). In der Stadt gibt es keine derartige „Besteuerung“ der Wirtschaft, wie al Shabaab dies etwa in Mogadischu praktiziert. Es gibt keine direkte Besteuerung von Gütern in der Stadt oder am Hafen. Trotzdem profitiert die Gruppe stark vom Hafen und kann Einkommen generieren, da sie Güter an Checkpoints außerhalb der Stadt besteuert (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).
Rückkehrer aus Kenia kommen primär nach Kismayo. Gegenwärtig ist die Zahl an neuen Rückkehrern nicht sehr groß. Das Zusammenleben der Bevölkerung mit IDPs bzw. von Bevölkerung und Rückkehrern funktioniert relativ gut. Für al Shabaab sind Rückkehrer kein Ziel (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Die Regierung von Jubaland hat es geschafft, die Stadt für alle ehemaligen Einwohner zugänglich zu machen - und zwar aus zahlreichen vormals streitenden Clans. Gleichzeitig wurde aber das Risiko von Clankämpfen reduziert (Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Präsident Madobe setzt sich auch außerhalb von Kismayo für Vermittlungen zwischen Clans ein. So etwa im Gebiet von Dif, wo es im Juni 2022 zu Auseinandersetzungen gekommen ist (RKIS 27.6.2022). Zur Bekräftigung der Vermittlungsversuche wurden dorthin auch Darawish-Truppen entsandt (MUST 8.6.2022).
(…)
Vorfälle: In den Regionen Lower Juba (1,038.602), Middle Juba (366.851) und Gedo (938.249) leben nach Angaben einer Quelle 2,343.702 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2021 insgesamt 34 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie violence against civilians). Bei 20 dieser 34 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2022 waren es 21 derartige Vorfälle (davon 12 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und "violence against civilians" ergeben sich für 2022 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): Lower Juba 0,67; Gedo 1,07; Middle Juba 1,09;
In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2022 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie violence against civilians, in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt
Quelle: ACLED 2023 (und Vorgängerversionen)
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Al Shabaab
Letzte Änderung: 03.01.2024
Zur Offensive in Zentralsomalia siehe Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Al Shabaab ist mit al-Qaida affiliiert (THLSC 20.3.2023) und wird häufig und korrekterweise als die größte zu al-Qaida zugehörige Gruppe bezeichnet (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023). Die Gruppe weist eine stärkere innere Kohärenz auf als die Bundesregierung und einige der Bundesstaaten. Al Shabaab nutzt erfolgreich lokale Missstände, um taktische Allianzen zu schmieden und Kämpfer zu rekrutieren (Sahan/SWT 27.3.2023). Die Gruppe erkennt die Bundesregierung nicht als legitime Regierung Somalias an (UNSC 10.10.2022) und lehnt die gesamte politische Ordnung Somalias, die sie als unislamisch bezeichnet, ab (Sahan/SWT 9.6.2023). Al Shabaab wendet eine Strategie des asymmetrischen Guerillakriegs an, die bisher sehr schwer zu bekämpfen war. Zudem bietet die Gruppe in den Gebieten unter ihrer Kontrolle Sicherheit und eine grundlegende Regierungsführung (Sahan/SWT 27.3.2023).
Al Shabaab ist eine mafiöse Organisation, die Schutzgelder im Austausch für Sicherheits-, Sozial- und Finanzdienstleistungen verlangt. Ihre konsequente Botschaft ist, dass die Alternative - die Bundesregierung - eigennützig und unzuverlässig ist (Sahan/SWT 25.8.2023). Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias (BMLV 9.2.2023) bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen extremen Interpretation des Islams und der Scharia in "Großsomalia" (USDOS 15.5.2023) und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia (CFR 6.12.2022). Al Shabaab ist eine tief verwurzelte, mafiöse Organisation, die in fast allen Facetten der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik integriert ist (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Die Gruppe ist vermutlich die reichste Rebellenbewegung in Afrika (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 finanziert al Shabaab die al-Qaida - und nicht anders herum (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Ausländische Kämpfer haben nur noch einen begrenzten Einfluss in der Gruppe; und die Beziehungen zur al-Qaida haben sich nachhaltig geändert (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah (BBC 15.6.2023). Al I'ttisam gilt als ideologischer Bruder von al Shabaab (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023).
Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin den größeren Teil Süd-/Zentralsomalias (BMLV 9.2.2023; vergleiche Rollins/HIR 27.3.2023) und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (BMLV 9.2.2023). Gleichzeitig ist die Zahl der unter direkter Kontrolle von al Shabaab lebenden Menschen laut einer (anonymen) Quelle drastisch zurückgegangen. Früher lebten noch rund eine Million Menschen in deren Gebieten, heute sind es - v.a. aufgrund von Abwanderungen und Flucht im Rahmen der Dürre - noch etwa 500.000 (AQ21 11.2023).
Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit (ACCORD 31.5.2021; vergleiche FP 22.9.2021). römisch fünf.a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben (FP 22.9.2021). Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (BS 2022a). [Zur Gerichtsbarkeit der al Shabaab siehe auch Süd-/Zentralsomalia, Puntland]
Im eigenen Gebiet hat die Gruppe umfassende Verwaltungsstrukturen geschaffen (AQ21 11.2023; vergleiche BS 2022a). Dort übt al Shabaab alle Grundfunktionen einer normalen Regierung aus: Sie hebt Steuern ein, bietet Sicherheit und sorgt mitunter für Sozialhilfe für bedürftige Bevölkerungsgruppen (Rollins/HIR 27.3.2023). Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten (Schwartz/HO 12.9.2021). Die Gruppe investiert daher in lokale Regierungssysteme. Al Shabaab setzt Zwang und Überredung ein, um die Treue zum Clan zu erzwingen. Im Gegenzug bietet die Gruppe ihre eigene Art von "Recht und Ordnung" sowie bescheidene Grunddienstleistungen (Sahan/SWT 30.6.2023). Durch das Anbieten öffentlicher Dienste - v.a. hinsichtlich Sicherheit und Justiz - genießt al Shabaab in einigen Gebieten ein gewisses Maß an Legitimität. Mit der Hisba verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Offensichtlich führt al Shabaab auch eine Art Volkszählung durch. Auf den diesbezüglich bekannten Formularen müssen u.a. Clan und Subclan, Zahl an Kindern in und außerhalb Somalias, Quelle des Haushaltseinkommens und der Empfang von Remissen angegeben werden (UNSC 10.10.2022). Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (AA 15.5.2023).
Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität (BMLV 9.2.2023; vergleiche JF 18.6.2021). Die Unterdrückung von Clankonflikten ist ein Bereich, in welchem die Gruppe Erfolge erzielen konnte. Z.B. wurde ein Waffenstillstand zwischen Clans in den Distrikten Adan Yabaal und Moqokori, HirShabelle, durchgesetzt; und in Galmudug hat al Shabaab Älteste bestraft, deren Clanmitglieder sich an Clankriegen beteiligt haben (SW 3.2023). Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BMLV 9.2.2023). Hinsichtlich Korruption ist die Gruppe sehr aufmerksam (AQ21 11.2023).
Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung (Bryden/TEL 8.11.2021). Al Shabaab hat etwa als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie Gesundheitszentren eingerichtet und führt sogar Schulen und Programme, um Mitglieder zur Ausbildung an Universitäten im Ausland zu schicken (Rollins/HIR 27.3.2023). Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (C4/Jamal 15.6.2022). Gemäß anderer Angaben schränkt al Shabaab die Freiheiten von Frauen und Mädchen allgemein stark ein, bietet aber in einigen Fällen eine anders nicht vorhandene Form des Schutzes vor sexueller Gewalt und Entführung (SW 3.2023).
Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiter bestehen (USDOS 20.3.2023). Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen (AQ21 11.2023; vergleiche SPC 9.2.2022). Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen (SPC 9.2.2022). Gemäß den Angaben einer Quelle der FFM 2023 hat sich al Shabaab etwa gezielt an Minderheiten gewendet, die nicht von der Regierung repräsentiert werden. Die Gruppe hat sich so im Süden die Loyalität jeder einzelnen Minderheit erkauft (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Generell steht bei Entscheidungen immer die Sicherheit des eigenen Clans als höchstes Ziel im Vordergrund. Manche Clans schließen sich freiwillig al Shabaab an; mit anderen Clans hat al Shabaab Abkommen geschlossen (AQ21 11.2023). Und wieder andere Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Suldaan, Ugaas, Wabar) und stattet Letztere mit z.B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (UNSC 6.10.2021). Dazu erklärt eine Quelle der FFM Somalia 2023, dass al Shabaab in den meisten Teilen Süd-/Zentralsomalias über 'eigene' Älteste verfügt. Es werden parallele Clanführungsstrukturen unterhalten - und zwar in allen Gebieten, in denen al Shabaab aktiv ist. Manchmal sind dann die eigentlichen Ältesten zur Flucht gezwungen. Die von al Shabaab eingesetzten Ältesten dienen der Konfliktlösung und polizeilicher Arbeit sowie dem Standeswesen (Eheschließungen, Scheidungen). Sie können vor den Gerichten der al Shabaab auch eigene Clanmitglieder vertreten. Und wenn ein Clanmitglied ein Problem mit al Shabaab hat, dann wendet es sich an den entsprechenden Ältesten, der sich wiederum an al Shabaab wendet (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).
Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft (Sahan/SWT 30.6.2022). Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel (ACCORD 31.5.2021). Die Präsenz von al Shabaab bietet besorgten Gemeinden eine Form der Schirmherrschaft und des Schutzes, welche die somalische Regierung nur sporadisch gewähren kann. Die Gruppe verspricht Vorteile und faire Behandlung für diejenigen, die ihren Geboten folgen. Allen anderen droht sie mit Vergeltung (Sahan/SWT 25.8.2023).
Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und ATMIS bzw. AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk (Maruf/Westminster 14.11.2018). Der Gouverneur von Bakool gibt im März 2023 an, dass seiner Einschätzung nach al Shabaab über mindestens 20.000 Kämpfer verfügt. Der nationale Sicherheitsberater des Präsidenten gibt die Zahl hingegen mit 10.000 von einst 14.000, die es noch vor einigen Jahren gewesen sind (VOA/Maruf 14.3.2023). Auch eine andere Quelle berichtet von 14.000 - "doppelt so viele wie noch vor drei Jahren". Allerdings finden sich demnach darunter viele zwangsrekrutierte Kinder (Detsch/FP 23.8.2023). Das US-Afrikakommando berichtet von 10.000 Kämpfern (Sahan/SWT 8.9.2023). Eine andere Quelle berichtet im von einer Stärke von 7.000-12.000 Mann (JF 31.3.2023); eine weitere Quelle bestätigt diese Zahl (BMLV 9.2.2023). Schließlich nennt eine Quelle eine Zahl von 5.000-10.000 gut bewaffneten Kämpfern (Williams/ACSS 17.4.2023) und eine letzte 7.000 "Vollzeitkämpfer" (AQ21 11.2023). Die Kämpfe der letzten Monate haben bei al Shabaab erhebliche Spuren hinterlassen. Die Angaben der Bundesregierung von angeblich 3.500 getöteten Kämpfern von al Shabaab seit Juni 2022 müssen allerdings angezweifelt werden. Zur Kompensation rekrutiert die Gruppe jedenfalls neue Kräfte (BMLV 1.12.2023). Insgesamt sind die Zahlen also sehr unterschiedlich. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass al Shabaab über zahlreiche "Teilzeitkräfte" und "Freiberufler" verfügt, die nur bei Bedarf zum Einsatz kommen. Ein Experte schätzt die Gesamtzahl allen verfügbaren Personals auf 25.000-30.000 (AQ21 11.2023).
Generell hat al Shabaab die somalische Gesellschaft dermaßen tief infiltriert, dass es schwierig oder sogar unmöglich ist, zu erkennen, wer Mitglied der Gruppe ist. Hinzugezählt werden die Kämpfer der Armee (jabahat), die Agenten des Amniyat und die Polizisten (Hisba); alle Schätzungen zur Größe von al Shabaab scheinen sich auf dieses Personal zu konzentrieren. Doch die Gruppe verfügt auch über einen beträchtlichen Kader, der nicht direkt an der Gewalt beteiligt ist, aber für die Reichweite der Organisation in Somalia gleichermaßen wichtig ist. Es handelt sich um eine komplexe Organisation, die eine Mischung aus Terroristengruppe, Rebellenorganisation, Mafia und Schattenregierung ist. Und es gibt Personal für all diese Funktionen. Al Shabaab beschäftigt u.a. Verwaltungsbeamte, Richter und Steuereintreiber. Der Amniyat verfügt neben Agenten über Doppelagenten, Quellen und Informanten, die in die Institutionen, die Wirtschaft und die ganze Gesellschaft Somalias eingedrungen sind. Einige arbeiten heimlich, in Teilzeit oder auf Ad-hoc-Basis mit der Gruppe zusammen. Sie bewegen Nachschub, überbringen Nachrichten und berichten über alles - von der Zusammenarbeit mit der Regierung bis hin zur Wirtschaftstätigkeit. Es ist unmöglich, sie zu zählen (Sahan/Bacon/Guiditta 7.8.2023).
Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen ATMIS manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyat über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BMLV 1.12.2023). Der Amniyat ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Er ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig (JF 18.6.2021). Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen (UNSC 6.10.2021; vergleiche INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (Maruf/Westminster 14.11.2018).
Gebiete: Al Shabaab verfügt weiterhin über ein starkes Hinterland (AQ21 11.2023). Die Gruppe wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat sie dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen (BMLV 1.12.2023). Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und - in sehr geringem Maße - Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und - in sehr geringem Maße - Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (PGN 23.1.2023; vergleiche BMLV 1.12.2023).
Gemeinschaften, die unter der Kontrolle von al Shabaab stehen, werden häufig vom Rest Somalias und von der internationalen Unterstützung abgekoppelt. Die Kontrollpunkte und Blockaden der militanten Gruppe schränken den Personen- und Warenverkehr ein (Sahan/SWT 15.9.2023). In Gebieten, die an von der Regierung kontrollierte und von al Shabaab unter Blockade gestellte Städte grenzen, hat die Gruppe strenge Regeln hinsichtlich ökonomischer und beruflicher Tätigkeiten eingeführt. Al Shabaab setzt diese mit Drohungen und Gewalt durch und bestraft jene, die diese Regeln brechen (UNSC 10.10.2022).
Kapazitäten: Prinzipiell hat al Shabaab wiederholt gezeigt, dass sie gegenüber Druck anpassungsfähig und in der Lage ist, sich zurückzuziehen und neu zu formieren, bevor sie zurückschlägt (Sahan/SWT 4.8.2023). Al Shabaab ist weiterhin in der Lage, komplexe Angriffe z.B. in und um Mogadischu durchzuführen. Die Fähigkeit der Gruppe, Waffen zu beschaffen und Kämpfer neu zu verteilen, bleibt weitgehend intakt (Sahan/SWT 22.5.2023). Dabei geht die Einflusssphäre der Gruppe über jene Gebiete, die sie tatsächlich unter Kontrolle hat, hinaus (UNSC 10.10.2022). Der Amniyat hat die Politik, lokale Behörden, Betriebe und Gemeinschaften unterwandert. Dies gilt auch für die NISA (Geheimdienst) und die Polizei. Bis zu 30 % der Polizisten in Mogadischu sind demnach kompromittiert (Williams/ACSS 17.4.2023).
Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Das Einsatzgebiet von der Gruppe ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern (ACCORD 31.5.2021). Gemäß einer Quelle verfügt al Shabaab bei Clans über Verbindungsleute (Kilmurry/RUSI 1.4.2022); laut einer anderen Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus (Landinfo 21.5.2019). Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen (BMLV 1.12.2023). Al Shabaab funktioniert in nahezu ganz Südsomalia als Schattenregierung bzw. -Verwaltung (GITOC/Bahadur 8.12.2022). "Kontrolliert" wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch "exemplarische Gewalt", etwa bei Körperstrafen; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung. All das erfolgt aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (ACCORD 31.5.2021). Dort wo al Shabaab nicht in der Lage ist, ein angemessenes Maß an Gewaltandrohung glaubhaft darstellen zu können, sind die Erpressungsversuche auch weniger erfolgreich. So lehnen etwa Wirtschaftstreibende, die ausschließlich in Baidoa und Kismayo agieren, Zahlungsforderungen mitunter ab (Williams/ACSS 17.4.2023). Zudem hat die Gruppe aus vergangenen Fehlern gelernt und so die Kontrolle über einige Gebiete zurückerlangt, die sie 2022 verloren hat. Einige Übereinkommen mit Clans in Zentralsomalia wurden wieder aufgenommen. Al Shabaab hebt weiter illegale Steuern ein, ohne dabei so weit zu gehen, lokale Clans zu gewalttätigem Widerstand zu provozieren. Die Gruppe ist nun darauf bedacht, die Gemeinschaften, von denen sie abhängig ist, nicht zu sehr auszubeuten (Sahan/SWT 12.6.2023).
Al Shabaab gilt als "wohlhabend", verfügt über einen finanziellen Polster und damit auch über einen Hebel hinsichtlich Neurekrutierungen (AQ21 11.2023).
Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen ("Steuern")]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem. Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022a). Al Shabaab führt ein Register über den Besitz "ihrer" Bürger, um darauf jährlich 2,5 % Zakat zu beanspruchen (Williams/ACSS 17.4.2023). Das Steuersystem der Gruppe hat sich immer mehr entwickelt – bis hin zu Eigentumssteuern (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).
Schätzungen von Experten zufolge nimmt al Shabaab alleine an Checkpoints pro Jahr mehr als 100 Millionen US-Dollar ein (GITOC/Bahadur 8.12.2022; vergleiche Williams/ACSS 17.4.2023). Laut einer anderen Schätzung kann al Shabaab jährlich bis zu 120 Millionen US-Dollar generieren (VOA 17.5.2022). Nach anderen Angaben geht die US-amerikanische Regierung davon aus, dass al Shabaab alleine in Mogadischu bis zu 100 Millionen US-Dollar im Jahr einbringt (Detsch/FP 23.8.2023). Gemäß Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 lukriert die Gruppe sogar rund 180 Millionen US-Dollar pro Jahr - bei Ausgaben von nur etwa 100 Millionen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle bestätigt diese Angaben (Rollins/HIR 27.3.2023). Al Shabaab investiert einen Teil ihres Budgets in Immobilien und Klein- und Mittelbetriebe (Williams/ACSS 17.4.2023).
Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen (UNSC 6.10.2021). Die Gruppe hebt in 10 von 18 somalischen Regionen Steuern ein (Williams/ACSS 17.4.2023). Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh (BS 2022a; vergleiche UNSC 6.10.2021); sowie auf manche Dienstleistungen (HIPS 2020). Al Shabaab erhebt Steuern auf Importe (Williams/ACSS 17.4.2023). Für jeden Container, der in Mogadischu anlandet, müssen Abgaben an al Shabaab entrichtet werden. Die Gruppe erpresst Schutzgeld auf alles, was 'segelt, rollt oder sich bewegt' (Detsch/FP 23.8.2023) sowie vom Bauwesen bzw. von Baufirmen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023) und am Immobiliensektor generell (Williams/ACSS 17.4.2023). Auch Beamte und kleine Unternehmen müssen Geld abführen (Detsch/FP 23.8.2023). Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (HI 1.10.2020).
Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (WP 31.8.2019). Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen (Bryden/TEL 8.11.2021). Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat (Weiss/FDD 11.8.2021). Die Gruppe baut auf ihre Reputation der Omnipräsenz und Einschüchterung - typisch für eine mafiöse Organisation. Der Zakat wird vom Amniyat durchgesetzt – und zwar durch Einschüchterung und Gewalt. Bei Zahlungsverweigerung droht die Ermordung (Williams/ACSS 17.4.2023). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass es al Shabaab in der Vergangenheit diesbezüglich zu weit getrieben hat. In manchen Landesteilen war die Gruppe zu gierig und brachte die Bevölkerung gegen sich auf. Al Shabaab schreckt nicht davor zurück, Menschen durch Gewalt gefügig zu machen. Menschen werden entführt, Vieh weggenommen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Teilweise flieht die Bevölkerung vor der Besteuerung (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Eine Quelle gibt an, dass al Shabaab in Folge des Aufstands der Macawiisley nun einen weniger autoritären Umgang mit den Clans pflegt und sich die Gruppe demnach den Umständen angepasst hat (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).
Wirtschaftsmacht al Shabaab - Quellen der FFM Somalia 2023 erklären: Mit einer neuen Gesetzgebung hat die Regierung Zahlungen an al Shabaab verboten; zudem gibt es entsprechende Kampagnen gegen Zahlungen an die Gruppe (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Zusätzlich droht die Regierung den Wirtschaftstreibenden, und einige von ihnen haben in Mogadischu aufgehört, Geld an al Shabaab abführen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vergleiche INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Die Bundesregierung bekämpft die Gruppe also auf finanzieller Ebene. Auch einige Konten von al Shabaab wurden eingefroren (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Nun versucht die Gruppe, in den Gebieten unter ihrer Kontrolle so viel wie möglich von der Bevölkerung zu erpressen (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Tatsächlich gibt es bei der finanziellen Bekämpfung von al Shabaab allerdings erhebliche Schwierigkeiten (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die ganze Wirtschaft ist von al Shabaab abhängig, wenn es z.B. um den Warentransport geht (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Zudem sind die tief wurzelnden Strukturen der Gruppe im Wirtschaftsbereich Mogadischus nur schwer zu beseitigen (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Die ganze Wirtschaft in der Hauptstadt zahlt Steuern an al Shabaab (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Und auch viele Menschen führen weiterhin 'Steuern' an die Gruppe ab, weil sie nicht davon ausgehen, dass die Regierung in der Lage ist, sie vor al Shabaab zu schützen. Denn bis zuletzt galt: Bei Nichtzahlung drohen Konsequenzen, z.B. die Zerstörung von Eigentum oder Betriebsmitteln. Oder aber al Shabaab sorgt dafür, dass Unternehmen keine Aufträge mehr erhalten. Wirtschaftstreibende verschweigen es üblicherweise, wenn sie Geld an al Shabaab abführen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).
Die Rebellion von al Shabaab hat mit 20 Jahren die durchschnittliche Lebensdauer von Rebellionen überstiegen. Möglicherweise sucht die Gruppe neue Orientierung. Al Shabaab ist kaum mehr in der Lage, die ideologische Karte zu spielen bzw. die Idee der Schaffung eines islamischen Staates zu propagieren. Sie schafft sich also ein Wirtschaftsimperium, denn al Shabaab verfügt über entsprechende Kompetenzen. Morde gegen Bezahlung scheinen für al Shabaab zum Geschäftsmodell zu werden. Zudem hat die Gruppe in vielen Sparten investiert, Reichtümer angehäuft (Sahan/STDOK/SEM 4.2023) und betreibt einige Unternehmen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Mittlerweile erscheint die Gruppe eher als "Wagner-style mafia" (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine andere Quelle erklärt, dass al Shabaab außerhalb des eigenen Gebietes wie ein Kartell bzw. wie eine Mafia agiert. Für al Shabaab ist es nicht schwierig, eine Telefonnummer zu bekommen. So kann die Gruppe jede Person erreichen. In Mogadischu rufen sie z.B. Mitarbeiter einer Quelle an und sagen: "Kommen Sie zum Ort römisch zehn und geben sie uns 2.000 US-Dollar." In anderen Gebieten hat al Shabaab einen direkteren Zugriff (IO-D/STDOK/SEM 4.2023).
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Wehrdienst und Rekrutierungen (durch den Staat und Dritte)
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
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(Zwangs-)Rekrutierungen und Kindersoldaten
Letzte Änderung 17.03.2023
Kindersoldaten: Allen Konfliktparteien wird vorgeworfen, Kinder zu rekrutieren (BS 2022, Sitzung 19). Im Jahr 2021 gab es immer wieder Berichte über den Einsatz von Kindersoldaten durch die Bundesarmee, alliierte Milizen, die Sufi-Miliz Ahlu Sunna Wal Jama’a (ASWJ) und al Shabaab (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16). Im ersten Halbjahr 2021 sind 631 Kinder rekrutiert und eingesetzt worden; weitere 348 wurden entführt - oft mit dem Ziel einer Rekrutierung. Für 77 % der Fälle zeichnet al Shabaab verantwortlich (UNSC 6.10.2021). Dahingegen waren im Vergleichszeitraum 2020 insgesamt 535 Kinder rekrutiert worden, mehr als 400 davon durch al Shabaab. Im Jahr 2019 waren noch 1.169 durch al Shabaab rekrutiert worden, 2018 waren es 2.300 (UNSC 28.9.2020, Absatz 137 f,). Die Regierung versucht der Rekrutierung von Kindern durch die Armee mit Ausbildungs- und Screening-Programmen entgegenzuwirken. Der Umstand, dass es keine Geburtenregistrierung gibt, macht diese Arbeit schwierig (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16f).
Generell wird festgestellt, dass immer dann, wenn aktive Kampfhandlungen zunehmen, in der Vergangenheit ein damit verbundener Anstieg bei der Rekrutierung von Kindern zu verzeichnen war (UNSC 6.10.2021). Gerade in umkämpften Gebieten ist wiederholt eine besonders hohe Zahl an Rekrutierungen zu verzeichnen (AA 28.6.2022, Sitzung 17).
Kindersoldaten - al Shabaab: Al Shabaab ist weniger an die Rekrutierung Erwachsener als an der Rekrutierung von 8-12-jährigen Kindern interessiert. Diese sind leichter zu indoktrinieren und formbarer (Sahan 6.5.2022). Al Shabaab rekrutiert und entführt auch weiterhin Kinder (UNSC 10.10.2022, Absatz 127 ;, vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 6; HRW 13.1.2022). Alleine im Zeitraum Jänner bis März 2022 sind 177 derartige Fälle bekannt (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,). Die Gruppe entführt systematisch Kinder von Minderheitengruppen (BS 2022, Sitzung 19). Al Shabaab führt u. a. Razzien gegen Schulen, Madrassen und Moscheen durch (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Es gibt Berichte über Gruppenentführungen aus Madrassen heraus. So sind etwa bei zwei Vorfällen in Bay und Hiiraan im ersten Halbjahr 2021 insgesamt 35 Buben entführt und zwangsrekrutiert worden (UNSC 6.10.2021). Außerdem indoktriniert und rekrutiert al Shabaab Kinder gezielt in Schulen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17; vergleiche UNSC 6.10.2021; ÖB 11.2022, Sitzung 6). Al Shabaab betreibt eigene Schulen mit eigenem Curriculum. Die besten Schüler werden einer höheren Bildung zugeführt, während der große Rest in Ausbildungslager der Gruppe gebracht wird (VOA 16.11.2022).
Manchmal werden Clanälteste bedroht und erpresst, damit Kinder an die Gruppe abgegeben werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Es wird mitunter auch Gewalt angewendet, um von Gemeinden und Ältesten junge Rekruten zu erpressen (BS 2022, Sitzung 19). In den Gebieten unter ihrer Kontrolle verlangt al Shabaab von Familien, dass sie einen oder zwei ihrer Buben in ihre Ausbildungslager schicken. Familien, die sich weigern, müssen mit Bußgeldern rechnen; manchmal werden sie auch mit Strafverfolgung oder Schlimmerem bedroht. Manche Familien schicken ihre Buben weg, damit sie einer Rekrutierung entgehen (Sahan 6.5.2022). Knapp die Hälfte der Kinder wird mittels Gewalt und Entführung rekrutiert, die andere durch Überzeugung der Eltern, Ältesten oder der Kinder selbst (AA 28.6.2022, Sitzung 17). Die Methoden unterscheiden sich jedenfalls. So wurde beispielsweise ein Fall dokumentiert, wo im Gebiet um Xudur (Bakool) al Shabaab in manchen Dörfern die „freiwillige“ Übergabe von Kindern zwischen 12 und 15 Jahren forderte, während in anderen Dörfern Kinder zwangsweise rekrutiert wurden. Zudem sind Clans unterschiedlich stark betroffen. So berichten etwa die Hadame [Rahanweyn], dass immer wieder Kinder von al Shabaab zwangsrekrutiert worden sind - z.B. im Feber 2021 (UNSC 6.10.2021). Insgesamt bleibt die freiwillige oder Zwangsrekrutierung von Kindern aber unüblich und hauptsächlich auf jene Gebiete beschränkt, wo al Shabaab am stärksten ist (Sahan 6.5.2022). Nach Angaben einer Quelle entführt al Shabaab aber systematisch Kinder von Minderheitengruppen. Auch Mädchen werden für Zwangsehen mit Al-Shabaab-Kämpfern entführt (ÖB 11.2022, Sitzung 6).
Aus Lagern oder anderen Einrichtungen der al Shabaab können Kinder nur mit Schwierigkeit entkommen. Die Kinder sind dort brutalem physischen und psychischen Stress ausgesetzt, die der Folter nahekommen; sie sollen gebrochen werden (Sahan 6.5.2022). In Lagern werden Kinder einer grausamen körperlichen Ausbildung unterzogen. Sie erhalten keine adäquate Verpflegung, dafür aber eine Ausbildung an der Waffe, physische Strafen und religiöse Indoktrination. Kinder werden gezwungen, andere Kinder zu bestrafen oder zu exekutieren. Eingesetzt werden Kinder etwa als Munitions- und Versorgungsträger, zur Spionage, als Wachen; aber auch zur Anbringung von Sprengsätzen, in Kampfhandlungen und als Selbstmordattentäter (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Mädchen werden auf eine Ehe vorbereitet, manchmal aber auch auf Selbstmordmissionen. Armeeeinheiten - wie Danab - haben immer wieder Operationen unternommen, um Kinder aus solchen Ausbildungslagern zu befreien (6.5.2022 Sahan).
Manchmal werden Kinder aus den Händen der al Shabaab befreit, so etwa durch Sicherheitskräfte im August 2020, als 33 Buben aus einer Madrassa in Kurtunwareey (Lower Shabelle) befreit wurden. Alle Kinder wurden mit ihren Eltern wiedervereint (UNSC 13.11.2020, Absatz 46,).
(Zwangs-)Rekrutierung: Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia (ÖB 11.2022, Sitzung 6). Die meisten Rekruten stammen aus ländlichen Gebieten – v. a. in Bay und Bakool. Bei den meisten neuen Rekruten handelt es sich um Kinder, die das Bildungssystem der al Shabaab durchlaufen haben, was wiederum ihre Loyalität zur Gruppe fördert (HI 12.2018, Sitzung 1). Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus den Regionen Bay und Bakool (Marchal 2018, Sitzung 107). Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren hierbei eine Hauptquelle an Fußsoldaten (EASO 9.2021c, Sitzung 18). Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich hingegen um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu (Ingiriis 2020). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022).
Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet (Ingiriis 2020), jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen (Marchal 2018, Sitzung 92). Alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet sind als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z.B. bei militärischen Operationen im Bereich oder zur Aufklärung (BMLV 9.2.2023). Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen (Marchal 2018, Sitzung 105). Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen (FIS 7.8.2020, Sitzung 18; vergleiche ICG 27.6.2019, Sitzung 2). Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren (Khalil 1.2019, Sitzung 14). Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 36/40). Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 17f). Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen (BMLV 9.2.2023). Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM bzw. ATMIS oder die Regierung äußern (EASO 9.2021c, Sitzung 21).
Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan (Ingiriis 2020). Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (EASO 9.2021c, Sitzung 18).
Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt (EASO 9.2021c, Sitzung 21). Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können, trotz fehlendem religiösem Verständnis, auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle (FIS 7.8.2020, Sitzung 17; vergleiche Khalil 1.2019, Sitzung 33). Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle (Khalil 1.2019, Sitzung 33). Etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab sind der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden (Felbab 2020, Sitzung 120f). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52 % der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 % (Botha 2019). Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen (SIDRA 6.2019a, Sitzung 4). Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen von al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent (Khalil 1.2019, Sitzung 16). Nach neueren Angaben verdienen Fußsoldaten und niedrige Ränge 60-100 US-Dollar, Finanzbedienstete z. B. 250 US-Dollar im Monat (UNSC 10.10.2022, Absatz 52,). Gemäß somalischen Regierungsangaben erhalten neue Rekruten 30 US-Dollar im Monat, ein ausgebildeter Fußsoldat oder ein Fahrer 70 US-Dollar; den höchsten Sold erhält demnach mit 25.000 US-Dollar der Emir selbst (FGS 2022, Sitzung 99). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge überhaupt nicht bezahlt worden sind (Botha 2019).
Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer (FIS 7.8.2020, Sitzung 17). Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans (Khalil 1.2019, Sitzung 14f; vergleiche EASO 9.2021c, Sitzung 20). Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern (FIS 5.10.2018, Sitzung 34). Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 42f). So z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft Tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (Ingiriis 2020).
Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Diese "Vorschreibung" - also wieviele Rekruten ein Dorf, ein Gebiet oder ein Clan stellen muss - erfolgt üblicherweise jährlich, und zwar im Zuge der Vorschreibung anderer jährlicher Abgaben. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens (BMLV 9.2.2023). Eltern versuchen, durch Geldzahlungen die Rekrutierung ihrer Kinder zu verhindern (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,). Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (BMLV 9.2.2023).
Sich einer Rekrutierung zu entziehen ist möglich, aber nicht einfach. Die Flucht aus von al Shabaab kontrolliertem Gebiet gestaltet sich mit Gepäck schwierig, eine Person würde dahingehend befragt werden (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 18). Trotzdem schicken Eltern ihre Kinder mitunter in von der Regierung kontrollierte Gebiete – meist zu Verwandten (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,).
Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat (BMLV 9.2.2023). Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 40). Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt (BMLV 9.2.2023; vergleiche UNSC 28.9.2020, Annex 7.2).
Frauen: Der Einsatz von Frauen bei al Shabaab erfolgt zumeist in unterstützender Rolle: Als Steuereinheberinnen, Lehrer- oder Predigerinnen in Madrassen, Wächterinnen in Gefängnissen; zum Kochen und Putzen, in der Waffenpflege oder Spionage (UNSC 10.10.2022, Absatz 29,). In den Führungsgremien und Kampfkräften von al Shabaab finden sich keine Frauen. Deren Rolle reicht von jener der einfachen Ehefrau bis hin zu Rekrutierung, Missionierung, Spionage, Waffenschmuggel und Spendensammlung (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Frauen, die mit Soldaten oder AMISOM bzw. ATMIS Kleinhandel treiben, werden als Spione und Informationsbeschafferinnen rekrutiert (ICG 27.6.2019, Sitzung 12). Andererseits werden Frauen und Mädchen der Bantu mitunter nicht nur in eine Ehe gezwungen – und zwar unter Todesdrohungen – die Ehe gestaltet sich noch dazu eher als temporäre sexuelle Versklavung (Benstead 2021).
Deserteure und ehemalige Kämpfer von al Shabaab
Letzte Änderung 17.03.2023
Allgemein geben Deserteure für das Verlassen der al Shabaab folgende Gründe an: inadäquate Bezahlung, familiäre Verpflichtungen, schlechte Lebensbedingungen, Risiko für Leib und Leben (Khalil 1.2019, Sitzung 33/16f). Mit Letzterem ist nicht bloß die Gefahr von Kampfhandlungen gemeint, sondern auch die von al Shabaab angewandte Bestrafung bei (vermeintlichen) Regelbrüchen (Khalil 1.2019, Sitzung 16f). Generell stellt die Desertion eines Einzelnen für al Shabaab ein kleineres Problem dar, als der Seitenwechsel ganzer Clans und der zugehörigen Milizen (BMLV 9.2.2023).
Verfolgung: Al Shabaab duldet keine Desertion – wie auch andere dschihadistische Bewegungen erlaubt die Gruppe keinen Austritt (EASO 9.2021c, Sitzung 28). Allerdings sind nicht alle ehemaligen Kämpfer der al Shabaab Deserteure. Es gibt Beispiele, wo Angehörige die Entlassung eines Familienmitglieds durch die al Shabaab erwirken konnten (Khalil 1.2019, Sitzung 17f). Zudem werden Kämpfer der al Shabaab nicht auf unbestimmte Zeit als Soldaten eingesetzt. Nach einem bestimmten Zeitraum (möglicherweise auch je nach Funktion variabel), werden diese abgerüstet und aus dem Dienst entlassen. Als ausgebildete Kämpfer können sie im Notfall rasch wieder reaktiviert werden (BMLV 9.2.2023). Auch manche Deserteure gehen zurück zu al Shabaab (Sahan 18.11.2021).
Eine Desertion gleicht jedoch oft einer Flucht – mit entsprechender Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens al Shabaab. Manche Deserteure warten Monate oder sogar Jahre, bevor sich ihnen eine Gelegenheit zur Flucht bietet (Khalil 1.2019, Sitzung 17f). In manchen Fällen kann ein Deserteur bei seinem eigenen Clan Schutz finden (FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Der Experte Marchal betont, dass für Deserteure, die nach Mogadischu geflüchtet sind, der Clan eine bestimmte Rolle spielt – nämlich bei der Frage, ob der Clan innerhalb von al Shabaab stark oder wenig vertreten ist. Für jene, deren erweiterte Familie in Mogadischu stark vertreten ist und deren Clan bei al Shabaab wenig vertreten ist (z. B. Hawiye / Habr Gedir), wird es eine Möglichkeit geben unterzutauchen. Für andere, deren Clan in Mogadischu keine starke Position hat, und dieser noch dazu bei al Shabaab stark involviert ist (z. B. Rahanweyn), wird ein Untertauchen mitunter schwierig (EASO 9.2021c, Sitzung 28). Al Shabaab ist aufgrund eines Systems von Informanten in der Lage, Deserteure nahezu im gesamten Land aufzuspüren. Die Gruppe nutzt dafür unter anderem Clannetzwerke. In Mogadischu sind Deserteure nicht sicher. Ob sie jedoch zum Ziel werden oder nicht, hängt auch von ihrer früheren Rolle bei al Shabaab ab (ÖB 11.2022, Sitzung 7). Generell richtet sich al Shabaab aufgrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen darauf ein, Gewalt "exemplarisch" auszuüben. Bestrafungen kommen zum Einsatz, um die Bevölkerung zu ängstigen (ACCORD 31.5.2021). Der Experte Marchal erklärt, dass al Shabaab versucht, jene Deserteure, welcher sie habhaft werden kann, auch zu bestrafen – und zwar zum Zweck des statuierten Exempels (EASO 9.2021c, Sitzung 28). Dieses soll potenziellen Deserteuren zur Abschreckung dienen (EASO 9.2021c, Sitzung 28; vergleiche Sahan 18.11.2021). Ein Deserteur befindet sich also dann in einer gefährlichen Situation, wenn al Shabaab ihn aufspüren konnte (FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Es gibt Berichte, wonach Deserteure von al Shabaab als Abtrünnige (murtadd) verfolgt und teilweise exekutiert werden (ÖB 11.2022, Sitzung 7; Sahan 18.11.2021). Dies gilt insbesondere für Deserteure mittleren Ranges. Doch auch einfache Mannschaftsgrade können zum Ziel werden (BFA 8.2017, Sitzung 43f; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 7, FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Viele Deserteure haben Angst davor, vom Amniyad [Geheimdienst von al Shabaab] aufgespürt zu werden (BBC 27.5.2019). 70 % von 32 bei einer Studie im Jahr 2017 befragten Deserteuren haben angegeben, Todesdrohungen von al Shabaab erhalten zu haben. Sie fühlten sich verfolgt. Weitere Deserteure berichteten davon, dass ihre Familien bedroht worden sind. Von jenen, die nicht bedroht wurden, hatten die meisten ihre Telefonnummern gewechselt (Taylor 2019, Sitzung 9ff).
Andererseits gibt es keine Hinweise darauf, dass die Gruppe z. B. in Mogadischu aktiv Deserteure sucht und liquidiert (LI 8.9.2022). Es gibt zudem kaum bekannte Beispiele für getötete Deserteure (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Überhaupt gibt es keine konkreten Zahlen bzw. Berichte zu Tötungen von Deserteuren (BMLV 9.2.2023; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 7). Interessanterweise sind auch die vorhandenen Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige der al Shabaab nie zum Angriffsziel geworden [siehe unten] (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 34). Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass desertierte Fußsoldaten von al Shabaab über weite Strecken verfolgt werden (ACCORD 31.5.2021). Inwiefern al Shabaab also tatsächlich Energie in das Aufspüren und Töten von desertierten Fußsoldaten investieren will, ist unklar. Insgesamt besteht in einigen Fällen offenbar auch die Möglichkeit, dass sich ein Deserteur mit der al Shabaab verständigt – etwa durch die Zahlung von Geldbeträgen (BMLV 9.2.2023; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 7).
Deserteure in Somaliland und Puntland gelten grundsätzlich nicht als gefährdet. Deserteure aus Süd- oder Zentralsomalia befinden sich jedoch in Somaliland in einer schwierigen Lage, da sie nicht wissen, wem sie vertrauen können oder wer al Shabaab nahe steht (ÖB 11.2022, Sitzung 7; vergleiche BMLV 9.2.2023).
Amnestie: Der ehemalige Präsident Farmaajo hat zwar eine Amnestie für Angehörige der al Shabaab ausgesprochen, welche sich freiwillig ergeben. Allerdings ist diese Amnestie nur mündlich ausgesprochen worden. Es gibt keine rechtliche Grundlage dafür. Trotzdem geben Deserteure an, dass die Aussicht auf eine Amnestie ein maßgeblicher Faktor für ihre Desertion war (Khalil 1.2019, Sitzung 17). Ehemalige Mitglieder der al Shabaab werden von der NISA gescreent; jene, die als „high risk“ eingestuft werden, werden dem Justizministerium zur Strafverfolgung übergeben (Santur 22.10.2018). Insgesamt gibt es keine eindeutigen Prozeduren oder Regeln im Umgang mit Deserteuren. Es fehlt an Vorhersagbarkeit und Transparenz (Sahan 18.11.2021).
Rehabilitation/Reintegration: Die somalische Regierung betreibt mehrere Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige von al Shabaab, die als "low-risk" eingestuft wurden. Dies sind in erster Linie Zentren in Mogadischu, Baidoa und Kismayo (UNSC 1.9.2022, Absatz 70 ;, vergleiche Sahan 18.11.2021). Im Rahmen des National Program for the Treatment and Handling of Disengaged Combatants, über welches auch die Rehabilitationszentren geführt werden, wurden tausende Deserteure der al Shabaab rehabilitiert und reintegriert. Das Rehabilitationsprogramm wird maßgeblich von Großbritannien und Deutschland finanziert. Mit Stand Ende Dezember 2022 befanden sich mehr als 450 männliche und weibliche Deserteure in Betreuung (VOA 29.12.2022), im Juli 2022 waren es 304 Männer und 184 Frauen. Von Jänner bis August 2022 sind 187 Männer und 186 Frauen aus den Zentren als rehabilitiert entlassen und in die Gesellschaft reintegriert worden (UNSC 1.9.2022, Absatz 70,). IOM unterstützt in Baidoa ein Projekt zur Demobilisierung und Reintegration von männlichen und weiblichen "disengaged combatants" der al Shabaab. Dabei wird die Grundversorgung gesichert, Zugang zu Berufsausbildung ermöglicht und Mediationsarbeit zur langfristigen Reintegration geleistet. Nach der Ausbildung wird Geld zur Verfügung gestellt, um gegebenenfalls ein Unternehmen gründen zu können (ÖB 11.2022, Sitzung 7). Bei der Reintegration gibt es unterschiedliche Erfolge. Einige schaffen es, in ein normales Leben zurückzufinden. Andere sehen sich gezwungen, das Land zu verlassen, nachdem sie unter ständigen Einschüchterungen durch al Shabaab leiden. Eine unbekannte Zahl wurde von al Shabaab ermordet – als Abschreckung für andere (Sahan 18.11.2021).
Für Kinder gibt es eigene Zentren. Diese werden von NGOs betrieben, Kindern wird dort Bildung und Berufsbildung zur Verfügung gestellt (Santur 22.10.2018). U. a. werden bei von UNICEF unterstützten Reintegrationsprojekten für ehemalige Kindersoldaten Minderjährige in ihren Gemeinden resozialisiert. Sie erhalten außerdem Zugang zu einer Ausbildung (ÖB 11.2022, Sitzung 7).
Reintegration - Beispiel Serendi Rehabilitation Centre (SRC), Mogadischu: Das SRC steht jenen ehemaligen Angehörigen der al Shabaab offen, die als "low-risk" eingestuft wurden (Khalil 1.2019, Sitzung vii). Als "low-risk" wird von der NISA herausgefiltert, wer al Shabaab freiwillig verlassen hat; wer sich gegen die Ideologie der Gruppe ausspricht; und wer nicht als künftiges Risiko für die öffentliche Sicherheit erachtet wird (Khalil 1.2019, Sitzung 19/2; vergleiche BBC 23.11.2020). Trotzdem gibt es in Rehabilitationszentren auch Agenten von al Shabaab (BBC 23.11.2020).
Die Aufenthaltsdauer im SRC beträgt 6-12 Monate (Khalil 1.2019, Sitzung 19). Am SRC erhalten die Bewohner neben psycho-sozialer Unterstützung auch eine schulische und eine Berufsausbildung (Khalil 1.2019, Sitzung 23/12). Ein Rehabilitierter erzählt, dass er nun Schulbusfahrer ist, ein anderer ist Friseur. Im Zentrum gibt es z.B. auch Ausbildung in Mechanik, Schweißen, IT, Basisbildung und Englisch (BBC 23.11.2020). Das SRC unterstützt die Bewohner bei der Wiederherstellung des Kontakts zu Familie und Clan (Khalil 1.2019, Sitzung 24). Spätestens im Zuge der Reintegration in Mogadischu wenden sich viele aus dem SRC Entlassene an (teils entfernte) Verwandte. In vielen Fällen konnten positive Beziehungen zur Familie wieder hergestellt werden, die meisten wurden von ihrer Kernfamilie wieder aufgenommen (Khalil 1.2019, Sitzung 27f).
Nach der Entlassung aus dem SRC stellt gesellschaftliche Diskriminierung kaum ein relevantes Problem für ehemalige Angehörige der al Shabaab dar, wohl auch, weil es vielen gelingt, ihre Vergangenheit zu verschweigen (Kahlil 1.2019, Sitzung 29/34). Viele der Deserteure stammen zwar aus Mogadischu (Kahlil 1.2019, Sitzung 3), die Mehrheit jedoch aus Lower Shabelle, Middle Juba, Hiiraan oder Galgaduud (Kahlil 1.2019, Sitzung 3/27). Trotzdem entscheiden sich viele für eine Reintegration in Mogadischu – mitunter, weil dort relative Anonymität herrscht (Khalil 1.2019, Sitzung 29/27).
Bereits entlassene rehabilitierte ehemalige Angehörige von al Shabaab bleiben auch in Mogadischu und versuchen, dort in der Masse unerkannt zu bleiben (BBC 23.11.2020). Viele der aus dem SRC Entlassenen sind aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht in ihre eigentliche Heimat zurückgekehrt. Einige von ihnen meiden auch in Mogadischu bestimmte Stadtgebiete, da sie Angst haben, dort als ehemalige Angehörige der al Shabaab identifiziert zu werden. Insgesamt äußern aus dem SRC Entlassene häufig Sicherheitsbedenken bezüglich al Shabaab – natürlich besteht eine latente Bedrohung, von ehemaligen Kameraden erkannt zu werden. Allerdings ist nur in einem Fall auch tatsächlich eine Drohung (über SMS) ausgesprochen worden (Khalil 1.2019, Sitzung 27f). Schon in ihrer Zeit im halb-offenen SRC haben Deserteure am Wochenende Ausgang, und fast alle nehmen diesen auch in Anspruch (Khalil 1.2019, Sitzung 22).
(…)
Allgemeine Menschenrechtslage
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Letzte Änderung: 17.03.2023
In der somalischen Verfassung ist der Schutz der Menschenrechte ebenso verankert wie die prägende Rolle der Scharia als Rechtsquelle (AA 28.6.2022, Sitzung 20).
Trotzdem werden Grund- und Menschenrechte regelmäßig und systematisch verletzt. Im Wettstreit stehende, politische Akteure in Süd-/Zentralsomalia sind in schwere und systematische Menschenrechtsverbrechen involviert (BS 2022, Sitzung 18; vergleiche AI 29.3.2022). Die schwersten Menschenrechtsverletzungen sind: willkürliche und ungesetzliche Tötungen durch Kräfte der somalischen Bundesregierung; Entführungen und Verschwindenlassen; Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten; Folter und andere grausame Behandlung; harte Haftbedingungen; willkürliche und politisch motivierte Verhaftungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1f; vergleiche BS 2022, Sitzung 34). Al Shabaab ist für die Mehrheit der schweren Menschenrechtsverletzungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche UNSC 6.10.2021) und für den größten Teil ziviler Todesopfer verantwortlich (BS 2022, Sitzung 34). Es gibt aber auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Kräfte der Bundesregierung und von Regionalregierungen. Auch Clanmilizen sind für Vergehen verantwortlich - darunter Tötungen, Entführungen und Zerstörung zivilen Eigentums (UNSC 6.10.2021).
Bei Kämpfen unter Beteiligung von ATMIS, Regierung, Milizen und al Shabaab kommt es zur Tötung, Verletzung und Vertreibung von Zivilisten sowie zu anderen Kriegsverbrechen, welche durch alle Konfliktbeteiligten verübt werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 2). Es gibt zahlreiche Berichte, wonach die Regierung und ihre Handlanger Personen willkürlich und außergesetzlich töten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Nach anderen Angaben stellen extralegale Tötungen bei den Sicherheitskräften kein strukturelles Problem dar (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Jedenfalls werden Sicherheitskräfte beschuldigt, Zivilisten bei Streitigkeiten um Land, bei Checkpoints, bei Zwangsräumungen und anderen Gelegenheiten willkürlich angegriffen zu haben (BS 2022, Sitzung 18). In solchen Fällen ist aufgrund des dysfunktionalen Justizsystems häufig von Straflosigkeit auszugehen (AA 28.6.2022, Sitzung 22).
Für die meisten Tötungen sind aber al Shabaab und Clanmilizen verantwortlich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; vergleiche AI 29.3.2022). Im Zeitraum 7.5. bis 23.8.2022 kamen landesweit 419 Zivilisten ums Leben oder wurden verletzt. Für 88 Opfer trug dabei al Shabaab, für 249 Unbekannte, für 30 Clanmilizen, für 46 staatliche Sicherheitskräfte und für sechs die Liyu Police die Verantwortung (UNSC 1.9.2022, Absatz 52,). Im Zeitraum 1.2. bis 6.5.2022 sind es vergleichsweise insgesamt 428 Opfer gewesen (UNSC 13.5.2022, Absatz 51,). In den vergangenen Jahren war die Zahl an zivilen Opfern stetig zurückgegangen. Gemäß verfügbarer Zahlen der UN ist aber 2022 bereits im November das Jahr mit den höchsten Zahlen an getöteten (613) und verletzten (948) Zivilisten seit dem Jahr 2017. Dabei wurden bei Sprengstoffanschlägen 315 Menschen getötet und 686 verletzt. Von diesen Anschlägen können mindestens 94 Prozent al Shabaab angelastet werden. Die restlichen Opfer wurden durch staatliche Kräfte, Milizen und Unbekannte verursacht (UNOHCHR 14.11.2022).
Es gibt mehrere Berichte über von der Regierung gesteuertes, politisch motiviertes Verschwindenlassen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen durch Bundes- und Regionalbehörden sowie durch alliierte Milizen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 9; vergleiche BS 2022, Sitzung 16). Die Regierung verwendet bei derartigen Verhaftungen oft den Vorwurf der Mitgliedschaft bei al Shabaab (USDOS 12.4.2022, Sitzung 10).
Generell ist Straflosigkeit die Norm. Die Regierung macht zumindest einige Schritte, um öffentlich Bedienstete – vor allem Sicherheitskräfte – strafrechtlich zu verfolgen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2).
Al Shabaab verletzt in den Gebieten unter ihrer Kontrolle systematisch Grundrechte (BS 2022, Sitzung 19). Die Gruppe ist für die Mehrheit schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Al Shabaab verübt terroristische Anschläge gegen Zivilisten; begeht Morde und Attentate; entführt Menschen, begeht Vergewaltigungen und vollzieht grausame Bestrafungen; Bürgerrechte und Bewegungsfreiheit werden eingeschränkt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Die Gruppe rekrutiert Kindersoldaten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche HRW 13.1.2022). Al Shabaab entführt Menschen und nimmt Geiseln (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Die Entführung und Verhaftung von Zivilisten erfolgt, um Regelbrüche zu ahnden oder Kollaboration zu erzwingen. Von Ende 2020 bis September 2021 wurden 13 derartige Entführungen dokumentiert, betroffen waren 155 Zivilisten – u. a. Älteste, Wirtschaftstreibende und Jugendliche (UNSC 6.10.2021). Nachdem sich al Shabaab bei schweren Kämpfen im Bereich Siigale Degta (Lower Shabelle) am 8.3.2022 zurückziehen musste, kehrte die Gruppe noch am selben Tag in das Dorf zurück. Al Shabaab beschuldigte die Gemeinde der Spionage und Kollaboration mit der Bundesarmee, tötete mindestens einen Mann und entführte 33 Dorfbewohner (darunter neun Frauen). Der Verbleib dieser Menschen ist bis heute ungeklärt (UNSC 10.10.2022, Sitzung 86).
Al Shabaab verhängt in ihren Gebieten Körperstrafen. So werden sexuelle Vergehen mitunter mit Auspeitschen, Diebstahl mit Amputation und Spionage mit dem Tode bestraft (UNSC 6.10.2021). Al Shabaab richtet regelmäßig und ohne ordentliches Verfahren Menschen hin, denen Kooperation mit der Regierung, internationalen Organisationen oder westlichen Hilfsorganisationen vorgeworfen wird (AA 28.6.2022, Sitzung 16), bzw. Zivilisten, die zu Abtrünnigen oder Spionen deklariert werden (BS 2022, Sitzung 19). Al Shabaab übt teils Rache an der Bevölkerung von Gebieten, die zuvor „befreit“ aber danach von al Shabaab wieder eingenommen worden waren. Die Gruppe wendet u. a. auch das Mittel von Zwangsvertreibungen an, um sich an sich widersetzenden oder nicht die eigenen Regeln befolgenden Bevölkerungsgruppen zu rächen. Bei derartigen Kollektivstrafen wurden z. B. im ersten Halbjahr 2021 im SWS und in Galmudug mehr als 11.000 Familien vertrieben (UNSC 6.10.2021). Mitunter kommt es bei al Shabaab auch zu Zwangsarbeit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46).
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Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 17.03.2023
Die somalische Bevölkerung bekennt sich zu über 99 % zum sunnitischen Islam (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Eine Konversion zu einer anderen Religion bleibt in einigen Gebieten verboten und gilt als sozial inakzeptabel. Nur eine sehr kleine Minderheit hängt tatsächlich einer anderen Religion oder islamischen Richtung an (USDOS 2.6.2022, Sitzung 2). Die auf einige Hundert geschätzten (ÖB 11.2022, Sitzung 4) Christen praktizieren ihren Glauben nicht in der Öffentlichkeit (FH 2022a, D2).
Somalis folgten traditionell der Shafi’i-Schule des islamischen Rechts, geführt von mehreren dominanten Sufi-Orden bzw. Sekten (turuuq) (Bryden 8.11.2021). Der Sufismus hat sich in Ostafrika in den vergangenen 200 Jahren ausgebreitet und in Somalia eigene Formen angenommen (AQ11 10.7.2022). Trotz des aggressiven Vordringens des importierten Salafismus’ schätzen viele Somali nach wie vor ihren Sufi-Glauben und ihre Sufi-Bräuche (Bryden 8.11.2021). Als Sufi-Hochburgen gelten Galgaduud und Hiiraan (Sahan 14.10.2022). Allerdings macht sich seit 20 Jahren der Einfluss des Wahhabismus und damit der Vormarsch einer konservativen Auslegung des Islams bemerkbar (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Salfafisten, al Quaida und al Shabaab verabscheuen die Sufi-Interpretation des Islam (AQ11 10.7.2022).
Gebiete unter Regierungskontrolle
Letzte Änderung: 26.07.2022
Somalia ist seinem verfassungsmäßigen Selbstverständnis nach ein islamischer Staat, der nicht vorrangig auf religiöse Vielfalt und Toleranz ausgelegt ist (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Die Verfassungen von Somalia, Puntland und Somaliland bestimmen den Islam als Staatsreligion. Das islamische Recht (Scharia) wird als grundlegende Quelle der staatlichen Gesetzgebung genannt (AA 28.6.2022, Sitzung 14f; vergleiche BS 2022, Sitzung 9; USDOS 2.6.2022, Sitzung 1ff), alle Gesetze müssen mit den generellen Prinzipien der Scharia konform sein. Auch die Verfassungen der anderen Bundesstaaten erklären den Islam zur offiziellen Religion (USDOS 2.6.2022, Sitzung 1ff).
Der Übertritt zu einer anderen Religion ist gesetzlich nicht explizit verboten, wohl aber wird die Scharia entsprechend interpretiert. Blasphemie und "Beleidigung des Islam" sind Straftatbestände (USDOS 2.6.2022, Sitzung 2f). Nach anderen Angaben ist es Muslimen verboten, eine andere Religion anzunehmen (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Jedenfalls sind Missionierung bzw. die Werbung für andere Religionen laut Verfassung verboten (FH 2022a, D2; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 15). Andererseits bekennt sich die Verfassung zu Religionsfreiheit (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Auch sind dort ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion (FH 2022a, D2) sowie die freie Glaubensausübung festgeschrieben (USDOS 2.6.2022, Sitzung 2).
Unabhängig von staatlichen Bestimmungen und insbesondere jenseits der Bereiche, in denen die staatlichen Stellen effektive Staatsgewalt ausüben können, sind islamische und lokale Traditionen und islamisches Gewohnheitsrecht weit verbreitet (28.6.2022, Sitzung 15). Es herrscht ein starker sozialer Druck, den Traditionen des sunnitischen Islam zu folgen. Eine Konversion vom Islam zu einer anderen Religion wird als sozial inakzeptabel erachtet. Jene, die unter dem Verdacht stehen, konvertiert zu sein, sowie deren Familien müssen mit Belästigungen seitens ihrer Umgebung rechnen (USDOS 2.6.2022, Sitzung 7).
Gebiete von al Shabaab
Letzte Änderung: 17.03.2023
In Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist die Praktizierung eines moderaten Islams sowie anderer Religionen untersagt (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Al Shabaab setzt in den von ihr kontrollierten Gebieten gewaltsam die eigene Interpretation des Islam und der Scharia durch (FH 2022a, D2; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 6). Al Shabaab drangsaliert, verletzt oder tötet Menschen aus unterschiedlichen Gründen, u. a. dann, wenn sich diese nicht an die Edikte der Gruppe halten (USDOS 2.6.2022, Sitzung 1). Eltern, Lehrer und Gemeinden, welche sich nicht an die Vorschriften von al Shabaab halten, werden bedroht. Zudem droht al Shabaab damit, jeden Konvertiten zu exekutieren (USDOS 2.6.2022, Sitzung 6). Auf Apostasie steht die Todesstrafe (FH 2022a, D2). Scheinbar gilt dies auch für Blasphemie, denn am 5.8.2021 wurde ein 83-Jähriger in der Nähe der Stadt Ceel Buur (Galmudug) von al Shabaab durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Dem urteilenden Gericht zufolge hatte der Mann gestanden, den Propheten beleidigt zu haben (BAMF 9.8.2021; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 6). Christen droht Verfolgung, die diesbezügliche Situation hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Al Shabaab will Christen in Somalia gezielt auslöschen (ÖB 11.2022, Sitzung 4).
In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab sind Politik und Verwaltung von religiösen Dogmen geprägt (BS 2022, Sitzung 10). Al Shabaab verbietet dort generell "un-islamisches Verhalten" - Kinos, Fernsehen, Musik, Internet, das Zusehen bei Sportübertragungen, der Verkauf von Khat, Rauchen und weiteres mehr. Es gilt das Gebot der Vollverschleierung (USDOS 2.6.2022, Sitzung 7; vergleiche CFR 19.5.2021). Allerdings scheint al Shabaab bei der Durchsetzung derartiger Normen zunehmend pragmatisch zu sein (ICG 27.6.2019, Sitzung 7).
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Minderheiten und Clans
Letzte Änderung: 17.03.2023
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Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen (SPC 9.2.2022). Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2022, Sitzung 10). Selbst relative starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan 30.9.2022).
Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessenvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des Xeer. Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler. Al Shabaab installiert oft Älteste, welche die Gruppe repräsentieren. Er wird so zum Bindeglied zwischen der Gemeinschaft und al Shabaab. So werden zuvor legitime Strukturen in Geiselhaft genommen (Sahan 26.10.2022).
In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56) und für ökonomische sowie politische Partizipation (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56; vergleiche BS 2022, Sitzung 23). Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2022, Sitzung 23). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UNOCHA 14.3.2022).
Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Weder das traditionelle Recht (Xeer) (SEM 31.5.2017, Sitzung 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, Sitzung 42; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen (ÖB 11.2022, Sitzung 4). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, Sitzung 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, Sitzung 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, Sitzung 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14).
Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).
Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel (ÖB 11.2022, Sitzung 3). Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten (ÖB 11.2022, Sitzung 3; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 31f; FH 2022a, B4). Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert (FH 2022a, B4). Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen (SPC 9.2.2022). So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (ÖB 11.2022, Sitzung 4).
Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 14; FH 2022a, F4). Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (AA 28.6.2022, Sitzung 14). Zudem sind die Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen weniger gut ausgebaut, und sie verfügen über geringere Ressourcen (Sahan 24.10.2022) und erhalten weniger Remissen (Sahan 24.10.2022; vergleiche SPC 9.2.2022). Die mächtigen Gruppen erhalten den Löwenanteil an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird (Sahan 24.10.2022). Dementsprechend stehen Haushalte, die einer Minderheit angehören, einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u.a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (UNOCHA 14.3.2022).
Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).
Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt (BS 2022, Sitzung 19; vergleiche ÖB 11.2022 Sitzung 6). Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet (DI 6.2019, Sitzung 11; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Al Shabaab hat sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Gruppen zunutze gemacht (Sahan 24.10.2022). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022). Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab beitreten (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Missstände treiben ganze Gemeinden in die Arme von al Shabaab. Sie suchen ein taktisches Bündnis – haben dabei aber keine dschihadistische Vision, sondern wollen ihre Rivalen ausstechen. Al Shabaab nimmt derartige Spannungen gerne auf und verwendet sie für eigene Zwecke (Sahan 30.9.2022). Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (ÖB 11.2022, Sitzung 4f).
Bevölkerungsstruktur
Letzte Änderung: 26.07.2022
Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar (AA 28.6.2022, Sitzung 11/14). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UNOCHA 14.3.2022; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44; vergleiche SEM, 31.5.2017, Sitzung 12). Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, Sitzung 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 5).
Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2022, Sitzung 34). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017, Sitzung 8).
Die sogenannten "noblen" Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:
● Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.
● Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.
● Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).
● Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.
● Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 10). Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (BS 2020, Sitzung 9).
Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017, Sitzung 25). In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (FIS 7.8.2020, Sitzung 38ff).
Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LI 4.4.2016, Sitzung 9). Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (BS 2022, Sitzung 25).
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Ethnische Minderheiten, aktuelle Situation
Letzte Änderung: 17.03.2023
Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums (SEM 31.5.2017, Sitzung 11). Die soziale Stellung der einzelnen ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich (SEM 31.5.2017, Sitzung 14). Sie werden aber als minderwertig (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44) und mitunter als Fremde erachtet (SPC 9.2.2022). So können Angehörige ethnischer Minderheiten auf Probleme stoßen - bis hin zu Staatenlosigkeit - wenn sie z. B. in einem Flüchtlingslager außerhalb Somalias geboren wurden (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).
Generell sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt, wie dies Anfang der 1990er der Fall war (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Dies gilt auch für Mogadischu. Allerdings sind dort all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, Sitzung 3). In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (UNFPA/DIS 25.6.2020).
Nach anderen Angaben drohen ethnischen Minderheiten Stigmatisierung, soziale Absonderung, Verweigerung von Rechten und ein niedriger sozialer, ökonomischer und politischer Status (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44), Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ressourcen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v. a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig wie für die Älteren (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff).
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Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose
Letzte Änderung: 13.06.2022
Auch Angehörige starker Clans können zu Minderheiten werden. Dies ist dann der Fall, wenn sie in einem Gebiet leben, in dem ein anderer Clan dominant ist. Dies kann Einzelpersonen oder auch ganze Gruppen betreffen. So sehen sich beispielsweise die Biyomaal als exponierter Dir-Clan in Südsomalia manchmal in dieser Rolle. Generell gerät eine Einzelperson immer dann in die Rolle der Minderheit, wenn sie sich auf dem Gebiet eines anderen Clans aufhält. Sie verliert so die mit ihrer Clanzugehörigkeit verbundenen Privilegien. Die Position als "Gast" ist schwächer als jene des "Gastgebers". Im System von "hosts and guests" sind Personen, die sich außerhalb des eigenen Clanterritoriums niederlassen, gegenüber Angehörigen des dort ansässigen Clans schlechter gestellt. In Mogadischu gelten etwa Angehörige der Isaaq, Rahanweyn und Darod als "Gäste". Dieses System gilt auch für IDPs (SEM 31.5.2017, Sitzung 11f/32f).
Diskriminierung: In den meisten Gegenden schließt der dominante Clan andere Gruppen von einer effektiven Partizipation an Regierungsinstitutionen aus. Diskriminierung erfolgt etwa auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Gerichtsverfahren (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Angehörige eines (Sub-)Clans können in von einem anderen (Sub-)Clan dominierten Gebiete auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, insbesondere in Konfliktsituationen bezüglich Unfällen, Eigentum oder Wasser (AA 18.4.2021, Sitzung 12). In Mogadischu ist es im Allgemeinen schwierig, Menschen die dort aufgewachsen sind, nach Clans zu differenzieren. Es gibt keine äußerlichen Unterschiede, auch der Akzent ist der gleiche. Selbst anhand von Namen lassen sich die Menschen nicht einmal ethnisch zuordnen, da vor allem arabische Namen verwendet werden (UNFPA/DIS 25.6.2020).
Ashraf und Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status aus der von ihnen angegebenen Abstammung von der Tochter des Propheten; die Sheikhal aus einem vererbten religiösen Status. Beide Clans werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Die Sheikhal sind außerdem eng mit dem Clan der Hawiye/Hirab assoziiert und nehmen sogar einige Sitze der Hawiye im somalischen Parlament ein. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil-Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (EASO 8.2014, Sitzung 46f/103).
Für eine Person ohne Clanidentität ist gesellschaftlicher Schutz nicht vorhanden. Dies führt nicht automatisch zu Misshandlung, fördert aber die Vulnerabilität. Sollte eine Person ohne Clanidentität und ohne Ressourcen zurückkehren, wird es im gegenwärtigen somalischen Kontext für diese physisch und wirtschaftlich sehr schwierig, zu überleben (ACCORD 29.5.2019, Sitzung 2f). Allerdings gibt es laut Experten bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri 3.5.2021).
Relevante Bevölkerungsgruppen
(…)
Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und andere terroristische Gruppen
Letzte Änderung: 17.03.2023
Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:
● Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS (BS 2022, Sitzung 34; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1);
● nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter (BS 2022, Sitzung 7/34; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1);
● Angehörige der Sicherheitskräfte (BS 2022, Sitzung 7/34; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1);
● Regierungsangehörige, Parlamentarier, Offizielle (BS 2022, Sitzung 34; vergleiche UNSC 10.10.2022, Absatz 117,) und Wahlkandidaten (UNSC 10.10.2022, Absatz 117,); al Shabaab greift z. B. gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen (BS 2022, Sitzung 7);
● mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche BS 2022, Sitzung 7);
● Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15);
● Wirtschaftstreibende (BS 2022, Sitzung 7; vergleiche Sahan 7.9.2022), insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld ("Steuer") an al Shabaab abzuführen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 57);
● Älteste und Gemeindeführer (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche Sahan 7.9.2022; BS 2022, Sitzung 7); gemäß somalischen Regierungsangaben hat al Shabaab innerhalb von zehn Jahren 324 Älteste ermordet. Einige der Opfer waren in Wahlprozesse involviert (KM 31.8.2022). In jüngerer Vergangenheit hat al Shabaab v. a. solche Älteste ermordet, die ihre Clans zur Beteiligung an der Offensive gegen die Gruppe aufgerufen bzw. deren Teilnahme öffentlich unterstützt haben (BMLV 9.2.2023).
● Wahldelegierte und deren Angehörige (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche BS 2022, Sitzung 7; UNSC 10.10.2022, Absatz 117,); dabei hat al Shabaab in der Vergangenheit Delegierte vor die Wahl gestellt, entweder zu ihnen zu kommen und sich zu entschuldigen, oder aber einem Todesurteil zu unterliegen. Die große Mehrheit entschuldigte sich (Mohamed 17.8.2019). Immer wieder werden jedenfalls an Wahlen Beteiligte ermordet, so z. B. ein Delegierter und Ältester am 13.6.2022 sowie ein weiterer Delegierter Mitte April 2022 – beide in Hodan (Mogadischu). Al Shabaab bekennt sich nicht immer zu derartigen Attentaten, hat in der Vergangenheit allerdings betont, jede an Wahlen beteiligte Person zum Ziel zu machen (HO 14.6.2022);
● Angehörige diplomatischer Missionen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15);
● prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche Sahan 7.9.2022);
● religiöse Führer (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 57f; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 8);
● Journalisten (BS 2022, Sitzung 34) und Mitarbeiter von Medien (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48);
● Telekommunikationsarbeiter (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48);
● mutmaßliche Kollaborateure und Spione (HRW 13.1.2022; vergleiche BS 2022, Sitzung 19; USDOS 12.4.2022, Sitzung 15f);
● Deserteure (FIS 7.8.2020, Sitzung 8);
● als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten) (BS 2022, Sitzung 19);
● (vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des IS (AA 28.6.2022, Sitzung 16); den IS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse (JF 14.1.2020).
Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o. g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (BMLV 9.2.2023).
Kollaboration und Spionage: In von al Shabaab kontrollierten Gebieten gelten eine Unterstützung der Regierung und Äußerungen gegen al Shabaab als ausreichend, um als Verräter verurteilt und hingerichtet zu werden (AA 28.6.2022, Sitzung 19). Al Shabaab tötet - meist nach unfairen Verfahren - Personen, denen Spionage für oder Kollaboration mit der Regierung oder ausländischen Kräften vorgeworfen wird (HRW 13.1.2022; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1/6; UNSC 6.10.2021). Beispiele für Hinrichtungen wegen angeblicher Spionage (für Lokalregierungen, die Bundesregierung oder ausländische Kräfte: 2/2022, Buulo Fulay (Bay): 1 Mann (BAMF 7.2.2022); 7/2022, Bay: 6 Männer, öffentlich (RD 31.7.2022; vergleiche GN 1.8.2022); 8/2022, Kunyo Baarow (Lower Shabelle): 6 Männer, öffentlich (Menschen werden gezwungen, der Exekution beizuwohnen) (GN 22.8.2022); 9/2022, Jilib (Lower Juba): 5 Männer, öffentlich (Halbeeg 5.9.2022).
Al Shabaab bedroht Menschen, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Zivilisten können bestraft oder auch getötet werden, wenn sie für die Regierung oder die Armee arbeiten (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 20). Die Schwelle dessen, was al Shabaab als Kollaboration mit dem Feind wahrnimmt, ist mitunter sehr niedrig angesetzt (BFA 8.2017, Sitzung 40f). So wurden etwa im Feber 2021 in Mogadischu drei Frauen erschossen, die im Verteidigungsministerium als Reinigungskräfte gearbeitet hatten (Sahan 15.2.2021a). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab solche Personen hingegen nicht gezielt an (C4 15.6.2022). Insbesondere in Frontgebieten oder Orten, deren Herrschaft wechselt, kann auch das Verkaufen von Tee an Soldaten bereits als Kollaboration wahrgenommen werden (BFA 8.2017, Sitzung 40ff). So wurden etwa Anfang Juli 2021 fünf Zivilisten im Gebiet Jowhar von al Shabaab entführt, weil sie Soldaten der Armee mit Erfrischungen bewirtet bzw. mit ihnen gehandelt hatten. Mehrere Häuser und Fahrzeuge wurden angezündet (AMISOM 2.7.2021). Generell sind aber das Ausmaß und/oder die Gewissheit der Kollaboration; der Ort des Geschehens; und die Beziehungen der betroffenen Person dafür ausschlaggebend, ob al Shabaab die entsprechenden Konsequenzen setzt. Besonders gefährdet sind Personen, welche folgende Aspekte erfüllen: a) die Kollaboration ist offensichtlich; b) der Ort lässt eine leichte Identifizierung des Kollaborateurs zu; c) eine Exekution wird als maßgebliches Abschreckungszeichen wahrgenommen; d) wenn sich die Kollaboration in einem Ort mit fluktuierender Kontrolllage zugetragen hat (BFA 8.2017, Sitzung 40ff).
Auf der anderen Seite kollaborieren viele Menschen mit al Shabaab. Verwaltungsstrukturen und Sicherheitskräfte sind unterwandert. Eine derartige Kollaboration kann aus finanziellen oder ideologischen Gründen erfolgen, oft aber auch aus Angst. Es scheint wenig ratsam, ein "Angebot" von al Shabaab abzulehnen (BMLV 9.2.2023).
Kapazitäten: Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie direkt Soldaten von Armee und ATMIS. Grundsätzlich richten sich die Angriffe der al Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden (BMLV 9.2.2023).
Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an. Für diese besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 24ff) und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (BMLV 9.2.2023; vergleiche LIFOS 3.7.2019, Sitzung 25; FIS 7.8.2020, Sitzung 24). So hat Mogadischu über die Jahre Dutzende Arbeiter der Straßenreinigung verloren, die durch versteckte Sprengsätze getötet wurden, welche entlang von Straßen im dahinter liegendem Müll platziert waren (AJ 21.7.2022). Außerdem greift al Shabaab etwa Cafés, Restaurants oder Hotels an, die von Behördenvertretern oder Wirtschaftstreibenden frequentiert werden (BS 2022, Sitzung 7). So kamen etwa am 17.7.2022 bei einem Selbstmordanschlag auf ein bei Politikern beliebtes Hotel in Jowhar mindestens zwölf Personen ums Leben. Dutzende weitere Personen wurden verletzt. Unter den Opfern befanden sich regionale Minister und Direktoren sowie ehemalige Abgeordnete (SG 17.7.2022; vergleiche BAMF 18.7.2022). Zwar richten sich diese Angriffe also gegen Personengruppen, die von al Shabaab als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten. Nach einem Anschlag im Dezember 2019 hat sich al Shabaab sogar dafür entschuldigt, dass derart viele Zivilisten ums Leben gekommen sind (FIS 7.8.2020, Sitzung 25). Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 10ff). Dies führt Zivilisten in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen - und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 27).
Ausweichmöglichkeiten: Aufgrund der überregionalen Aktivitäten und der Vernetzung des Amniyad [Nachrichtendienst der al Shabaab] sind – vor allem prominente – Zielpersonen auch bei einer innerstaatlichen Flucht gefährdet (BMLV 9.2.2023). Generell kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecken (BMLV 9.2.2023; vergleiche AI 13.2.2020, A. 36). Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre, und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen (BMLV 9.2.2023).
Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (BMLV 9.2.2023). Gleichzeitig finden sich etwa Clanälteste immer wieder zwischen den Fronten. So wurden im Dezember 2022 in Galmudug drei Älteste verhaftet, denen Kollaboration mit al Shabaab vorgeworfen wird. Sie geben hingegen an, durch die ihnen vorgeworfene Vereinbarung mit al Shabaab die Freilassung von 69 Geiseln bewirkt zu haben (Halbeeg 25.12.2022).
Der Islamische Staat in Somalia (ISIS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des ISIS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, Polizisten und Angehörige von al Shabaab. In Mogadischu wendet sich der IS gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v. a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (BMLV 9.2.2023).
Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen ("Steuern")
Letzte Änderung 17.03.2023
Anders als der somalische Staat "besteuert" al Shabaab alles und jeden in Somalia (SRF 27.12.2021) - insbesondere in den eigenen Gebieten (HI 10.2020; vergleiche BBC 18.1.2021). Besteuert werden u.a. die Landwirtschaft, der Handel und Immobilientransaktionen; Fahrzeuge, Vieh, Handelswaren, Importe, Exporte von Holzkohle oder Bauarbeiten (FGS 2022, Sitzung 98). Doch auch in umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt (HI 10.2020). Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden "Steuern" an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv (HI 10.2020; vergleiche SRF 27.12.2021) bzw. wurden Schattenverwaltungen aufgebaut (BS 2022, Sitzung 6). Nach Angaben einer Quelle besteuert al Shabaab maßgeblich Im- und Export, jeden größeren Gewerbetreibenden in Mogadischu. Kleinere Marktstände sind al Shabaab hingegen weniger wichtig (BMLV 9.2.2023).
"Steuern" werden eingehoben auf: a) Agrarwirtschaft (dalag beeraha): auf Höfe, agrarische Produkte und Land; b) Fahrzeuge (gadiid): Transitgebühren hängen von der Art des Fahrzeuges und von der Länge der Reise ab. Fahrzeuge müssen jedenfalls bei al Shabaab registriert sein; c) Güter (badeeco): Wegzoll für alle Güter, die Höhe hängt von Art und Quantität ab. Zudem werden z.B. an Häfen Import- und Exportgebühren eingefordert; d) Vieh (xoolo): auf den Verkauf von Vieh, v.a. Rinder, Kamele, Ziegen. Die Haupteinnahmequelle der Gruppe ist die Besteuerung des Transits von Fahrzeugen und Gütern (UNSC 6.10.2021; vergleiche UNSC 10.10.2022). Dabei lukriert al Shabaab jährlich zig-Millionen US-Dollar. Dazu unterhält die Gruppe Dutzende von Checkpoints, die mit Steuerbeamten besetzt sind. Fahrzeuge, die einen solchen Checkpoint passieren, sind bei al Shabaab registriert. Sind sie das nicht, werden sie gegen eine Gebühr ins Register eingetragen (samt Fahrzeugdetails und Besitzern) (GITOC 8.12.2022).
Daneben hebt al Shabaab auch den Zakat ein (UNSC 6.10.2021), eine Quelle betitelt dies als "Zwangsspende" (GITOC 8.12.2022). Dieser ist eine Spendensammlung und stellt eine der fünf Säulen des Islam dar. Es handelt sich um eine religiöse Verpflichtung, einen Prozentsatz seines Besitzes an die Armen abzugeben. Al Shabaab hebt den Zakat zweimal jährlich auf die Agrarwirtschaft und einmal jährlich auf Viehwirtschaft und Wirtschaftstreibende ein. Außerdem erhält al Shabaab mit dem Infaq noch zusätzliche, freiwillige Beiträge zur Unterstützung von Kämpfern (UNSC 6.10.2021). Außerdem nimmt al Shabaab nach Entführungen Lösegelder in Empfang (GITOC 8.12.2022; vergleiche UNSC 6.10.2021). Kommt es zu Finanzengpässen, erwartet sich die Gruppe von Clanältesten, Finanzierungslücken zu schließen (FGS 2022, Sitzung 98).
Al Shabaab hebt insgesamt soviel an "Steuern" ein wie die Bundesregierung - oder sogar noch mehr. Dabei agiert die Gruppe wie ein verbrecherisches Syndikat bzw. wie eine mafiöse Organisation (HIPS 4.2021, Sitzung 5; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 18; HI 10.2020). Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu machen. Dabei dient die Religion nur als Deckmantel (FIS 7.8.2020, Sitzung 18). Konservativen Schätzungen zufolge lukriert al Shabaab alleine an monatlichen Abgaben 15 Millionen US-Dollar - davon die Hälfte in Mogadischu (HI 10.2020). Generell werden alle Wirtschaftstätigkeiten in Mogadischu von der Gruppe mit Schutzgeldforderungen belegt (FIS 7.8.2020, Sitzung 13). Wirtschaftstreibende zahlen Schutzgeld, denn die Regierung ist nicht in der Lage, sie vor Schutzgelderpressung zu schützen. Dabei verlangt al Shabaab von Wirtschaftstreibenden zunehmend höhere "Steuern". Alle großen Unternehmen im südlichen Somalia zahlen diese jährliche "Steuer". Nur sehr kleine Betriebe oder Straßenhändler müssen nichts abführen (HI 10.2020). Dahingegen werden auch zahlreiche andere Bereiche besteuert – etwa die Nutzung von Wasserstellen (UNSC 10.10.2022, Absatz 122,) oder von Bewässerungsanlagen durch Bauern (FGS 2022, Sitzung 100; vergleiche HI 10.2020). Aus Diinsoor wird berichtet, dass zurückkehrende IDPs eine Landwirtschaftsgenehmigung beantragen und bezahlen müssen, damit sie ihre eigenen Ackerflächen bewirtschaften dürfen (UNSC 10.10.2022, Absatz 117 /, S, 84). Besteuert wird auch der Immobilienmarkt (HI 10.2020). In Afgooye verlangt al Shabaab z. B. von Hausbesitzern Steuern. Für ein Steinhaus 150 US-Dollar, für ein mehrstöckiges Haus 300 US-Dollar; und für eine Wellblechhütte 100 US-Dollar (UNSC 10.10.2022, Absatz 43 /, S, 44). Auch in Mogadischu erhielten zwischen Mai und Juli 2022 zahlreiche Besitzer von gemauerten oder mehrstöckigen Häusern eine Zahlungsaufforderung von al Shabaab, und auch dort liegt die jährliche Abgabe zwischen 100 und 300 US-Dollar (GN 10.11.2022a). Auf im Entstehen begriffene Bauten erhebt die Gruppe in Mogadischu ebenfalls Steuern. Dort werden einem Bauherrn üblicherweise 25 % des Gesamtwertes des fertigen Baus in Rechnung gestellt. Berichten zufolge ist der Preis allerdings verhandelbar (UNSC 10.10.2022, Absatz 45,). Für Zahlungsverzögerungen drohen Strafzahlungen (GN 10.11.2022a).
Al Shabaab verlangt von Geschäftsleuten in der Stadt die Zahlung von „Steuern“. Das Einsammeln der Gelder erfolgt üblicherweise nicht persönlich sondern über das Mobiltelefon. römisch fünf. a. Unternehmen, die Waren nach und aus Mogadischu transportieren und nach Somalia importieren, werden zur Zahlung gezwungen. Dem Vernehmen nach sollen auch viele Hilfsorganisationen „Steuern“ an al Shabaab abführen. Ähnliches gilt für Hotels. Jedenfalls ist es immer möglich, dass hinter Steuerforderungen gar nicht al Shabaab steht, sondern andere kriminelle Akteure, die sich als al Shabaab ausgeben. Im Fall einer Weigerung der Zahlung an al Shabaab gibt es in vielen Fällen einen Spielraum für Verhandlungen über die Höhe (LI 8.9.2022).
Selbst das Personal internationaler Organisationen zahlt Schutzgeld, um in Ruhe gelassen zu werden (BFA 8.2017, Sitzung 33). Und auch Bundesbedienstete führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab, darunter hochrangige Angehörige der Armee (HI 10.2020) und sogar Bundesminister (Khalif 10.7.2020). Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöse Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (HI 10.2020).
Betriebe und Einzelpersonen werden durch Angst genötigt, Geld an al Shabaab abzuführen (UNSC 10.10.2022, Absatz 46,). Todesdrohungen und tatsächlich angewandte Gewalt halten das „Steuersystem“ al Shabaabs aufrecht. Wenn z. B. ein Fahrer die Abgabe verweigert oder versucht, einen Checkpoint der al Shabaab zu umfahren, dann muss er als Strafe meist den doppelten Betrag abführen. Diese nicht-verhandelbare Strafe wird etwa per SMS „zugestellt“ oder aber Fahrzeugbesitzer oder Fahrer werden per Nachricht an eines der Schariagerichte der Gruppe einberufen. In extremen Einzelfällen kann es auch vorkommen, dass al Shabaab Personen, die keine Gebühren abführen wollten, tötet und Fahrzeuge zerstört. Auch wenn derartige Fälle sehr selten sind, sorgen sie dafür, dass andere Fahrer aus Angst freiwillig „Steuern“ abführen (GITOC 8.12.2022). Kommt es zu einem Anschlag auf ein Hotel, dann steht für al Shabaab eine Strafaktion für ausständige "Steuerzahlungen" im Vordergrund. Allfällig anwesende Regierungsvertreter oder Staatsbedienstete sind hierbei nur nebenrangige Ziele, wiewohl al Shabaab einen "günstigen" Zeitpunkt abwartet, um gleichzeitig auch solche Ziele zu treffen (BMLV 9.2.2023). Jene, die sich weigern, an al Shabaab Abgaben abzuführen, werden bestraft und ihr Leben bedroht (HI 10.2020), oder es das eigene Geschäft wird z. B. mit einem Sprengsatz zerstört. Ein anderes Beispiel stammt aus Galmudug im Jahr 2022, wo Nomaden den Forderungen von al Shabaab nicht nachgekommen sind. Dort griff al Shabaab die Gemeinde an, entführte und tötete Nomaden und plünderte ihren Viehbestand (UNSC 10.10.2022, Absatz 47 f,). Vorerst werden i. d. R. hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Manche Personen müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (HI 10.2020). Keine "Steuern" zu zahlen, ist für Wirtschaftstreibende keine Option. Letztere sehen das Schutzgeldsystem zwar als unfair und illegal; angesichts von Morden an Zahlungsverweigerern bezahlen sie dann aber doch die geforderten Summen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 57).
Auch der Islamische Staat in Somalia (ISIS) fordert „Steuern“ - v. a. von Wirtschaftstreibenden in städtischen Gebieten. Jene, die sich der Zahlung einer „Steuer“ widersetzen, müssen mit Gewalt rechnen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 18). Auch in Mogadischu fordern Personen, die sich als Mitglieder des ISIS ausgeben, Steuern ein (UNSC 8.2.2022, Absatz 27,).
Bewegungsfreiheit und Relokation
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Letzte Änderung: 17.03.2023
Gesetze schützen das Recht auf Bewegungsfreiheit im Land und das Recht zur Ausreise. Diese Rechte sind in einigen Landesteilen eingeschränkt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 24) – v. a. durch die Unsicherheit entlang der wichtigsten Straßen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 37), durch Checkpoints und Straßenblockaden der jeweiligen Machthaber in bestimmten Gebieten aber auch durch Kampfhandlungen. IDPs sind in den Lagern in und um Mogadischu teils strikten Beschränkungen bezüglich ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen. Davon abgesehen sind keine Einschränkungen für bestimmte Gruppen bekannt (ÖB 11.2022, Sitzung 10).
Überlandreisen: Al Shabaab bleibt auch weiterhin die größte Bedrohung hinsichtlich Bewegungsfreiheit entlang von Hauptversorgungsrouten in Süd-/Zentralsomalia. Die Gruppe verwendet entlang dieser Straßen Sprengsätze und legt Hinterhalte. Manchmal placiert al Shabaab Sprengsätze auch deswegen, um dadurch den Verkehr auf Straßen umzulenken, an welchen sie Checkpoints unterhält, wo Gebühren eingehoben werden (UNSC 6.10.2021).
Reisende werden durch die zahlreichen, von unterschiedlichen Gruppen betriebenen Straßensperren in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 24f). Zudem sind sie dort Plünderung, Erpressung, Belästigung und Gewalt ausgesetzt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 24f; vergleiche FH 2022a, G1). Neben den Straßensperren kann auch das Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen ein Risiko darstellen (FH 2022a, G1). Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle führt al Shabaab eine Blockade durch und greift manchmal Zivilisten an, welche die Blockade durchbrechen wollen (HRW 13.1.2022). Einige Bezirke sind demnach auf Luftbrücken angewiesen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 37).
Der durchschnittliche Somali kann eine Überlandreise antreten, muss aber mit einem gewissen Risiko rechnen, während das Risiko für Sicherheitskräfte oder Regierungsbedienstete höher ist (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 38). Trotzdem bereisen Zivilisten und Wirtschaftstreibende tagtäglich die Überlandverbindungen. Die Menschen reisen nicht uninformiert. Reisende und Fahrer versuchen ihre Reise nach neuesten sicherheitsrelevanten Informationen zu adaptieren (LI 28.6.2019, Sitzung 4/9). Überlandreisen werden bevorzugt mit Minibussen (9-Sitzer), auf Lastwägen oder aber zu Fuß unternommen. Es ist einfach, sich in Mogadischu eine solche Fahrt zu organisieren. Straßenzustand und Sicherheitsüberlegungen können den Zugang zu einzelnen Destinationen fallweise verunmöglichen. Generell können Menschen aber jedes Ziel in Süd-/Zentralsomalia erreichen. Um in kleinere Dörfer zu gelangen, muss meist in der nächstgelegenen Bezirkshauptstadt umgestiegen werden (LI 28.6.2019, Sitzung 7).
Al Shabaab kontrolliert den Ort Leego an der Straße zwischen Wanla Weyne und Buur Hakaba (BMLV 9.2.2023). Damit ist die Route von Mogadischu nach Baidoa für Zwecke der Regierung geschlossen; diese gilt auch für die Hauptversorgungsroute nach Baraawe (Bryden 8.11.2021). Die Verbindung von Mogadischu nach Belet Weyne ist hingegen offen, die Zahl an Reisebewegungen auf dieser Route ist zuletzt stark angestiegen (BMLV 9.2.2023). Der Teil von Buulo Barde nach Belet Weyne wurde gesäubert, und damit ist diese Hauptverbindungsstraße nach 13 Jahren wieder frei (GN 21.9.2022). Die Route von Belet Weyne nach Dhusamareb ist weitgehend sicher (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab kontrolliert etwa auch an der Hauptversorgungsroute von Kismayo nach Dhobley (UNSC 10.10.2022, Absatz 41,). Al Shabaab verfügt an allen Ausfallstraßen aus Kismayo – sowohl in Richtung Jamaame, als auch in Richtung Dhobley oder Kolbiyow – über Checkpoints (GITOC 8.12.2022). Generell kann es an den Straßenverbindungen in der Region Lower Juba zu Übergriffen durch al Shabaab kommen. Dies gilt auch in der Region Gedo für die Verbindungen südlich von Garbahaarey. Dahingegen kommt es im Gebiet zwischen Doolow und Luuq nur selten zu Zwischenfällen. In Bakool kommt es entlang der Verbindungsstraßen zwischen Waajid, Yeed und Ceel Barde nur selten zu Zwischenfällen. Die Verbindungen von und nach Xudur unterliegen wiederkehrenden Angriffen von al Shabaab (BMLV 9.2.2023), Xudur ist von al Shabaab eingekreist (BMLV 9.2.2023; vergleiche PGN 2.2021, Sitzung 12). In Bay bzw. Lower Shabelle kann es an der Route von Baidoa nach Mogadischu zu Übergriffen durch unterschiedliche Akteure kommen. Al Shabaab hat Zugriff auf die gesamte Straße, sie kontrolliert die Verbindung von Baidoa nach Buur Hakaba und weiter nach Bali Doogle. Rund um Baidoa betreibt die Gruppe Straßensperren (BMLV 9.2.2023).
Straßensperren: In ganz Süd-/Zentralsomalia gibt es Straßensperren (Checkpoints), an welchen Fahrzeuge aufgehalten und Personen kontrolliert werden. Prinzipiell geht es an einer Straßensperre um die Einhebung von Wegzoll (LI 28.6.2019, Sitzung 8), wobei die Höhe des Zolls mitunter willkürlich ist. Es gibt permanente und ad hoc Straßensperren, betrieben von Sicherheitskräften, al Shabaab oder Clanmilizen (LI 28.6.2019, Sitzung 8; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 24f). Häufig kommt es an Checkpoints zwischen Clanmilizen, aber auch mit und unter staatlichen Einheiten, die sich um die Kontrolle und um Einnahmen streiten, zu kämpfen (AA 28.6.2022, Sitzung 9).
In Mogadischu gibt es mehrere Hundert permanente oder mobile Kontrollpunkte, dadurch wird die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Dort werden keine offiziellen Gebühren eingehoben, es kann aber zur Forderung nach Bestechungsgeldern kommen (EASO 9.2021a, Sitzung 22f). Gemäß neueren Angaben wurde die Mehrzahl der Checkpoints innerhalb des Stadtgebietes geräumt (Ausnahme: in den Bereichen wichtiger Infrastruktur wie der Villa Somalia, des Parlamentsgebäudes, dem Flughafen u. a.). Einschränkungen ergeben sich durch Sicherheitsmaßnahmen zu besonderen Anlässen wie Staatsbesuchen, die teilweise wichtige Straßenzüge für den zivilen Verkehr unpassierbar machen. Die Dauer dieser Auswirkungen ist unterschiedlich: von mehreren Stunden bis zu mehreren Tagen (BMLV 9.2.2023). Clanälteste, Bundes- und Bundesstaatsminister sowie Abgeordnete können sich in der Stadt nicht ohne Leibwächter frei bewegen (FGS 2022, Sitzung 99). Insgesamt können sich Menschen in Mogadischu aber unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit frei bewegen und sich niederlassen (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).
Frauen: Es ist nicht ungewöhnlich, alleine reisende ältere Frauen anzutreffen. Dahingegen wird vermieden, jüngere Frauen ohne Begleitung auf Reisen zu schicken – v. a. aufgrund der Gefahr sexueller Gewalt (LI 28.6.2019, Sitzung 11f). Bezüglich dieser besteht für Frauen an Straßensperren ein erhöhtes Risiko (FIS 7.8.2020, Sitzung 23).
Straßensperren von al Shabaab: Das Netzwerk an Straßensperren bzw. Checkpoints bleibt stabil, es ist auch für einen großen Teil der Einnahmen von al Shabaab verantwortlich. Die Gruppe betreibt über 100 Checkpoints in Süd-/Zentralsomalia (UNSC 10.10.2022, Absatz 41 f,). In ländlichen Gebieten der gesamten Südhälfte Somalias ist jederzeit mit spontan errichteten Checkpoints der al Shabaab zu rechnen (AA 17.5.2022). Al Shabaab kontrolliert die Versorgungsrouten zwischen den meisten Städten (BS 2022, Sitzung 6). Außerhalb der tatsächlich von der Regierung und ihren Alliierten kontrollierten Gebieten besteht eine große Wahrscheinlichkeit, auf eine Straßensperre von al Shabaab zu stoßen (LI 28.6.2019, Sitzung 4/10). Straßensperren zielen in erster Linie auf die Einhebung von Steuern und Abgaben (BS 2022, Sitzung 6; vergleiche LI 28.6.2019, Sitzung 9f) ab, und in zweiter Linie darauf, Spione zu identifizieren. Generell ist es weder Ziel von al Shabaab, Menschen am Reisen zu hindern, noch sind Reisende selbst ein Ziel. Menschen können z. B. aus den Gebieten von al Shabaab in Städte reisen, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen (LI 28.6.2019, Sitzung 9f). Ein Bericht über die „Besteuerung“ von Straßenverkehr und Gütern an Checkpoints der al Shabaab zeigt, dass der Verkehr in Süd-/Zentralsomalia aus, in und durch das Territorium der al Shabaab möglich ist. Die Studie dokumentiert mehr als 800 Fahrzeuge, die im Zeitraum Dezember 2020 bis Oktober 2021 in Lower und Middle Juba, Lower Shabelle, Bay, Bakool und Gedo unterwegs waren. Passagierfahrzeuge müssen an Straßensperren der al Shabaab nur einen vergleichsweise geringen Betrag abführen (GITOC 8.12.2022).
Allerdings verhält sich al Shabaab an Straßensperren unberechenbar. Menschen können nie voraussehen, wie sie dort behandelt werden. Gebühren werden eingehoben, die Identität aller Reisenden wird verifiziert. Al Shabaab kennt den Hintergrund vieler Menschen, ihr Nachrichtendienst ist effizient (FIS 7.8.2020, Sitzung 28). Wenn also eine Person in eine solche Kontrolle gerät, und über diese Person im Rahmen der ausführlichen Netzwerke der al Shabaab eine Meldung vorliegt, dass diese Person z. B. vor ein paar Monaten negativ aufgefallen ist, dann kann dies zu Repressalien führen (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 40).
Angst vor al Shabaab müssen in erster Linie jene Reisenden haben, die öffentlich Bedienstete sind oder die Verbindungen zur Regierung haben. Außerhalb größerer Städte können sie jederzeit auf eine Straßensperre von al Shabaab treffen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 38). Sie befinden sich in Lebensgefahr. Dies gilt insbesondere an Straßensperren in jenen Gebieten, die nicht vollständig unter Kontrolle von al Shabaab stehen. Dort dürfen Spione standrechtlich – ohne Verfahren – exekutiert werden. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab werden Verdächtige i.d.R. verhaftet und vor Gericht gestellt. Auch dies hat - bei einem Schuldspruch - den Tod zur Folge. Außerdem kann es Personen treffen, die von al Shabaab – etwa wegen des Mitführens von bestimmten Objekten (Smartphones, Regierungsdokumente, Symbole, die mit der Regierung assoziiert werden etc.) – als mit der Regierung in Zusammenhang stehend oder als Spione verdächtigt werden (LI 28.6.2019, Sitzung 9f). Auch Reisende, die im Gebiet der Reisebewegung weder über Familien- noch Clanverbindungen verfügen, können von al Shabaab unter Umständen als Spione verdächtigt werden (außer sie haben einen Bürgen). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Reiseziel der Person im von der al Shabaab kontrollierten Gebiet liegt (LI 28.6.2019, Sitzung 4/11).
Alleine die Tatsache, dass jemand in einem westlichen Land gewesen ist, stellt im Kontext mit al Shabaab an solchen Straßensperren kein Problem dar. Allerdings ruft westliches Verhalten oder westliche Kleidungsart Sanktionen hervor – etwa Auspeitschen (LI 28.6.2019, Sitzung 11). Reisende passen sich daher üblicherweise den Kleidungs- und Verhaltensvorschriften von al Shabaab an, um nicht herauszustechen (LI 28.6.2019, Sitzung 4).
Ausweichmöglichkeiten und Binnenmigration: Innerstaatliche Fluchtalternativen bestehen jedenfalls für einen Teil der somalischen Bevölkerung (ÖB 11.2022, Sitzung 12). Im Fall einer nicht durch individuelle Verfolgung begründeten Flucht aus von al Shabaab kontrollierten Gebieten bieten urbane Zentren und ländliche Gebiete unter staatlicher Kontrolle relativ größere Sicherheit. Dabei ist es schwierig, relativ sichere Zufluchtsgebiete pauschal festzulegen, denn je nach Ausweichgrund und persönlichen Umständen ist eine Person möglicherweise in einem anderen Gebiet Somalias dann von anderen Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen des humanitären Völkerrechts bedroht. Die soziale und wirtschaftliche Integration in „clanfremden“ Gebieten kann zum Teil schwierig sein (AA 28.6.2022, Sitzung 20).
Menschen aus Süd-/Zentralsomalia können sich auch in Somaliland und Puntland ansiedeln. Dort werden sie jedoch nur "halb" akzeptiert, in Somaliland kommen ihnen keine Staatsbürgerrechte zu (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25f). Trotzdem herrscht in Somaliland und Puntland (außer in den umstrittenen Gebieten) mehr Freiheit (AA 28.6.2022, Sitzung 20). Üblicherweise genießen Somalis außerdem den Schutz ihres eigenen Clans, weshalb man davon ausgehen kann, dass sie in Gebieten, in denen ihr Clan Einfluss genießt, grundsätzlich in Sicherheit sind (ÖB 11.2022, Sitzung 12). Selbst IDPs tun sich bei einer Integration leichter, wenn sie z. B. in Mogadischu über Beziehungen und Clanverbindungen verfügen. Manchmal helfen bei einer Integration auch spezielle berufliche Fähigkeiten (FIS 7.8.2020, Sitzung 36). Zudem gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen. In Mogadischu und anderen großen Städten ist es nicht automatisch nachvollziehbar, welchem Clan eine Person angehört (LI 4.4.2016, Sitzung 9). Dort leben Angehörige aller somalischen Clans, sie können sich dort frei bewegen und auch niederlassen (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).
Generell hat die Binnenmigration seit 2012 stark zugenommen, v. a. der Zuzug in urbane Gebiete. Menschen erhoffen sich in der Stadt eine bessere Zukunft und bessere Lebensbedingungen als etwa auf dem Land, wo wiederkehrende Dürren und Überschwemmungen ein nomadisches oder landwirtschaftliches Leben schwer gemacht haben (FIS 7.8.2020, Sitzung 36; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 16/24). Immer mehr Menschen flüchten und kommen nach Mogadischu (TG 8.6.2022).
Luftweg: Die sicherste Arte des Reisens in Süd-/Zentralsomalia ist das Fliegen (FIS 7.8.2020, Sitzung 29; vergleiche LI 28.6.2019, Sitzung 6f). Regierungsvertreter nutzen das Flugzeug, wo es nur geht (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 38). Von Mogadischu aus können Baidoa, Kismayo, Garoowe, Galkacyo, Bossaso, Cadaado und Guri Ceel mit Linienflügen erreicht werden (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 39). Anbieter ab Mogadischu gibt es auch für Flüge nach Cabudwaaq, Belet Weyne und Dhobley (EASO 9.2021a). Die Kosten für ein One-Way-Ticket im Binnenflugverkehr belaufen sich auf 100-150 US-Dollar (FIS 7.8.2020, Sitzung 29; vergleiche LI 28.6.2019, Sitzung 6f).
Eine effektive Ausreisekontrolle an den Grenzübergängen von Somalia in die Nachbarländer findet nicht statt. Sowohl die Landgrenze als auch die Seegrenze werden weitgehend nicht überwacht. Kontrollen werden dagegen bei Flugreisen ab Mogadischu, Garoowe und Bossaso durchgeführt (AA 28.6.2022, Sitzung 26).
Meldewesen und Staatsbürgerschaft
Letzte Änderung: 17.03.2023
Es gibt in Somalia kein Personenstandswesen (AA 28.6.2022, Sitzung 26; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 40) und auch keine Institution oder Behörde, die sich mit dem Meldewesen befassen würde (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 39). Somalische Behörden haben keinen Überblick über die eigene Bevölkerung, Bürger werden normalerweise nur dann registriert, wenn sie einen Reisepass beantragen (LI 31.3.2022). Zudem gibt es weder Fahndungs- noch Strafregister (AA 28.6.2022, Sitzung 26; vergleiche Sahan 16.9.2022). Die verlässliche Feststellung von Identitäten erfolgt oft nur durch den Ältestenrat eines Dorfes oder durch Verwandte bzw. Bekannte (ÖB 11.2022, Sitzung 5). Auch an Checkpoints wird nicht nach einem Personalausweis gefragt, sondern es wird der Clanhintergrund festgestellt (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 40).
Schon vor 1991 (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 39) und erst recht nach 1991 wurden in Somalia geborene Personen nie offiziell registriert (ÖB 11.2022, Sitzung 5), und auch jetzt werden Geburten nur in sehr geringem Ausmaß behördlich registriert (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). Eine Geburtsurkunde ist de facto nur für die Ausstellung eines Reisepasses oder aber bei einer formellen Anstellung notwendig. Daher gibt es für die Bevölkerung kaum einen Anreiz, die Geburt eines Kindes erfassen zu lassen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 39). Es besteht keine Möglichkeit, über amtliche Register verlässliche Auskünfte über somalische Staatsangehörige in Süd- und Zentralsomalia und Puntland zu erhalten. Zustellungen sind nicht möglich (AA 28.6.2022, Sitzung 26).
Generell ist das Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem Jahr 1962 weiterhin in Kraft (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 13). Die Übergangsverfassung sieht allerdings vor, dass es hinsichtlich der Definition, wie jemand an die somalische Staatsbürgerschaft gelangt und wie er diese aussetzt oder verliert, ein Gesetz geben soll. Allerdings wurde ein solches Gesetz noch nicht geschaffen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 5), und es gibt daher keine neue Definition (BS 2022, Sitzung 9).
Die somalische Staatsbürgerschaft wird daher weiterhin mit der Geburt erlangt, wenn der Vater Somali ist (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 13; vergleiche LIFOS 9.4.2019, Sitzung 11). Vor 1991 galt, dass jeder Abkomme eines männlichen Somali somalischer Staatsbürger ist - unabhängig davon, wo diese Person herstammt (BS 2022, Sitzung 9). Als Somali wird hier definiert, wer durch Herkunft, Sprache oder Tradition zur somalischen Nation gehört (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 13; vergleiche BS 2022, Sitzung 9, wer also ethnischer Somali ist. Daher ist es auch nicht entscheidend, ob eine Person aus Somalia kommt oder in Somalia lebt. Vielmehr ist relevant, ob diese ethnisch Somali ist (LI 31.3.2022). Somalische Behörden betrachten demnach auch Somali, die eigentlich kenianische oder äthiopische Staatsbürger sind, als somalische Staatsbürger (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 10f). In beiden Ländern gibt es substanzielle Gruppen ethnisch somalischer Nomaden, und es ist unrealistisch, eine klare Linie zu ziehen und einzelne Familien auf der einen oder auf der anderen Seite der Grenze endgültig zu lokalisieren (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 51). Folglich können auch ethnische Somali aus Äthiopien, Dschibuti oder Kenia somalische Reisepässe erhalten (LI 31.3.2022).
Auch weiterhin erhalten Kinder somalischer Väter bei der Geburt die Staatsbürgerschaft; Kinder somalischer Mütter können die Staatsbürgerschaft nach zwei Jahren erhalten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). In einer anderen Quelle wird die Weitergabe durch die Mutter nicht erwähnt (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 20ff). Dahingegen erlangt eine Frau automatisch die somalische Staatsbürgerschaft, wenn sie einen Somali heiratet; umgekehrt ist dies nicht der Fall (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 24). Angehörige von Minderheiten werden aus rechtlicher Sicht ebenso als vollwertige Staatsbürger erachtet (BS 2022, Sitzung 9). Nach anderen Angaben kann es für Angehörige ethnischer Minderheiten mitunter schwierig werden, einen Reisepass zu erhalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie als Flüchtlings außerhalb Somalias aufgewachsen sind. Sie müssen den somalischen Behörden gegenüber „nachweisen“, dass sie aus Somalia stammen – meist durch die Darstellung entsprechender Sprachkenntnisse (LI 31.3.2022).
Seit 2004 bzw. 2012 werden Doppelstaatsbürgerschaften formell akzeptiert (LI 31.3.2022; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 42), obwohl das Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem Jahr 1962 nicht überarbeitet worden ist und dieses Doppelstaatsbürgerschaften formell verbietet. In der Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 steht etwa in Artikel 8: Einem somalischen Staatsbürger kann die somalische Staatsbürgerschaft nicht entzogen werden, auch wenn er Staatsbürger eines anderen Staates wird. Viele politisch Führer (LI 31.3.2022) und ein großer Teil der Parlamentsabgeordneten sind Doppelstaatsbürger (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 10f) – Doppelstaatsbürgerschaften werden also de facto akzeptiert. Während die provisorische Verfassung aus dem Jahr 2012 diese Auffassung unterstützt, sprechen nach wie vor bestehende Gesetze aus dem Jahr 1962 dagegen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 42; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 13f/26; LIFOS 9.4.2019, Sitzung 10f). Unklar ist, ob das Verbot der Doppelstaatsbürgerschaft überhaupt jemals durchgesetzt worden ist – also auch vor dem Zusammenbruch staatlicher Institutionen im Jahr 1991 (LI 31.3.2022).
Somalia erachtet natürlich auch alle in Somaliland lebenden Somali als somalische Staatsbürger, während Somaliland sie als somaliländische Staatsbürger erachtet (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 11f). Zudem kämpft das Land mit einer ungelösten Debatte zur Staatsbürgerschaft in Zusammenhang mit dem föderalen System. Es bleibt unklar, wer in welchem Bundesstaat welche Rechte hat und dort auch leben darf (BS 2022, Sitzung 9). Denn die Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 sieht zwar vor, dass das Staatsbürgerschaftswesen durch die Bundesregierung verwaltet wird; jedoch haben mehrere Bundesstaaten eine eigene Staatsbürgerschaft eingeführt (z. B. Puntland) oder aber die Verwaltung an sich gerissen (z. B. der SWS) (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 17f).
(…)
Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Letzte Änderung: 17.03.2023
Die somalische Regierung arbeitet mit dem UNHCR und IOM zusammen, um Flüchtlinge, zurückkehrende Flüchtlinge, Asylwerber, Staatenlose und andere relevante Personengruppen zu unterstützen. Der UNHCR setzt sich für den Schutz von IDPs ein und gewährt etwas an finanzieller Unterstützung (USDOS 12.4.2022, Sitzung 25f).
IDP-Zahlen: Rund 2,9 Millionen Menschen gelten als intern Vertriebene (UNSC 13.5.2022, Absatz 38,), davon sind ca. 1,9 Millionen Kinder (USDOS 12.4.2022, Sitzung 43). Im Jahr 2022 wurden mehr als 1,8 Millionen Menschen neu vertrieben (2021: 874.000), davon flohen 607.000 vor Konflikten (2021: 544.000) und 1,179.000 in Zusammenhang mit der anhaltenden Dürre (2021: 245.000). Überflutungen stellten 2022 so gut wie keine Quelle an IDPs dar (UNHCR 31.12.2022).
Es gibt mehr als 2.400 IDP-Lager in Somalia (UNOCHA 10.2.2022). Die Migration vom Land in die Stadt hat zu einem enormen und unregulierten Städtewachstum geführt. Hinsichtlich der IDP-Zahlen müssen zwei Faktoren berücksichtigt werden: Einerseits gibt es für Somalia keine Zahlen zur "normalen" Urbanisierung. Andererseits werden i.d.R. nur jene IDPs gezählt, die in Lagern wohnen. Mitglieder großer Clans kommen aber üblicherweise bei Verwandten unter und leben daher nicht in Lagern (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 16/26f). In Städten wurde die Urbanisierung durch den Zuzug vieler IDPs verstärkt. Dies hat zu einer hohen Nachfrage nach Land aber auch zu nochmaligen Zwangsräumungen geführt (SPC 9.2.2022). So leben etwa in Baidoa mittlerweile mindestens 600.000 Vertriebene - deutlich mehr als die Stadt Einwohner hat. Somalia verzeichnet eine der höchsten Urbanisierungsraten der Welt, und manche bezeichnen Baidoa als die am schnellsten wachsende Stadt Afrikas – wegen der Dürre (Spiegel 24.9.2022).
Allerdings ist die Zahl dieser Zwangsräumungen seit 2019 rückläufig (SPC 9.2.2022). Im ersten Quartal 2022 wurden ca. 31.000 IDPs zwangsweise vertrieben (UNOCHA 12.4.2022). Zehntausende IDPs wurden auch 2021 vertrieben - v.a. in Mogadischu (HRW 13.1.2022). Im Jahr 2020 waren es insgesamt 143.000 gewesen - zwei Drittel davon im Großraum Mogadischu, außerdem auch in Baidoa und Kismayo. Insgesamt bleiben Zwangsräumungen von IDPs und armer Stadtbevölkerung ein Problem (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Bewohner von Lagern leben daher in ständiger Ungewissheit, da sie immer eine Zwangsräumung befürchten müssen (FIS 7.8.2020, Sitzung 37). Die Mehrheit der betroffenen Menschen zog in der Folge in entlegene und unsichere Außenbezirke der Städte, wo es lediglich eine rudimentäre bzw. gar keine soziale Grundversorgung gibt (AA 28.6.2022, Sitzung 22).
Generell befinden sich derartige Relocation Areas am Stadtrand oder sogar weit außerhalb der jeweiligen Stadt. Allerdings bieten diese Lager wesentlich bessere Unterkünfte - etwa Häuser aus Wellblech oder sogar Stein (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 21).
Rechtliche Lage: Ende 2019 hat die Bundesregierung die Konvention der Afrikanischen Union zum Schutz von IDPs ratifiziert. Die Regionalverwaltung von Benadir (BAR) hat ein Büro für nachhaltige Lösungen für IDPs geschaffen. Auch eine nationale IDP-Policy wurde angenommen. Im Jänner 2020 präsentierte die BAR eine Strategie für nachhaltige Lösungen (UNOCHA 6.2.2020, Sitzung 4; vergleiche RI 12.2019, Sitzung 11f). Diesbezüglich wurden nationale Richtlinien zur Räumung von IDP-Lagern erlassen. Insgesamt sind dies wichtige Schritte, um die Rechte von IDPs zu schützen und nachhaltige Lösungen zu ermöglichen (RI 12.2019, Sitzung 4).
Menschenrechte: IDPs sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nicht-staatlichen – aber auch staatlichen – Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkung und Diskriminierung aufgrund von Clanzugehörigkeit sind an der Tagesordnung (AA 28.6.2022, Sitzung 22; vergleiche UNSC 13.5.2022, Absatz 38,). Dies trifft in erster Linie Bewohner von IDP-Lagern – in Mogadischu v.a. jene IDPs, die nicht über Clanbeziehungen in der Stadt verfügen (FIS 7.8.2020, Sitzung 36). Weibliche und minderjährige IDPs sind hinsichtlich einer Vergewaltigung bzw. Missbrauch besonders gefährdet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26; vergleiche UNSC 8.2.2022, Absatz 46,). Für IDPs in Lagern gibt es keinen Rechtsschutz, und es gibt in Lagern auch keine Polizisten, die man im Notfall alarmieren könnte (FIS 7.8.2020, Sitzung 36).
Versorgung: In Mogadischu sind die Bedingungen für IDPs in Lagern hart. Oft fehlt es dort an simplen Notwendigkeiten, wie etwa Toiletten (FIS 7.8.2020, Sitzung 36). Landesweit fehlen in 80 % der IDP-Lager Wasserstellen – v. a. in Benadir, dem SWS und Jubaland (UNOCHA 1.2021, Sitzung 5). Die Rate an Unterernährung ist hoch, der Zugang zu grundlegenden Diensten eingeschränkt (RI 12.2019, Sitzung 9). Es mangelt ihnen zumeist an Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften (ÖB 11.2022, Sitzung 13). Allerdings ist der Zustand von IDP-Lagern unterschiedlich. Während die neueren meist absolut rudimentär sind, verfügen ältere Lager üblicherweise über grundlegende Sanitär-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen (FIS 7.8.2020. Sitzung 36). Oft wurde dort auch eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 23). Trotzdem werden noch weniger Kinder von IDPs eingeschult, als es schon bei anderen Kindern der Fall ist (USDOS 12.4.2022, Sitzung 42).
Unterstützung: Die Weltbank stellt für fünf Jahre insgesamt 112 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Mit diesem Geld soll die städtische Infrastruktur verbessert werden, wovon sowohl autochthone Stadtbewohner als auch IDPs profitieren sollen (RI 12.2019, Sitzung 18f). Organisationen wie IOM versuchen, durch eine Umsiedlung von IDPs auf vorbereitete Grundstücke einer Zwangsräumung zuvorzukommen. So wurden z.B. in Baidoa 2019 1.000 IDP-Haushalte aus 15 Lagern auf mit der Stadtverwaltung abgestimmte Grundstücke umgesiedelt (IOM 25.6.2019; vergleiche RD 27.6.2019). Dort wurden zuvor Latrinen, Wasserversorgung, Straßenbeleuchtung und andere Infrastruktur installiert. Auch zwei Polizeistationen wurden gebaut. Den IDPs wurden außerdem Gutscheine für Baumaterial zur Verfügung gestellt (IOM 25.6.2019). Im März 2021 konnte IOM knapp 7.000 IDPs aus Baidoa in das IDP-Lager Barwaaqo übersiedeln, wo schon 2019 mehr als 6.000 IDPs angesiedelt worden waren. Das Land für dieses Lager wurde von der Lokalverwaltung zur Verfügung gestellt. In Barwaaqo bekommen Familien ein Stück Land, auf dem eine Unterkunft errichtet und ein Garten betrieben werden kann. Die Familien erhalten zudem finanzielle Unterstützung. Zwei Jahre nach der Umsiedlung erhalten die Familien dann auch Rechtsanspruch auf den von ihnen genutzten Grund (IOM 9.3.2021a). Im November 2021 hat der SWS mehr als 4.300 Landbesitzurkunden im Neuansiedlungsgebiet Barwaaqo (Baidoa) ausstellt (UNSC 8.2.2022, Absatz 39,). In einem Medienbericht wird erklärt, dass 20.000 IDPs in Baidoa auf Boden wohnen, der ihnen übereignet worden ist (Spielgel 24.9.2022).
In Galkacyo wurden für weitere 100 IDP-Familien Häuser gebaut. Das zugehörige 225 Quadratmeter große Grundstück gehört jeweils dazu. Das Projekt wurde von Galmudug gemeinsam mit UNHCR umgesetzt (RE 1.12.2022). In Baraawe hat eine Hilfsorganisation 150 Häuser und mehrere Wasserstellen für IDPs gebaut (RD 12.12.2022).
Andere Programme für nachhaltige Lösungen werden von UN-HABITAT, dem Norwegian Refugee Council und der EU finanziert oder geführt (RI 12.2019, Sitzung 9). Im März 2022 startete die Bundesregierung gemeinsam mit den UN ein vier-Jahres-Programm namens Saameynta. Mit diesem Programm soll mehr als 75.000 IDPs und Aufnahmegemeinden in Baidoa, Belet Weyne und Bossaso geholfen werden. Vor allem sollen die Abhängigkeit von humanitärer Hilfe und die Armut reduziert sowie die Integration der IDPs in den Städten gefördert werden. Das Programm umfasst den Zugang zu Wasser, Unterkunft und medizinischer Versorgung. IOM setzt das Programm in Partnerschaft mit der Bundesregierung, UNDP und UNHABITAT um (UNOCHA 12.4.2022).
Die Situation von IDPs in Puntland wird von NGOs als durchaus positiv beschrieben, sie können z.B. geregelter Tätigkeit nachgehen (ÖB 11.2022, Sitzung 13). Es gibt Anzeichen dafür, dass in Puntland aufhältige IDPs aus anderen Teilen Somalias dort permanent bleiben können und dieselben Rechte genießen wie die ursprünglichen Einwohner (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 9).
Flüchtlinge: Die Zahl ausländischer Flüchtlinge wird als sehr gering eingeschätzt (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Im April 2022 befanden sich ca. 33.000 Flüchtlinge und Asylwerber im Land, etwa die Hälfte davon in Somaliland (UNHCR 10.5.2022). Sie stammen fast zur Gänze aus Äthiopien (68,5 %), dem Jemen (27,5 %) und Syrien (3,5 %) (UNHCR 10.5.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 26f). Asylwerbern aus dem Jemen wird prima facie der Asylstatus zuerkannt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26f). Der UNHCR betreibt ein Unterstützungs- und Integrationsprogramm zur möglichst schnellen Eingliederung von Flüchtlingen in das öffentliche Leben (AA 28.6.2022, Sitzung 23).
(…)
Grundversorgung/Wirtschaft
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Wirtschaft und Arbeit
Letzte Änderung: 17.03.2023
Mehrere Schocks haben die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung des Landes unterminiert, darunter Überschwemmungen, eine Heuschreckenplage und die Covid-19-Pandemie (AFDB 25.5.2022). Die somalische Wirtschaft hat sich allerdings als resilienter erwiesen, als zuvor vermutet: Ursprünglich war für 2020 ein Rückgang des BIP um 2,5 % prognostiziert worden (UNSC 13.11.2020, Absatz 17,), tatsächlich sind es dann nur minus 0,4 % geworden (UNSC 10.8.2021, Absatz 17,), nach anderen Angaben sogar nur 0,1 %. Für 2021 war ein Wachstum von 2,4 % prognostiziert, geworden sind es dann 2,9 % (FTL 29.11.2022). Für das Jahr 2022 prognostiziert die Weltbank ein Wachstum von 3,2 % (WB 6.2021, Sitzung 20).
Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Erholung sind Remissen und anhaltende Investitionen (UNSC 17.2.2021, Absatz 19,). Ein resilienter Privatsektor und starke Remissen aus der Diaspora bleiben Grundlage für Optimismus. Zudem gibt es unentwickelte Möglichkeiten aufgrund der Urbanisierung, sowie auf den Gebieten neuer Technologien, Bildung und Gesundheit Ausschussbericht 22.6.2022). Die Geldrückflüsse nach Somalia sind 2021 im Vergleich zu 2020 noch einmal gestiegen, von 30,8 % des BIP auf 31,3 % (AFDB 25.5.2022). Neben der Diaspora (VICE 1.3.2020) sind auch zahlreiche Agenturen der UN (etwa UN-Habitat, UNICEF, UNHCR) tatkräftig dabei, das Land wiederaufzubauen (ÖB 11.2022, Sitzung 21). Das Maß an privaten Investitionen bleibt konstant. Die Inflation lag 2021 bei 4,6 %, für 2022 werden aufgrund höherer Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise sowie der herrschenden Dürre 9,4 % prognostiziert (AFDB 25.5.2022).
Allerdings war das Wirtschaftswachstum schon in besseren Jahren für die meisten Somalis zu gering, als dass sich ihr Leben dadurch verbessern hätte können (UNSC 21.12.2018, Sitzung 4). Der Bevölkerungszuwachs nivelliert das Wirtschaftswachstum und hemmt die Reduzierung von Armut (BS 2022, Sitzung 30). Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt 875 US-Dollar (BS 2022, Sitzung 3). Zusätzlich bleibt die somalische Wirtschaft im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt (ÖB 11.2022, Sitzung 15). Landwirtschaft, Handel, Kommunikation und mobile Geldtransferdienste tragen maßgeblich zum BIP bei; alleine die Viehwirtschaft macht rund 60 % des BIP (BS 2022, Sitzung 31) und 80 % der Exporte aus (BS 2022, Sitzung 25). Der Großteil der Wirtschaft bzw. der wirtschaftlichen Aktivitäten ist dem informellen Sektor zuzurechnen (UNSC 10.10.2022, Absatz 64,). Insgesamt sind zuverlässige Daten zur Wirtschaft schwierig bis unmöglich zu erhalten bzw. zu verifizieren (ÖB 11.2022, Sitzung 2/15) bzw. sind vertrauenswürdige Daten kaum vorhanden (BS 2022, Sitzung 30).
Al Shabaab und andere nicht staatliche Akteure behindern kommerzielle Aktivitäten in Bakool, Bay, Gedo und Hiiraan (USDOS 12.4.2022, Sitzung 25).
Staatshaushalt: Die Regierung ist stark abhängig von externer Hilfe. Ein Großteil der Regierungsausgaben wird durch externe Akteure bezahlt (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29; vergleiche BS 2022, Sitzung 40). Alleine die offizielle Entwicklungshilfe betrug 2019 1,9 Milliarden US-Dollar – 40 % des BIP (BS 2022, Sitzung 40). Aufgrund der fehlenden Kontrolle über das Territorium – aber auch hinsichtlich technischer Fähigkeiten – war die Regierung bisher nicht in der Lage, ein nationales Steuersystem aufzubauen. Selbst für grundlegende Staatsausgaben ist das Land auf externe Geber angewiesen (BS 2022, Sitzung 36). Von den Bundesstaaten gelingt es neben Puntland nur Jubaland, ein relevantes Maß an Einnahmen selbst zu generieren (WB 6.2021, Sitzung 16).
Dabei entwickelten sich die Budgetzahlen in den letzten Jahren stetig nach oben:
38 % der Staatsausgaben entfallen auf Verteidigung und Sicherheit (BS 2022, Sitzung 28), in den Jahren 2017 bis 2021 waren es durchschnittlich 31 % (AI 18.8.2021, Sitzung 19). Das Budget für das Jahr 2023 sieht mehr Geld für öffentliche Dienste wie Gesundheitszentren, Bildungseinrichtungen und Sicherheitskräfte vor (RD 28.12.2022).
Im Jahr 2020 hatte Somalia mit der Normalisierung der Beziehungen zu internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, Währungsfonds, Afrikanische Entwicklungsbank) einen Meilenstein erreicht. Das Land kann wieder partizipieren (HIPS 2021, Sitzung 4/23).
Arbeitsmarkt: Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. Ca. 95 % der Berufstätigen arbeiten im informellen Sektor (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48). In einer von Jahrzehnten des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängen die Möglichkeiten des Einzelnen generell sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort ab (BS 2022, Sitzung 30).
Das Unternehmertum spielt in der somalischen Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Schätzungen zufolge werden alleine dadurch mehr als drei Viertel aller Arbeitsplätze geschaffen (WB 22.3.2022). Zum Beispiel hat der Telekom-Konzern Hormuud Telecom in den vergangenen Jahren tausende Arbeitsplätze geschaffen und beschäftigt heute mehr als 20.000 Frauen und Männer (EAT 14.2.2021). Überhaupt sind zwei Drittel der aktiven Erwerbsbevölkerung Selbständige (WB 13.7.2022)
Einerseits wird berichtet, dass die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge und zurückkehrende Flüchtlinge in Süd-/Zentralsomalia limitiert sind. So berichten etwa Personen, die aus Kenia zurückgekehrt sind, über mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 27). Andererseits wird ebenso berichtet, dass die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora fallen – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse (FIS 7.8.2020, Sitzung 33f). Am Arbeitsmarkt spielen Clanverbindungen eine Rolle (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48). Gerade, um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen. Dementsprechend schwer tun sich IDPs, wenn sie vor Ort über kein Netzwerk verfügen; meist sind sie ja nicht Mitglieder der lokalen Gemeinde (FIS 7.8.2020, Sitzung 33f). Männer, die vom Land in Städte ziehen, stehen oft vor der Inkompatibilität ihrer landwirtschaftlichen Kenntnisse mit den vor Ort am Arbeitsmarkt gegebenen Anforderungen (DI 6.2019, Sitzung 22f; vergleiche OXFAM 6.2018, Sitzung 10). Die Zugezogenen tun sich schwer, eine geregelte Arbeit zu finden (OXFAM 6.2018, Sitzung 10); außerdem wird der Umstieg von Selbstständigkeit auf abhängige Hilfsarbeit oft als Demütigung und Erniedrigung gesehen. Darum müssen gerade IDPs aus ländlichen Gebieten in die Lage versetzt werden, neue Fähigkeiten zu erlernen, damit sie etwa am informellen Arbeitsmarkt oder als Kleinhändler ein Einkommen finden. Dies geschieht auch teilweise (DI 6.2019, Sitzung 22f). Generell finden Männer unter anderem auf Baustellen, beim Graben, Steinebrechen, Schuhputzen oder beim Khatverkauf eine Arbeit. Ein Großteil der Tätigkeiten ist sehr anstrengend und mitunter gefährlich. Außerdem wird von Ausbeutung und Unterbezahlung berichtet (OXFAM 6.2018, Sitzung 10).
Ende Mai 2022 hat die Regierung die National Youth Development Initiative gestartet. Mit dieser sollen Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen werden (WB 13.7.2022). Die von der EU finanzierte Dalbile Youth Initiative wurde im August 2020 gestartet und läuft weiter fort. Mit diesem Programm wird das Leben von ca. 5.000 jungen Menschen verändert werden, durch Unternehmertum, soziale Unternehmungen, Management Training, Mentorship, Ausbildung und Geldern für Start-ups (RD 23.9.2022). Im Rahmen dieses und anderer Programme hat UNFPA diverse Maßnahmen umgesetzt, um Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt besserzustellen. Im ersten Jahr der Dalbile Youth Initiative wurden mehr als 1.500 Jugendliche (davon ca. die Hälfte weiblich) mit Kapazitätsbildungsmaßnahmen erreicht. 68 Start-ups wurden mit Krediten versorgt (UNFPA 27.7.2022). Ein Programm von IOM unterstützt Jugendliche dabei, neue Fähigkeiten zu erwerben, die auf dem Arbeitsmarkt von Vorteil sind – etwa als Schneider, Installateur oder Elektriker. In Baidoa und Kismayo wurden 300 Jugendliche finanziell unterstützt, um bei lokalen Firmen Berufspraktika absolvieren zu können. Die meisten der Absolventen des Programms können danach ihren Lebensunterhalt mit eigenem Einkommen finanzieren (IOM 27.12.2022).
Einkommen, Tätigkeiten: An Arbeitstätigkeiten genannt werden: Träger am Bau; Arbeiten am Hafen (FIS 7.8.2020, Sitzung 33f) Köhler; Hilfsarbeiter am Bau; Koranlehrer; Rickshaw-Fahrer; Transporteur mit einer Eselkarre; Transporteur mit einer Scheibtruhe (Khalil 1.2019, Sitzung 30). Arzt; Krankenschwester (FIS 5.10.2018, Sitzung 36); Universitätslektor (TG 8.6.2022); angestellte und selbstständige Überlandfahrer; Fleischverkäufer (RE 18.2.2021); Magd; Hausangestellte; Wäscherin; Marktverkäuferin. In der Verwaltung sind nur wenige Stellen verfügbar, besser stellt sich die Situation bei Polizei und Armee dar. Viele Menschen leben vom Kleinhandel oder von ihrer Arbeit in Restaurants oder Teehäusern. Allerdings ist eine Arbeit in der Gastwirtschaft mit niedrigem Ansehen verbunden. Die Mehrheitsbevölkerung ist derartige Tätigkeiten sowie jene auf Baustellen äußerst abgeneigt. Dort finden sich vielmehr marginalisierte Gruppen – z. B. IDPs – die oft auch als Tagelöhner arbeiten. Weibliche IDPs arbeiten als Mägde, Hausangestellte oder Wäscherinnen. Manche verkaufen Früchte auf Märkten (FIS 7.8.2020, Sitzung 33f). Durch den Niedergang der Landwirtschaft, der maßgeblich durch die Dürre verursacht worden ist, ist auch die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Landwirtschaft gesunken bzw. haben sich die Löhne dort verringert (IPC 4.6.2022).
IOM berichtet aus Mogadischu, dass dort für ungelernte Arbeitskräfte Jobs zur Verfügung stehen - etwa als Reinigungskraft, Träger oder im Zustelldienst, als Ziegelmacher, Wäscherin oder auch als Buchhalter. Oft werden derartige Jobs aber von Arbeitgebern an eigene Verwandte vergeben. Zu finden sind Jobs meist über die eigene Verwandtschaft oder persönliche Netzwerke. Es gibt aber auch Websites zur Arbeitsvermittlung: Shaqodoon.net und Qaranjobs.com. Frauen mit Ausbildung können sich um einen Job umsehen. Frauen ohne Ausbildung übernehmen üblicherweise Aufgaben im Haushalt oder aber sie finden eine Anstellung über Familienkontakte, oder indem sie von Tür zu Tür gehen. Frauen ohne Kontakte in Mogadischu müssen oft die am schlechtesten bezahlten Jobs annehmen - etwa als Wäscherin oder Reinigungskraft (IOM 2.3.2023)
Gesucht werden in Mogadischu Fachkräfte in den Bereichen Medizin (Ärzte, Krankenpfleger), Hotellerie, Wirtschaft und IT (IOM 2.3.2023).
Hier einige Beispiele zu Einkommen:
IOM berichtet im Feber 2023 von folgenden durchschnittlichen Einkommen in Mogadischu:
IOM 2.3.2023
Arbeitslosenquote: Die Arbeitslosenquote ist landesweit hoch (USDOS 12.4.2022, Sitzung 27), wobei es zu konkreten Zahlen unterschiedlichste und teils widersprüchliche Angaben gibt: Laut einer Quelle lag die Erwerbsquote (labour force participation) 2018 bei Männern bei 58 %, bei Frauen bei 37 % (UNSC 21.12.2018, Sitzung 4). Die Zahl für Frauen wird auch von einer Quelle im Jahr 2021 erwähnt (SLS 6.4.2021). Zwei Quellen nennen 2022 eine Jugendarbeitslosigkeit (15-29 Jahre) von 67-68 % (RD 10.6.2022; vergleiche UNFPA 27.7.2022). Allerdings suchen laut einem Bericht der ILO nur 40 % der Jugendlichen tatsächlich nach einer Arbeit (UNFPA 27.7.2022). Eine weitere Quelle erklärte 2016, dass 58 % der männlichen Jugendlichen (Altersgruppe 15-35) ökonomisch aktiv waren, während drei von zehn Jugendlichen arbeitslos waren (UNFPA 8.2016, Sitzung 4). In einer anderen Quelle wird die Arbeitslosenrate für 2020 mit 13,1 % angeführt (BS 2022, Sitzung 23); die Weltbank nennt für das Jahr 2021 für ganz Somalia eine Arbeitslosenquote bei der Erwerbsbevölkerung von 19,9 % (WB 2022). Eine weitere Quelle nannte 2018 bei 15-24-Jährigen eine Quote von 48 % (OXFAM 6.2018, Sitzung 22, FN8) und die österreichische Botschaft in Nairobi erklärt, dass unterschiedliche Quellen unterschiedliche Kriterien verwenden und die Schätzungen zwischen 19,9 % und 47,4 % schwanken (ÖB 11.2022, Sitzung 15). Bei einer Studie aus dem Jahr 2016 gaben hingegen nur 14,3 % der befragten Jugendlichen (Mogadischu 6 %, Kismayo 13 %, Baidoa 24 %) an, gegenwärtig arbeitslos zu sein. Dies kann auf folgende Gründe zurückzuführen sein: a) dass die Situation in diesen drei Städten anders ist als in anderen Teilen Somalias; b) dass die wirtschaftliche Entwicklung seit 2012 die Situation verbessert hat; c) dass es nun mehr Unterbeschäftigte gibt; d) dass die Definition von „arbeitslos“ unklar ist (z.B. informeller Sektor) (IOM 2.2016).
Nach Angaben einer Quelle hat sich die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - infolge der Covid-19-Pandemie verstärkt. 21 % mussten ihre Arbeit niederlegen; und das, obwohl nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnehmen. 78 % der Haushalte berichteten über einen Rückgang des Einkommens (WB 6.2021, Sitzung 23).
[Zur Arbeitsmarktlage in Somalia gibt es kaum aktuelle, v. a. kaum detaillierte Informationen.] In einer eingehenden Analyse hat UNFPA im Jahr 2016 Daten zur Ökonomie in der somalischen Gesellschaft erhoben. Dabei wird festgestellt, dass nur knapp die Hälfte der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (15-64) überhaupt am Arbeitsleben teilnimmt. Der Rest ist „ökonomisch inaktiv“; in diese Gruppe fallen in erster Linie Hausfrauen, gefolgt von Schülern/Studenten, pensionierten oder arbeitsunfähigen Personen. Bei den ökonomisch Aktiven wiederum finden sich in allen Lebensbereichen deutlich mehr Männer (UNFPA 2016):
● Ländlich: 68,8 % der Männer - 40,5 % der Frauen
● Urban: 52,6 % der Männer - 24,6 % der Frauen
● IDP-Lager: 55,2 % der Männer - 32,6 % der Frauen
● Nomaden: 78,9 % der Männer - 55,6 % der Frauen (UNFPA 2016)
Aufgeschlüsselt für Puntland und Süd-/Zentralsomalia ergibt sich aus den UNFPA-Daten, dass dort 44,4 % der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeiten. 11,4 % gelten als Arbeitssuchende. 44,2 % der Bevölkerung sind ökonomisch inaktiv. Als arbeitend werden in der Studie folgende Personen bezeichnet: jene, die in den der Erhebung vorangegangenen zwölf Monaten bezahlter Arbeit nachgegangen sind oder selbstständig waren. Darunter fällt auch unbezahlte (aber produktive) Arbeit in der Familie, bei welcher direkt Einkommen generiert wird (etwa Viehhüten, Arbeit am eigenen Ackerland; Wirtschaftstreibende, Dienstleister im eigenen Betrieb). Als arbeitslos werden jene Personen bezeichnet, die in diesen zwölf Monaten nach Arbeit gesucht haben und bereit waren, eine Arbeit anzunehmen (UNFPA 2016, Sitzung 29):
(UNFPA 2016, S.29)
In der gleichen Studie wurde der Status bzgl. Arbeit auch auf Geschlechter heruntergebrochen. Folglich waren zum damaligen Zeitpunkt in Puntland und Süd-/Zentralsomalia 13,8 % der Männer und 9 % der Frauen im Alter von 15-64 Jahren auf der Arbeitssuche, wohingegen 55,8 % der Männer und 32,9 % der Frauen einer Arbeit nachgingen (UNFPA 2016, Sitzung 31):
(UNFPA 2016, S.31)
Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen in Puntland und Süd-/Zentralsomalia arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (65,6 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (13,5 %) (UNFPA 2016, Sitzung 36f):
(UNFPA 2016, S.36f)
Frauen: Der vor allem unter Männern vorherrschende Khat-Konsum, der im langjährigen Konflikt geforderte Blutzoll an der männlichen Bevölkerung und die hohe Scheidungsrate haben dazu geführt, dass Frauen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vorstoßen – etwa bei der Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei (ICG 27.6.2019, Sitzung 10f). Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben (DI 6.2019, Sitzung 22). In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43 % der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener (OXFAM 6.2018, Sitzung 10). Frauen spielen - außer bei den großen Betrieben - eine führende Rolle beim Unternehmertum. In Mogadischu und Bossaso sind ca. 45 % der formellen Unternehmen im Besitz von Frauen (WB 22.3.2022).
Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z. B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i. d. R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z. B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80-90 % des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft (FIS 5.10.2018, Sitzung 24f), oder sie verkaufen Kleidung und Essen (RE 19.2.2021). Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin (OXFAM 6.2018, Sitzung 10) oder aber auch auf Baustellen (FIS 5.10.2018, Sitzung 24f; vergleiche OXFAM 6.2018, Sitzung 10). Viele der hunderten Straßenreiniger in Mogadischu sind Witwen und die alleinigen Geldverdiener ihrer Familien. Das höchste hier verfügbare Einkommen beträgt 150 US-Dollar im Monat; manche bekommen Essensrationen. Die Stadtverwaltung versucht auch, männliche Reinigungskräfte anzuwerben, hat aber wenig Erfolg. Viele Männer weigern sich demnach, solche Arbeiten zu verrichten (AJ 21.7.2022). All die zuvor genannten Tätigkeiten führen Frauen jenseits des ihnen traditionell zugeschriebenen Bereichs des eigenen Haushalts aus (OXFAM 6.2018, Sitzung 10). Natürlich gibt es für Frauen auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z. B. können sie nicht Taxifahrerin werden (FIS 5.10.2018, Sitzung 24f). Sie haben hinsichtlich Einkommensmöglichkeiten eine eingeschränkte Auswahl. Von Frauen abgehaltene Workshops (z. B. Schneiderei-, Henna- und Kochkurse) in Mogadischu tragen zur Verbesserung der Situation bei (DW 11.3.2021). Allerdings ist auch bekannt, dass Frauen eine geringere Aussicht auf eine Vollzeitanstellung haben (SLS 6.4.2021).
Lebensunterhalt: Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, kleine Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar (BS 2022, Sitzung 25f). Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig (OXFAM 6.2018, Sitzung 4). Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1 %). 6,9 % arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8 % als Handwerker, 4,7 % als Techniker, 4,1 % als Hilfsarbeiter und 2,3 % als Manager (UNFPA 2016, Sitzung 22).
Die Mehrheit der IDPs verdingt sich als Tagelöhner. Frauen gehen oft von Tür zu Tür und bieten ihre Dienste an, etwa als Wäscherinnen oder in der Hausarbeit. Männer gehen häufig auf Baustellen - die Städte werden ja wieder aufgebaut und daher braucht es auch viele Tagelöhner. Die begehrtesten Jobs sind jene auf Baustellen, wo der Verdienst höher ist als in anderen Bereichen. Es gibt auch viele Kleinstunternehmer beiderlei Geschlechts. Dabei bekommen die Menschen nicht immer einen Job, sie arbeiten z. B. nur 2-3 Tage in der Woche. Daneben gibt es humanitäre Hilfe, aber damit sind die Menschen nicht ausreichend versorgt (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 23). Nach anderen Angaben bieten NGOs und der Privatsektor den Menschen grundlegende Dienste – vor allem in urbanen Zentren (OXFAM 6.2018, Sitzung 4). Zudem haben Menschen in IDP-Lagern - v.a. wenn sie länger dort leben - in der Regel auch eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 23).
In einer Studie von IOM aus dem Jahr 2016 gaben arbeitslose Jugendliche (14-30 Jahre) an, in erster Linie von der Familie in Somalia (60 %) und von Verwandten im Ausland (27 %) versorgt zu werden (IOM 2.2016, Sitzung 42f). Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- (SEM 31.5.2017, Sitzung 5/32f; vergleiche GIGA 3.7.2018) bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z. B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus (GIGA 3.7.2018). Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z. B. Großfamilie) (SEM 31.5.2017, Sitzung 9/32ff). Erweiterte Familie und Clan stellen also das grundlegende soziale Sicherheitsnetz dar (BS 2022, Sitzung 29).
Aufgrund des Fehlens eines formellen Bankensystems ist die Schulden-Kredit-Beziehung (debt-credit relationship) ein wichtiges Merkmal der somalischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei spielen Vertrauen, persönliche und Clanverbindungen eine wichtige Rolle – und natürlich auch der ökonomische Hintergrund. Es ist durchaus üblich, dass Kleinhändler und Greißler anschreiben lassen (RVI 9.2018, Sitzung 4). Zusätzlich ist es 2019 gelungen, die Gargaara Company Ltd. zu etablieren. Über diese Institution werden Kredite an Mikro-, Klein- und mittlere Unternehmen vergeben. Gargaara spielt auch beim Abfedern von Auswirkungen der Covid-19-Pandemie eine Rolle (WB 6.2021, Sitzung 7).
Die Lebenshaltungskosten in Mogadischu liegen bei mindestens 200 US-Dollar im Monat, für mittlere Standards jedenfalls bei 300 US-Dollar (IOM 2.3.2023). Die Inflation zeigt Auswirkungen auf die Bewertung von Einkommen. Ein Universitätslektor in Mogadischu erörtert, dass vorher 130 US-Dollar ausgereicht haben, um für die Kinder Milch und Nahrung zu besorgen. Nun aber reichen nicht einmal 250 US-Dollar. Er verdient 800 US-Dollar und damit konnte er mit seiner Frau und sieben Kindern ein komfortables Leben führen. Jetzt erklärt er, kaum alle lebenswichtigen Kosten abdecken zu können (TG 8.6.2022).
Beispiele für Lebenshaltungskosten:
● Ein Bauarbeiter in Middle Shabelle gibt an, 9 US-Dollar am Tag verdient zu haben. Dies reicht für den Unterhalt der Familie und das Schulgeld für zwei Kinder aus. Zudem konnte eine Tochter auf eine Krankenschwesternschule in Mogadischu geschickt werden, und für die Familie wurde ein dreiräumiges Haus gekauft (RE 6.12.2022).
● Ein anderer Bauarbeiter in Jowhar erklärt, dass er 4,5 US-Dollar am Tag verdient hat und damit seiner Familie zwei tägliche Mahlzeiten garantieren konnte. Zudem wurde damit die Miete für ein zweiräumiges Haus (40 US-Dollar) bezahlt (RE 6.12.2022).
● Ein Lehrer an einer Privatschule in Mogadischu berichtet, dass er dort 120 US-Dollar im Monat verdient. Die Hälfte davon gibt er für die Miete eines kleinen Hauses aus, den Rest für die Erhaltung seiner Familie. Pro Tag geht sich demnach nur eine Mahlzeit aus (RE 29.11.2022).
● Ein Lehrer für Arabisch und Islam an einer Volksschule im Bezirk Hodan, Mogadischu, erklärt, dass er 100 US-Dollar im Monat verdient. Damit fällt es ihm schwer, seine vier Kinder ernähren zu können (RE 29.11.2022).
● Ein Bauarbeiter in Cadaado berichtet, dass er 12-14 US-Dollar pro Tag und rund 350 US-Dollar im Monat verdient. Die Preise sind derart gestiegen, dass er damit seine Familie nicht mehr erhalten kann. Zuvor reichten dafür 250 US-Dollar im Monat (RE 3.8.2022).
● Ein 36-jähriger Bauarbeiter aus Bakool berichtet, dass sein Einkommen ca. 7,5 US-Dollar pro Tag betragen hat. Damit konnten er und seine Familie leben und drei Mahlzeit am Tag konsumieren. Mit den Preisanstiegen von teils 70 % ist dies nicht mehr möglich (RE 16.8.2022).
● An Privatschulen in Mogadischu zahlen Schüler 10-15 US-Dollar im Monat (RE 29.11.2022), die Schulgebühren in Kismayo betragen 10-18 US-Dollar (RE 24.8.2022). Ein Vater von vier Kindern in Galkacyo berichtet, dass er für vier Kinder insgesamt 30 US-Dollar Schulgeld bezahlt (RE 18.12.2022).
● Eine Viehmaklerin an einem Markt in Luuq, Gedo, gibt an, 4-5 US-Dollar pro Tag zu verdienen. Damit kann sie vier ihrer acht Kinder in die Schule schicken – Kostenpunkt 51 US-Dollar – und ihrer Familie zwei Mahlzeiten pro Tag garantieren. Zudem konnte sie 3.000 US-Dollar ansparen und mit weiteren 1.800 geborgten US-Dollar ein Stück Land erwerben und darauf ein Haus bauen (RE 30.11.2022).
● Eine andere Viehmaklerin aus Luuq – ebenfalls IDP – berichtet, dass sie pro verkaufter Ziege 30-70 US-Cent erhält. Sie Verkauft am Tag 5-10 Ziegen. Die Frau gibt an, ihrer Familie zwei Mahlzeiten am Tag garantieren zu können. Zuvor hat sie bei Lebensmittelhändlern Schulden gemacht (RE 30.11.2022).
● Ein IDP aus Bay, der in Luuq Bauarbeiter ist, kann mit seinem Einkommen sich und seinen neun Geschwistern zwei Mahlzeiten am Tag gewähren. Anfangs wohnten sie im IDP-Lager bei Verwandten, mit verdientem Geld konnte der Mann sich und seinen Geschwistern eine eigene Hütte bauen. Sich selbst hat er in einer Abendschule eingeschrieben und zahlt dort 10 US-Dollar Schulgeld (RE 26.10.2022).
● Ein 29-jähriger Mann aus Bakool, der nach Luuq in Gedo geflüchtet ist, erklärt, dass er als Bauarbeiter 6-8 US-Dollar am Tag verdient. Jede Woche schickt er 24 US-Dollar an seine in Bakool verbliebene Familie. Damit kann sich diese zwei Mahlzeiten pro Tag leisten (RE 26.10.2022).
● Eine Teeverkäuferin in Cadaado berichtet, dass die Miete für ein Haus dort bei rund 25 US-Dollar / Monat liegt (RE 3.8.2022). Eine IDP-Frau in Galkacyo gibt an, für eine kleine Hütte im Lager in Buulo Jawan 10 US-Dollar Miete pro Monat bezahlt zu haben (RE 1.12.2022).
● Ein Taxifahrer in Cadaado berichtet, dass er und seine fünfköpfige Familie zuvor von 4 US-Dollar am Tag gelebt haben, die Lebenshaltungskosten aber nun auf 7 US-Dollar gestiegen sind (RE 3.8.2022).
● Eine Schneiderin in Galkacyo berichtet, dass sie 2-3 US-Dollar am Tag verdient. Sie bezahlt 15 US-Dollar Miete für ein Haus und insgesamt 35 US-Dollar Schulgeld pro Monat für ihre vier Kinder (RE 18.12.2022).
Remissen: Im Jahr 2020 wurden insgesamt 2,8 Milliarden US-Dollar (2019: 2,3 Milliarden) nach Somalia zurück überwiesen. Davon flossen 1,6 Milliarden an Privathaushalte (2019: 1,3 Milliarden) (WB 6.2021, Sitzung 11f). Wie erwähnt, sind für viele Haushalte Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle (FIS 7.8.2020, Sitzung 34) bzw. ermöglichen sie es vielen somalischen Staatsbürgern, den Lebensunterhalt zu bestreiten (BS 2022, Sitzung 26). Diese Remissen, die bis zu 40 % eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen also wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei (BS 2022, Sitzung 29) und fördern die Resilienz der Haushalte (DI 6.2019, Sitzung 5). Städtische Haushalte erhalten viel eher regelmäßige monatliche Remissen, dort sind es 72 %. Die durchschnittliche Höhe der monatlichen Überweisungen beträgt 229 US-Dollar (RVI 9.2018, Sitzung 1f). IDPs bekommen verhältnismäßig weniger oft Remissen (DI 6.2019, Sitzung 28). Auch die Bevölkerung in Südsomalia – und hier v. a. im ländlichen Raum – empfängt verhältnismäßig weniger Geld als jene in Somaliland oder Puntland. Ein Grund dafür ist, dass dort ein höherer Anteil marginalisierter Gruppen und ethnischer Minderheiten beheimatet ist (RVI 9.2018, Sitzung 2).
Mindestens 65 % der Haushalte, welche Remissen beziehen, erhalten diese regelmäßig (monatlich), der Rest erhält sie anlassbezogen oder im Krisenfall. Remissen können folglich Fluktuationen im Einkommen bzw. gestiegene Ausgaben ausgleichen. Dies ist gerade in Zeiten einer humanitären Krise - etwa jener von 2017 - wichtig. Durch Remissen können Haushalte Quantität und Qualität der für den Haushalt besorgten Lebensmittel verbessern, und ein sehr großer Teil der Überweisungen wird auch für Lebensmittel aufgewendet. Zusätzlich wird in Somalia in Zeiten der Krise auch geteilt. Menschen bitten z. B. andere Personen, von welchen sie wissen, dass diese Remissen erhalten, um Hilfe (RVI 9.2018, Sitzung 2f).
Grundversorgung und humanitäre Lage
Letzte Änderung: 03.01.2024
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. Die Ausmaße der historische Dürre sowie der anhaltende Konflikt mit al Shabaab verschärfen dieses Problem (AA 15.5.2023). Öffentliche Dienste gibt es kaum, meist finden sich Angebote wie Wasser- und Stromversorgung sowie Bildung und Gesundheitsdienste bei privaten Dienstleistern. Für viele Menschen sind derartige Dienste nur schwer oder gar nicht zugänglich (BS 2022a). Der Gouverneur der somalischen Zentralbank erklärt, dass es für die Zurverfügungstellung eines finanziellen Sicherheitsnetzes für Bedürftige seitens der Regierung keinerlei budgetären Spielraum gibt (BN 29.6.2022).
Armut: Weite Teile der Bevölkerung in Somalia leiden unter Armut und Ernährungsunsicherheit. Die Weltbank schätzt, dass 71 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag sowie 10 % knapp darüber leben. Besonders stark und weit verbreitet ist Armut in ländlichen Gebieten und in den Siedlungen von Binnenvertriebenen (ÖBN 11.2022). Es gibt viele IDPs und Kinder, die auf der Straße leben und arbeiten (USDOS 20.3.2023). Generell sind somalische Haushalte aufgrund von Naturkatastrophen, Epidemien, Verletzung oder Tod für Notsituationen anfällig. Mangelnde Bildung, übermäßige Abhängigkeit von landwirtschaftlichem Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit, geringer Wohlstand und große Haushaltsgrößen tragen weiter dazu bei (ÖBN 11.2022). Zwei Drittel der Bevölkerung leben im ländlichen Raum. Sie sind absolut vom Regen abhängig. In den vergangenen Jahren haben Frequenz und Dauer von Dürren zugenommen. Deswegen wurde auch die Kapazität der Menschen, derartigen Katastrophen zu begegnen, reduziert. Mit jeder Dürre wurden ihre Vermögenswerte reduziert: Tiere starben oder wurden zu niedrigen Preisen verkauft, Ernten blieben aus; es fehlte das Geld, um neues Saatgut anzuschaffen (Guardian 8.7.2019). Die Zahl der Menschen, die in Somalia humanitäre Hilfe benötigen, ist im Laufe der Jahre stetig gestiegen, von 5,2 Millionen im Jahr 2020 auf 5,9 Millionen im Jahr 2021; von 7,7 Millionen im Jahr 2022 auf derzeit 8,25 Millionen Menschen im Jahr 2023 (SOYDA 4.9.2023).
Dürre, Regenfälle, Überschwemmungen: Die Gu-Regenzeit (April-Juni) 2023 brachte unterschiedliche Erträge. In Nordsomalia sowie im südlichen Gedo und in Lower Juba gab es durchschnittliche bis überdurchschnittliche Niederschläge, in den zentralen Regionen nahezu durchschnittliche bis durchschnittliche Niederschläge. Damit wurde das Ende der Dürrebedingungen in den meisten Teilen Somalias signalisiert (FSNAU 18.9.2023a). Die Dürre hatte mit fünf ausgefallene Regenzeiten zu einer Dezimierung von Viehbeständen und Ernten geführt, das Land stand am Rand einer Hungersnot (STC 16.11.2023; vergleiche IPC 28.2.2023). Die Dürre hat zum Verlust von Menschenleben und von wichtigen Nahrungs- und Einkommensquellen und damit zu schweren Schäden an der Lebensgrundlage geführt. Viele ländliche Haushalte haben eine Erosion ihrer Lebensgrundlagen und ihrer Bewältigungskapazitäten erlebt und sahen sich mit wachsenden Lücken in der Nahrungsmittelversorgung konfrontiert. Diese Faktoren haben zum Anstieg der Zahl an Menschen geführt, die aus ländlichen Gebieten in IDP-Lager geflüchtet sind (IPC 28.2.2023). Von der Dürre waren fast 50 % der Bevölkerung betroffen (UNSC 1.9.2022a).
Schon im Rahmen der Gu-Regenzeit kam es zu Überschwemmungen in Hiiraan, Middle Shabelle und Lower Shabelle. Schwere Sturzfluten verursachten in Teilen von Gedo, Bay und Bakool sowie in Teilen der nordwestlichen Regionen schwere Schäden. Menschen mussten flüchten, es kam zu erheblichen Ernteverlusten sowie Einkommensverlusten aus der landwirtschaftlichen Beschäftigung (FSNAU 18.9.2023b; vergleiche SOYDA 4.9.2023). In Belet Weyne wurden 97 % der Wasserquellen zerstört oder verseucht (WHO 10.9.2023). Bereits im November 2022 wurde festgehalten, dass es Jahre dauern wird, bevor sich Somalia von der Dürre erholt haben wird (REU 21.11.2022). So werden etwa pastoralistische Haushalte in Nord- und Zentralsomalia werden mehrere Saisonen brauchen, bis sie sich von den Verlusten der jüngeren Vergangenheit erholt haben (IPC 28.2.2023).
Doch nun folgt auf die o.g. schlimmste Dürre seit 40 Jahren das Wetterphänomen El Niño, das ungewöhnlich starke Regenfälle, Gewitter und extreme Überschwemmungen mit sich bringt (STC 16.11.2023; vergleiche UN OCHA 23.11.2023). El Niño wird von einem positiven Dipol im Indischen Ozean begleitet (UN OCHA 23.11.2023). Somalia wird von einer Flutkatastrophe heimgesucht (UNICEF 31.10.2023). Schon ein Monat nach Beginn der Deyr-Regenzeit (Oktober bis Dezember) ist Somalia 2023 mit einer Überschwemmungskatastrophe konfrontiert (UN OCHA 23.11.2023; vergleiche IRC 20.11.2023). Laut FAO/SWALIM war die Regenmenge und -intensität in den Regionen Hiiraan, Bakool, Bay und Gedo sowie im Bezirk Saakow (Middle Juba) schon im Oktober 2023 außergewöhnlich hoch. In mehreren Gebieten fielen innerhalb von sieben Tagen bis zu 300 mm Niederschlag – weit mehr, als üblicherweise in der gesamten Regenzeit. Sowohl der Juba als auch der Shabelle führen Hochwasser (UN OCHA 14.11.2023). Stand 20.11.2023 waren von den Überschwemmungen 1,69 Millionen Menschen betroffen, 654.000 mussten fliehen, 40 Menschen kamen zu Tode und knapp 6.000 Häuser waren beschädigt oder zerstört (UN OCHA 20.11.2023). In Belet Weyne waren 90 % der Stadt überschwemmt (UN OCHA 17.11.2023). Ackerland, Vieh und Infrastruktur (etwa die Juba-Brücke von Buurdhuubo und eine Brücke bei Baardheere) wurden vernichtet. Gleichzeitig wird erwartet, dass die Regenfälle bis zum Ende des Jahres 2023 anhalten. Dies wird die humanitäre Lage verschärfen. Schätzungen zufolge könnten schlussendlich 4,3 Millionen Menschen Hunger leiden, nicht zuletzt, weil 1,5 Millionen Hektar Ackerland und damit auch die landwirtschaftliche Produktion betroffen sein werden (IRC 20.11.2023; vergleiche UN OCHA 17.11.2023), nicht zuletzt auch aufgrund der Zerstörung von Pumpen, Kanälen und Bewässerungsrohren (UN OCHA 17.11.2023). Die folgenden Bezirke waren von den Überschwemmungen im Herbst 2023 maßgeblich betroffen:
Quelle: UN OCHA 20.11.2023
Humanitäre Organisationen, Behörden und lokale Gemeinschaften haben die Hilfe für die betroffenen Menschen verstärkt (UN OCHA 17.11.2023). Bis Ende November 2023 konnten bereits 820.000 Betroffene erreicht werden (UN News 30.11.2023). Auch z.B. CARE hat auf die Katastrophe reagiert und ein Programm zur finanziellen Unterstützung von 198.000 Personen ausgerollt (CARE 29.11.2023).
Überschwemmungen und Dürre stellen für Somalia kein neues Phänomen dar. Immer spielt Wasser eine Rolle: Entweder gibt es zu viel davon, oder zu wenig. Derartige Katastrophen ereignen sich seit Jahrzehnten. Im Zuge der Dürre im Jahr 1973 in Nordsomalia wurden mehr als 100.000 Familien nach Lower Shabelle und in die Juba-Regionen übersiedelt. Bei der Hungersnot in den Jahren 1991-1992 starben 300.000 Menschen, im Jahr 2011 mehr als 260.000 - die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren (Ali/TEL 28.1.2022). Somalia ist hinsichtlich des Klimawandels das am zweitstärksten vulnerable Land der Welt (TRT 10.8.2023) und ist dementsprechend als Frontstaat zu bezeichnen. Das Land hat in Ostafrika bislang den größten Temperaturanstieg zu verzeichnen (HIPS 8.2.2022; vergleiche DW 17.6.2022). Seit 1990 war das Land mehr als 30 klimabedingten Gefahren ausgesetzt, darunter Dürren und Überschwemmungen. Das ist eine Verdreifachung gegenüber dem Zeitraum zwischen 1970 und 1990 (UN OCHA 23.11.2023).
Landwirtschaft, Nahrungsmittel, Preise: Die Getreideproduktion der Gu-Saison 2023 lag in Südsomalia um 34 % unter dem langjährigen Durchschnitt, im Nordwesten sogar um 60 %. Das niedrige Produktionsniveau ist das Ergebnis einer Kombination von Faktoren, darunter unterdurchschnittliche Niederschläge, Unsicherheit, Überschwemmungen, Schädlinge und ein Mangel an landwirtschaftlichen Betriebsmitteln (FSNAU 18.9.2023b).
Der Somalische Shilling ist im Allgemeinen stabil. Die Inflation liegt im Jahr 2023 bei 4,2 %, 2024 bei 4,0 % (FSNAU 18.9.2023a). Seit Juli 2023 sind die Preise für Mais und Sorghum aufgrund des gestiegenen Angebots aus der Gu-Ernte 2023 auf ein Niveau unter dem Vorjahresniveau gesunken und liegen derzeit nahezu im Durchschnitt. Die Preise für importierte Lebensmittel haben sich im vergangenen Jahr auf den meisten Märkten aufgrund des ausreichenden Angebots stabilisiert oder sind gesunken, sie bleiben über dem Fünfjahresdurchschnitt (FSNAU 18.9.2023b).
Somalia gehört weltweit zu den Ländern mit der größten Rate an Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Laut UNICEF benötigen acht Millionen Menschen, darunter fast fünf Millionen Kinder, Unterstützung im Hygienebereich und bei der Wasserversorgung (UNICEF 31.10.2023; vergleiche SOYDA 4.9.2023). Laut anderen Angaben sind 3,9 Millionen Menschen von Wasserunsicherheit betroffen (ÖBN 11.2022). Die mäßigen bis starken Gu-Regenfälle (April–Juni) 2023 haben auch den Zugang zu Wasser und Weideland verbessert und den Menschen eine gewisse Erleichterung gebracht. Die Wasserpreise sind teils um etwa 40 % gesunken (UNSC 15.6.2023).
Bereits mit Stand Feber 2023 hatten die Pegelstände in den Flüssen Juba und Shabelle wieder annähernd Normalniveau erreicht (IPC 28.2.2023). Mit der Gu-Regenzeit 2023 hat sich der Zustand des Weidelandes deutlich verbessert. Spätestens für Ende 2023 wird sich das Weideland in ganz Somalia erholt haben (FSNAU 18.9.2023a). Die Dürre hat mindestens ein Drittel des Viehbestands in Somalia vernichtet (UN OCHA 1.3.2023). Seit Mitte 2021 sind rund 3,8 Millionen Stück Vieh umgekommen (UNSC 15.6.2023). Die Viehwirtschaft hat bis dahin maßgeblich zur Versorgung der Familien – mit Milch und Fleisch – beigetragen (AP 8.6.2022). Zudem finden sich in der Viehwirtschaft 90 % der informellen Beschäftigten und Vieh bildet 90 % der Exporte des Landes (UN OCHA 1.3.2023). Die Dürre hatte also akute Auswirkungen auf die Lebensgrundlage von Haushalten. In den meisten Fällen kam es zu einem vollständigen oder nahezu vollständigen Verlust der Viehbestände und zu erheblichen Unterbrechungen landwirtschaftlicher Aktivitäten. 40 % der im Rahmen einer Studie befragten Haushalte verfügten vor der Dürre über ein landwirtschaftliches Einkommen. Danach waren es 12 %. Auch der Verkauf von Produktionsgütern wie Vieh ist überall deutlich zurückgegangen, von 16 % auf 3 % (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023).
Fluchtbewegungen aufgrund von Dürre (Überschwemmungen siehe weiter oben): Im Jahr 2022 sind in Süd-/Zentralsomalia 1,179.000 Menschen aufgrund der Dürre vertrieben worden (UNHCR 31.12.2022). 2023 waren es Stand November 528.000; die meisten diesbezüglich Vertriebenen stammen aus den Regionen Bay (152.000), Lower Shabelle (109.000), Gedo (90.000), Bakool (62.000), Middle Juba (29.000), Bari (24.000) und Lower Juba (19.000). Die wenigsten Menschen flohen aus Woqooyi Galbeed (Somaliland; 0), Benadir (900), Nugaal (1.000), Galgaduud (2.000) und Sanaag, Sool und Togdheer (Somaliland, je 4.000) sowie Awdal (Somaliland; 6.000) (UNHCR 2023).
Hunger, Versorgungslage / IPC: [IPC = Integrated Phase Classification for Food Security; 1-moderat bis 5-Hungersnot]. Mit Stand September 2023 befanden sich ca. 2,8 Millionen Menschen in IPC-Stufe 3 (17 % der Bevölkerung); ca. 920.000 in Stufe 4 (5 %) und keine in Stufe 5 (Hungersnot). Zusammen mit den rund 5,6 Millionen in IPC 2 ist (FSNAU 9.2023) die Hälfte der Gesamtbevölkerung von 17 Millionen Menschen Ernährungsunsicherheit ausgesetzt. Knapp 1,8 Millionen Kinder leiden an Unterernährung (IR 30.8.2023). Humanitäre Hilfe verhindert in vielen Bereichen eine Verschlechterung der Ernährungssicherheit und der Ernährungslage. Im Zeitraum August-September 2023 besonders betroffen war das Küstengebiet von Zentralsomalia sowie Laascaanood (IPC 4). Die meisten pastoralen und agropastoralen Lebensräume [livelihoods] in den nördlichen und zentralen Regionen; die agro-pastoralen in ganz Somalia; sowie die Flusslebensräume in Hiiraan, Middle Shabelle, Lower Shabelle und Gedo werden auf Krisenniveau eingestuft (IPC 3); dies gilt auch für die meisten der wichtigsten IDP-Lager im Land. Die meisten städtischen Bevölkerungsgruppen stehen demnach unter Stress (IPC 2) (FSNAU 18.9.2023b).
Die folgenden IPC-Food-Insecurity-Lagekarten zeigen die Situation im Zeitraum Juli 2022 bis September 2023 sowie eine Prognose bis Dezember 2023. Angesichts der IPC-Karten ist die Stadtbevölkerung oft von IPC 3 oder IPC 4 anteilig weniger betroffen als Menschen in ländlichen Gebieten:
FSNAU 18.9.2023b, FSNAU 28.2.2023a, FSNAU 11.9.2022a
Generell finden sich unter IDPs mehr Personen, die unter Ernährungsunsicherheit sowie an Mangel- oder Unterernährung leiden (USDOS 20.3.2023).
IPC-Verteilung nach Gebieten in Prozent der Bevölkerung für Mai und Dezember 2022 sowie September 2023:
FSNAU 18.9.2023b, IPC 28.2.2023
Eine weitere Kartensammlung, in welcher ausschließlich mehrere, für die Nahrungsmittelversorgung alarmierende Werte zusammengefasst dargestellt werden, zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre (je dunkler das Rot, desto mehr Alarmwerte wurden überschritten):
FSNAU 17.10.2023
Eine Quelle gibt die Zahl der Hungertoten alleine für das Jahr 2022 mit ca. 43.000 an - die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren. Am stärksten betroffen waren die Regionen Bay, Bakool und Benadir (UNSC 15.6.2023; vergleiche XIN 20.3.2023, IR 30.8.2023). römisch fünf.a. Bay und die dortige Hauptstadt Baidoa waren massiv betroffen. Zu den 500.000 Einwohnern der Stadt kamen 600.000 Menschen aus dem Umland (AQ21 11.2023). Für das Jahr 2023 wurde bereits im März eine Übersterblichkeit von 18.000-34.000 prognostiziert (UNSC 15.6.2023; vergleiche XIN 20.3.2023), eine andere Quelle schätzt die Zahl an Menschen, die im ersten Halbjahr 2023 aufgrund der Dürre gestorben sind, auf 135 pro Tag (UNiSOM 20.3.2023).
Die Situation hinsichtlich akuter Unterernährung hat sich im Vergleich zu 2022 im Allgemeinen verbessert. Für den Zeitraum August 2023 bis Juli 2024 wird die Zahl an Kindern unter 5 Jahren, die an akuter Unterernährung leiden, auf ca. 1,5 Millionen geschätzt; davon 330.630 mit schwerer Unterernährung. Auch bei IDPs ist die Quote an Unterernährten zurückgegangen - namentlich in Mogadischu, Baidoa und in Hiiraan. Von Gu 2022 bis Gu 2023 konnten die Zahl von an akuter Unterernährung betroffenen Kindern unter fünf Jahren um 19 % gesenkt werden, jene der Kinder mit schwerer Unterernährung um 36 % (FSNAU 18.9.2023b). Im Zeitraum Feber 2021 bis September 2023 zeigte sich die Situation hinsichtlich Unterernährung bei unter Fünfjährigen wie folgt [GAM = akute Unterernährung; SAM = schwere akute Unterernährung]:
FSNAU 18.9.2023c, FSNAU 1.3.2023, FSNAU 10.2.2022, FSNAU 4.2.2021
Die IPC-Stufen zur Unter- und Mangelernährung haben sich seit Herbst 2022 wie folgt entwickelt (inkl. Prognose bis Dezember 2023):
FSNAU 18.9.2023b, FSNAU 28.2.2023b, FSNAU 11.9.2022b
Humanitäre Hilfe: In Somalia ist die längstdienende humanitäre Mission tätig, jährlich werden Milliarden US-Dollar ausgegeben (Ali/TEL 28.1.2022). Somalia ist auch der am besten finanzierte sog. Humanitarian Plan weltweit; um eine Hungersnot zu vermeiden, umfasste das Engagement im Jahr 2022 2,27 Milliarden US-Dollar, für das Jahr 2023 sind 2,6 Milliarden vorgesehen (AQ21 11.2023). Davon waren aber laut Angaben der UN bis November 2023 erst 42 % finanziert (UN News 30.11.2023). Mit Stand Oktober 2023 waren in Somalia in 71 von 74 Bezirken 248 humanitäre Organisationen aktiv, 115 davon befassten sich in 69 Bezirken mit Ernährungssicherheit (UN OCHA 16.11.2023). In Zusammenarbeit mit Partnern konnte UNICEF in den ersten zehn Monaten des Jahres 2023 in 70 von 74 Bezirken 517.090 Kinder mit schwerer akuter Unterernährung mit lebensrettender Behandlung versorgen (UNICEF 31.10.2023). Humanitäre Hilfe spielt weiterhin eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Lage hinsichtlich Ernährungsunsicherheit und in vielen anderen Bereichen. Nahrungsmittel- und Bargeldhilfe erreichten im Zeitraum Jänner-März 2023 durchschnittlich 4,4 Millionen Menschen pro Monat. Diese Zahl ging im Zeitraum April-Juni 2023 auf 3,6 Millionen Menschen pro Monat zurück. Aufgrund von Finanzierungsengpässen musste die humanitäre Hilfe eingeschränkt werden (FSNAU 18.9.2023b).
Bis zum Geldtransferprogramm Baxnaano gab es kein Programm für ein soziales Sicherheitsnetz. Baxnaano ist das erste von der Bundesregierung geleitete Geldtransferprogramm, es wird vom WFP unterstützt und von der Weltbank finanziert. Stand Juni 2023 wurden über dieses Programm monatlich bedingungslose Geldtransfers an 200.000 arme und gefährdete Haushalte mit Kindern bereitgestellt und damit ca. 1,2 Millionen Menschen erreicht (IMF 31.7.2023). Humanitäre Hilfe erfolgt z.B. durch den Danish Refugee Council (DRC). Dieser stellte etwa in Dayniile (Mogadischu) hunderten bedürftigen Haushalten von der EU finanziertes Geld über mobile Lösungen zu. In Galkacyo hat der DRC mit EU-Geldern Brunnen, Tanks und Wasserleitungen für 800 Haushalte gebaut (DRC 15.11.2022). Ein anderes Beispiel ist jenes Projekt von der FAO und von USAID, mit welchem von der Dürre betroffene Menschen mit Bargeld und Beiträgen zum Lebensunterhalt unterstützt werden, um einen besseren Zugang zu Nahrung und anderen Grundbedürfnissen gewährleisten zu können. In Bossaso stellte die FAO z.B. 400 gefährdeten Fischerfamilien sechs Monate lang Bargeld und Fischverarbeitungsausrüstung zur Verfügung, damit sie ihre dringendsten Bedürfnisse erfüllen und sich besser im Fischereisektor engagieren können. Diese Art der Unterstützung geht mit Schulungen zum effizienten Umgang mit begrenzten Ressourcen einher. Zusätzlich zu den Ausrüstungen erhielten die Teilnehmer sechs Monate lang Geldtransfers in Höhe von 75 US-Dollar pro Monat (FAO 1.8.2023). Andere Hilfe leistete wiederum UNHCR in Galkacyo, wo 40 Betreiber kleiner Geschäfte, die einem Straßenbau weichen mussten, von UNHCR mit je 1.000 US-Dollar kompensiert worden sind. So konnten sie sich an einem neuen Ort ihr Geschäft wieder aufbauen (RE 18.12.2022).
Die Sicherheitslage beeinträchtigt die Arbeit humanitärer Kräfte. Ca. 740.000 Menschen in von nicht-staatlichen Gruppen kontrollierten Gebieten können nur schwerlich an humanitäre Hilfe gelangen (UNSC 1.9.2022b).
Ohne humanitäre Hilfe würden mehr Menschen an Hunger sterben (IR 30.8.2023). Aber auch die humanitären Organisationen stoßen auf Grenzen und haben nicht genügend Ressourcen, um allen zu helfen (IR 30.8.2023; vergleiche AA 15.5.2023). Selbst in Mogadischu haben - anekdotischen Berichten zufolge - nicht alle IDPs Zugang zu Nahrungsmittelhilfe (RE 11.11.2022; vergleiche NPR 23.12.20222). Anfang 2023 konnten fast 90 % der IDPs in Mogadischu, Garoowe, Hargeysa und Burco können ihre Grundbedürfnisse nicht abdecken (UN OCHA 1.3.2023). Menschen werden mitunter aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit von Hilfe ausgeschlossen. Zudem ist in kurzer Zeit sehr viel Geld mit wenig Kontrolle nach Somalia geflossen, einiges davon kommt nicht bei den Bedürftigen an. Es kommt zu Diebstahl und Fehlleitung humanitärer Güter sowie zur Besteuerung humanitärer Hilfe (AQ21 11.2023). In Somalia sind es die mächtigen Gruppen, die den Löwenanteil erhalten: an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird. Weitere Gründe sind, dass diese Gruppen traditionell über weniger Ressourcen verfügen, weniger Remissen erhalten und Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen nicht so gut ausgebaut sind. Al Shabaab hat sich diese Benachteiligung zunutze gemacht (Sahan 24.10.2022).
Gesellschaftliche Unterstützung: [Bis auf das o.g. Programm Baxnaano] gibt es kein öffentliches Wohlfahrtssystem (BS 2022a), keinen sozialen Wohnraum und keine Sozialhilfe (AA 15.5.2023). Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie Armutsminderung liegen im privaten Sektor (BS 2022a). Das eigentliche soziale Sicherungsnetz ist die erweiterte Familie, der Subclan oder der Clan. Sie bieten oftmals zumindest einen rudimentären Schutz (AA 15.5.2023). Ein Vorteil der somalischen Sozialstruktur ist die Verpflichtung zur Hilfe. Wenn eine Person des eigenen Clans Unterstützung braucht, dann ist die Gewährung derselben nicht verhandelbar (Sahan 24.10.2022). Vorrangig stellt die patrilineare (väterliche) Abstammungsgemeinschaft die Solidaritäts- und Schutzgruppe. Aber daneben gibt es auch die Patri-(Vater)-Linie der Mutter und zusätzlich möglicherweise noch angeheiratete Verwandtschaft. Alle drei Linien bilden i.d.R. - wie es ein Experte formuliert - "einen ganz beachtlichen Verwandtschaftskosmos". Und in diesem Netzwerk kann Hilfe und Solidarität gesucht werden, es besteht diesbezüglich eine moralische Pflicht. Allerdings müssen verwandtschaftliche Beziehungen auch gepflegt werden. Entscheidend ist also nicht unbedingt die Quantität an Verwandten, sondern die Qualität der Beziehungen. Wer als schwacher Akteur in diesem Netzwerk positioniert ist, der wird schlechter behandelt als die stark Positionierten (ACCORD 31.5.2021). Eine Frau in Baidoa berichtet etwa, dass, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, sie und ihre Kinder von ihrem Bruder erhalten werden, der als Tagelöhner arbeitet (NPR 23.12.2022). In einer Dokumentation der Deutschen Welle wird ein junger Mann gezeigt, der im Sudan medizinisch versorgt und von dort zurückgeholt werden musste. Die Ältesten bzw. Sultans sammeln Geld im ganzen Clan, und dieser gab dafür schließlich 7.000 US-Dollar aus. Danach hat der Clan dem Mann um 3.000 US-Dollar ein Tuk-Tuk finanziert, damit er den gefährlichen Weg der Migration nicht noch einmal antritt (DW 3.2021). Diese Art des "Fundraising" (Qaraan) erfolgt in Somalia und in der Diaspora als nicht nur, um sogenanntes Blutgeld im Fall eines Mordes zu sammeln, sondern auch, um andere Bedürfnisse eines Clanmitglieds abzudecken. Darunter fallen auch Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung (Majid/Abdirahman/Hassan 2017).
In Somalia sind soziale Kontakte im Fall von Dürren und anderen Krisen seit Langem eine Quelle der Widerstandsfähigkeit, ein effizienter Teil der Bewältigungsstrategie (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023; vergleiche DI 1.6.2019), die zum Überleben von Haushalten beigetragen hat. Die bei einer Studie am häufigsten angegebenen Unterstützungsquellen sind Familie, Freunde und Nachbarn (24 %), gefolgt von internationalen (15 %) und lokalen NGOs (8 %). Soziale Kontakte haben auch während der aktuellen Dürre eine entscheidende Rolle gespielt (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023). Ohne die gegenseitige Unterstützung - ohne Teilen - wäre die Katastrophe noch viel größer geworden (Spiegel/Hoffmann 24.9.2022). Die Haushalte haben sich gegenseitig auf vielfältige Weise unterstützt, auf materielle und immaterielle Art, darunter mit Bargeld, Lebensmitteln, Informationen und emotionaler Unterstützung. Oft teilen diejenigen mit mehr sozialen Verbindungen und besserem Zugang zu Ressourcen mit weniger gut vernetzten Haushalten. Der Zusammenhalt erstreckte sich mitunter auch auf externe Hilfe - etwa Bargeldhilfen durch humanitäre Organisationen. Lokale Führer haben Gemeinschaftstöpfe eingerichtet, in welche die Haushalte Teile der erhaltenen Hilfe einzahlen. So wurde einerseits sichergestellt, dass vulnerable Haushalte nicht leer ausgehen, und andererseits wurden derart Spannungen zwischen Haushalten, die Hilfe erhalten, und solchen, die keine Hilfe erhalten, abgemildert. Zu den gefährdeten Gemeindemitgliedern gehören in diesem Zusammenhang z.B. ältere und/oder behinderte Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, Waisen und Witwen (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023). NRC berichtet beispielsweise von einer IDP-Familie, die nach Baidoa geflüchtet ist. Dort siedelte sie sich gezielt in einem Lager an, wohin schon vorher Menschen aus der eigenen Community geflüchtet waren. Ein Nachbar ist in diesem Kontext manchmal ein Dorfbewohner von zu Hause, ein entfernter Verwandter. So entsteht ein Unterstützungssystem (NRC 16.11.2023). Bei einem anderen Beispiel wird hinsichtlich der Überschwemmungen im Rahmen der Deyr-Regenzeit 2023 berichtet, dass die meisten Familien aus dem überfluteten Horseed-1-IDP-Lager in Baidoa bei Verwandten untergekommen sind (UN OCHA 23.11.2023).
Neben Familie und Clan helfen hierbei auch andere soziale Verbindungen – seien es Freunde, geschlechtsspezifische oder Jugendgruppen, Bekannte, Berufsgruppen oder religiöse Bünde. Meist ist die Unterstützung wechselseitig. Über diese sozialen Netzwerke können auch Verbindungen zwischen Gemeinschaften und Instanzen aufgebaut werden, welche Nahrungsmittel, medizinische Versorgung oder andere Formen von Unterstützung bieten. Auch für IDPs stellen solche Netzwerke die Hauptinformationsquelle dar, wo sie z.B. Unterkunft und Nahrung finden können (DI 1.6.2019). Soziale Unterstützung erfolgt auch über islamische Wohltätigkeitsorganisationen und NGOs (BS 2022a). Generell ist es auch üblich, Kinder bei engen oder fernen Verwandten unterzubringen, wenn eine Familie diese selbst nicht erhalten kann (SIDRA 6.2019). 22 % der bei einer Studie befragten IDP-Familien haben Kinder bei Verwandten, 28 % bei institutionellen Pflegeeinrichtungen (7 %) untergebracht. Weitere 28 % schicken Kinder zum Essen zu Nachbarn (OXFAM/Fanning 6.2018).
In der somalischen Gesellschaft - auch bei den Bantu - ist die Tradition des Austauschs von Geschenken tief verwurzelt (DI 1.6.2019). Menschen, die selbst wenig haben, teilen ihre wenigen Habseligkeiten und helfen anderen beim Überleben. Es herrscht eine starke Solidarität (ACCORD 31.5.2021). Eine Gemeindeführer eines Dorfes bei Garoowe erklärt beispielsweise, dass Menschen ihre Verwandten nicht zurücklassen würden. Es wird demnach geteilt, so lange es etwas zu teilen gibt (UN OCHA 23.11.2023). Auch Remissen werden mitunter mit Nachbarn, Verwandten und Freunden geteilt (DI 1.6.2019). Oft borgen Haushalte also Geld oder Waren von lokalen Betrieben (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023). Selbst Kleinhändlerinnen in IDP-Lagern, die ihre Ware selbst nur auf Kredit bei einem größeren Geschäft angeschafft haben, lassen anschreiben und streichen manchmal die Schulden von noch ärmeren Menschen (RE 19.2.2021).
Eine Hilfestellung bieten Remissen aus dem Ausland (BS 2022a). Nach Somalia fließen jährlich mehr als 1,7 Milliarden US-Dollar (KNOMAD 2023; vergleiche UNCDF 4.2023, ÖBN 11.2022). Remissen spielen damit eine entscheidende Rolle bei der Verringerung der Armut (ÖBN 11.2022). Sie steuerten in den Jahren 2021 und 2022 jeweils 27,3 % zum BIP bei (AFDB 23.6.2023). So kommt weit mehr Geld ins Land als durch Entwicklungshilfe (SRF 27.12.2021). Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen (IPC 1.3.2021). Diese stellen einen bedeutenden Anteil des Budgets von Privathaushalten dar, v.a. für die unteren 40 %, wo Remissen 54 % aller Haushaltsausgaben decken (WB 1.6.2021). Laut einer Studie von IOM aus dem Jahr 2021 sind 67 % der Empfänger von Remissen arbeitslos. Für viele Menschen sind die Überweisungen ein Rettungsanker (Sahan/SWT 2.9.2022; vergleiche OXFAM 15.12.2023, Star 30.8.2022). Überweisungen werden hauptsächlich für allgemeine Haushaltsausgaben (z.B. Nahrung, Wasser) sowie Bildung und Gesundheit verwendet (UNCDF 4.2023; vergleiche OXFAM 15.12.2023). Minderheiten mangelt es oft am Zugang zu Remissen (SPC 9.2.2022). In einem Artikel berichtet ein Geschäftsmann und zehnfacher Vater, der seinen Betrieb zusperren musste, dass er von seiner Schwester in Saudi-Arabien mit 200 US-Dollar pro Monat unterstützt wird. Ein anderer Verkäufer, dem es wegen der Dürre ähnlich ergangen ist, erhält pro Monat 150 US-Dollar von einem Onkel in Südafrika, der auch noch für zwei seiner Brüder die Semestergebühren an der Universität in Mogadischu finanziert. Ein weiterer Verkäufer hat sich einerseits an einen Onkel in Großbritannien gewandt und ist andererseits mit seiner Familie zurück zu seinen Eltern gezogen, um sich die 20 US-Dollar Miete zu sparen. Vom Onkel in Großbritannien erhält er 250 US-Dollar im Monat (RE 22.7.2022).
Gegenwärtig sind die Systeme sozialer Absicherung allerdings deutlich überdehnt (IPC 28.2.2023). Diese Überlastung zeigt sich auch an der hohen Anzahl an IDPs (IPC 4.6.2022). Auch generell sind manche Clans nicht mehr in der Lage, der Armut ihrer Mitglieder entsprechend zu begegnen. Wenn Menschen in weit von ihrer eigentlichen Clanheimat entfernte Gebiete fliehen, verlieren sie zunehmend an Rückhalt und setzen sich größeren Risiken aus (DI 1.6.2019). Bei einer Studie haben 56 % der befragten Haushalte angegeben, über keinerlei Unterstützungsquellen zu verfügen. 85 % gaben an, dass sie es nicht geschafft haben, irgendwo einen Kredit zu bekommen (Elsamahi/Ochieng/Bedelian 9.6.2023). Ein Viehzüchter aus Awdal berichtet beispielsweise, dass er aufgrund des Verlusts von Vieh bei einem lokalen Geschäft auf Kredit eingekauft hat. Als seine Schulden 1.000 US-Dollar erreicht haben, wurden ihm weitere Einkäufe versagt; seitdem leben er und seine Familie von dem, was Verwandte ihnen geben (RE 6.9.2023).
Rückkehrspezifische Grundversorgung
Letzte Änderung: 17.03.2023
Einkommen: Somalis aus der Diaspora - aus Europa oder den USA - die freiwillig zurückkehren, nehmen oft keine Hilfspakete in Anspruch, sondern kehren einfach zurück. Viele der Rückkehrer aus Kenia und dem Jemen gehen in die großen Städte Kismayo, Mogadischu und Baidoa, weil sie sich dort bessere ökonomische Möglichkeiten erwarten (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 24). Der UNHCR hat für eine repräsentative Studie von 2018 bis Dezember 2021 fast 2.900 Haushalte mit mehr als 17.000 Angehörigen – darunter vor allem unterstützte Rückkehrer aus Kenia, Äthiopien und dem Jemen – zu ihrer Situation in Somalia befragt. Insgesamt haben 59 % der Rückkehrerhaushalte angegeben, dass ihr Einkommen nicht ausreicht. Dies wird zu 43 % auf mangelnde Jobmöglichkeiten zurückgeführt. Die meisten Rückkehrer leben von Einkommen als Taglöhner oder als Selbstständige sowie von humanitärer Hilfe (UNHCR 22.3.2022).
Nach Angaben einer Quelle ist Somalia auf eine Rückkehr von Flüchtlingen in großem Ausmaß nicht vorbereitet, und es kann davon ausgegangen werden, dass sich ein erheblicher Teil der Rückkehrer als IDPs wiederfinden wird (ÖB 11.2022, Sitzung 14). Arbeitslose Rückkehrer im REINTEG-Programm (siehe unten) berichten über mangelnde Möglichkeiten; über eingeschränkte Erfahrungen, Fähigkeiten und Informationen über den Arbeitsmarkt. Nur 30 % der REINTEG-Rückkehrer sind mit ihrer ökonomischen Situation zufrieden, viele klagen über niedriges Einkommen und lange Arbeitsstunden (IOM 3.12.2020). Viele von ihnen sind diesbezüglich Druck seitens ihrer Familie ausgesetzt – v. a. wenn sie aufgrund ihrer „abgebrochenen“ Migration noch Schulden offen haben. Manche Rückkehrer gehen deshalb explizit nicht in Regionen, wo Mitglieder des eigenen Clans leben (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 24).
Andererseits werden in Kismayo Somali, die nach Jahrzehnten in Kenia nach Somalia zurückgekehrt sind, auch in der Verwaltung eingesetzt – mitunter in hohen Funktionen. Anekdotische Berichte belegen, dass viele der Rückkehrer aus Kenia in ganz Somalia für Behörden oder NGOs arbeiten (AJ 14.9.2022a). Laut einer Quelle muss eine nach Mogadischu zurückgeführte Person nicht damit rechnen, ohne Angehörige zu verhungern. Selbst wenn jemand tatsächlich überhaupt niemanden kennen sollte, dann würde diese Person in ein IDP-Lager gehen und dort in irgendeiner Form Hilfe bekommen. Die Person ist auf Mitleid angewiesen; Hilfe findet sich vielleicht auch in einer Moschee. Jedenfalls würde eine solche Person so schnell wie möglich versuchen, dorthin zu gelangen, wo sich ein Familienmitglied befindet. Dass gar keine Familie existiert, ist sehr unwahrscheinlich (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 37).
Rückkehrer, die im Ausland ausgebildet wurden, können - bei vorhandenen, besseren Fähigkeiten - am Arbeitsmarkt Vorteile haben. Jedenfalls sind Netzwerke aus Familie, Nachbarn und Freunden für Rückkehrer höchst relevant. Die Unterstützung, die ein Rückkehrer aus diesen Netzwerken ziehen kann, hängt maßgeblich davon ab, wie sehr er diese Netzwerke während seines Auslandsaufenthalts gepflegt hat. Natürlich spielen auch Clannetzwerke eine Rolle. Dies ist mit ein Grund dafür, dass Rückkehrer sich oft in Gebieten ansiedeln, die von eigenen Clanmitgliedern bewohnt werden (EASO 9.2021a).
Unterstützung / Netzwerk: Der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] ist unter anderem dafür verantwortlich, Mitglieder in schwierigen finanziellen Situationen zu unterstützen. Das traditionelle Recht (Xeer) bildet hier ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z. B. Großfamilie) (SEM 31.5.2017, Sitzung 5/31f). Jedenfalls versucht die Mehrheit der Rückkehrer in eine Region zu kommen, wo zumindest Mitglieder ihres Clans leben (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 24), denn eine erfolgreiche Rückkehr und Reintegration kann in erheblichem Maße von der Clanzugehörigkeit bzw. von lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person abhängig sein. Rückkehrer ohne Clan- oder Familienverbindungen am konkreten Ort der Rückkehr finden sich ohne Schutz in einer Umgebung wieder, in der sie oftmals als Fremde angesehen werden (ÖB 11.2022, Sitzung 14). Nach anderen Angaben ist es bei einer Rückkehr weniger entscheidend, ob jemand Verwandte hat oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, wie diese persönlichen Verwandtschaftsbeziehungen funktionieren und ob sie aktiv sind, ob sie gepflegt wurden. Denn Solidarität wird nicht bedingungslos gegeben. Wer sich lange nicht um seine Beziehungen gekümmert hat, wer einen (gesellschaftlichen) Makel auf sich geladen hat oder damit behaftet ist, der kann - trotz vorhandener Verwandtschaft - nicht uneingeschränkt auf Solidarität und Hilfe hoffen (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 39f). Laut Angestellten von IOM in Somaliland würde ein Rückkehrer ohne Beziehungen oder Kontakten in Hargeysa in der Stadt trotzdem mit Wasser, Nahrung und Unterkunft versorgt werden. Dies erfolgt informell und aus Gründen der Gastfreundschaft und anderen kulturellen Werten. Die Verfügbarkeit derartiger kulturell bedingter Unterstützung kann aber weder geplant werden, noch ist diese längerfristig garantiert (IOM 2.3.2023).
Auch in Mogadischu sind Freundschaften und Clannetzwerke sehr wichtig. Zur Aufnahme kleinerer oder mittelgroßer wirtschaftlicher Aktivitäten ist aber kein Netzwerk notwendig (FIS 7.8.2020, Sitzung 39). Insgesamt herrschen am Arbeitsmarkt Nepotismus und Korruption (SIDRA 6.2019a, Sitzung 5).
Unterstützung extern: Für Rückkehrer aus dem Jemen (LIFOS 3.7.2019, Sitzung 63) und Kenia gibt es seitens des UNHCR Rückkehrpakete (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 23). Deutschland unterstützt in Jubaland ein Vorhaben, das der Vorbereitung der aufnehmenden Gemeinden für freiwillige Rückkehrer dient (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Der UNHCR unterstützt ausgewählte Haushalte in unterschiedlichen Teilen Somalias mit Ausbildungs-, Schulungs- und finanziellen Maßnahmen (UNHCR 27.6.2021, Sitzung 9).
Rückkehrprogramme: Bis Ende 2022 setzt IOM für Österreich das Rückkehrprogramm Restart römisch III um, das auch Somalia umfasst. Das Programm bietet Rückkehrern 500 Euro Bargeld sowie 2.800 Euro Sachleistungen - etwa im Rahmen einer Unternehmensgründung oder für Bildungsmaßnahmen; Beratung nach der Rückkehr; situationsspezifische Unterstützung vor Ort - etwa für vulnerable Rückkehrer; Zuweisung zu weiteren spezifischen Organisationen; Monitoring (IOM 26.11.2021; vergleiche IOM o.D.).
Die auf Rückkehrer spezialisierte Organisation IRARA kooperiert mit Frontex, um u. a. in Somalia eine Reintegration zu gewährleisten. Hierbei werden nicht nur freiwillige, sondern auch unfreiwillige Rückkehrer unterstützt und vom Programm abgedeckt. Einerseits bietet IRARA Leistungen bei der Ankunft (Abholung vom Flughafen; Unterstützung bei der Weiterreise; temporäre Unterkunft; dringende medizinische Betreuung; spezielle Betreuung vulnerabler Personen; Geldaushilfe). Zum anderen bietet die Organisation auch sogenannte post-return assistance (Hilfe beim Aufbau eines Betriebes; langfristige Unterstützung bei der Unterkunft; soziale, rechtliche und medizinische Unterstützung; Hilfe bei der Arbeitssuche; Bildung und Berufsausbildung; Geldaushilfe (IRARA 2022).
Im ebenfalls von IOM geführten Programm RESTART römisch III wird Somalia als Projektland für freiwillige Rückkehr angeführt. Dieses wird dort über Büros in Mogadischu und Bossaso abgewickelt. Voraussetzung einer Rückführung ist hier eine Freigabe durch somalische Behörden vor der Rückkehr (Kontakt über Operations bei IOM Österreich) (IOM 12.2021).
Unterkunft: Der Zugang zu einer Unterkunft oder zu Bildung wird von Rückkehrern im REINTEG-Programm als problematisch beschrieben (IOM 3.12.2020). Ein Appartementzimmer in einer sichereren Wohngegend Mogadischus kostet rund 200 US-Dollar im Monat, in Gegenden mit niedrigerem Lebensstandard zahlt eine Einzelperson für ein Zimmer in einem Mietshaus 80-100 US-Dollar. Mieten für Wellblechhäuser beginnen bei 45 US-Dollar. Nach Angaben von IOM-Mitarbeitern in Mogadischu spielt die Clanmitgliedschaft bei der Anmietung einer Unterkunft keine Rolle (IOM 2.3.2023). Grundsätzlich braucht es zur Anmietung eines Objektes einen Bürgen, der vor Ort bekannt ist. Dies ist i. d. R. ein Mann (FIS 7.8.2020, Sitzung 31f). Für eine alleinstehende Frau gestaltet sich die Wohnungssuche dementsprechend schwierig, dies ist kulturell unüblich (IOM 2.3.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 31f) und wirft unter Umständen Fragen auf (FIS 7.8.2020, Sitzung 31f). In Hargeysa kann es vorkommen, dass mehrere alleinstehende Frauen zusammen ein Objekt anmieten. In Mogadischu verfügen viele Haushalte über Fließwasser. Es gibt auch kollektive Wasserstellen. Im Feber 2023 kostete ein Kubikmeter Wasser 1,5 US-Dollar (IOM 2.3.2023).
Es gibt keine eigenen Lager für Rückkehrer, daher siedeln sich manche von ihnen in IDP-Lagern an (LIFOS 3.7.2019, Sitzung 63; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 24); nach anderen Angaben finden sich viele der Rückkehrer aus dem Jemen und aus Kenia schlussendlich in IDP-Lagern wieder (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 24). IOM-Mitarbeiter erklären, dass der durchschnittliche Rückkehrer sich vorübergehend nur eine Wellblechhütte oder eine traditionelle Wohnstatt als Unterkunft leisten kann (IOM 2.3.2023). Gemäß der bereits weiter oben erwähnten Rückkehrer-Studie des UNHCR haben hingegen nur 22 % der unterstützten und 38 % der nicht unterstützten, von UNHCR befragten 2.900 Rückkehrerhaushalte angegeben, in einem IDP-Lager zu wohnen (UNHCR 22.3.2022).
Vom Returnee Management Office (RMO) der somalischen Immigrationsbehörde kann gegebenenfalls eine Unterkunft und ein inner-somalischer Weiterflug organisiert und bezahlt werden, die Rechnung ist vom rückführenden Staat zu begleichen. Generell mahnen Menschenrechtsorganisationen, dass sich Rückkehrer in einer prekären Situation befinden und die Grundvoraussetzungen für eine freiwillige Rückkehr nicht gewährleistet sind (AA 28.6.2022, Sitzung 24f).
Frauen und Minderheiten: Prinzipiell gestaltet sich die Rückkehr für Frauen schwieriger als für Männer. Eine Rückkehrerin ist auf die Unterstützung eines Netzwerks angewiesen, das i. d. R. enge Familienangehörige – geführt von einem männlichen Verwandten – umfasst. Für alleinstehende Frauen ist es mitunter schwierig, eine Unterkunft zu mieten oder zu kaufen (FIS 5.10.2018, Sitzung 23). Auch für Angehörige von Minderheiten – etwa den Bantus – gestaltet sich eine Rückkehr schwierig. Ein Mangel an Netzwerken schränkt z. B. den Zugang zu humanitärer Hilfe ein (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 8). Für eine weibliche Angehörige von Minderheiten, die weder Aussicht auf familiäre noch Clanunterstützung hat, stellt eine Rückkehr tatsächlich eine Bedrohung dar (ÖB 11.2022, Sitzung 12).
(…)
Medizinische Versorgung
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Letzte Änderung: 17.03.2023
Das somalische Gesundheitssystem ist das zweitfragilste weltweit (WB 6.2021, Sitzung 32). Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft (AA 28.6.2022, Sitzung 24) und nicht durchgängig gesichert (AA 17.5.2022). Die Infrastruktur bei der medizinischen Versorgung ist minimal und beschränkt sich meist auf Städte und sichere Gebiete. Die Ausrüstung reicht nicht, um auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend abdecken zu können. Es mangelt an Geld, Personal, Referenzsystemen, Diagnoseeinrichtungen, an Ausbildungseinrichtungen, Regulierungen und Managementfähigkeiten (HIPS 5.2020, Sitzung 38). 2021 betrug das Budget des Gesundheitsministeriums 33,6 Millionen US-Dollar (AI 18.8.2021, Sitzung 19). Allerdings zeigt sich in Aufwärtstrend: 2020 wurden 1,3 % des Budgets für den Gesundheitsbereich ausgegeben, 2021 wurden dafür 5 % veranschlagt (WB 6.2021, Sitzung 19). Nach anderen Angaben wurden für den Gesundheitsbereich in den Jahren 2017-2021 jährlich durchschnittlich 2 % des Budgets ausgegeben (AI 29.3.2022).
Insgesamt zählt die Gesundheitslage zu den schlechtesten der Welt (ÖB 11.2022, Sitzung 16). Die durchschnittliche Lebenserwartung ist zwar von 45,3 Jahren im Jahr 1990 auf heute 57,1 Jahre beträchtlich gestiegen, bleibt aber immer noch niedrig (WB 6.2021, Sitzung 29). Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu trinkbarem Wasser oder zu hinreichenden sanitären Einrichtungen (AA 28.6.2022, Sitzung 24); daran sterben jährlich 87 von 100.000 Einwohnern (Äthiopien: 44) (HIPS 5.2020, Sitzung 24). Die Quoten von Mütter- und Säuglingssterblichkeit sind unter den höchsten Werten weltweit (AA 28.6.2022, Sitzung 24). Eine von zwölf Frauen stirbt während der Schwangerschaft, eines von sieben Kindern vor dem fünften Geburtstag (Äthiopien: 17). Bei der hohen Kindersterblichkeit schwingt Unterernährung bei einem Drittel der Todesfälle als Faktor mit (ÖB 11.2022, Sitzung 16; vergleiche HIPS 5.2020, Sitzung 21ff). Selbst in Somaliland und Puntland werden nur 44 % bzw. 38 % der Mütter von qualifizierten Geburtshelfern betreut (ÖB 11.2022, Sitzung 16). Insgesamt haben nur ca. 15 % der Menschen in ländlichen Gebieten Zugang zu medizinischer Versorgung (AI 18.8.2021, Sitzung 5). Die Rate an grundlegender Immunisierung für Kinder liegt bei Nomaden bei 1 %, in anderen ländlichen Gebieten bei 14 %, in Städten bei 19 % (WB 6.2021, Sitzung 31). Zudem gibt es für medizinische Leistungen und pharmazeutische Produkte keinerlei Qualitäts- oder Sicherheitsstandards (WB 6.2021, Sitzung 27).
Es mangelt an Personal für die medizinische Versorgung. Besonders akut ist der Mangel an Psychiatern, an Technikern für medizinische Ausrüstung und an Anästhesisten. Am größten aber ist der Mangel an einfachen Ärzten (HIPS 5.2020, Sitzung 42). Insgesamt kommen auf 10.000 Einwohner 4,28 medizinisch ausgebildete Personen (Subsaharaafrika: 13,3; WHO-Ziel: 25) (WB 6.2021, Sitzung 34). Nach anderen Angaben kommen auf 100.000 Einwohner fünf Ärzte, vier Krankenpfleger und eine Hebamme. Dabei herrscht jedenfalls eine Ungleichverteilung: In Puntland gibt es 356 Ärzte, in Jubaland nur 54 und in Galmudug und im SWS je nur 25 (HIPS 5.2020, Sitzung 27/44ff). Die Weltbank hat das mit 100 Millionen US-Dollar dotierte "Improving Healthcare Services in Somalia Project / Damal Caafimaad" genehmigt. Damit soll die Gesundheitsversorgung für ca. 10 % der Gesamtbevölkerung Somalias, namentlich in Gebieten von Nugaal (Puntland), Bakool und Bay (SWS), Hiiraan und Middle Shabelle verbessert werden (WB 22.7.2021).
Die Gesundheitsdirektion der Benadir Regional Administration (BRA) verfügt über 69 Gesundheitszentren für die Primärversorgung, sechs Stabilisierungszentren für unterernährte Kinder und elf Zentren für die Behandlung von Tuberkulose. Zusätzlich gibt es in der Hauptstadtregion fast 80 private Gesundheitszentren. Insgesamt sind diese Zahlen zwar vielversprechend, decken aber keinesfalls die Bedürfnisse der Bevölkerung ab (SPA 31.8.2022). Nach anderen Angaben gibt es in Benadir 61 Gesundheitseinrichtungen, in HirShabelle 81. In anderen Bundesstaaten stehen folgende Gesundheitseinrichtungen zur Verfügung (HIPS 5.2020, Sitzung 39ff):
Nach anderen Angaben gibt es in ganz Somalia elf öffentliche und 50 andere Spitäler. In Mogadischu gibt es demnach vier öffentliche und 46 andere Gesundheitszentren (FIS 7.8.2020, Sitzung 31). Jedenfalls müssen Patienten oft lange Wegstrecken zurücklegen, um an medizinische Versorgung zu gelangen (HIPS 5.2020, Sitzung 39). In Mogadischu gibt es mindestens zwei Spitäler, die für jedermann zugänglich sind. In manchen Spitälern kann bei Notlage über die Ambulanzgebühr verhandelt werden (FIS 5.10.2018, Sitzung 36). Im Gegensatz zu Puntland werden in Süd-/Zentralsomalia Gesundheitseinrichtungen vorwiegend von internationalen NGOs unter Finanzierung von Gebern betrieben (HIPS 5.2020, Sitzung 39). Das Keysaney Hospital wird von der Somali Red Crescent Society (SRCS) betrieben. Zusätzlich führt die SRCS Rehabilitationszentren in Mogadischu und Galkacyo (SRCS 2021, Sitzung 8). Die Spitäler Medina und Keysaney (Mogadischu) sowie in Kismayo und Baidoa werden vom Roten Kreuz unterstützt (ICRC 15.2.2022). Insgesamt gibt es im Land nur 5,34 stationäre Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohnern (WHO-Ziel: 25 Betten) (WB 6.2021, Sitzung 34). In Gebieten von al Shabaab mangelt es – mit der Ausnahme von Apotheken – generell an Gesundheitseinrichtungen (UNSC 10.10.2022, Absatz 30,).
Zudem sind die öffentlichen Krankenhäuser mangelhaft ausgestattet (AA 28.6.2022, Sitzung 24; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 31f), was Ausrüstung, medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht (AA 28.6.2022, Sitzung 24). Die am besten ausgerüsteten Krankenhäuser Somalias befinden sich in Mogadischu (SPA 31.8.2022). Der Standard von Spitälern außerhalb Mogadischus ist erheblich schlechter (FIS 5.10.2018, Sitzung 36). Die Mehrheit der Krankenhäuser bietet außerdem nicht alle Möglichkeiten einer tertiären Versorgung (HIPS 5.2020, Sitzung 38). Speziellere medizinische Versorgung – etwa Chirurgie – ist nur eingeschränkt verfügbar – in öffentlichen Einrichtungen fast gar nicht, unter Umständen aber in privaten. So werden selbst am Banadir Hospital – einem der größten Spitäler des Landes, das über vergleichsweise gutes Personal verfügt und auch Universitätsklinik ist – nur einfache Operationen durchgeführt (FIS 5.10.2018, Sitzung 35). Relativ häufig müssen daher Patienten von öffentlichen Einrichtungen an private verwiesen werden (FIS 7.8.2020, Sitzung 31). Immerhin stellt der private Sektor 60 % aller Gesundheitsleistungen und 70 % aller Medikamente. Und auch in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen wird der Großteil der Dienste über NGOs erbracht (WB 6.2021, Sitzung 27f). Qatar Charity hat in Bossaso ein Gesundheitszentrum eröffnet. Dieses soll 10.000 Unterprivilegierten aus Bossaso und dem Umland dienen. Das Zentrum verfügt über Abteilungen für Geburten, Notfälle, Impfungen, über ein Labor, Radiologie und eine Apotheke. 2021 hatte Qatar Charity bereits Gesundheitszentren in Puntland, Galmudug, dem SWS und in Mogadischu eröffnet. Fünf weitere Zentren sowie neun Geburts- und Mütterzentren sind in Bau (Gulf 5.6.2022).
Die Primärversorgung wird oftmals von internationalen Organisationen bereitgestellt und ist für Patienten kostenfrei. Allerdings muss manchmal für Medikamente bezahlt werden (FIS 5.10.2018, Sitzung 35f; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 20). Oft handelt es sich bei dieser Primärversorgung um sogenannte "Mother Health Clinics", von welchen es in Somalia relativ viele gibt. Diese werden von der Bevölkerung als Gesamtgesundheitszentren genutzt, weil dort die Diagnosen eben kostenlos sind (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 20). Private Einrichtungen, die spezielle Leistungen anbieten, sind sehr teuer. Schon ein kleiner operativer Eingriff kostet 100 US-Dollar. Am Banadir-Hospital in Mogadischu wird eine Ambulanzgebühr von 5-10 US-Dollar eingehoben, die Behandlungsgebühr an anderen Spitälern beläuft sich auf 5-12 US-Dollar. Medikamente, die Kindern oder ans Bett gebundenen Patienten verabreicht werden, sind kostenlos. Üblicherweise sind die Kosten für eine Behandlung aber vom Patienten zu tragen (FIS 5.10.2018, Sitzung 35f). Am türkischen Spital in Mogadischu, das als öffentliche Einrichtung wahrgenommen wird, werden nur geringe Kosten verrechnet, arme Menschen werden gratis behandelt (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 73). Generell gilt, wenn z.B. ein IDP die Kosten nicht aufbringen kann, wird er in öffentlichen Krankenhäusern auch umsonst behandelt. Zusätzlich kann man sich auch an Gesundheitseinrichtungen wenden, die von UN-Agenturen betrieben werden. Bei privaten Einrichtungen sind alle Kosten zu bezahlen (FIS 7.8.2020, Sitzung 31/37). Es gibt keine Krankenversicherung (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 73); nach anderen Angaben ist diese so gut wie nicht existent, im Jahr 2020 waren nur 2 % der Haushalte hinsichtlich Ausgaben für Gesundheit versichert (WB 6.2021, Sitzung 34).
Beispiel Garoowe: Quellen von EASO berichten, dass am Garoowe Group Hospital (GGH) eine Aufnahmegebühr von 5 US-Dollar zu entrichten ist, bei der Aufnahme zur Behandlung bei einem Spezialisten auch bis zu 10 US-Dollar. Auch Labortests müssen selbst bezahlt werden; ein normaler Bluttest kostet 1-4 US-Dollar. Normale Betten kosten nichts, Einzelzimmer 10 US-Dollar pro Nacht. Die Pflege, normale Dienste und im Spital lagernde Medikamente sind kostenfrei. Für Operationen muss allerdings bezahlte werden. Ein Kaiserschnitt kostet ca. 350 US-Dollar. In privaten Krankenhäusern ist die Aufnahmegebühr etwas höher als am GGH. Alle Dienste und Übernachtungen müssen bezahlt werden. Operationen kosten in etwa so viel, wie am GGH (EASO 9.2021a, Sitzung 64f).
Es gibt auch mobile Gesundheitseinrichtungen, etwa durch die Organisation Somali Aid in Lower Juba. Damit wird der Zugang für die Menschen, die ansonsten weite, teure und manchmal gefährliche Reisen zum nächstgelegenen Spital auf sich nehmen müssen, verbessert (RE 16.12.2022). Die SRCS betreibt 53 stationäre und zwölf mobile Kliniken zur primären medizinischen Versorgung. Im Jahr 2020 wurden dort mehr als 1,2 Millionen Patienten behandelt. Davon waren 45 % Kinder und 40 % Frauen. Die häufigsten Behandlungen erfolgten in Zusammenhang mit akuten Atemwegserkrankungen (24 %), Durchfallerkrankungen (12,4 %), Anämie (15,6 %), Hautkrankheiten (6,2 %), Harnwegs- (10 %) und Augeninfektionen (5,2 %) (SRCS 2021, Sitzung 9f). Die am öftesten diagnostizierten chronischen Krankheiten sind Diabetes und Bluthochdruck (WB 6.2021, Sitzung 30). Mobile Kliniken versorgen wöchentlich oder zweiwöchentlich IDP-Lager am Stadtrand von Mogadischu. Diese Versorgung erfolgt allerdings nur unregelmäßig (EASO 9.2021a, Sitzung 40). Gesundheitspartner der UN haben von Jänner bis November in Somalia 2,6 Millionen präventive und heilkundliche Konsultationen durchgeführt, u. a. 12.000 Konsultationen zur psychischen Gesundheit (UNOCHA 11.2021).
Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen unterbrochen werden (AA 28.6.2022, Sitzung 24). Zudem mangelt es an Rettungsdiensten. So gibt es selbst in Mogadischu bei einer Bevölkerung von ca. drei Millionen Menschen nur zwei Krankenwagen, die kostenfrei Covid-19-Patienten transportieren (AI 29.3.2022).
Psychiatrie: Für 16,8 Millionen Einwohner gibt es in ganz Somalia (inkl. Somaliland) nur 82 professionelle Kräfte im Bereich psychischer Gesundheit, nur vier davon sind Psychiater (UNSOM 24.8.2022). In Süd-/Zentralsomalia und Puntland gibt es nur einen Psychiater, elf Sozialarbeiter für psychische Gesundheit sowie 19 Pflegekräfte. Folgende psychiatrische Einrichtungen sind bekannt (WHO Rizwan 8.10.2020):
An psychiatrischen Spitälern gibt es nur zwei, und zwar in Mogadischu; daneben gibt es drei entsprechende Abteilungen an anderen Spitälern und vier weitere Einrichtungen (WHO Rizwan 8.10.2020). Nach Angaben einer Quelle gibt es in Bossaso, Mogadischu, Baidoa und Belet Weyne psychiatrische Abteilungen an Krankenhäusern (Ibrahim 2022). Nach anderen Angaben gibt es auch am Rand von Garoowe eine Psychiatrie, dort fallen für einen monatlichen Aufenthalt 100 US-Dollar an Kosten an (EASO 9.2021a, Sitzung 64f).
Es gibt eine hohe Rate an Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung (WHO Rizwan 8.10.2020). Psychische Probleme werden durch den bestehenden Konflikt und den durch Instabilität, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit verursachten Stress gefördert. Schätzungen zufolge sind 30 % der Bevölkerung betroffen (FIS 5.10.2018, Sitzung 34; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 16), die absolute Zahl wird mit 1,9 Millionen Betroffenen beziffert (HIPS 5.2020, Sitzung 26). Nach anderen Angaben (Stand 2020) wurden bei 4,3 % der Bevölkerung durch einen Arzt eine psychische Erkrankung diagnostiziert, während man von einer Verbreitung von 14 % ausgeht (WB 6.2021, Sitzung 31).
Im Falle psychischer Erkrankung sind die meisten Somali von der Unterstützung durch Familie und Gemeinde abhängig. Oft werden die Dienste traditioneller und spiritueller Heiler in Anspruch genommen; andere Patienten greifen zu Selbstmedikation oder Drogen (Ibrahim 2022). Psychisch Kranken haftet meist ein mit Diskriminierung verbundenes Stigma an (Ibrahim 2022; vergleiche Sahan 2.6.2022; WHO Rizwan 8.10.2020), es kommt zu dadurch verursachter Diskriminierung (Ibrahim 2022). Nach wie vor ist das Anketten psychisch Kranker eine weitverbreitete Praxis. Dies gilt selbst für psychiatrische Einrichtungen – etwa in Garoowe (WHO Rizwan 8.10.2020). Die WHO schätzt, dass 90 % der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen bereits einmal in ihrem Leben angekettet worden sind (Ibrahim 2022). Aufgrund des Mangels an Einrichtungen werden psychisch Kranke mitunter an Bäume gebunden oder zu Hause eingesperrt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 44). Im Zweifelsfall suchen Menschen mit psychischen und anderen Störungen Zuflucht im Glauben (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 38). Spirituelle Heilungsanstalten bzw. -Programme heißen Ilaaj (Ibrahim 2022). Es gibt ein Netzwerk an diesen Ilaaj. Jedermann kann eine solche Anstalt eröffnen – ohne Qualifikation; viele werden von pseudo-religiösen Heilern betrieben, die "traditionelle" Mittel anwenden. Selbst aus der Diaspora werden Jugendliche, die an psychischen Krankheiten leiden oder drogensüchtig sind, nach Somalia zur Heilung geschickt. Dort werden sie manchmal gegen ihren Willen festgehalten und mitunter angekettet (Sahan 2.6.2022).
Verfügbarkeit:
Nur 5 % der Einrichtungen sind in der Lage, Krankheiten wie Tuberkulose, Diabetes oder Gebärmutterhalskrebs zu diagnostizieren und zu behandeln (WB 6.2021, Sitzung 34). Durch die anhaltenden Konflikte, Angriffe auf Krankenhäuser, aber auch durch die Dürre wird der Zugang zu Therapiemöglichkeiten erschwert, wenn dieser überhaupt gegeben ist. Dies gilt für Tuberkulose und andere gängige Krankheiten (ÖB 11.2022, Sitzung 16).
● Diabetes: Kurz- und langwirkendes Insulin ist kostenpflichtig verfügbar. Medikamente können überall gekauft werden. Die Behandlung erfolgt an privaten Spitälern (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 84). Rund 537.000 Menschen leiden in Somalia an einer Form von Diabetes (HIPS 5.2020, Sitzung 26).
● Dialyse: In Mogadischu ist Dialyse nicht möglich (FIS 7.8.2020, Sitzung 31); nach anderen Angaben steht Dialyse in Städten zur Verfügung, nicht aber auf Bezirksebene (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 74). Am türkischen Krankenhaus in Mogadischu kostet jede Behandlung 35 US-Dollar (DIS 11.2020, App. F, Sitzung 16).
● HIV/AIDS: Kostenlose Dienste stehen zur Verfügung (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 74). Über das Land verstreut gibt es Zentren, in welchen anti-retrovirale Medikamente kostenfrei abgegeben werden (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 83).
● Krebs: Es gibt nur diagnostische Einrichtungen, keine Behandlungsmöglichkeiten (MoH/DIS 27.8.2020, Sitzung 74). Es sind auch keine Medikamente verfügbar. Wer es sich leisten kann, geht zur Behandlung nach Indien, Äthiopien, Kenia oder Dschibuti (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 83).
● Orthopädie: Das SRCS betreibt in Hargeysa, Mogadischu und Galkacyo orthopädische Rehabilitationszentren samt Physiotherapie. An den genannten Zentren der SRCS in Mogadischu und Galkacyo werden Prothesen, Orthosen, Physiotherapie, Rollstühle und Gehhilfen organisiert, unterhalten und repariert (SRCS 2021, Sitzung 8/19ff).
● Psychische Krankheiten: Die Verfügbarkeit ist hinsichtlich der Zahl an Einrichtungen, qualifiziertem Personal und geografischer Reichweite unzureichend. Auch die Verfügbarkeit psychotroper Medikamente ist nicht immer gegeben, das Personal im Umgang damit nicht durchgehend geschult (WHO Rizwan 8.10.2020). Oft werden Patienten während psychotischer Phasen angekettet (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 84).
● Transplantationen: Diese sind in Somalia nicht möglich, es gibt keine Blutbank. Patienten werden i.d.R. nach Indien, in die Türkei oder nach Katar verwiesen (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 84).
● Tuberkulose: Die Behandlung wird über den Global Fund gratis angeboten (UNFPA/DIS 25.6.2020, Sitzung 84). Die Zahl an Infizierten mit der multi-resistenten Art von Tuberkulose ist in Somalia eine der höchsten in Afrika. Mehr als 8 % der Neuinfizierten weisen einen resistenten Typ auf (HIPS 5.2020, Sitzung 25). Im Jahr 2022 ist Tuberkulose immer noch eine wesentliche Todesursache in Somalia. Es gibt immer noch viele Fehldiagnosen und zu wenig Bewusstsein über die Krankheit und ihre Infektionswege (ÖB 11.2022, Sitzung 16).
Medikamente: Grundlegende Medikamente sind verfügbar (FIS 5.10.2018, Sitzung 37; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 31), darunter solche gegen die am meisten üblichen Krankheiten sowie jene zur Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck, Epilepsie und von Geschwüren. Auch Schmerzstiller sind verfügbar. In den primären Gesundheitszentren ländlicher Gebiete kann es bei Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten zu Engpässen kommen (FIS 5.10.2018, Sitzung 37). Nach anderen Angaben kommt es in Krankenhäusern allgemein immer wieder zu Engpässen bei der Versorgung mit Medikamenten und medizinischen Verbrauchsmaterialien (AA 17.5.2022).
Es gibt keine lokale Medikamentenproduktion, alle Medikamente werden importiert. Im Jahr 2014 gelangten 30 % der verfügbaren Medikamente durch Spenden der internationalen Gemeinschaft ins Land. Der Rest wird v.a. aus Indien, der Türkei, auch Ägypten und der VR China importiert (Sahan 12.9.2022). Es kommt mitunter auch zu Großspenden, etwa Anfang November 2022, als die WHO 39 Tonnen medizinische Versorgungsgüter an Somalia übergeben hat (FTL 5.11.2022). Es gibt keine Regulierung des Imports von Medikamenten (DIS 11.2020, Sitzung 73). Nach anderen Angaben ist im Jahr 2015 zwar ein Regulatorium für Medikamente eingeführt worden, um Registrierung, Lizenzierung, Herstellung, Import und andere Aspekte zu regulieren. Aber es gibt diesbezüglich keine Rechtsdurchsetzung. Jeder kann sich ein Zertifikat holen, um eine Apotheke zu eröffnen (Sahan 3.6.2022), es gibt für Apotheken keinerlei Aufsicht (FIS 5.10.2018, Sitzung 37). Es gibt keine Standards zur Qualitätssicherung. Einige der verfügbaren Medikamente sind abgelaufen, andere sind Fälschungen oder enthalten giftige Zutaten (Sahan 12.9.2022).
Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt in erster Linie über private Apotheken. Medikamente können ohne Verschreibung gekauft werden (FIS 5.10.2018, Sitzung 37). Die zuständige österreichische Botschaft kann zur Medikamentenversorgung in Mogadischu keine Angaben machen (ÖB 11.2022, Sitzung 16).
(…)
Rückkehr
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Letzte Änderung: 17.03.2023
Rückkehr international: Seit Jahren steigt die Anzahl der nach Somalia zurückgekehrten somalischen Flüchtlinge (ÖB 11.2022, Sitzung 13). Seit 2009 kommen Somali der Diaspora zurück in ihre Heimat, viele mit Bildung, Fähigkeiten und einer unternehmerischen Einstellung. Zuerst tröpfelten sie nur ins Land, ab 2012 fluteten sie zurück (Sahan 27.5.2022). Viele lokale Angestellte internationaler NGOs oder Organisationen sind aus der Diaspora zurückgekehrte Somali. Andere kommen nach Somalia auf Urlaub oder eröffnen ein Geschäft (BFA 3./4.2017). Viele Somalis in der Diaspora wollen zurückkommen und das Land aufbauen. Manche tun es nicht, weil es in Somalia keine adäquate Schulbildung für ihre Kinder gibt (SRF 27.12.2021). Andere schicken ihre Kinder gezielt nach Somalia: Alleine im Jahr 2019 wurden hunderte Kinder der somalischen Diaspora in London nach Somalia, Somaliland und Kenia gebracht, weil sich die Eltern zunehmend Sorgen um die Zunahme von Drogenbanden und Gewalt in England machten (TG 9.3.2019).
Die USA, Kanada, Großbritannien, Finnland, Dänemark, die Niederlande, Belgien und Norwegen führen grundsätzlich Abschiebungen nach Mogadischu durch (AA 28.6.2022, Sitzung 25). Aus Europa wurden im Jahr 2022 – in geringen Zahlen – jedenfalls Somali aus Belgien, Norwegen, Dänemark, der Schweiz und Schweden nach Somalia rückgeführt, die meisten davon freiwillig (ÖB 14.12.2022). Pandemiebedingt und aufgrund der schwierigen Zusammenarbeit mit den somalischen Behörden finden nur wenige bis keine Rückführungen statt (AA 28.6.2022, Sitzung 25). Österreich beteiligt sich am von IOM geführten Programm RESTART römisch III, das freiwillige Rückkehr nach Somalia abwickelt (IOM 12.2021). Insgesamt hat IOM von 2020 bis 2022 bei 187 freiwilligen Rückführungen aus Europa Unterstützung geleistet. Die Rückkehrer kamen u. a. aus Belgien (14), Deutschland (66), Finnland (12), Griechenland (20), den Niederlanden (8), Österreich (8), der Schweiz (22) und Zypern (14). 33 der Rückgeführten waren weiblich. 141 verblieben in Mogadischu, die anderen reisten weiter nach Garoowe (6) und Hargeysa (34) (IOM 2.3.2023).
Rückkehr regional: Die Rückkehrbewegung nach Somalia hat sich seit 2020 deutlich verlangsamt. Insgesamt sind von Ende 2014 bis Jänner 2022 knapp 134.000 Menschen mit oder ohne Unterstützung nach Somalia zurückgekehrt. Im Jahr 2021 waren es ca. 2.500 – vor allem aus dem Jemen (UNHCR 10.2.2022). Verursacht wurde der Rückgang nicht zuletzt von der COVID-19-Pandemie (UNHCR 22.3.2022). In den ersten drei Monaten des Jahres 2022 kehrten nur 187 Personen von UNHCR assistiert nach Somalia zurück (UNHCR 22.4.2022).
Aus dem Jemen kamen mehr als 5.400 somalische Flüchtlinge mit Unterstützung durch den UNHCR zurück in ihr Land. Weitere knapp 46.000 sind aus dem Jemen ohne Unterstützung zurückgekehrt (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Somaliland ist zwar der Hauptankunftsort für Flüchtlinge und Rückkehrer aus dem Jemen, doch UNHCR und Partnerorganisationen unterstützen somalische Rückkehrer bei der Weiterreise zu den Herkunftsgebieten in anderen Teilen Somalias (ÖB 11.2022, Sitzung 19).
Der UNHCR und andere internationale Partner unterstützen seit 2014 die freiwillige Rückkehr von Somaliern aus Kenia. Grundlage ist ein trilaterales Abkommen zwischen Kenia, Somalia und dem UNHCR (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Seit Abschluss des trilateralen Abkommens kehrten mit Unterstützung des UNHCR über 85.000 Menschen aus Kenia nach Somalia zurück (AA 28.6.2022, Sitzung 23; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 69). Diese gingen vor allem nach Kismayo und das südliche Jubaland (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Noch nie wurde ein Bus, welcher Rückkehrer transportiert, angegriffen (FIS 7.8.2020, Sitzung 28). Allerdings kommt es aufgrund von Gewalt und Konflikten sowie durch die Pandemie bedingte Reisebeschränkungen immer wieder zu Unterbrechungen bei der Rückkehrbewegung (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26). Trotz seiner Rolle bei der Rückführung aus Kenia warnt der UNHCR angesichts der aktuellen Lage in Somalia davor, Personen in Gebiete in Süd- oder Zentralsomalia zwangsweise zurückzuschicken, da die Sicherheit nicht gewährt werden kann (ÖB 11.2022, Sitzung 14).
Seit Frühjahr 2018 unterstützt die sogenannte EU-IOM Joint Initiative for Migrant Protection and Reintegration rückkehrwillige somalische Migranten vornehmlich in Libyen und Äthiopien. Die Leistungen umfassen Beratung zu Möglichkeiten der Rückkehr sowie der Integration in den somalischen Arbeitsmarkt. Außerdem wird die Entwicklung von standardisierten Rückführungsverfahren nach Somalia gefördert. Mit Unterstützung von IOM sind 2021 803 Personen nach Somalia zurückgekehrt, davon 340 aus Saudi-Arabien, 295 aus dem Jemen und 16 aus Deutschland (AA 28.6.2022, Sitzung 24).
Behandlung: Die Zahl der von westlichen Staaten zurückgeführten somalischen Staatsangehörigen nimmt stetig zu. Mit technischer und finanzieller Unterstützung haben sich verschiedene westliche Länder über die letzten Jahre hinweg für die Schaffung und anschließende Professionalisierung eines speziell für Rückführung zuständigen Returnee Management Offices (RMO) innerhalb des Immigration and Naturalization Directorates (IND) eingesetzt. Das RMO hat für alle Rückführungsmaßnahmen nach Somalia eine einheitliche Prozedur festgelegt, die konsequent zur Anwendung gebracht wird (AA 28.6.2022, Sitzung 24). Es liegen keine Informationen dahingehend vor, dass abgelehnte Asylwerber am Flughafen in Mogadischu Probleme seitens der Behörden erfahren (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 71). Das RMO befragt sie hinsichtlich Identität, Nationalität, Familienbezügen sowie zum gewünschten zukünftigen Aufenthaltsort. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für unbegleitete minderjährige und andere Rückkehrer. Eine Unterkunft und ein innersomalischer Weiterflug kann vom RMO organisiert werden, die Rechnung begleichen die rückführenden Staaten. Staatliche Repressionen sind nicht die Hauptsorge der Rückkehrer. Nach vorliegenden Erkenntnissen werden Rückkehrer vom RMO/IND grundsätzlich mit Respekt behandelt (AA 28.6.2022, Sitzung 24f). Eine strukturelle Diskriminierung von Rückkehrern aus dem Ausland gibt es nicht (AA 28.6.2022, Sitzung 20).
Rückkehrstudie von UNHCR: Der UNHCR hat für eine repräsentative Studie von 2018 bis Dezember 2021 fast 2.900 Haushalte mit mehr als 17.000 Angehörigen – darunter vor allem unterstützte Rückkehrer aus Kenia, Äthiopien und dem Jemen – zu ihrer Situation in Somalia befragt. Dabei hatten 48% der Befragten angegeben, wegen der verbesserten Sicherheitslage nach Somalia zurückgegangen zu sein. 14 % machten diesen Schritt wegen besserer ökonomischer Möglichkeiten. Nur 24 % der befragten Haushalte gaben an, in einem "IDP-Lager" zu wohnen [Anführungszeichen von UNHCR übernommen]. 94 % der Rückkehrer gaben an, nach ihrer Rückkehr keinerlei Form von Gewalt (Drohungen, Einschüchterungen, physische Gewalt) erlebt zu haben. 90 % gaben an, sich in ihrer Gemeinde und im Bezirk frei bewegen zu können. 91 % der Befragten gaben an, dass sie nicht als Rückkehrer diskriminiert würden; und 88 % wurden auch nicht wegen ihrer ethnischen oder Clan-Zugehörigkeit diskriminiert. 88 % der Befragten haben keine Streitigkeiten austragen müssen. Von jenen, die in Konflikte verwickelt waren, gaben 38 % Wohnungs- und Landstreitigkeiten als Gründe an, weitere 27 % Familienstreitigkeiten (UNHCR 22.3.2022).
Erreichbarkeit: Einen regelmäßigen internationalen Direktflugverkehr nach Mogadischu gibt es aus Istanbul, Addis Abeba, Nairobi, Doha und Entebbe (AQ9 1.2022). Darüber hinaus fliegen regionale Fluglinien, die Vereinten Nationen, die Europäische Union und private Chartermaschinen Mogadischu aus Nairobi regelmäßig an (AA 18.4.2021, Sitzung 24). Von Bossaso (Puntland) aus wird Addis Abeba und Dubai angeflogen, von Garoowe (Puntland) Addis Abeba und Nairobi (AQ9 1.2022). Für Rückführungen somalischer Staatsbürger wurden vor der COVID-19-Pandemie die Verbindungen der Turkish Airlines via Istanbul bzw. via Nairobi mit Jubba Airways bevorzugt. Bei Ersterer erfolgte meist eine polizeiliche Eskortierung bis Mogadischu, bei Letzterer nur bis Nairobi, da die Fluglinie sich dann gegen die Zahlung einer Gebühr um die Sicherheit kümmerte (AA 18.4.2021, Sitzung 24).
(…)“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person des BF
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit vergleiche AS 1 und AS 55) und Religionszugehörigkeit vergleiche AS 55) des BF gründen auf seinen Angaben. Auch die Clanzugehörigkeit vergleiche AS 55 und OZ 7, Sitzung 9) brachte der BF gleichbleibend im Laufe des Verfahrens vor und wurde auch seitens des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid festgestellt vergleiche AS 87), sodass diese den Feststellungen zugrunde gelegt werden konnte, auch wenn es seltsam anmutet, dass der BF behauptete, den Clanältesten in seiner Heimat nicht zu kennen vergleiche AS 56).
Dass der BF ledig ist, ergibt sich aus einer Zusammenschau seiner Angaben. Vor dem Bundesamt behauptete er zwar, geschieden zu sein vergleiche AS 55), er erwähnte jedoch weder eine Eheschließung bzw. Scheidung im Zuge der Schilderung seines Lebenslaufes vergleiche AS 55f.), noch erwähnte er eine (Ex-)Frau hinsichtlich eines Zusammenlebens vergleiche OZ 7, Sitzung 5). Das Bundesamt stellte im angefochtenen Bescheid fest, er sei ledig vergleiche AS 87), und dem wurde weder im Beschwerdeschriftsatz noch im Laufe des Beschwerdeverfahrens einschließlich der mündlichen Verhandlung etwas entgegengesetzt. Vor diesem Hintergrund war festzustellen, dass der BF ledig ist. Dass der BF kinderlos ist, beruht auf seinen eigenen Angaben vergleiche AS 55).
Seine muttersprachlichen Kenntnisse in der Sprache Somalisch ergeben sich aus der Verwendung dieser Sprache in der Erstbefragung am römisch 40 , in der Einvernahme vor dem Bundesamt am römisch 40 und auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am römisch 40 , im Rahmen welcher der BF auch vorbrachte, seine Muttersprache sei Somali vergleiche OZ 7, Sitzung 2).
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF beruhen auf seinem eigenen, im Laufe des Verfahrens gleichbleibenden Vorbringen. In der Einvernahme vor dem Bundesamt vergleiche AS 55) brachte er vor, gesund zu sein, und auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht machte er geltend, es gehe ihm gesundheitlich sehr gut und er nehme keine Medikamente vergleiche OZ 7, Sitzung 3). Vor diesem Hintergrund ergeben sich auch keine Anhaltspunkte, dass seine Arbeitsfähigkeit eingeschränkt wäre.
Dass der BF in Österreich strafgerichtlich unbescholten ist, ergibt sich aus einem Auszug aus dem Strafregister der Republik Österreich in Zusammenschau mit seinem Vorbringen vergleiche AS 61).
Auch wenn nicht verkannt wird, dass der BF im Zuge der Erstbefragung als Wohnsitzadresse ein Dorf namens „ römisch 40 “ vergleiche AS 1 und AS 5) angab, konnte er angesichts seiner gleichbleibenden Angaben in der Einvernahme vor dem Bundesamt vergleiche AS 58) und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vergleiche OZ 7, Sitzung 5) glaubhaft machen, dass er aus der Stadt Kismayo stammt. Das Bundesamt ging im angefochtenen Bescheid ebenso von der Herkunft des BF aus der „Region Lower Juba/Kismaayo“ aus vergleiche AS 87). Der BF brachte im Laufe des Verfahrens auch konsistent vor, dort mit seinen Eltern und Geschwistern in einem (Miet-)Haus gelebt zu haben vergleiche AS 58 und OZ 7, Sitzung 5). Dass der Unterhalt der Familie von der Erwerbstätigkeit des Vaters des BF bestritten wurde, ergibt sich aus dem eigenen Vorbringen des BF vor dem Bundesamt vergleiche AS 57: „Mein Vater arbeitet und sorgt für die Familie“ und AS 56: „(…) Dieser hat Brot verkauft (…)“) und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vergleiche OZ 7, Sitzung 8: „Er verkaufte Semmeln.“).
Zur Frage einer Berufsausübung in Somalia brachte der BF gleichbleibend im Laufe des Verfahrens vor, nie gearbeitet zu haben, aber seinem Vater manchmal bzw. ab und zu bei der Arbeit geholfen zu haben vergleiche AS 56 und OZ 7, Sitzung 8), sodass eine entsprechende Feststellung zu treffen war. Hinsichtlich eines Schulbesuchs brachte der BF in der Einvernahme vor dem Bundesamt vor: „(…) 6 Jahre Schule + Koranschule“ vergleiche AS 56), behauptete dann jedoch im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht: „Ich habe in Somalia nur 6 Jahre Koranschule besucht. Dort habe ich gelernt, wie man somalisch schreiben und lesen lernt. Bei der Einvernahme beim BFA protokollierte man, dass ich jeweils 6 Jahre die GS und 6 Jahre die Koranschule besucht habe. Das stimmt jedoch nicht.“ vergleiche OZ 7, Sitzung 8). Da jedoch auch in der Einvernahme vor dem Bundesamt ein sechsjähriger und nicht ein zwölfjähriger Schulbesuch festgehalten worden war vergleiche AS 56), der BF mit seiner Unterschrift die Richtigkeit und und Vollständigkeit der Niederschrift über die Einvernahme vor dem Bundesamt sowie die Rückübersetzung bestätigte vergleiche AS 65) und keine Einwände gemacht wurden vergleiche AS 64), konnte in Übereinstimmung mit den Feststellungen des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid vergleiche AS 87) eine sechsjährige Schulbildung des BF dem festgestellten Sachverhalt zugrunde gelegt werden.
Die Feststellungen zum Wohnort der Eltern und Geschwister des BF ergeben sich aus seinen eigenen Angaben vergleiche AS 56 und OZ 7, Sitzung 5). Anhaltspunkte für einen Wohnsitzwechsel haben sich im Laufe des Verfahren nicht ergeben. Betreffend die Feststellungen zu einem Onkel väterlicherseits und einem Onkel mütterlicherseits wurden die Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zugrunde gelegt vergleiche OZ 7, Sitzung 7f.), einen Onkel mütterlicherseits in der Heimat hatte der BF auch schon in der Einvernahme vor dem Bundesamt vergleiche AS 56) erwähnt.
Der BF konnte nicht glaubhaft machen, derzeit keinen Kontakt zu seinen Eltern oder Geschwistern zu haben. Er brachte zwar sowohl in der Einvernahme vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vor, im römisch 40 den letzten Kontakt zu seiner Mutter bzw. seinen Angehörigen gehabt zu haben vergleiche AS 57 und OZ 7, Sitzung 5), jedoch nannte er zwei unterschiedliche Gründe für den angeblich seitherigen Kontaktabbruch. Vor dem Bundesamt legte er dar, er habe keine Nummer von seiner Familie und er habe sein Handy verloren vergleiche AS 57), hingegen brachte er vor dem Bundesverwaltungsgericht vor, dass die Nummer, die er gehabt habe, nicht mehr existiert habe vergleiche OZ 7, Sitzung 5) und er habe ein paar Nummern, die er gehabt habe, angerufen, aber keiner habe ihm etwas sagen können, über Facebook habe er erfolglos versucht, seine Geschwister zu erreichen vergleiche OZ 7, Sitzung 6). Vor diesem Hintergrund kann dem behaupteten Kontaktabbruch zu seinen Eltern und Geschwistern kein Glaube geschenkt werden. Im Übrigen versuchte der BF auch nicht, über das Rote Kreuz bzw. über den Roten Halbmond Kontakt zu seiner Familie herzustellen, obwohl er seit römisch 40 in Österreich aufhältig ist vergleiche OZ 7, Sitzung 6).
Dass der BF im Fall einer Rückkehr Unterkunft bei seinen Eltern nehmen und Unterstützung von seinen Eltern, Geschwistern und Onkeln erhalten könnte, ergibt sich aufgrund folgender Erwägungen:
Schon im angefochtenen Bescheid wurde seitens des Bundesamtes festgestellt, dass der BF Unterstützung von seinen Angehörigen in Somalia bekommten könne vergleiche AS 88 und AS 162) und dem wurde im Laufe des gegenständlichen Verfahrens nicht substantiiert entgegengetreten. Insofern der BF in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht behauptete, die finanzielle Lage seiner Familie in Somalia sei „sehr sehr schlecht“ gewesen, sie hätten manchmal etwas zu essen gehabt, manchmal nicht vergleiche OZ 7, Sitzung 27), kann dem kein Glaube geschenkt werden, zumal er zuvor in der mündlichen Verhandlung angegeben hatte, dass es ihnen im römisch 40 „mittelmäßig“ gegangen sei vergleiche OZ 7, Sitzung 5) und er auch in der Einvernahme vor dem Bundesamt vorgebracht hatte, sie hätten alles, was sie am Tag konsumieren könnten, mehr nicht vergleiche AS 57). Die vom BF mit „Ja, manchmal“ bejahte Frage in der Einvernahme vor dem Bundesamt, ob er oder jemand aus seiner Familie je Hunger habe leiden müssen vergleiche AS 57) erscheint angesichts der vom BF behaupteten und festgestellten Tätigkeit seines Vaters als Verkäufer von Gebäck und dem Umstand, dass ein Onkel ein „großes Lebensmittelgeschäft“ hat, in Zusammenschau mit der aus den Länderinformationen hervorgehenden ausgeprägten familiären bzw. sozialen Unterstützung in Somalia (siehe das Kapitel „Grundversorgung und humanitäre Lage“), nicht glaubhaft. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass der BF nicht wie vormals im Miethaus seiner Eltern Unterkunft nehmen und von seinen Eltern sowie von seinen (nun teilweise volljährigen) Geschwistern Unterstützung im Falle einer Rückkehr erhalten könnte.
Der BF vermochte auch keine substantiierten Gründe aufzuzeigen, welche dagegen sprechen würden, dass er von seinen in Kismayo lebenden bzw. arbeitenden Onkeln unterstützt werden könnte. Es wurde zwar in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht behauptet, dass der BF kein gutes Verhältnis zu seinem Onkel habe, der seine Reise in die Türkei finanziert habe, und dass der BF keinen Kontakt zum Onkel bzw. zur Tante gehabt habe vergleiche OZ 7, Sitzung 27ff.), diesem Vorbringen wird jedoch kein Glaube geschenkt. So ist darauf hinzuweisen, dass der BF zunächst bezüglich seiner Onkeln und Tanten erwähnte, er habe sie „nicht oft“ gesehen vergleiche OZ 7, Sitzung 28), an einer späteren Stelle der mündlichen Verhandlung behauptete er jedoch dann keinen Kontakt zu seiner Tante bzw. Onkel gehabt zu haben vergleiche OZ 7, Sitzung 28f.). Hinzu kommt, dass der BF keine Gründe zu nennen vermochte, warum kein Kontakt gehalten worden sei, sondern er verwies lediglich darauf, dass er (selbst) keinen Kontakt zu ihnen gehabt habe und seine Mutter oder sein Vater mit ihnen manchmal gesprochen hätten vergleiche OZ 7, Sitzung 29). Angesichts dessen, dass der BF im Zuge der Befragung vor dem Bundesverwaltungsgericht selbst darlegte, dass der Onkel glaublich hinsichtlich der Kosten der ärztlichen Behandlung seines eines Tages sehr krank gewesenen Bruders geholfen habe vergleiche OZ 7, Sitzung 28), und dass dem BF selbst bei seiner Ausreise finanzielle Unterstützung vom Onkel zuteil geworden sein soll vergleiche AS 58 und OZ 7, Sitzung 7, Sitzung 27 und Sitzung 28), vermochte der BF keine Gründe glaubhaft zu machen, die einer neuerlichen Unterstützung durch seine in Kismayo lebenden bwz. arbeitenden Onkeln entgegenstehen würde.
2.2. Zum Verfahrensgang
Die Feststellungen zum Verfahren über den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stützen sich auf den unbestrittenen Akteninhalt, insbesondere jedoch auf die Niederschrift der Erstbefragung vom römisch 40 vergleiche AS 1ff.) sowie den Bescheid des Bundesamtes vom römisch 40 vergleiche AS 73ff.).
2.3. Zum Privatleben des BF in Österreich
Der BF brachte im Laufe des Verfahrens vor, dass sich keine Familienangehörige oder Verwandte in Österreich oder der EU aufhalten würden vergleiche AS 5, AS 57, AS 60 und OZ 7, Sitzung 9). Dass er über enge soziale Bindungen verfügen würde, wurde von ihm nicht geltend gemacht. Er verfügt seinen Angaben vor dem Bundesamt zufolge zwar über einen Freundeskreis in Österreich, dem auch österreichische Staatsbürger angehören würden und die er am Fußballplatz treffe vergleiche AS 61), besondere Bindungen sind jedoch im Zuge seiner Befragung nicht hervorgekommen, zumal der BF erwähnte, er treffe seine Freunde am Fußballplatz und wisse nicht, wie sie heißen würden vergleiche AS 61).
Der Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung ergibt sich aus einem aktuellen Auszug aus dem GVS-Betreuungsinformationssystem und dem Vorbringen des BF vergleiche AS 61). Dass der BF keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgeht, erschließt sich aus seinem Vorbringen vor dem Bundesamt vergleiche AS 61) und vor dem Bundesverwaltungsgericht vergleiche OZ 7, Sitzung 8). Die Feststellungen zu den Remunerationstätigkeiten des BF, seiner Mithilfe im Asylquartier und zu Dienstleistungsschecks basieren auf dem Schreiben des Österreichischen römisch 40 vom römisch 40 , welches im Rahmen der schriftlichen Stellungnahme vom römisch 40 in Vorlage gebracht wurde.
Die Feststellungen zur Teilnahme an Deutschkursen beruhen auf seinem eigenen Vorbringen vergleiche AS 60f. und OZ 7, Sitzung 9f.) in Zusammenschau mit den in Vorlage gebrachten Unterlagen vergleiche AS 67ff. und die mit der schriftlichen Stellulngnahme vom römisch 40 vorgelegte Barrechnung vom römisch 40 ).
Dass der BF nicht Mitglied in einem Verein, einer Organisation, einem Club oder dergleichen ist, ergibt sich aus seinem Vorbringen vor dem Bundesamt und vor dem Bundesverwaltungsgericht vergleiche AS 61 und OZ 7, Sitzung 9).
2.4. Zum Fluchtvorbringen
2.4.1. Aufgrund seines in der mündlichen Verhandlung erhaltenen persönlichen Eindrucks sowie der im Verwaltungsakt einliegenden Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahme des BF vor dem Bundesamt geht der zur Entscheidung berufene Richter des Bundesverwaltungsgerichtes davon aus, dass dem BF hinsichtlich seines vorgetragenen Fluchtvorbringens, wonach er von Al Shabaab festgenommen, inhaftiert, misshandelt, als Spion verdächtigt, zur Zusammenarbeit aufgefordert und aus deren Lager geflüchtet wäre, keine Glaubwürdigkeit zukommt, zumal seine diesbezüglichen Angaben mehrere Widersprüche bzw. Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten aufweisen.
Hinsichtlich der behaupteten Festnahme des BF durch ein Mitglied der Al Shabaab waren einige Unstimmigkeiten auszumachen. So erwähnte der BF im Zuge der freien Schilderung seines Fluchtvorbringens vergleiche AS 59f.) nicht, dass der BF mit dem Mann mitgegangen und hinter das Teehaus gegangen sei, wie von ihm in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht dann behauptet wurde vergleiche OZ 7, Sitzung 11: „Nachdem er gesagt hat, ich sollte mit ihm mitkommen, ging ich mit. Wir sind dann hinter das Teehaus gegangen und er nahm eine Pistole heraus und forderte mich auf, auf die Knie zu gehen. (…)“). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht bejahte der BF auch die Frage, ob er dort das T-Shirt ausziehen habe müssen oder ob das noch im Lokal gewesen sei, mit „Ja, hinter diesem Teehaus.“ vergleiche OZ 7, Sitzung 14). Hingegen schilderte er in der Einvernahme vor dem Bundesamt die Ereignisse so, dass diese während des Aufenthaltes im Teeshop stattgefunden hätten vergleiche AS 59f., insbesondere: „(…) Während dem Aufenthalt im Teeshop, (…)“). Auch der Ablauf der Gespräche wurde vom BF nicht zur Gänze deckungsgleich vor dem Bundesamt und vor dem Bundesverwaltungsgericht wiedergegeben. Während er vor dem Bundesamt vorgebracht hatte, dass die Frau, welche dort den Shop betreibe, nachgefragt habe, was der Mann wolle vergleiche AS 59), schilderte der BF in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, dass er zur Verkäuferin gesagt habe, er kenne den Mann nicht, wieso solle er mitkommen vergleiche OZ 7, Sitzung 10). Auch welche Person den Mann als Al Shabaab zugehörig zugeordnet haben soll, legte der BF unterschiedlich dar, zumal er vor dem Bundesamt diesbezüglich erwähnte: „(…) Die Frau sagte mir, dass der Mann von Al Shabab (AS) wäre und ich mitgehen sollte. (…)“ vergleiche AS 59), hingegen behauptete er in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, dass ihm selbst eingefallen sei, der Mann könnte nur Mitglied der Al Shabaab sein vergleiche OZ 7, Sitzung 12: „(…) Es ist mir gleich eingefallen, er könnte nur Mitglied der Al Shabaab sein. (…)“). Auch wenn diese Diskrepanzen zum Gesprächsinhalt nicht schwer ins Gewicht fallen, fügen sie sich jedoch in das Bild von weiteren Unstimmigkeiten ein. Der BF hatte hinsichtlich seiner Reise nach römisch 40 in der Einvernahme vor dem Bundesamt erwähnt: „Ich ging nach römisch 40 . (…)“ vergleiche AS 59). Nachdem dem BF im angefochtenen Bescheid seitens des Bundesamtes vorgehalten worden war, dass er als damals noch Minderjähriger sich nicht allein zur Feier aufgrund des Ablebens seiner Tante und in den dortigen Teeshop begeben hätte vergleiche AS 161), brachte er dann in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vor, sie seien gefahren bzw. er sei von seiner Familie alleine gewesen, aber in diesem Minibus seien noch viele andere Leute gewesen, die in diese Stadt fahren würden vergleiche OZ 7, Sitzung 10). Hinzu kommt, dass der BF die Fahrzeit von seinem Elternhaus nach römisch 40 mit zirka drei bis fünf Stunden einschätzte vergleiche OZ 7, Sitzung 11: „Genau weiß ich es nicht. Ich war das erste Mal in römisch 40 , aber von Kismayo bis dahin haben wir ca. 3-5 Stunden gebraucht.“), was jedoch angesichts einer rund 66 Kilometer langen Fahrstrecke (siehe etwa römisch 40 zuletzt eingesehen am 25.03.2024) und ohne vom BF behauptete Zwischenstopps oder stockenden Straßenverkehr – auch unter Berücksichtigung des damaligen Alters des BF von römisch 40 Jahren – deutlich zu lange erscheint.
Hinsichtlich der vom BF behaupteten Inhaftierung und Misshandlung in einem Lager der Al Shabaab verwickelte er sich in mehrere Widersprüche. So behauptete er einerseits vor dem Bundesamt nach Aufforderung, den Raum, in welchem er gefangen gehalten worden sei, zu beschreiben, dass der Raum dunkel gewesen sei und sie kein Licht gehabt hätten vergleiche AS 63: „Der Raum hatte ein Fenster gegenüber der Tür. Der Raum ist dunkel und wir hatten kein Licht. Am Boden hatten wir Sali (traditioneller Teppich). Das war alles.“). Im Gegensatz dazu bejahte er in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, dass er vom Zimmer aus dem Fenster hinaussehen habe können, und legte auf entsprechenden Vorhalt des erkennenden Richters dar, es sei dunkel gewesen, aber am Tag sei es „nicht sehr dunkel“ gewesen, weil die Sonne draußen geschienen habe vergleiche OZ 7, Sitzung 17), was jedoch nicht zu erklären vermag, warum der BF vor dem Bundesamt geltend gemacht hatte, der Raum sei dunkel gewesen. Hinsichtlich der angeblichen Mitgefangenen vermochte er zwar deren Anzahl und Namen (phonetisch im Wesentlichen) gleichbleibend nennen vergleiche AS 60 und AS 63 sowie OZ 7, Sitzung 16 und Sitzung 26), jedoch widersprach er sich hinsichtlich deren Herkunft. So behauptete er vor dem Bundesamt, alle drei seine aus römisch 40 gewesen vergleiche AS 63), in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte er jedoch zunächst vor, sie hätten gesagt, dass sie in die Stadt gekommen seien und sie seien entführt worden vergleiche OZ 7, Sitzung 17), und antwortete dann an einer späteren Stelle der mündlichen Verhandlung, befragt danach, woher die drei Personen gekommen seien: „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube aus römisch 40 bzw. Umgebung vergleiche OZ 7, Sitzung 18). Hinzu kommt, dass der BF auch die ihm angeblich widerfahrenen Misshandlungen nicht konsistent beschreiben zu vermochte. In der Einvernahme vor dem Bundesamt erwähnte der BF zunächst im Zuge der freien Schilderung seines Fluchtvorbringens, dass sie nachts hinausgebracht und gefoltert worden seien, sie hätten sie geschlagen und mit Wasser beschüttet vergleiche AS 60) und fügte an einer späteren Stelle befragt nach Verletzungen hinzu, sie hätten ihn nackt mit dem Stock geschlagen und sie hätten ihn ausgepeitscht vergleiche AS 62). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht machte er sodann geltend, jede Nacht hätten sie sie nach draußen gebracht, ihre Hände gefesselt und einen Kübel kaltes Wasser auf sie geschüttet, „ab und zu“ hätten sie sie auch ausgepeitscht vergleiche OZ 7, Sitzung 16). Näher befragt danach, was „ab und zu“ heiße, führte der BF dann aus: „Meistens haben sie auf uns in der Nacht kaltes Wasser geschüttet und sie haben uns nach draußen gelassen. Manchmal haben sie uns ausgepeitscht.“ vergleiche OZ 7, Sitzung 19). Schließlich behauptete der BF, dass er alle 24 Stunden einmal geschlagen worden sei vergleiche OZ 7, Sitzung 20). Angesichts dieser abweichenden Angaben des BF zu den ihm angeblich widerfahrenen Misshandlungen entsteht kein glaubwürdiger Eindruck. Dies wird noch dadurch bekräftigt, dass der BF vor dem Bundesamt behauptet hatte, er habe Salbe für die Wunden bekommen, seine Mutter habe ihm die Salbe gebracht vergleiche AS 62), im Gegensatz dazu brachte er in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vor, die Wunden seien nicht behandelt worden vergleiche OZ 7, Sitzung 19) und verneinte die Frage, ob das irgendwie behandelt worden sei in diesen 14 Tagen, wenn er jeden Tag geschlagen worden sei vergleiche OZ 7, Sitzung 20f.).
Die Zweifel am Vorbringen des BF werden auch dadurch weiter verstärkt, dass er sich auch hinsichtlich wesentlicher Aspekte der behaupteten Flucht aus dem Lager der Al Shabaab widersprüchlich äußerte. So legte er in der Einvernahme vor dem Bundesamt dar, dass zwei der drei Mitgefangenen („Jungs“) mitgenommen worden seien, der BF nicht wisse, was mit ihnen passiert sei, und an einem Tag, als Chaos geherrscht habe, der BF mit dem anderen Jugendlichen gemeinsam geflohen sei vergleiche AS 60). Demgegenüber schilderte er in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, dass sie „alle“ durch das Fenster nach draußen gesprungen und geflohen seien vergleiche OZ 7, Sitzung 23) und erwähnte erst auf Befragung seiner Rechtsvertreterin, dass er mit „ römisch 40 (phonetisch)“ gemeinsam geflohen sei vergleiche OZ 7, Sitzung 26). Zudem brachte der BF in der Einvernahme vor dem Bundesamt vor, sie (gemeint die Männer der Al Shabaab) hätten es bemerkt und seien ihnen nachgelaufen vergleiche AS 60), an einer weiteren Stelle der Einvernahme machte der BF jedoch unterschiedliche Angaben im Hinblick darauf, ob sie von den Männern der Al Shabaab gesehen bzw. bemerkt worden seien vergleiche AS 64: „(…) Sie bemerkten dies und sind uns nachgefolgt und wir konnten uns verstecken. Auf uns wurde nicht geschossen. Ich glaube sie haben uns nicht gesehen. Aber wir sahen, dass sie und folgten.“) und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht verneinte er sodann die Frage, ob sie dann, als sie draußen gewesen seien, von Al Shabaab-Mitgliedern gesehen worden seien, mit: „Nein, sie haben uns nicht gesehen, aber ich habe sie gesehen.“ vergleiche OZ 7, Sitzung 24). Ebenso widersprüchlich erweisen sich die Angaben des BF zur Frage, ob nach ihnen geschossen worden sei, zumal er einerseits vor dem Bundesamt geltend machte: „(…) Auf uns wurde nicht geschossen. (…)“ vergleiche AS 64), andererseits in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht auf die Frage, ob er wisse, ob ihnen wer gefolgt sei, antwortete: „Ich bin mir nicht sicher, aber während wir weggelaufen sind, hat man in unsere Richtung geschossen und die Schüsse waren immer in unserer Nähe.“ vergleiche OZ 7, Sitzung 25). Darüber hinaus erstattete der BF keine konsistenten Angaben zur Frage, wo sie die Nacht verbracht hätten. Vor dem Bundesamt machte er geltend, sie hätten ein Loch gefunden, wo sie sich versteckt hätten und als sie bemerkt hätten, dass sie (gemeint die Männer der Al Shabaab) nicht mehr da seien, seien sie gemeinsam gegangen, hätten einen kleinen Ort gefunden, hätten bei einer Familie Zuflucht gefunden und sich am nächsten Tag auf den Weg in Richtung Kismayo gemacht vergleiche AS 60). Zudem erwähnte er, dass die Familie ihnen eine Schlafmöglichkeit gegeben habe und sie in der Früh weggegangen seien vergleiche AS 63). Vor dem Bundesverwaltungsgericht führte der BF demgegenüber aus, sie hätten ein Erdloch gesehen, hätten sich dort verstecken müssen und hätten dort die Nacht verbracht, am nächsten Tag seien sie dann weiter gegangen und hätten anschließend eine Nomadenfamilie gesehen und diese um Hilfe gebeten vergleiche OZ 7, Sitzung 24, siehe auch OZ 7, Sitzung 25: „Wir sind in diesem Erdloch weiter geblieben, kurz bevor die Sonne aufgegangen ist. Es war noch etwas dunkel, dann gingen wir zu Fuß weiter. Nach ca. 3 Stunden haben wir diese Nomadenfamilie gesehen.“). Eine weitere Diskrepanz besteht weiters insofern, als der BF in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erwähnte, die Familie habe ihnen auf Nachfrage gesagt, wie dieser Ort heiße vergleiche OZ 7, Sitzung 25), wohingegen er in der Einvernahme vor dem Bundesamt die Frage verneinte, ob er die Familie, welche sie nach der Flucht aufgenommen habe, nicht gefragt habe, wo er jetzt sei vergleiche AS 63: „Nein, sie hatten selbst Vorbehalt. Sie hatten Angst, dass sie selbst Probleme bekommen könnten. Wir haben uns gegenseitig nicht viel gefragt. (…)“).
Nach höchstgerichtlicher Judikatur ist zu beachten, ob der Asylwerber seinen Heimatstaat als Minderjähriger verlassen hat bzw. ob die Erzählung der Fluchtgeschichte aus der Perspektive eines Minderjährigen erfolgte vergleiche VwGH 02.09.2015, Ra 2014/19/0127), es ist das Alter und der Entwicklungsstand des Beschwerdeführers in Betracht zu ziehen sowie ein dem Alter entsprechender Maßstab an die Detailliertheit der Eindrücke des Beschwerdeführers anzulegen vergleiche VfGH 27.06.2012, U98/12), es ist das Aussageverhalten des Minderjährigen dahingehend zu würdigen ist, ob und welche Angaben von ihm unter Berücksichtigung seines Alters erwartet werden können vergleiche VwGH 08.09.2015, Ra 2014/18/0113), und zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines - im Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse - Minderjährigen hat eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung stattzufinden vergleiche VwGH 15.10.2020, Ra 2020/18/0223).
Auch unter Berücksichtigung dieser höchstgerichtlichen Judikatur und des Umstandes, dass der BF zum Zeitpunkt der angeblich fluchtauslösenden Ereignisse im römisch 40 vergleiche AS 63) römisch 40 Jahre alt war, überwiegen im vorliegenden Fall im Rahmen einer abwägenden Gesamtbetrachtung die Gründe, die gegen die Glaubhaftigkeit der vom BF geschilderten Geschehnisse sprechen. Angesichts der aufgezeigten Widersprüche bzw. Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten in seinen Angaben ist es dem BF nicht gelungen, sein Vorbringen, dass er von Al Shabaab festgenommen, inhaftiert, misshandelt, als Spion verdächtigt, zur Zusammenarbeit aufgefordert und aus deren Lager geflüchtet wäre, glaubhaft zu machen.
Aufgrund dessen kann auch dem darauf aufbauenden Vorbringen des BF betreffend eine Drohung bzw. ein Aufsuchen der Familie des BF seitens Al Shabaab kein Glaube geschenkt werden, zumal diesem die Grundlage entzogen ist. Im Übrigen vermochte der BF diesbezüglich auch keine konsistenten Angaben zu machen, zumal er einerseits in der Einvernahme vor dem Bundesamt vorbrachte, sie (gemeint: Al Shabaab) hätten zu seiner Familie gesagt, dass sie den BF umbringen würden vergleiche AS 64), in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht behauptete er jedoch, seine Mutter habe ihm gesagt, dass sie mehrmals zu ihr gekommen seien und nach dem BF gefragt hätten vergleiche OZ 7, Sitzung 6), sodass der BF sein diesbezügliches Vorbringen steigerte.
2.4.2. Ferner sind keine ausreichenden Hinweise hervorgekommen, dass der BF im Fall der Rückkehr nach Somalia mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gegen seinen Willen einer Rekrutierung durch Al Shabaab ausgesetzt sein wird.
Den Länderberichten ist zwar zu entnehmen, dass die Miliz Al-Shabaab Zwangsrekrutierungen durchführt, diese kommen jedoch ausschließlich in Gebieten von Al Shabaab vor und Al Shabaab ist weniger an die Rekrutierung Erwachsener als an der Rekrutierung von 8-12-jährigen Kindern interessiert (siehe das Kapitel „(Zwangs-)Rekrutierungen und Kindersoldaten“). Auch wenn sich die Gefahr einer Zwangsrekrutierung nicht gänzlich ausschließen lässt, ist im Fall einer Rückkehr des BF auch unter Berücksichtigung seines Alters von römisch 40 Jahren keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit zu erkennen, dass er dort landesweit einem Zwangsrekrutierungsversuch ausgesetzt sein würde. Hinzu tritt, dass die Heimatstadt des BF von Regierungskräften und ATMIS kontrolliert wird, es ausreichend Sicherheitskräfte und ein funktionierendes Gerichtssystem gibt und Al Shabaab dort keinen großen Einfluss hat (siehe das Kapitel „Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten“ und dort „Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba)“). Im Hinblick der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens des BF, war darüber hinaus nicht weiter auf die Ausführungen der Stellungnahme vom römisch 40 zu Punkt römisch eins. zur Verfolgung durch die Al Shabaab einzugehen.
2.5. Zur Rückkehrmöglichkeit nach Somalia
Die Feststellung zur möglichen Rückkehr in die Heimatstadt Kismayo stützt sich auf die Berichte zur allgemeinen Lage in Somalia in Verbindung mit den individuellen Umständen des BF:
Den Länderinformationen zufolge (siehe das Kapitel „Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten“) wird die Stadt Kismayo von Regierungskräften und ATMIS kontrolliert und die Stadt gilt als sicher bzw. friedlich, auch wenn es hin und wieder zu Anschlägen kommt. Al Shabaab ist nur sehr eingeschränkt in und um Kismayo aktiv und hat keinen großen Einfluss in der Stadt. Anschläge durch Al Shabaab in Kismayo sind zur Seltenheit geworden. Die Regierung gilt als relativ stabil, es gibt ein funktionierendes Gerichtssystem und eine etablierte Verwaltung. Es gibt ausreichend Sicherheitskräfte und die Kriminalität ist auf niedrigem Niveau. Zivilisten können sich in Kismayo-Stadt frei und relativ sicher bewegen. Eine Rückkehr in die Stadt Kismayo ist daher vor dem Hintergrund der dortigen Sicherheitslage möglich. Zudem ist die Stadt Kismayo über den internationalen Flughafen Mogadischu, von wo aus Linienflüge nach Kismayo verfügbar sind, auf dem Luftweg mit dem Flugzeug sicher erreichbar (siehe das Kapitel „Bewegungsfreiheit und Relokation“).
Hinsichtlich der Wirtschaftslage ist den aktuellen Länderinformationen zu entnehmen, dass die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung des Landes durch mehrere Schocks, darunter, Überschwemmungen, Heuschreckenplage und Covid-19-Pandemie, unterminiert wurde, sich die somalische Wirtschaft jedoch als resilienter erwiesen hat, als vermutet. Auf dem Arbeitsmarkt hängen die Möglichkeiten des Einzelnen sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort ab. Die Arbeitsmöglichkeiten sind zwar beschränkt, es besteht jedoch vor allem für Personen mit besseren Sprachkenntnissen sowie jene mit Clanverbindungen eine erhöhte Chance, eine bessere Arbeit zu erhalten.
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Teilen des Landes nicht gewährleistet. Es gibt – abgesehen vom Geldtransferprogramm Baxnaano - auch kein öffentliches Wohlfahrtssystem, keinen sozialen Wohnraum und keine soziale Hilfe. Das eigentliche soziale Sicherheitsnetz ist jedoch die erweiterte Familie, der Subclan oder der Clan, die oftmals zumindest einen rudimentären Schutz bieten. Soziale Kontake haben auch hinsichtlich der Dürre eine entscheidende Rolle gespielt. Somalia verfügt auch über ein funktionierendes System humanitärer Hilfen und humanitäre Organisationen sind in beinahe allen Bezirken aktiv. Mit der Gu-Regenzeit (April bis Juni) 2023 wurde in den meisten Teilen Somalias das Ende der Dürrebedingungen signalisiert. Auf die historische Dürre folgten Überschwemmungen in mehreren Bezirken, woraufhin humanitäre Organisationen, Behörden und lokale Gemeinschaften die Hilfe für die betroffenen Menschen verstärkt haben.
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Wirtschafts- und Versorgungslage in Somalia ist unter Berücksichtigung der individuellen Situation des BF nicht zu erwarten, dass dieser bei einer Rückkehr in die Stadt Kismayo nicht in der Lage wäre, seine grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen:
Er wurde in Somalia geboren, verbrachte dort den weit überwiegenden Teil seines Lebens, ist daher mit den dortigen Gepflogenheiten vertraut und spricht auch Somalisch als Muttersprache. Der BF wuchs in der Stadt Kismayo auf und verbrachte dort den Großteil seines Lebens, sodass er in sein vertrautes Umfeld zurückkehrt. Er verfügt über eine sechsjährige Schulbildung und half seinem Vater bei dessen Tätigkeit als Verkäufer. Außerdem wohnen die Eltern und Geschwister nach wie vor dort, sodass er wieder bei ihnen Unterkunft nehmen und wie vormals seinem Vater bei dessen Arbeit helfen bzw. gegebenenfalls Unterstützung bei der Arbeitssuche erwarten könnte. Er kann auch von seinen dort lebenden bzw. arbeitenden Onkeln Unterstützung erhalten, wie bereits unter Punkt römisch II.2.1. dargelegt wurde, sollte es allfällige anfängliche Schwierigkeiten geben.
Auch die schwierige Versorgungslage steht einer Rückkehr des BF in seine Heimatstadt Kismayo nicht entgegen. Die Stadt Kismayo wurde zwar entsprechend den in den festgestellten Länderberichten enthaltenen IPC-Lagekarten zur Nahrungsmittelsicherheit betreffend nicht in Binnenvertriebenenlagern lebenden Personen noch laut dem Status Juli bis September 2023 mit Stufe 3 („Crisis“) bewertet und wurde diese IPC-Stufe auch für Oktober bis Dezember 2023 prognostiziert (siehe das Kapitel „Grundversorgung und humanitäre Lage“). Wie anhand der öffentlich zugänglichen aktualisierten IPC-Lagekarten zu sehen ist (siehe https://fsnau.org/ipc/ipc-map und auch https://results.ipc.fsnau.org/so/map/index, jeweils zuletzt eingesehen am römisch 40 ), wird die Stadt Kismayo (für nicht in Binnenvertriebenenlagern lebende Personen) nunmehr mit der Stufe 2 („Stressed“) sowohl betreffend den aktuellen Status als auch hinsichtlich der Prognose April bis Juni 2024 eingeordnet, sodass sich die Lage insofern verbessert hat. Diese Einstufung bedeutet, dass für zumindest 20% der Haushalte der Lebensmittelkonsum zwar reduziert, aber geradeso ausreichend ist, ohne dass sie sich auf irreversible Bewältigungsstrategien einlassen müssen. Es ist auch zu beachten, dass nach den IPC-Stufen definitionsgemäß nicht (notwendigerweise) die gesamte Bevölkerung von den jeweiligen Versorgungsschwierigkeiten betroffen ist, sondern die jeweilige Stufe bereits dann erreicht wird, wenn zumindest ein Fünftel der Bevölkerung diese Schwierigkeiten aufweist. Zu beachten ist im Falle des BF auch, dass er angesichts seines Netzwerks vor Ort einen erleichterten Zugang zu Lebensmitteln hat, zumal sein Vater Gebäck verkauft und ein Onkel in Kismayo ein großes Lebensmittelgeschäft besitzt.
Insofern in der schriftlichen Stellungnahme vom römisch 40 das Nichtbestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mogadischu geltend gemacht wird vergleiche insbesondere römisch 40 bzw. römisch 40 ), ist nochmals zu betonen, dass der BF im gegenständlichen Fall nicht auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen wird, sondern eine Rückkehr in seine Heimatstadt Kismayo und damit in die ihm vertraute Umgebung aus den oben dargelegten Gründen bejaht wird. Angesichts der in der Stadt Kismayo lebenden Angehörigen und dortigen Unterkunftsmöglichkeit besteht auch entgegen den Ausführungen in der Stellungnahme vom römisch 40 mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Gefahr für den BF, dass er auf die Versorgung in einem IDP-Lager angewiesen wäre bzw. gezwungen wäre, sich in einem Lager für Binnenvertriebene niederzulassen.
Es ist daher im Ergebnis zu prognostizieren, dass der BF bei einer Rückkehr in seine Heimatstadt Kismayo unter Berücksichtigung seiner individuellen Umstände sowie vor dem Hintergrund der dortigen Sicherheits- und Versorgungslage nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten und ihm auch nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
Da der BF im Hinblick auf sein Alter und seinen Gesundheitszustand keiner spezifischen Risikogruppe hinsichtlich der COVID-19-Krankheit zugehörig ist und dies im Laufe des Verfahrens auch nicht behauptet wurde, besteht in Zusammenschau mit den Feststellungen zur COVID-19-Krankheit keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
2.6. Zur COVID-19-Krankheit
Die Feststellungen zur COVID-19-Krankheit ergeben sich aus den auf der amtlichen Webseite des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz veröffentlichten Informationen, welche mit jenen von anderen in- und ausländischen staatlichen Stellen bzw. wissenschaftlichen Einrichtungen, privaten Einrichtungen und Organisationen im Wesentlichen übereinstimmen. Die betreffenden Internetseiten wurden zuletzt am 23.03.2023 abgerufen.
2.7. Zu den Feststellungen zum Herkunftsstaat
Die verfahrenswesentlichen Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur Situation in Somalia stammen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation „Somalia“, Version 6, Datum der Veröffentlichung: 08.01.2024, beruhen auf den dort angeführten Quellen und wurden mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom römisch 40 dem BF im Wege seiner Vertretung zur Kenntnis gebracht. Die Länderfeststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen und stellen angesichts der bisherigen Ausführungen im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens und der Rückkehrsituation des BF dar.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A)
3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides:
3.1.1. Paragraph 3, Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.
[…]“
3.1.2. Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.3. Im vorliegenden Fall ist es dem BF nicht gelungen, objektiv begründete Furcht vor aktueller Verfolgung in gewisser Intensität darzutun. Wie bereits in der Beweiswürdigung unter Punkt römisch II.2.4.1. ausgeführt, ist es nicht glaubhaft, dass er von Al Shabaab festgenommen, inhaftiert, misshandelt, als Spion verdächtigt, zur Zusammenarbeit aufgefordert und aus deren Lager geflüchtet wäre. Auch ist nicht glaubhaft, dass die Familie des BF von Al Shabaab bedroht worden wäre. Es lässt sich daher keine Verfolgungsgefahr für den BF im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention erkennen.
Weiters ist es nicht wahrscheinlich, dass der BF im Fall der Rückkehr nach Somalia einer Zwangsrekrutierung seitens der Miliz Al Shabaab ausgesetzt sein würde, wie bereits unter Punkt römisch II.2.4.2. ausgeführt wurde.
3.1.4. Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (VwGH 25.09.2020, Ra 2019/19/0407; mwN).
In Ermangelung von den BF individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte dieser Rechtsprechung des VwGH zu prüfen, ob der BF im Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale unabhängig von individuellen Aspekten einer gezielten Verfolgung ausgesetzt wäre.
Muslimen droht als Angehörigen der größten Glaubensgemeinschaft und traditionellen Hauptreligionen Somalias keine Verfolgung. Mit über 99% gehört die somalische Bevölkerung fast ausschließlich dem Islam, so wie auch der BF, an.
Eine Verfolgungsgefahr wegen seiner Volksgruppen- und Clanzugehörigkeit wurde vom BF im Laufe des Verfahren nicht geltend gemacht, vielmehr verneinte er vor dem Bundesamt die Frage, ob er in seinem Herkunftsstaat aufgrund seines Religionsbekenntnisses bzw. seiner Volksgruppen- bzw. Clanzugehörigkeit irgendwelche Probleme gehabt habe vergleiche AS 59). Auch aus den vorliegenden Länderberichten lässt sich eine Verfolgungsgefahr in asylrelevanter Intensität allein wegen der Clanzugehörigkeit des BF nicht ableiten.
Hinweise, dass dem BF aus sonstigen Gründen im Fall der Rückkehr nach Somalia aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen die reale Gefahr einer Verfolgung droht, sind im Verfahren im Übrigen nicht hervorgekommen.
3.1.5. Insgesamt war daher das Vorbringen des BF nicht geeignet, eine mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung aus asylrelevanten Gründen darzutun, weshalb es dem BF insgesamt nicht gelungen ist, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Folglich war die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides:
3.2.1. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß Paragraph 8, Absatz 3 und 6 AsylG ist der Asylantrag bezüglich dieses Status abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG) offensteht oder wenn der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann.
Nach der Rechtsprechung des VwGH setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Artikel 2, oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Artikel 2, oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Für das Vorliegen einer realen Gefahr ("real risk") reicht es nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist; es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird vergleiche VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, mwN).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen vergleiche VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, mwN insbesondere zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – EGMR und des Europäischen Gerichtshofes – EuGH).
Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Artikel 3, EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen vergleiche VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095).
"Für die zur Prüfung der Notwendigkeit subsidiären Schutzes erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des BF bei einer Rückkehr abzustellen. Kommt die Herkunftsregion des BF als Zielort wegen der dem BF dort drohenden Gefahr nicht in Betracht, kann er nur unter Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und seiner persönlichen Umstände auf eine andere Region des Landes verwiesen werden (VfGH 12.03.2013, U1674/12; 12.06.2013, U2087/2012)." (VfGH vom 13.09.2013, Zl. U370/2012).
3.2.2. Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG nicht gegeben sind:
Wie unter Punkt römisch II.3.1. ausgeführt, besteht für den BF keine reale Gefahr, aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe verfolgt zu werden. Im gegenständlichen Verfahren sind auch keine anderen Gründe hervorgekommen, aufgrund welcher der BF im Herkunftsstaat der realen Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt ist.
Der BF hat keine individuellen Umstände dargetan und glaubhaft gemacht, die im Fall der Rückkehr in die Stadt Kismayo eine reale Gefahr der Verletzung von Artikel 2, EMRK und Artikel 3, EMRK für maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen.
Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung unter Punkt römisch II.2.5. unter Berücksichtigung der Länderberichte und der persönlichen Situation des BF dargelegt wurde, ist nicht zu erkennen, dass der BF in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Lage geraten würde, vielmehr ist zu prognostizieren, dass der BF seinen Lebensunterhalt und existenzielle Grundbedürfnisse sichern wird können.
Insofern in der Beschwerde auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.09.2022, Zl. W189 2173327-2/6E, vergleiche AS 195) und in der schriftlichen Stellungnahme vom römisch 40 auf die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.08.2022, Zl. W261 2250899-1, und vom 23.02.2023, Zl. W105 2249923-1, verwiesen wird, ist zu entgegnen, dass die dort beschwerdeführenden Parteien nicht (wie der BF im vorliegenden Fall) aus Kismayo stammten und im gegenständlichen Fall der BF nicht auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen wird, sodass der Beschwerdeeinwand bzw. die Ausführungen zur Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative (insbesondere in Mogadischu) im vorliegenden Fall ins Leere gehen.
Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und seinen Gesundheitszustand keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht daher keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Somalia eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sind daher nicht gegeben und war die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. abzuweisen.
3.3. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides:
3.3.1. Gemäß Paragraph 58, Absatz eins, Ziffer 2, AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch bezüglich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
3.3.2. Paragraph 57, Absatz eins, AsylG 2005 lautet:
'Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz'
"1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Absatz eins a, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist."
Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung auf internationalen Schutz im römisch 40 im Bundesgebiet und sein Aufenthalt ist nicht geduldet. Er ist nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG liegen daher nicht vor und ein dementsprechendes Vorbringen wurde auch nicht erstattet.
3.4. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt wird sowie kein Fall der Paragraphen 8, Absatz 3 a, oder 9 Absatz 2, AsylG vorliegt.
Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Der BF ist als Staatsangehöriger von Somalia kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu.
3.4.1. Der mit "Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikel 8, EMRK" betitelte Paragraph 55, AsylG lautet wie folgt:
"§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn
1. dies gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 9, Integrationsgesetz (IntG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017,, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (Paragraph 5, Absatz 2, Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 189 aus 1955,) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Absatz eins, Ziffer eins, vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen."
Der mit "Schutz des Privat Familienlebens" betitelte Paragraph 9, BFA-VG lautet wie folgt:
"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraph 45, oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.
Anmerkung, Absatz 4, aufgehoben durch Artikel 4, Ziffer 5,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 56 aus 2018,)
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraphen 52, Absatz 4, in Verbindung mit 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 4, FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß Paragraph 53, Absatz 3, FPG vorliegen. Paragraph 73, Strafgesetzbuch (StGB), Bundesgesetzblatt Nr. 60 aus 1974, gilt."
Artikel 8, EMRK lautet wie folgt:
"(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Artikel 8, Absatz 2, EMRK erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinne wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wögen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist vergleiche VfGH 29.09.2007, B 1150/07-9; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423).
Hierbei ist neben diesen (beispielhaft angeführten) Kriterien, aber auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal etwa das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt rechtswidrig oder lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist vergleiche VfGH 12.06.2007, B 2126/06; VfGH vom 29.09.2007, Zl. B 1150/07-9; VwGH 24.04.2007, 2007/18/0173; VwGH 15.05.2007, 2006/18/0107, und 2007/18/0226).
Das nach Artikel 8, EMRK geschützte Familienleben ist nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Beziehungen beschränkt, sondern erfasst auch faktische Familienbindungen, bei welchen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben. Auch eine aufrechte Lebensgemeinschaft fällt unter das von Artikel 8, EMRK geschützte Familienleben (VwGH 09.09.2013, Zl. 2013/22/0220 mit Hinweis auf E vom 19.03.2013, Zl. 2012/21/0178, E vom 30.08.2011, Zl. 2009/21/0197, und E vom 21.04.2011, Zl. 2011/01/0131).
Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen vergleiche EGMR 16.06.2005, Fall Sisojeva ua., Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nehmen die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren vergleiche VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001). Die bisherige Rechtsprechung legt keine Jahresgrenze fest, sondern nimmt eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vor vergleiche dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, EMRK, in ÖJZ 2007, 852 ff, aber auch VwGH 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479, wonach ein dreijähriger Aufenthalt "jedenfalls" nicht ausreichte, um daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abzuleiten, so im Ergebnis auch VfGH 12.06.2013, Zl. U485/2012).
Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kam für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH 15.03.2016, Ra 2016/19/0031; 23.06.2015, Ra 2015/22/0026).
Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt, ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, werden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach einem so langen Inlandsaufenthalt noch als verhältnismäßig angesehen vergleiche VwGH 14.4.2016, Ra 2016/21/0029; 17.10.2016, Ro 2016/22/0005). Diese Rechtsprechung wurde vom Verwaltungsgerichtshof wiederholt auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag vergleiche zu einem ungefähr neuneinhalbjährigen Aufenthalt VwGH 30.7.2014, 2013/22/0226; 9.9.2014, 2013/22/0247; 16.12.2014, 2012/22/0169).
Die Umstände, dass ein Fremder perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, stellen keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale dar (Hinweis E 26. November 2009, 2008/18/0720). Auch die strafgerichtliche Unbescholtenheit vergleiche Paragraph 66, Absatz 2, Ziffer 6, FrPolG 2005) vermag die persönlichen Interessen des Fremden nicht entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029). Vom Verwaltungsgerichtshof wurde im Ergebnis auch nicht beanstandet, dass in Sprachkenntnissen und einer Einstellungszusage bzw. einem arbeitsrechtlichen Vorvertrag keine solche maßgebliche Änderung des Sachverhalts gesehen wurde, die eine Neubeurteilung im Hinblick auf Artikel 8, EMRK erfordert hätte vergleiche VwGH 23.11.2017, Zl. Ra 2015/22/0162; VwGH 12.10.2015, Zl. Ra 2015/22/0074; VwGH 27.01.2015, Zl. Ra 2014/22/0108; VwGH 19.11.2014, Zl. 2012/22/0056; VwGH 19.11.2014, Zl. 2013/22/0017).
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit vergleiche Paragraph 66, Absatz 2, Ziffer 6, FrPolG 2005) vermag die persönlichen Interessen des Fremden nicht entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029). Hingegen besteht aber im Hinblick auf strafgerichtliche Verurteilungen eines Fremden ein großes öffentliches Interesse an der Verhinderung der Eigentumskriminalität vergleiche etwa VwGH 09.09.2010, Zl. 2006/20/0176, VwGH 28.02.2008, Zl. 2006/18/0467, VwGH 07.02.2008, Zl. 2006/21/0388).
Gemäß der aktuellen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist die Integration von Asylwerbern stärker zu berücksichtigen, wenn – anders als in Fällen, in denen die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basierte vergleiche dazu insbesondere auch VwGH 30.04.2009, Zl. 2009/21/0086; VwGH 19.02.2009, Zl. 2008/18/0721; VwGH 18.12.2008, Zl. 2007/21/0505) – diese während eines einzigen Asylverfahrens erfolgt ist und von den Asylwerbern nicht schuldhaft verzögert wurde vergleiche VfGH 07.10.2010, Zl. B 950/10; VfGH 12.06.2013, Zl. U485/2012).
In seiner davor erfolgten Entscheidung Nnyanzi gegen United Kingdom vom 08.04.2008 (Nr. 21878/06) kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass bei der vorzunehmenden Interessensabwägung zwischen dem Privatleben des Asylwerbers und dem staatlichen Interesse eine unterschiedliche Behandlung von Asylwerbern, denen der Aufenthalt bloß aufgrund ihres Status als Asylwerber zukommt, und Personen mit rechtmäßigem Aufenthalt gerechtfertigt sei, da der Aufenthalt eines Asylwerbers auch während eines jahrelangen Asylverfahrens nie sicher ist. So spricht der EGMR in dieser Entscheidung ausdrücklich davon, dass ein Asylwerber nicht das garantierte Recht hat, in ein Land einzureisen und sich dort niederzulassen. Eine Abschiebung ist daher immer dann gerechtfertigt, wenn diese im Einklang mit dem Gesetz steht und auf einem in Artikel 8, Absatz 2, EMRK angeführten Grund beruht. Insbesondere ist nach Ansicht des EGMR das öffentliche Interesse jedes Staates an einer effektiven Einwanderungskontrolle jedenfalls höher als das Privatleben eines Asylwerbers; auch dann, wenn der Asylwerber im Aufnahmestaat ein Studium betreibt, sozial integriert ist und schon 10 Jahre im Aufnahmestaat lebte.
3.4.2. Abwägung im gegenständlichen Fall
Der Begriff des "Familienlebens" in Artikel 8, EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Artikel 8, EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.6.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 7.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 5.7.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt vergleiche Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Da sich keine Familienangehörige oder Verwandte des BF im Bundesgebiet aufhalten und er auch über keine sonstigen enge Nahebeziehungen in Österreich bzw. in einem EU-Mitgliedstaat verfügt, stellt die Erlassung einer Rückkehrentscheidung keinen unzulässigen Eingriff in das Recht des BF auf Schutz des Familienlebens dar.
Die aufenthaltsbeendende Maßnahme könnte daher allenfalls in das Privatleben des BF eingreifen.
Zunächst ist auszuführen, dass der BF zum Aufenthalt in Österreich nur auf Grund eines Antrages auf internationalen Schutz, der sich letztlich nicht als begründet erwiesen hat, berechtigt gewesen ist. Anhaltspunkte dafür, dass ihm ein nicht auf asylrechtliche Bestimmungen gestütztes Aufenthaltsrecht zukäme, sind gleichfalls nicht ersichtlich.
Weiters ist auf die noch relativ kurze Aufenthaltsdauer des BF von rund zwei Jahren und fünf Monaten zu verweisen. Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so muss die in dieser Zeit erlangte Integration aber außergewöhnlich sein, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (VwGH vom 18.09.2019, Ra 2019/18/0246). Die Kombination aus Fleiß, Arbeitswille, Unbescholtenheit, dem Bestehen sozialer Kontakte in Österreich, dem verhältnismäßig guten Erlernen der deutschen Sprache sowie dem Ausüben einer Erwerbstätigkeit stellt selbst bei einem Aufenthalt von knapp vier Jahren im Zusammenhang mit der relativ kurzen Aufenthaltsdauer keine außergewöhnliche Integration dar vergleiche VwGH vom 18.09.2019, Ra 2019/18/0212). Es ist im Sinne des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 8, BFA-VG maßgeblich relativierend, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (VwGH vom 28.02.2019, Ro 2019/01/003).
Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist festzuhalten, dass beim BF keine außergewöhnliche Integration vorliegt, die für ein Überwiegen seiner privaten Interessen an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet sprechen würde.
Zu seinen Gunsten ist zwar zu werten, dass er Deutschkurse besuchte, über einen Freundeskreis verfügt, im Asylquartier bei diversen Tätigkeiten mithalf und Remunerationstätigkeiten nachging, der BF bezieht jedoch Leistungen im Rahmen der Grundversorgung, geht keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach, verfügt über keine engen sozialen Bindungen im Bundesgebiet und ist auch nicht Mitglied in einem Verein, einer Organisation, einem Club oder dergleichen. Eine außergewöhnliche Integration liegt beim BF daher zurzeit nicht vor.
Der Umstand, dass der BF in Österreich nicht straffällig geworden ist, bewirkt keine Erhöhung des Gewichtes der Schutzwürdigkeit von persönlichen Interessen an einem Aufenthalt in Österreich, da die Begehung von Straftaten einen eigenen Grund für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen darstellt vergleiche VwGH 24.07.2002, 2002/18/0112).
Hinzu kommt im gegenständlichen Fall, dass der BF den überwiegenden Teil seines Lebens in seinem Herkunftsstaat verbracht hat und über familiäre bzw. verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in Somalia verfügt. Der BF wurde in seinem Herkunftsstaat geboren, wuchs dort auf, besuchte dort die Schule, half seinem Vater bei dessen Erwerbstätigkeit und spricht mit Somalisch auch eine anerkannte Landessprache. Es liegen daher keine Anhaltspunkte vor, weshalb sich der arbeitsfähige BF im Falle der Rückkehr nicht wieder in die Gesellschaft seines Heimatlandes eingliedern könnte.
Es ist festzuhalten, dass die Dauer des Verfahrens nicht jenes Maß überstieg, das für ein rechtsstaatlich geordnetes, den verfassungsrechtlichen Vorgaben an Sachverhaltsermittlungen und Rechtschutzmöglichkeiten entsprechendes Asylverfahren angemessen ist. Es liegt somit jedenfalls kein Fall vor, in dem die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der einreise- und fremdenrechtlichen Vorschriften sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung angesichts der langen Verfahrensdauer oder der langjährigen Duldung des Aufenthaltes im Inland nicht mehr hinreichendes Gewicht haben, die Rückkehrentscheidung als "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" erscheinen zu lassen vergleiche VfSlg 18.499/2008, 19.752/2013; EGMR 04.12.2012, Fall Butt, Appl. 47.017/09, Ziffer 85, f.).
Insgesamt betrachtet ist davon auszugehen, dass die Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet nur geringes Gewicht haben und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des VwGH ein hoher Stellenwert zukommt, in den Hintergrund treten.
Nach einer individuellen Abwägung der berührten Interessen ist ein Eingriff in das Privatleben des BF durch eine Rückkehrentscheidung als im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK verhältnismäßig und ihre Erlassung zur Errichtung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele, insbesondere der öffentlichen Ordnung, als geboten zu erachten. Daraus folgt ihre Zulässigkeit iSd Paragraph 9, BFA-VG.
Die Verfügung der Rückkehrentscheidung gem. Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG war daher im vorliegenden Fall dringend geboten und auch nicht unverhältnismäßig.
3.5. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG hat das BFA mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Nach Paragraph 50, Absatz eins, FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach Paragraph 50, Absatz 2, FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Artikel 33, Ziffer eins, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974,), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005).
Nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
Unter Zugrundelegung des bisher Ausgeführten (siehe insbesondere die Punkte römisch II.3.1. und römisch II.3.2.) können keine Gründe erkannt werden, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des Paragraph 50, FPG ergeben würde. Die Zulässigkeit der Abschiebung des BF in den Herkunftsstaat Somalia ist gegeben.
3.6. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch VI. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach Paragraph 55, Absatz 2, FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt worden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche die zu Spruchteil A) angeführten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes) ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stützen, die bei den jeweiligen Erwägungen wiedergegeben wurde. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
ECLI:AT:BVWG:2024:W124.2263095.1.00