Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

03.05.2024

Geschäftszahl

W220 2281245-1

Spruch


W220 2281245-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Daniela UNTERER als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 alias römisch 40 , geb. am römisch 40 , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2023, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.04.2024, zu Recht:

A)
Die Beschwerde wird gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 09.09.2022 im Rahmen einer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Zu diesem Antrag wurde der Beschwerdeführer am drauffolgenden Tag vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt, wobei er zu seinem Fluchtgrund angab, dass er Afghanistan verlassen habe, da dort nunmehr die Taliban an der Macht wären und der Beschwerdeführer mit diesen eine Feindschaft habe. Sie würden Geld von ihm fordern und er sei auch von ihnen verletzt worden. Im Falle einer Rückkehr fürchte er den Tod.

Mit Aktenvermerk vom 17.02.2023 hielt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass das Verfahren gemäß Paragraph 24, Absatz eins, Ziffer eins und Absatz 2, AsylG 2005 einzustellen sei, da der Aufenthaltsort des Beschwerdeführers weder bekannt, noch sonst leicht feststellbar sei und eine Entscheidung ohne weitere Einvernahme nicht erfolgen könne. Weiter wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer nach seinem Antrag auf internationalen Schutz die Unterkunft der Betreuungseinrichtung ohne Angabe einer weiteren Anschrift verlassen habe und laut einer ZMR-Abfrage die Abmeldung von der bisherigen Meldeanschrift erfolgt sei, wobei bislang keine aufrechte Meldung im Bundesgebiet bestehe. [Anzumerken bleibt, dass der Beschwerdeführer am 17.02.2023 über eine aufrechte Meldeadresse im Bundesgebiet verfügte]. In der Folge wurde das Verfahren offenbar von Amts wegen fortgesetzt [Ein entsprechender Aktenvermerk ist im beschwerdeseitig geführten Verwaltungsakt jedoch nicht enthalten].

Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 07.09.2023 führte der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe weiter aus, indem er zusammengefasst angab, dass sein Vater vor der ersten Machtübernahme der Taliban ein Kommandant der afghanischen Freiheitskämpfer gewesen sei und nachdem die Regierung wieder die Macht übernommen hätte, in der Landwirtschaft tätig gewesen sei. Mit dem damit verdienten Geld hätten sie ein Geschäft gegründet, in dem sie Militäruniformen verkauft und repariert hätten. Auch der Beschwerdeführer habe dort gearbeitet. In der Folge seien sie von den örtlichen Taliban bedroht und aufgefordert worden, das Geschäft zu schließen. Eines Tages hätten die Taliban den Beschwerdeführer festgenommen und entführt. Sie hätten Geld verlangt. Nach Intervention seines Vaters und einer Information an die Dorfältesten sei er wieder freigelassen worden. Der Beschwerdeführer sei sehr brutal gefoltert worden. Nach diesem Vorfall sei die gesamte Familie nach Kabul übersiedelt, wo sie erneut ein Geschäft zur Wäsche, Reparatur und dem Verkauf von Uniformen eröffnet hätten. Eine Woche nach der Machtübernahme durch die Taliban seien sie in den Iran übersiedelt. Bei der Entführung durch die Taliban sei er am Heimweg von der Arbeit mit dem Motorrad auf der Straße von den Taliban aufgehalten und festgenommen worden. Dabei sei er von drei Taliban attackiert worden, er sei mit dem Gewehrkolben geschlagen und es seien Schüsse abgegeben worden. Er sei in eine Ruine gebracht worden, wo er zwei Wochen festgehalten worden sei und die Taliban seien einmal am Tag zu ihm gekommen und hätten ihn gefoltert. Er hätte unterschreiben müssen, dass er seine Arbeit nie wieder ausführe. Dann habe sein Vater Geld bezahlen müssen. Die Dorfältesten hätten sie dabei unterstützt. Sie seien zum Beschwerdeführer gekommen, um sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen und hätten dann das Geld bezahlt, weshalb der Beschwerdeführer freigelassen worden sei. Auch, als sie bereits in Kabul gewesen seien, hätten sich die Taliban bei der Verwandtschaft des Beschwerdeführers nach ihm erkundigt, wobei er nicht wisse, bei wem genau die Taliban nachgefragt hätten, es sei ein Gerücht gewesen, es sei vielleicht erzählt worden. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde er getötet.

Im Zuge der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Verdienstnachweise der Monate April 2023 bis Juli 2023 vor.

Mit Bescheid vom 04.10.2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 ab (Spruchpunkt römisch eins.), erkannte ihm gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt römisch II.) und erteilte gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt römisch III.).

In der Begründung führte das Bundesamt aus, dass nicht festgestellt werden habe können, dass der Beschwerdeführer und sein Vater ein Geschäft, in dem Militärutensilien hergestellt worden wären, betrieben hätten. Auch die Entführung seiner Person habe der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen können. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Taliban einen derartigen Aufwand betreiben hätten sollen, um den Beschwerdeführer zu entführen, wenn es doch wesentlich einfacher gewesen wäre, den Beschwerdeführer vor seinem Geschäft abzupassen. Auch habe der Beschwerdeführer widersprüchliche Angaben zu seiner Freilassung und der Zahlung des Lösegeldes getätigt. Sein oberflächliches und detailarmes Vorbringen sei teilweise widersprüchlich sowie nicht plausibel und daher als unglaubhaft zu qualifizieren. Außerdem habe der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise drei Jahre lang unbehelligt In Kabul leben können. Auch seine immer noch in Afghanistan lebende Verwandtschaft sei bis dato weder von den Taliban noch von anderen Personen bedroht worden.

Subsidiärer Schutz sei dem Beschwerdeführer aufgrund der derzeit prekären und allgemein schwachen Versorgungslage zuzuerkennen gewesen.

Gegen Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheides wurde im Wege der ausgewiesenen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers am 09.11.2023 fristgerecht Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts erhoben.

Darin wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2018 mit seiner Familie aus seinem Heimatdorf nach Kabul übersiedelt sei und Afghanistan aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021 in den Iran verlassen habe. Der Beschwerdeführer sei von einer Gruppe von Taliban – die ihm aufgelauert hätten – entführt und gefoltert worden. Auch würde der Beschwerdeführer als Mitglied der sozialen Gruppe der Heimkehrer individuell verfolgt. Zudem seien die Länderberichte nicht aktuell, da aus den Medien bekannt sei, dass hunderttausende Afghanen, die nach Pakistan geflüchtet seien, zur Rückkehr gezwungen würden.

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

Am 18.04.2024 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des ausgewiesenen Rechtsvertreters des Beschwerdeführers und eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen und zu seinen persönlichen Lebensumständen befragt wurde.

Im Rahmen der Verhandlung legte der Beschwerdeführer eine Kopie seiner Tazkira [afghanisches Personaldokument] vor.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt die im Spruch angeführten Personalien; seine Identität steht nicht fest. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Der Beschwerdeführer ist verheiratet und hat drei Kinder. Seine Muttersprache ist Dari.

Der Beschwerdeführer stammt aus einem Dorf in der afghanischen Provinz Takhar, wo er geboren und aufgewachsen ist sowie bis zu seiner Ausreise in den Iran ca. im März 2022 lebte. Anschließend reiste er über die Türkei, Griechenland, Albanien, Montenegro, Bosnien, Kroatien, Slowenien, Italien und die Schweiz nach Österreich.

In Afghanistan besuchte der Beschwerdeführer zwölf Jahre lang die Schule, arbeitete anschließend als Bauerbeiter und half seinem Vater in der familieneigenen Landwirtschaft.

Die Ehefrau des Beschwerdeführers, seine zwei Töchter und sein Sohn leben – ebenso wie seine vier Schwestern und drei Brüder – im Iran. Zumindest zwei Onkeln des Beschwerdeführers und deren Familien halten sich nach wie vor in Afghanistan auf. Zu seiner Familie im Iran steht der Beschwerdeführer in regelmäßigem Kontakt.

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen spätestens am 09.09.2022 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Er hält sich seit seiner Antragstellung im September 2022 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2023, Zl. römisch 40 , wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Im Bundesgebiet arbeitete der Beschwerdeführer zwischen 07.02.2023 und 31.12.2023 geringfügig in einem Restaurant in römisch 40 .

Der Beschwerdeführer ist gesund und in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Dem Beschwerdeführer droht in seinem Heimatstaat seitens der Taliban keine Verfolgung. Es ist ihm weder gelungen, glaubhaft zu machen, in einem familieneigenen Geschäft zur Herstellung, Wäsche, Reparatur und/oder dem Verkauf von Uniformen gearbeitet zu haben, noch von den Taliban angehalten, entführt oder gar gefoltert worden zu sein.

1.2.2. Dem Beschwerdeführer drohen bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch sonst nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit konkrete und individuelle physische und/oder psychische Eingriffe erheblicher Intensität in seine persönliche Sphäre aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit und eine solche Gefährdung wurde von ihm auch nicht glaubhaft gemacht.

1.2.3. Der Beschwerdeführer hat Afghanistan vor der Machtübernahme durch die Taliban verlassen, um seiner Familie und sich selbst bessere Zukunftsaussichten zu ermöglichen.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Version 11, vom 10.04.2024, wiedergegeben:

„[…]

3 Politische Lage

Letzte Änderung 2024-04-05 15:33

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 01.06.2023a). Sie bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USIP 17.08.2022; vergleiche VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem „islamischen Recht und den afghanischen Werten“ regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.08.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.06.2023).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.08.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 07.07.2022a; vergleiche REU 07.09.2021a, VOA 19.08.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 08.09.2021; vergleiche DIP 04.01.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 01.06.2023a) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.06.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansäßige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 01.06.2023a). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban „Interims“-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.08.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.08.2022; vergleiche HRW 04.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge „Sittenpolizei“ berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.08.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.08.2021; vergleiche USDOS 12.04.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.09.2021; vergleiche Guardian 20.09.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.06.2023).

Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.06.2023). [...]

Die Regierung der Taliban wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 08.09.2021; vergleiche REU 07.09.2021b, Afghan Bios 18.07.2023).

Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 07.09.2021; vergleiche REU 07.09.2021b, Afghan Bios 16.02.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.02.2021 unterzeichnete (AJ 07.09.2021; vergleiche VOA 29.02.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 07.09.2021b; vergleiche Afghan Bios 07.07.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 07.07.2022b; vergleiche UNSC o. D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vergleiche 8am 05.10.2021, UNGA 28.01.2022).

Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 04.03.2023; vergleiche JF 05.11.2021) als Innenminister (REU 07.09.2021b; vergleiche Afghan Bios 04.03.2023) und Amir KhanMattaqi als Außenminister (REU 07.09.2021b; vergleiche Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vergleiche UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 07.09.2021b; vergleiche Afghan Bios 06.09.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 06.09.2023; vergleiche RFE/RL 29.08.2020).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.08.2022). Diese Dynamik wurde am 23.03.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.08.2022; vergleiche RFE/RL 24.03.2022, UNGA 15.06.2022). Seitdem sind die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von „duellierenden Machtzentren“ zwischen den in Kabul und Kandahar ansäßigen Taliban zu sprechen (USIP 17.08.2022), und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 03.06.2022a).

Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.08.2022).

In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und „die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung“ dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.04.2023; vergleiche BAMF 30.06.2023).

Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wird als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 05.06.2023; vergleiche BAMF 30.06.2023).

Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 05.05.2023; vergleiche VOA 06.05.2023).

Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vergleiche AMU 22.11.2023).

Internationale Anerkennung der Taliban

Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 09.01.2024; vergleiche VOA 10.12.2023), dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.03.2023; vergleiche OI 25.03.2023). Im November 2023 sagte der stellvertretende Taliban-Außenminister, dass derzeit 20 Botschaften in Nachbarländern aktiv wären (TN 29.11.2023), einschließlich der afghanischen Botschaft in Teheran (TN 27.02.2023) und des strategisch wichtigen Generalkonsulats in Istanbul (Afintl 27.02.2023; vergleiche KP 23.02.2023a). Berichten zufolge nahm auch die Türkei im Oktober 2023 einen neuen von den Taliban ernannten Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Ankara auf (Afintl 14.02.2024). Eine Reihe von Ländern verfügt auch weiterhin über offizielle Botschafter in Afghanistan. Dazu gehören China und andere Nachbarländer wie Pakistan, Iran und die meisten zentralasiatischen Republiken, aber auch Russland, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan (AAN/Ruttig 07.12.2023). Aber auch westliche Länder (mit Ausnahme Australiens) haben weder ihre Botschaften in Kabul offiziell geschlossen noch die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen. Vielmehr unterhalten sie kein diplomatisches Personal im Land. Einige Länder haben immer noch amtierende Botschafter oder nachrangige Diplomaten, die nicht in Kabul ansäßig sind, und es gibt auch eine (schrumpfende) Anzahl von Sonderbeauftragten für Afghanistan (im Rang eines Botschafters).

Die meisten westlichen Kontakte mit Taliban-Beamten finden in Katars Hauptstadt Doha statt, wo Diplomaten unterhalb der Botschafterebene ihre Länder bei den Treffen vertreten (AAN/Ruttig 07.12.2023).

Am 24.11.2023 entsandten die Taliban ihren ersten Botschafter in die Volksrepublik China (KP 26.11.2023; vergleiche AMU 25.11.2023). Dieser Schritt folgt auf die Ernennung eines Botschafters Chinas in Afghanistan zwei Monate zuvor, womit China das erste Land ist, das einen Botschafter nach Kabul unter der Taliban-Regierung entsandt hat (AMU 25.11.2023; vergleiche VOA 10.12.2023). Nach Ansicht einiger Analysten sowie ehemaliger Diplomatinnen und Diplomaten bedeutet dieser Schritt die erste offizielle Anerkennung der Taliban-Übergangsregierung durch eine große Nation (VOA 31.1.2024; vergleiche REU 13.09.2023). Nach Angaben des US-Außenministeriums prüfen die USA die Möglichkeit von konsularischem Zugang in Afghanistan. Dies solle keine Anerkennung der Taliban-Regierung bedeuten, sondern dem Aufbau funktionaler Beziehungen dienen, um eigene Ziele besser verfolgen zu können (USDOS 31.10.2023). Ebenso am 24.11.2023 wurde die afghanische Botschaft in Neu-Delhi, die von loyalen Diplomaten der Vor-Taliban-Regierung geleitet wurde, endgültig geschlossen. Einige Tage später erklärten Taliban-Vertreter, dass die Botschaft bald wieder eröffnet und von ihren Diplomaten geleitet werden wird (Wilson 12.12.2023; vergleiche VOA 29.11.2023).

Drogenbekämpfung

Im April 2022 verfügte der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada, dass der Anbau von Mohn, aus dem Opium, die wichtigste Zutat für die Droge Heroin, gewonnen werden kann, streng verboten ist (BBC 06.06.2023).

Die vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im Jahr 2023 durchgeführte Opiumerhebung in Afghanistan ergab, dass der Schlafmohnanbau nach einem von den Taliban-Behörden im April 2022 verhängten Drogenverbot um schätzungsweise 95% zurückgegangen ist (UNODC 11.2023; vergleiche UNGA 01.12.2023), wobei ein anderer Experte den Rückgang des Mohnanbaus zwischen 2022 und 2023 auf 80% schätzt (BBC 06.06.2023). Der Opiumanbau ging in allen Teilen des Landes von 233.000 Hektar auf 10.800 Hektar im Jahr 2023 zurück, was zu einem Rückgang des Opiumangebots von 6.200 Tonnen im Jahr 2022 auf 333 Tonnen im Jahr 2023 führte. Der drastische Rückgang hatte unmittelbare humanitäre Folgen für viele gefährdete Gemeinschaften, die auf das Einkommen aus dem Opiumanbau angewiesen sind. Das Einkommen der Bauern aus dem Verkauf der Opiumernte 2023 an Händler sank um mehr als 92% von geschätzten 1,36 Milliarden Dollar für die Ernte 2022 auf 110 Millionen Dollar im Jahr 2023 (UNODC 11.2023; vergleiche UNGA 01.12.2023). Der weniger rentable Weizenanbau hat den Mohn auf den Feldern verdrängt - und viele Landwirte berichten, dass sie finanziell darunter leiden (BBC 06.06.2023).

Am 30.09.2023 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Taliban eine Reihe von Drogenstrafverfahren, die Strafen für den Anbau, den Verkauf, den Transport, die Herstellung und den Konsum von Mohn, Marihuana und anderen Rauschmitteln vorsehen. Die vorgeschriebenen Freiheitsstrafen reichen von einem Monat bis zu sieben Jahren ohne die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu zahlen (UNGA 01.12.2023).

Anfang 2024 verkündete der amtierende Verteidigungsminister der Taliban, dass im Zuge der Bekämpfung der Drogenproduktion im Jahr 2023 4.472 Tonnen Rauschgift vernichtet, 8.282 an der Produktion und am Schmuggel beteiligte Personen verhaftet und 13.904 Hektar Mohnanbaufläche gerodet wurden. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Armut in den ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinden wieder zum Mohnanbau führen könnte (VOA 03.01.2024). So gab ein Farmer, dessen Feld von den Taliban wegen Mohnanbaus zerstört wurde an, dass er durch Weizenanbau nur einen Bruchteil dessen verdienen würde, was er mit Mohn verdienen könnte (BBC 06.06.2023). [...]

4 Sicherheitslage

Letzte Änderung 2024-04-05 15:33

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.08.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.1.2022, vergleiche UNAMA 27.06.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.01.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.06.2023; vergleiche UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.06.2023).

UNAMA registrierte im Zeitraum 15.08.2021 - 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.06.2023; vergleiche AA 26.06.2023) und vom 20.05.2023 bis 22.10.2023 mindestens 344 zivile Opfer, davon 96 Tote (UNGA 18.09.2023; vergleiche UNGA 01.12.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote, gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.06.2023).

Im Jahr 2023 war ein Rückgang der von ACLED (Armed Conflict Location & Event Data Project) und UCDP (Uppsala Conflict Data Program) erfassten sicherheitsrelevanten Vorfälle zu verzeichnen. Die Zahl der von ACLED bis September 2023 erfassten Ereignisse ging im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2022 um 34,8 % zurück (1.979 gegenüber 689 Ereignissen), während die UCDP-Daten für denselben Zeitraum einen Rückgang um 48,2 % anzeigten (720 gegenüber 347 Ereignissen) (EUAA 12.2023; vergleiche ACLED 17.10.2023). [...]

Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vergleiche UNGA 20.06.2023, UNGA 18.09.2023, UNGA 20.06.2023), wobei diese nach Einschätzung der Vereinten Nationen den Taliban die Kontrolle über ihr Gebiet nicht streitig machen können (UNGA 01.12.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.04.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront (AFF) im Distrikt Salang in der Provinz Parwan, bei der Berichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.06.2023).

Ca. 50 % der sicherheitsrelevanten Vorfälle des Jahres 2023 entfielen auf die Regionen im Norden, Osten und Westen wobei die Provinzen Nangarhar, Kunduz, Herat (UNGA 20.06.2023), Takhar (UNGA 18.9.2023) und Kabul am stärksten betroffen waren (UNGA 01.12.2023).

Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.07.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlich TTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.07.2023).

Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.01.2022; vergleiche UNGA 15.06.2022, UNGA 14.09.2022, UNGA 07.12.2022), so nahmen auch diese im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 07.12.2022; vergleiche UNGA 27.02.2023) und in 2023 wieder ab (UNGA 20.06.2023; vergleiche UNGA 18.09.2023, UNGA 01.12.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.01.2023; vergleiche UNAMA 22.01.2024). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.06.2023).

Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.02.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.01.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 03.02.2023).

4.1 Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung 2024-04-03 14:28

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.06.2023; vergleiche USDOS 20.03.2023), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.08.2021a; vergleiche DW 20.08.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 01.11.2021; vergleiche NYT 29.08.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.08.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.03.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (kann 18.10.2023).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.08.2021; vergleiche BBC 20.08.2021a, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 09.01.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.08.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anm.: jetzt X] verbreitet wurden, und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (kann 18.10.2023).

Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 05.09.2023; vergleiche VOA 25.09.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.09.2023; vergleiche RFE/RL 01.09.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 01.09.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 01.09.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 01.09.2023). [...]

5. Regionen Afghanistans

Letzte Änderung 2024-04-05 15:34

[...] Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 01.02.2024) leben ca. 34,3 (NSIA 4.2022) bis 39,2 Millionen Menschen (CIA 01.02.2024). Es grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 01.02.2024). Seit der beinahe kampflosen Einnahme Kabuls durch die Taliban am 15.08.2021 steht Afghanistan nahezu vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AA 26.06.2023; vergleiche EUAA 12.2023). [...]

5.2 Nord-Afghanistan

Letzte Änderung 2024-04-03 14:29

[...] Im Norden Afghanistans beginnt die zentralasiatische Steppe - grasbewachsene Ebenen, die bis nach Russland reichen. Bis zur Fertigstellung des Salang-Tunnels Mitte der 1960er-Jahre war diese Region durch den Hindukusch vom übrigen Afghanistan relativ isoliert. Mazar-e Sharif ist die größte Stadt in Nord-Afghanistan. In der Region leben u. a. viele Usbeken, Tadschiken und Turkmenen (NPS o. D.b).

Provinz

Provinzhauptstadt

Bevölkerungszahl*

Badakhshan

Fayz Abad

1,091.760

Baghlan

Pul-i-Khumri

1,053.200

Balkh

Mazar-e Sharif

1,578.510

Faryab

Maimana

1,150.150

Jawzjan

Sheberghan

625.070

Nuristan

Paroon

169.580

Kunduz

Kunduz

1,184.020

Samangan

Aybak

446.100

Panjsher

Bazarak

175.910

Sar-e Pul

Sar-e Pul

643.530

Takhar

Taluqan (Taloqan)

1,133.57

Quelle: NSIA 4.2022 *geschätzte Bevölkerungszahl 2022-23

Distrikte nach Provinz (NSIA 4.2022)

Badakhshan: Arghanj Khwah, Argo, Baharak, Darayim, Darwaz-e-Bala (Nesay), Darwaz-e-Payin (Mamay), Eshkashim, Faiz Abad, Jurm, Kishm, Khash, Khwahan, Kufab, Kohistan, Kiran wa Menjan, Raghistan, Shar-e-Buzorg, Shignan, Shiki, Shuhada, Tagab, Tashkan, Wakhan, Warduj, Yaftal-e-Sufla, Yamgan (Girwan), Yawan, Zebak

Baghlan: Andarab, Baghlan-e-Jadeed (auch Baghlan-e-Markazi), Burka, Dahana-e-Ghuri, Deh Salah, Dushi, Firing Wa Gharu, Gozargah-e-Noor, Khinjan, Khost Wa Firing, Khwaja hejran (Jalga), Nahreen, Pul-e-Hisar, Pul-i-Khumri, Tala Wa Barfak

Balkh: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa, Zari

Faryab: Almar, Andkhoy, Bilchiragh, Dawlat Abad, Gurziwan, Khani Charbagh, Khwaja Sabz Posh-i Wali, Kohistan, Maimana, Pashtun Kot, Qaram Qul, Qaisar, Qurghan, Shirin Tagab

Jawzjan: Aqchah, Darzab, Faizabad, Khamyab, Khanaqa, Khwaja Dukoh, Mardyan, Mingajik, Qarqin, Qush Tepa, Sheberghan

Kunduz: Ali Abad, Chahar Darah (Chardarah), Dasht-e-Archi, (Hazrati) Imam Sahib, Khan Abad, Kunduz, Qala-e-Zal sowie die temporären Distrikte Aqtash, Calbad (Gulbad) und Gultipa

Nuristan: Bargi Matal, Duab, Kamdesh, Mandol, Noor Gram, Paroon, Wama, Waygal

Panjsher: Bazarak, Darah (auch Hes-e-Duwumi), Hissa-e-Awal (auch Khinj), Unaba (auch Anawa), Paryan, Rukha und Shutul sowie der temporäre Distrikt Ab Shar

Samangan: Aybak, Dara-e-Soof-e-Payin [Unter-Dara-e-Soof], Dara-e-Soof-e-Bala [Ober-Darae-Soof], Feroz Nakhcheer, Hazrat-e-Sultan, Khuram Wa Sarbagh, Rui-Do-Ab

Sar-e Pul: Balkhab, Gosfandi, Kohistanat, Sancharak, Sar-e Pul, Sayyad, Sozma Qala

Takhar: Baharak, Bangi, Chahab, Chal, Darqad, Dasht-e-Qala, Eshkamesh, Farkhar, Hazar Sumuch, Kalafgan, Khwaja Bahawuddin, Khwaja Ghar, Namak Ab, Rustaq, Taluqan (Taloqan), Warsaj, Yangi Qala [...]

5.2.1. Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen

Letzte Änderung 2024-04-05 15:34

2023

Weiterhin werden viele Personen aus Panjsher dem Widerstand zugeordnet und sehen sich in Kabul und anderen Landesteilen einer fortgesetzten Verfolgung bzw. Diskriminierung durch Sicherheitskräfte ausgesetzt (AA 26.06.2023).

Am 08.02.2023 wurde ein Bombenanschlag auf eine Moschee in Faryab verübt. Niemand hat sich zu dem Anschlag bekannt (ATN 08.02.2023; vergleiche Afintl 08.02.2023).

Am 23.02.2023 wurde eine Explosion in Taluqan, dem Zentrum von Takhar, gemeldet (KP 23.02.2023b; vergleiche Crisis 24 23.02.2023). In der darauffolgenden Woche führte die National Resistance Front (NRF) laut einer Pressemitteilung vom 28.02.2023 einen Angriff auf das TalibanHauptquartier in Takhar durch (8am 28.02.2023; vergleiche BAMF 30.06.2023).

In Mazar-e Sharif kam es am 07.03.2023 zu einem Schusswechsel zwischen unbekannten Bewaffneten und den Taliban. Dabei wurden insgesamt acht Menschen getötet und zwei weitere verletzt (BAMF 30.06.2023; vergleiche kann 08.03.2023).

Am 09.03.2023 wurde der Taliban-Gouverneur von Balkh bei einem Selbstmordattentat getötet, zu dem sich die Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte. Er hatte in seiner vorherigen Funktion als Gouverneur der östlichen Provinz Nangarhar den Kampf gegen den ISKP angeführt (BBC 09.03.2023; vergleiche Guardian 09.03.2023).

Am 11.03.2023 explodierte während einer Preisverleihung für Journalisten in Mazar-e Sharif eine Bombe, wobei mindestens eine Person getötet und acht verletzt wurden (AP 11.03.2023; vergleiche VOA 11.03.2023), während eine andere Quelle von mindestens zwei toten Journalisten und einem toten Sicherheitsbeamten sprach (RSF 14.03.2023). Einige Tage später übernahm der ISKP die Verantwortung für den Bombenanschlag (AJ 12.03.2023; vergleiche RSF 14.03.2023).

Lokalen Quellen zufolge wurden am 16.03.2023 acht Taliban-Kämpfer und zwei Mitglieder der NRF bei Zusammenstößen zwischen den beiden Gruppen in Baghlan getötet (8am 15.03.2023; vergleiche Afintl 15.03.2023).

Am 27.03.2023 wurden nach Angaben der Taliban, bei einer nächtlichen Razzia in Balkh drei hochrangige ISKP-Mitglieder getötet (kann 27.03.2023; vergleiche ExT 27.03.2023).

Am 11.04.2023 wurden mindestens sechs Personen, darunter zwei Kommandanten, von den Taliban bei Kämpfen mit der Afghanistan Freedom Front (AFF) in Parwan getötet (kann 12.04.2023; vergleiche 8am 14.04.2023). Die Taliban hinderten die Menschen gewaltsam daran, an ihren Beerdigungen teilzunehmen. Berichten zufolge wurden in der Provinz etwa 100 Personen festgenommen. In Parwan, Panjsher sowie in anderen Provinzen wurden in weiterer Folge Hausdurchsuchungen durchgeführt (8am 14.04.2023; vergleiche kann 14.04.2023).

Am 07.05.2023 kam es zu Zusammenstößen zwischen den Taliban und den NRF in Baghlan (kann 09.05.2023; vergleiche 8am 07.05.2023).

Bei einer Explosion in der Nähe einer Moschee in Badakhshan am 08.06.2023 wurden mindestens elf Menschen getötet und mehr als 30 weitere verletzt. Die Explosion ereignete sich bei einer Gedenkfeier für den stellvertretenden Taliban-Gouverneur der Provinz, der Anfang der Woche bei einem Anschlag ums Leben gekommen war (AJ 08.06.2023; vergleiche BBC 08.06.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (kann 10.06.2023).

Im Juli 2023 tötete die NRF nach eigenen Angaben zwei Talibankämpfer in Baghlan und verletzte zwei weitere schwer (Afintl 18.07.2023; vergleiche kann 18.07.2023).

Mitte Juli 2023 wurde berichtet, dass Talibankämpfer Dutzende von Familien aus ihren Häusern in Panjsher vertrieben hätten (kann 12.07.2023).

Am 08.08.2023 wurde berichtet, dass die NRF nach eigenen Angaben bis zu drei Taliban-Kämpfer in Badakhshan getötet hätten. Die Taliban haben die Behauptung nicht kommentiert (kann 08.08.2023; vergleiche Afintl 08.08.2023a). Im Monat zuvor hatten die NRF nach eigenen Angaben in Kapisa, Nuristan und Baghlan mindestens zehn Taliban-Kämpfer getötet und sieben weitere verwundet (KaN 08.08.2023).

Am 08.08.2023 wurde berichtet, dass in Sar-e Pul ein Kommandeur der ehemaligen Armee von Unbekannten erschossen wurde. Er war nach der Machtübernahme der Taliban nach Iran geflohen und kürzlich nach Afghanistan zurückgekehrt (BAMF 31.12.2023; vergleiche Afintl 08.08.2023b).

Durch zwei Minenexplosionen wurden am 25.9.2023 in Faryab zwei junge Schäfer (KP 26.09.2023; vergleiche 8am 25.09.2023) und am 02.10.2023 zwei Kinder in Jawzjan getötet (KP 03.10.2023; vergleiche XIN 02.10.2023).

Am 13.10.2023 kam es zu einer Explosion zum Freitagsgebet in der schiitischen Imam-Zaman Moschee in Pul-e Khumri in Baghlan (Afintl 13.10.2023; vergleiche RFE/RL 14.10.2023). Berichten zufolge sollen bis zu 30 Personen getötet worden sein (BAMF 31.12.2023). Der ISKP bekannte sich zu der Tat (BAMF 31.12.2023; vergleiche RFE/RL 14.10.2023).

Berichten zufolge verhafteten die Taliban am 28.11.2023 45 Studenten der Universität Badakhshan. Sie werden beschuldigt, Mitglieder der transnationalen islamistischen Bewegung Hizbut-Tahrir zu sein und mit dem ISKP zusammengearbeitet zu haben (BAMF 31.12.2023; vergleiche 8am 28.11.2023). [...]

6 Zentrale Akteure

6.1. Taliban

Letzte Änderung 2024-04-05 15:33

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.08.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.08.2022; vergleiche USDOS 20.03.2023). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USDOS 20.03.2023; vergleiche VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.08.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.08.2022; vergleiche Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 07.07.2022a; vergleiche CFR 17.08.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vergleiche Afghan Bios 07.07.2022a, REU 07.09.2021a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban, sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln (EUAA 8.2022; vergleiche NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vergleiche DW 11.10.2021), und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vergleiche REU 10.09.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vergleiche DW 11.10.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre.

Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o. D.c; vergleiche FR24 21.08.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o. D.c; vergleiche ASP 01.09.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o. D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und „sunnitisch-islamische Deobandi“-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023).

Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o. D.c, vergleiche VOA 04.08.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.08.2021; vergleiche UNSC o. D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.08.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vergleiche FR24 21.08.2021).

Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.08.2022; vergleiche UNSC 26.05.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.05.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.08.2022; vergleiche DT 07.05.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.05.2022). [...]

6.2. Anti-Taliban-Widerstandsgruppen / politische Opposition

Letzte Änderung 2024-04-05 15:37

Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 26.06.2023; vergleiche TN 16.08.2023, FH 09.03.2023). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland (AA 26.06.2023). Der Kampf gegen die Taliban ist unter ehemaligen afghanischen Amtsträgern zu einem umstrittenen Thema geworden, auch wenn die politische Opposition gegen das Machtmonopol der Taliban und ihre extremistische Politik stärker geworden ist (VOA 06.12.2023). Auch wenn die politische Opposition im Ausland als zersplittert gilt, wurde diese jedoch aktiver und fordert die Taliban in innen- und außenpolitischen Fragen heraus (UNGA 01.12.2023). Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt (AA 26.06.2023). Karzai und auch der andere ehemalige Präsident, Ashraf Ghani, haben sich beide gegen einen Sturz der Taliban durch Krieg ausgesprochen und plädieren stattdessen für eine friedliche Lösung (VOA 06.12.2023). Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 26.06.2023). Abdul Hakim Sharai, amtierender Justizminister der Taliban, untersagte am 16.08.2023 auf einer Pressekonferenz jegliche politische Betätigung von Parteien im Land. Er sagte, dass die Existenz politischer Parteien im Land weder auf der Scharia basiere, noch für die Nation von Vorteil sei (BAMF 31.12.2023; vergleiche TN 16.08.2023).

In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen (EUAA 12.2023). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (EUAA 12.2023; vergleiche FP 14.12.2023, VOA 28.04.2022). Obwohl das Taliban-Regime international geächtet und für seine frauenfeindliche Politik verurteilt wird, hat bisher kein Land die Unterstützung für einen Krieg gegen die Taliban angeboten, und auch die Vereinigten Staaten, die die Taliban 20 Jahre lang bekämpft haben, haben davon abgesehen, die Anti-Taliban-Aufständischen zu unterstützen. Die Taliban haben den bewaffneten Aufstand heruntergespielt (VOA 06.12.2023), und auch internationale Experten gehen nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (EUAA 12.2023; vergleiche AA 26.06.2023, UNGA 01.12.2023). Ein Experte gab an, dass die Aufständischen zumindest in naher Zukunft nicht über genügend Kräfte verfügen, um die Taliban zu stürzen, aber sie scheinen das islamistische Regime vor politische und ordnungspolitische Herausforderungen zu stellen. Auch haben viele Länder, obwohl sie keine der Kriegsparteien in Afghanistan unterstützen, die Anführer der aufständischen Anti-Taliban-Gruppen und andere afghanische Politiker, die gegen die Taliban sind, eingeladen. Die Taliban haben öffentlich ihre Frustration gegenüber Ländern geäußert, die ihre Gegner empfangen, während die meisten Taliban-Führer aufgrund von Sanktionen der Vereinten Nationen nicht reisen können (VOA 06.12.2023).

Im Jahr 2023 ging die Zahl der Angriffe der bewaffneten Opposition und der bewaffneten Zusammenstöße mit den Taliban-Behörden im Vergleich zum Vorjahr zurück (UNGA 01.12.2023; vergleiche UNGA 20.06.2023). UNAMA verzeichnete Angriffe, zu denen sich die drei wichtigsten in Afghanistan tätigen bewaffneten Widerstandsgruppen bekannten. Die National Resistance Front (NRF), die Afghanistan Freedom Front (AFF) und das Afghanistan Liberation Movement (ALM) übernahmen die Verantwortung für Angriffe in acht Provinzen. Die Sicherheitskräfte, die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehen, führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch (UNGA 20.06.2023). [...]

In den ersten drei Monaten des Jahres 2023 operierten die vorgenannten Gruppen in den Provinzen Badakhshan, Balkh, Helmand, Jawzjan, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan, Parwan, Samangan und Takhar. Bis September führten sie Operationen in fünf weiteren Provinzen durch (Baghlan, Ghazni, Kunduz, Laghman und Paktika). Die Zahl der Angriffe stieg von 23 (Jänner-März) auf 57 (Juni-August). Obwohl die militärischen Fähigkeiten dieser Gruppen insgesamt unklar sind, haben die Taliban immer wieder signalisiert, dass sie die von ihnen ausgehende Bedrohung ernst nehmen, indem sie eine große Zahl von Truppen und Militärführern in den nördlichen Provinzen stationiert haben (ACAPS 01.10.2023).

Die AFF war im dritten Quartal 2023 die aktivste Gruppe, auch wenn ihre Angriffe weiterhin von geringem Umfang waren, während die NRF deutlich weniger aktiv war als 2022 und in ihrer traditionellen Hochburg Panjsher keine Angriffe verübte (UNGA 01.12.2023). [...]

6.2.1. National Resistance Front (NRF)

Letzte Änderung 2024-04-05 15:37

Im Panjsher-Tal, rund 145 km von Kabul entfernt (DIP 20.08.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF) (AA 26.06.2023; vergleiche LWJ 06.09.2021, ANI 06.09.2021). Die Gruppierung wird von Ahmed Massoud angeführt (REU 29.09.2023; vergleiche Afintl 20.02.2024).

Die NRF besteht Berichten zufolge aus Zivilisten, ehemaligen ANDSF-Mitarbeitern (SIGAR 30.04.2022; vergleiche RFE/RL 13.05.2022) und ehemaligen Mitgliedern der Regierung sowie politischen Opposition (UNGA 28.01.2022). Die meisten Mitglieder der Gruppe sind ethnische Tadschiken (RFE/RL 19.05.2022; vergleiche AJ 17.10.2022). Die NRF besteht auch aus mehreren regionalen Einheiten, deren Kommandeure loyal zu Massoud sind (VOA 28.04.2022; vergleiche REU 30.11.2022). Unter den Kämpfern sind auch Einheiten der ehemaligen afghanischen Armee (BBC 16.05.2022; vergleiche BAMF 10.2022).

Im Jahr 2022 berichteten Medien von mehreren Angriffen, die vor allem auf Kontrollpunkte und Außenposten der Taliban abzielten und der NRF zugeschrieben wurden (NYT 04.03.2022), wobei von verstärkten Kämpfen im Jänner/Februar (ACLED/APW 4.2022; vergleiche 8am 25.05.2022, 8am 17.01.2022) sowie im Mai 2022 berichtet wurde (RFE/RL 19.05.2022; vergleiche 8am 05.05.2022). Aus dem Panjsher-Tal wurde berichtet, dass Angriffe auf Taliban-Stellungen regelmäßig stattfanden und Dutzende von Menschen, sowohl Taliban-Kämpfer (VOA 14.09.2022; vergleiche Telegraph 12.05.2022) als auch Mitglieder der Widerstandsbewegung, getötet worden waren (VOA 14.09.2022; vergleiche AMU 14.09.2022, AN 18.10.2022). Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 gingen die Kämpfe zwischen NRF und den Taliban weiter. Zusammenstöße gibt es in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.08.2022; vergleiche AJ 14.09.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022), Takhar (8am 14.08.2022; vergleiche AaNe 21.08.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.08.2022; vergleiche KP 21.08.2022, Afintl 12.12.2022), Khost (8am 13.08.2022), Kapisa (AaNe 24.08.2022; vergleiche 8am 21.11.2022) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022a; vergleiche AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).

Auch wenn die Angriffe der NRF im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr abnahmen (UNGA 20.06.2023; vergleiche UNGA 01.12.2023), kam es weiterhin zu Zusammenstößen mit den Taliban. So kam es nach Angaben der NRF zu Kämpfen beispielsweise in Baghlan (Afintl 18.07.2023; vergleiche KaN 18.07.2023), Kabul (Afintl 05.08.2023), Badakhshan (KaN 08.08.2023; vergleiche Afintl 08.08.2023a), Parwan, Kapisa und Nuristan (KaN 08.08.2023). Im November 2023 haben die NRF und die AFF, nach eigenen Erklärungen auf römisch zehn, mindestens 50 Talibankämpfer getötet (VOA 06.12.2023). [...]

6.2.2. Weitere Widerstandsbewegungen

Letzte Änderung 2024-04-04 08:22

Afghanistan Freedom Front (AFF)

Die AFF erklärte ihre Gründung am 11.03.2022 (SIGA 07.04.2022; vergleiche VOA 28.04.2022). Zwar gab die Gruppierung ihre Führungspersönlichkeiten nicht offiziell bekannt, jedoch wird vermutet, dass General Yasin Zia, ein ehemaliger Verteidigungsminister und Generalstabschef, zu den Anführern der Gruppe gehört (VOA 28.04.2022). Eigenen Angaben zufolge zählt die AFF „Tausende Kämpfer“ und ist „in allen 34 Provinzen Afghanistans aktiv“, wobei diese Behauptungen nicht durch andere Quellen belegt werden können. Die Gruppe veröffentliche regelmäßig Videos von Anschlägen, die sie für sich reklamiert, unter anderem in den Provinzen Kapisa, Parwan, Takhar, Baghlan, Sar-e Pul, Badakhshan und Kandahar, wobei auch hier eine unabhängige Überprüfung dieser Behauptungen schwierig ist (SIGA 07.04.2022). Die AFF scheint aus einzelnen Milizen zu bestehen, die sich zu der Front zusammengeschlossen haben (BAMF 10.2022). So wurden im August 2022 Videos von drei Gruppen in den Provinzen Farah (BAMF 10.2022; vergleiche 8am 20.08.2022), Ghor und Faryab gepostet, die ihren Kampf gegen die Taliban als Teil der AFF ankündigten (BAMF 10.2022). Ein Angriff der AFF auf eine Polizeistation in Takhar am 23.03.2022 wurde von den Taliban bestätigt (SIGA 07.04.2022).

Die AFF verübte im August 2023 nach eigenen Angaben einen Angriff auf einen Taliban-Stützpunkt in Parwan, bei dem fünf Taliban-Mitglieder getötet und drei weitere verletzt wurden (KaN 15.08.2023; vergleiche Afintl 15.08.2023). Berichten zufolge wurden bei einem Angriff der AFF in Laghman am 03.09.2023 zwei Taliban getötet und vier weitere verletzt (KaN 03.09.2023). Darauf erfolgte ein Gegenangriff der Taliban gegen die AFF in verschiedenen Regionen des Distriktes Dawlat Shah in Laghman (Afintl 31.08.2023).

Im November haben die NRF und die AFF, nach eigenen Erklärungen auf römisch zehn [Anm.: ehemals Twitter], mindestens 50 Talibankämpfer getötet (VOA 06.12.2023).

Afghanistan Liberation Movement (ALM)

Das Afghanistan Liberation Movement (auch Afghanistan Islamic National and Liberation Movement) (ALM) (CT 28.02.2024) gab seine Gründung Mitte Februar 2022 bekannt. Es wird angenommen, dass es die bislang einzige Anti-Taliban-Bewegung ist, die zum größten Teil aus Paschtunen besteht. Sie wird von Abdul Matin Suleimankhel angeführt, einem Kommandeur der ehemaligen ANA Special Operations Corps (SIGA 07.04.2022; vergleiche VOA 14.09.2022). Mitte März 2022 gab die Gruppierung an, dass sie über „Tausende Kämpfer“ in mehr als zwei Dutzend Provinzen verfügen würde, wobei sich ihre Aktivitäten offenbar hauptsächlich auf die von Paschtunen bewohnten südlichen und östlichen Teile des Landes konzentrieren (Helmand, Kandahar, Paktika und Nangarhar) (SIGA 07.04.2022). Experten zufolge sind die Kapazitäten und Fertigkeiten der Gruppe begrenzter als von ihr behauptet (SIGA 07.04.2022; vergleiche VOA 28.04.2022). Die Gruppierung beansprucht verschiedene Angriffe auf die Taliban in den Jahren 2022 (SIGA 07.04.2022) und 2023 für sich (UNGA 20.06.2023; vergleiche ACAPS 01.10.2023).

Weitere Gruppierungen

Zu den anderen Widerstandsgruppen, die ihre Präsenz angekündigt haben, gehören die Turkestan Freedom Tigers, die Berichten zufolge am 07.02.2022 einen kleinen Angriff auf einen Kontrollpunkt der Taliban in der Nähe der Stadt Sheberghan (Provinz Jawzjan) verübt haben (ISW 13.01.2023), der National Resistance Council (dem angeblich eine Reihe prominenter Anti-Taliban-Persönlichkeiten aus dem Exil wie Ata Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum angehören), die Liberation Front of Afghanistan, die Unknown Soldiers of Hazaristan, die angeblich aus Hazara bestehende Freedom and Democracy Front und eine Gruppe namens Freedom Corps (angeblich in Teilen der Provinz Takhar aktiv) (SIGA 07.04.2022; vergleiche VOA 28.04.2022). Über die Führung und die Fähigkeiten dieser Gruppen ist wenig bekannt (VOA 28.04.2022). Im dritten Quartal 2023 gaben vier weitere Widerstandsgruppen ihre Existenz bekannt - die Afghanistan National Guard Front, die National Mobilization Front, die National Battle Front und die Afghanistan United Front - wobei sich die beiden letztgenannten Gruppen, mit Stand November 2023, zu keinen Anschlägen bekannten (UNGA 01.12.2023). [...]

6.3. Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Letzte Änderung 2024-04-05 15:37

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh) bzw. Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) in Afghanistan gehen auf die Jahre 2014/2015 zurück (AAN 17.11.2014; vergleiche LWJ 05.03.2015, MEE 27.08.2021). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei „Khorasan“ die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst (EB 03.01.2023; vergleiche MEE 27.08.2021). Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.08.2021; vergleiche AAN 01.08.2017).

Während die Taliban bereits in der Vergangenheit behaupteten, sie hätten den Aufstand des ISKP im Land unter Kontrolle gebracht und fast besiegt (AOV 20.03.2022; vergleiche ICCT 30.01.2024), sehen externe Beobachter hingegen diesen häufig auf dem Vormarsch (ICCT 30.01.2024). So bewerten die Vereinten Nationen und das United States Institute of Peace den ISKP aktuell als die schwerwiegendste terroristische Bedrohung in Afghanistan und der gesamten Region (UNSC 25.07.2023; vergleiche USIP 07.06.2023, VOA 06.12.2023). Der ISKP hat schätzungsweise 4.000 bis 6.000 Mitglieder, einschließlich Familienangehörige. Sanaullah Ghafari (alias Shahab al-Muhajir) wird als der Anführer des ISKP angesehen (UNSC 25.07.2023), jedoch wurde im Juni 2023 berichtet, dass Ghafari in Afghanistan getötet worden ist (VOA 09.06.2023; vergleiche UNSC 25.07.2023).

Das „Kerngebiet“ des ISKP bleibt Afghanistan und Pakistan. Obwohl der ISKP zunächst als ein von Pakistan dominiertes Netzwerk auftrat, konzentrierte es sich bald auf Afghanistan. Dort hat es seine Strategie von der Kontrolle des Territoriums auf die Führung eines urbanen Krieges umgestellt. Es stellte eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die frühere afghanische Regierung dar und versucht nun, die Regierungsbemühungen der Taliban zu stören (USIP 07.06.2023). Die Kernzellen des ISKP in Afghanistan befinden sich vor allem in den östlichen Provinzen Kunar, Nangarhar und Nuristan in Afghanistan, wobei eine große Zelle in Kabul und Umgebung aktiv ist.

Kleinere Gruppen wurden in den nördlichen und nordöstlichen Provinzen Badakhshan, Faryab, Jawzjan, Kunduz, Takhar und Balkh entdeckt. Da Balkh eine der wirtschaftlich am weitesten entwickelten Provinzen im Norden ist, ist sie für den ISKP nach wie vor von vorrangigem Interesse in Hinblick auf die Erzielung von Einnahmen (UNSC 13.02.2023).

Die Gruppe geht bei ihren Anschlägen gegen die Taliban und internationale Ziele immer raffinierter vor und konzentriert sich auf die Durchführung einer Strategie mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen, um die Fähigkeit der Taliban zur Gewährleistung der Sicherheit zu untergraben. Insgesamt zeigten die Angriffe des ISKP starke operative Fähigkeiten in den Bereichen Aufklärung, Koordination, Kommunikation, Planung und Ausführung. Darüber hinaus haben die Anschläge gegen hochrangige Taliban-Persönlichkeiten in den Provinzen Balkh, Badakhshan und Baghlan die Moral des ISKP gestärkt und die Rekrutierung gefördert (UNSC 25.07.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (UNGA 01.12.2023; vergleiche HRW 12.01.2023, UNGA 18.09.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

-             19.08.2021 - 31.12.2021: 152 Angriffe in 16 Provinzen (20 Angriffe in 5 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 28.01.2022)

-             01.01.2022 - 21.05.2022: 82 Angriffe in 11 Provinzen (192 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 15.06.2022)

-             22.05.2022 - 16.08.2022: 48 Angriffe in 11 Provinzen (113 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 14.09.2022)

-             17.08.2022 - 13.11.2022: 30 Angriffe in 6 Provinzen (121 Angriffe in 14 Provinzen im Jahr davor (UNGA 7.12.2022)

-             14.11.2022 - 301.01.2023: 16 Angriffe in 4 Provinzen (53 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 27.2.2023)

-             01.02.2023 - 20.05.2023: 11 Angriffe in 5 Provinzen (62 Angriffe in 12 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 20.06.2023)

-             21.05.2023 - 31.07.2023: 5 Angriffe in 3 Provinzen (34 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 18.9.2023)

-             01.08.2023 - 7.11.2023: 8 Angriffe in 3 Provinzen (27 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 01.12.2023)

Seit Mitte 2022 gehen die Angriffe des ISKP zurück (UNGA 07.12.2022), ein Trend, der sich auch im Jahr 2023 fortsetzt (ICCT 30.01.2024; vergleiche UNGA 27.02.2023, UNGA 20.06.2023, UNGA 18.09.2023, UNGA 01.12.2023). Im April und Mai 2023 gab es keinen einzigen bestätigten Anschlag. Von Juni bis September konnte der ISKP nur ein oder zwei Anschläge pro Monat verüben, darunter auch Schüsse auf Taliban-Patrouillen. Ab Oktober kam es zu einem bescheidenen Wiederaufschwung, aber selbst dann gab es nur vier bestätigte Anschläge in diesem Monat, darunter zwei mit Sprengstoff (ICCT 30.01.2024).

Ein Bericht verweist im Zusammenhang mit den abnehmenden Aktivitäten des ISKP einerseits auf erfolgreiche Razzien der Taliban gegen die Gruppierung (ICCT 30.01.2024; vergleiche UNSC 29.01.2024) und andererseits auf fehlende finanzielle Mittel (ICCT 30.01.2024).

Beispiele für Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban

Der ISKP bekannte sich zu Selbstmordanschlägen auf eine sunnitische Moschee in Kabul am 03.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vergleiche REU 04.10.2021) und auf zwei schiitische Moscheen in den Städten Kunduz am 08.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vergleiche TN 09.10.2021) und Kandahar am 15.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vergleiche KP 16.10.2021) sowie zu einem Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul am 02.11.2021 (UNGA 28.01.2022; vergleiche 8am 03.11.2021).

Im April 2022 führte der ISKP Anschläge in einem Erholungsgebiet in Herat (UNGA 15.06.2022) auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif (UNGA 15.06.2022; vergleiche DW 21.04.2022) sowie auf eine Madrassa in Kunduz durch (UNGA 15.06.2022; vergleiche PAN 23.04.2022). Außerdem gab es Angriffe auf zwei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 15.06.2022; vergleiche AJ 28.04.2022) und auf einen Kleinbus in Kabul (UNGA 15.06.2022; vergleiche FR24 01.05.2022).

Am 22.05.2022 kam es zu Anschlägen auf eine Zeremonie zum Jahrestag des Todes von Mullah Akhtar Mohammad Mansour in Kabul und am 25.05.2022 auf drei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 14.09.2022; vergleiche AJ 25.05.2022). Am 18.06.2022 griff der ISKP einen Sikh-Tempel in Kabul an (UNGA 14.09.2022; vergleiche TN 18.06.2022) und am 04.07.2022 einen Bus mit Taliban-Sicherheitskräften in Herat (UNGA 14.09.2022; vergleiche Afintl 05.07.2022).

Im August kam es zu einer Reihe von Angriffen durch den ISKP in Kabul. Am 08.08.2022 beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul mindestens acht Menschen getötet (VOA 05.08.2022; vergleiche REU 05.08.2022). In der Vorwoche führten die Sicherheitskräfte der Taliban eine Razzia gegen eine ISKP-Zelle in der afghanischen Hauptstadt durch, bei der sie vier Kämpfer töteten und einen weiteren bei dem anschließenden Feuergefecht gefangen nahmen. Die Taliban sagten in einer Erklärung nach der Razzia, dass der ISKP „Anschläge auf unsere schiitischen Landsleute während der laufenden Muharram-Rituale“ geplant hatten (VOA 05.08.2022). Am 11.08.2022 wurde ein prominenter afghanischer Geistlicher bei einem Selbstmordanschlag durch den ISKP getötet (BBC 11.08.2022; vergleiche VOA 11.08.2022). Am 18.08.2022 kam es zu einem weiteren Anschlag auf eine Moschee in Kabul, bei dem mindestens 21 Personen getötet und 33 verletzt wurden. Auch hier war ein prominenter afghanischer Geistlicher unter den Opfern (AP 18.08.2022; vergleiche BBC 18.08.2022).

Des Weiteren beansprucht der ISKP einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul am 05.09.2022 für sich (UNGA 07.12.2022; vergleiche KP 06.09.2022). Zu Angriffen auf Sicherheitskräfte der Taliban, bei denen auch Zivilisten getötet wurden, kam es am 10.10.2022 in Laghman (UNGA 07.12.2022; vergleiche Afintl 11.10.2022b) und am 27.10.2022 in Herat (UNGA 07.12.2022; vergleiche 8am 27.10.2022).

Am 22.10.2022 haben die Taliban eine Zelle des ISKP in Kabul ausgehoben, dabei gab es mehrere Explosionen und Schusswechsel. Sechs Mitglieder des ISKP wurden dabei getötet. Nach Angaben der Taliban waren sie in die Anschläge auf die Wazir Akbar Khan Moschee und die Bildungseinrichtung im September beteiligt (REU 22.10.2022; vergleiche VOA 22.10.2022).

Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 01.01.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 01.01.2023; vergleiche RFE/RL 01.01.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff der ISKP verantwortlich. Am 05.01.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 05.01.2023; vergleiche AJ 05.01.2023).

Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Außenministerium am 27.03.2023 in Kabul mindestens sechs Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt (VOA 27.03.2023; vergleiche AJ 27.03.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (VOA 27.03.2023). Am 13.10.2023 kam es zu einer Explosion zum Freitagsgebet in der schiitischen Imam Zaman Moschee in der Hauptstadt Pul-e Khumri in Baghlan (Afintl 13.10.2023; vergleiche RFE/RL 14.10.2023). Berichten zufolge sollen bis zu 30 Personen getötet worden sein (BAMF 31.12.2023). Der Islamische Staat bekannte sich zu der Tat (BAMF 31.12.2023; vergleiche RFE/RL 14.10.2023).

Am 26.10.2023 kam es zu einem Bombenanschlag auf einen Sportklub im vornehmlich von Hazara besiedelten Distrikt Dasht-e Barchi. Dabei sollen mehrere Personen getötet und verletzt worden sein. Der Islamische Staat bekannte sich zu der Tat (FR24 27.10.2023; vergleiche VOA 28.10.2023, UNGA 01.12.2023). [...]

6.4. Al-Qaida und weitere bewaffnete Gruppierungen

Letzte Änderung 2024-04-05 15:33

Al-Qaida

Es gibt Berichte über Spannungen zwischen Taliban und hochrangigen al-Qaida-Mitgliedern, die sich über Kontrollversuche ärgern, aber die Beziehungen sind nach wie vor eng (UNSC 29.01.2024), wobei al-Qaida das von den Taliban verwaltete Afghanistan als sicheren Hafen betrachtet. Al-Qaida ist nach wie vor bestrebt, ihre Position in Afghanistan zu stärken, und interagiert mit den Taliban, indem sie das Regime unterstützt und hochrangige Taliban-Persönlichkeiten schützt (UNSC 01.06.2023b). Am 01.08.2022 gab der US-Präsident bekannt, dass der Anführer von al-Qaida, Ayman Mohammed Rabie al-Zawahiri, bei einem Drohnenangriff in der Innenstadt von Kabul getötet wurde (BBC 02.08.2022; vergleiche VOA 02.08.2022). Berichten zufolge befindet sich der neue de facto Anführer von al-Qaida, Saif al-Adel mit Stand Februar 2024 in Iran (IRINTL 08.03.2024; vergleiche KP 27.02.2024). Die Taliban-Führung gab an, sie habe keine Informationen darüber, dass al-Zawahiri nach Kabul gezogen sei und sich dort aufgehalten habe, während er sich nach Angaben von US-Beamten in einer Wohnung von Sirajuddin Haqqani [Anm.: dem Innenminister der Taliban-Übergangsregierung] aufhielt (FR24 04.08.2022; vergleiche Guardian 05.08.2022).

Die Zahl der al-Qaida-Kernmitglieder in Afghanistan blieb mit 30 bis 60 stabil, wobei es sich hauptsächlich um hochrangige Persönlichkeiten in Kabul, Kandahar, Helmand und Kunar handelte. Die Anzahl der Kämpfer (ca. 400), deren Familienmitglieder und Unterstützer werden auf ca. 2.000 geschätzt, die im Süden (Provinzen Helmand, Zabul und Kandahar), im Zentrum (Ghazni, Kabul und Parwan) und im Osten (Kunar, Nangarhar und Nuristan) Afghanistans operieren (UNSC 01.06.2023b).

Berichten zufolge hält sich „al-Qaeda in the Indian Subcontinent“ (AQIS), eine der Kernorganisation von al-Qaida untergeordnete Organisation, auch innerhalb Afghanistans auf (UNSC 26.05.2022), wobei die Anzahl ihrer Kämpfer auf ca. 180 bis 400 geschätzt wird (UNSC 01.06.2023a; vergleiche CRS 19.04.2022), die in den Provinzen Kandahar, Nimroz, Farah, Helmand und Herat stationiert sein sollen. Ihr Anführer Osama Mahmood und sein Stellvertreter Atif Yahya Ghouri sollen sich beide in Afghanistan aufhalten (UNSC 01.06.2023a). Einem Report des UN-Sicherheitsrates zufolge unterstützt AQIS die Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP) bei Operationen und arbeitet an der Verbesserung von deren Fähigkeiten (UNSC 29.01.2024).

Laut einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Jänner 2024 hat al-Qaida in Afghanistan bis zu acht neue Ausbildungslager eingerichtet, darunter vier in den Provinzen Ghazni, Laghman, Parwan und Uruzgan, sowie einen neuen Stützpunkt zur Lagerung von Waffen im Panjsher-Tal. Einige Lager könnten vorübergehend sein. Fünf al-Qaida-Madrasas operieren dem Bericht zufolge in den Provinzen Laghman, Kunar, Nangarhar, Nuristan und Parwan; die Gruppe unterhält sichere Unterkünfte in den Provinzen Herat, Farah und Helmand, um den Verkehr zwischen Afghanistan und der Islamischen Republik Iran zu erleichtern, sowie weitere sichere Unterkünfte in Kabul (UNSC 29.01.2024).

Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP)

Die TTP, auch bekannt als pakistanische Taliban, ist eine militante Gruppe, deren Ziele sich gegen die pakistanische Regierung richten. Sie hat sich jedoch auch in der Vergangenheit mit den afghanischen Taliban an Operationen gegen die afghanische Regierung in Afghanistan beteiligt (CRS 19.04.2022) und wird einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Jänner 2024 zufolge von al-Qaida unterstützt (UNSC 29.01.2024). Die Vereinten Nationen schätzten im Mai 2022, dass die Gruppe über 3.000 bis 4.000 bewaffnete Kämpfer in den afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten verfügt (UNSC 01.06.2023a), während ein unabhängiger afghanischer Analyst im Jahr 2022 schätzte, dass die TTP rund 10.000 Mitglieder in Afghanistan hat (EUAA 8.2022). Die Gruppe operiert von Stützpunkten in Afghanistan aus (UNSC 29.01.2024) und ist vor allem in den östlichen Provinzen Nangarhar, Kunar, Logar, Paktika, Paktia und Khost stationiert, wobei ihre Anführer, Mufti Noor Wali Mehsud, und sein Stellvertreter, Qari Amjad Ali, nach Informationen der Vereinten Nationen vom Juni 2023 in den Provinzen Paktika bzw. Kunar aufhältig sind (UNSC 01.06.2023a). TTP ist zunehmend in Pakistan präsent; im Jahr 2021 eskalierte sie ihre Angriffe gegen pakistanische Sicherheitskräfte und chinesische Einrichtungen in Pakistan. Nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan erneuerte der TTP-Führer Noor Wali Mehsud öffentlich sein Treuegelöbnis gegenüber dem obersten Führer der afghanischen Taliban. Darüber hinaus signalisierte al-Qaida, dass sie weiterhin mit der TTP zusammenarbeitet (CRS 19.04.2022). Nach dem Treuegelöbnis der Gruppe konnte man nach Angaben eines unabhängigen afghanischen Analysten beobachten, dass sich die TTP-Mitglieder in den afghanischen Großstädten „frei bewegen“ konnten, im Gegensatz zur Situation vor der Machtübernahme, als die TTP Zufluchtsorte in abgelegenen Gebieten hatte (EUAA 8.2022). Auch ein weiterer Experte stellte fest, dass die Rückkehr der afghanischen Taliban die Macht die Gruppierung gestärkt hat. Nachdem die afghanischen Taliban Hunderte von TTP-Mitgliedern aus den Gefängnissen in Kabul freigelassen hatten (CEIP 21.12.2021), startete die TTP zahlreiche Anschläge und Operationen in Pakistan (UNSC 26.05.2022). Mitte Februar 2022 griff das pakistanische Militär mit Artillerie TTP-Stellungen in den Distrikten Naray und Sarkano (Provinz Kunar) an, nachdem TTP-Mitglieder pakistanische Grenzposten angegriffen hatten. Nach den pakistanischen Angriffen schickte die Taliban-Regierung Berichten zufolge Verstärkung in das Gebiet (ISW 13.01.2023). Anfang Juni 2022 kündigte die TTP nach geheimen Gesprächen zwischen TTP- und pakistanischen Militärvertretern einen Waffenstillstand mit Pakistan für die Dauer von drei Monaten an. Diese Gespräche waren von den afghanischen Taliban vermittelt worden (USIP 21.06.2022). Neben der Lieferung von Waffen und Ausrüstung unterstützten Taliban-Kader, al-Qaida und AQIS-Kämpfer die TTP-Kräfte bei grenzüberschreitenden Angriffen. Obwohl die Taliban die TTP-Kämpfer angewiesen haben, sich nicht an Operationen außerhalb Afghanistans zu beteiligen, haben viele von ihnen dies ohne erkennbare Folgen getan. Einige Taliban-Mitglieder schlossen sich auch der TTP an, da sie sich aus religiösen Gründen verpflichtet sahen, diese zu unterstützen (UNSC 29.01.2024).

Eastern (oder East) Turkistan Islamic Movement (ETIM)

Das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM), auch bekannt als „Turkistan Islamic Party“ (TIP), strebt die Schaffung eines unabhängigen islamischen Staates für die turksprachigen Uiguren an, die im Westen Chinas leben (CRS 19.04.2022). Laut einem Bericht der Vereinten Nationen ist die ETIM weiterhin in Afghanistan aktiv und die Schätzungen zur Größe der Gruppe reichen von 300 bis zu 1.200 Mitgliedern (UNSC 01.06.2023a). Nach der Machtübernahme durch die Taliban wurden Berichten zufolge einige ETIM-Mitglieder aus der Provinz Badakhshan in Provinzen verlegt, die weiter von der chinesischen Grenze entfernt sind (UNSC 26.05.2022; vergleiche RFE/RL 05.10.2021), unter anderem in die Provinz Nangarhar (RFE/RL 05.10.2021), als Teil der Versuche der Taliban, einerseits die Gruppe zu schützen und andererseits ihre Aktivitäten einzuschränken (UNSC 26.05.2022). Im Jahr 2023 wird berichtet, dass die ETIM weiterhin Waffen erwirbt und neue Stützpunkte in Afghanistan errichtet. Einige ETIM-Mitglieder sollen im Jahr 2022 afghanische Pässe und Tazkira erhalten haben, die ihnen die Infiltration in Nachbarländer ermöglichen. Die Gruppe hat ihren Aktionsradius aktiv ausgeweitet und in der Provinz Baghlan Operationsbasen und Waffenlager errichtet, während sie in den Provinzen Badakhshan, Takhar, Kunduz, Baghlan, Logar und Sar-e Pul weiterhin präsent bleibt. ETIM-Kämpfer unterstützen die Taliban im Kampf gegen Anti-Taliban-Elemente (UNSC 01.06.2023a).

Nach dem Umzug aus der Provinz Badakhshan hat die ETIM/TIP nun ihren Hauptsitz in der Provinz Baghlan und verfügt über operative Netzwerke, die sich auf mehrere Provinzen erstrecken. Die Gruppe konzentriert sich auf die Ausbildung von Jugendlichen in Reservekräften und verstärkt die Rekrutierung und Ausbildung von Frauen. Es wird über Zusammenarbeit der Gruppierung mit der TTP sowie al-Qaida berichtet und einige Mitglieder sollen zum ISKP übergelaufen sein (UNSC 29.01.2024).

Jamaat Ansarullah (JA)

Jamaat Ansarullah ist eine Gruppe, die eng mit al-Qaida verbunden ist und eine symbiotische Beziehung zu den Taliban unterhält. Sie kämpfte an der Seite von deren Spezialeinheiten in zahlreichen Offensiven gegen die Nationale Widerstandsfront, unter anderem im Oktober 2022 in der Provinz Badakhshan. Die Gruppe verfügt über etwa 100 bis 250 Kämpfer, die sich hauptsächlich in den Provinzen Badakhshan, Kunduz und Takhar aufhalten und unter dem Kommando ihres neuen Anführers Asliddin Khairiddinovich Davlatov (alias Mawlawi Ibrahim) stehen. Die Taliban setzten JA-Kämpfer in Badakhshan ein, die von Mohammad Sharifov (alias Mahdi Arsalon), einem tadschikischen Staatsangehörigen, angeführt werden. Es wurde berichtet, dass dieser im September 2022 in Kabul getötet wurde und dass die Taliban dem Anführer der JA und 30 ihrer Kämpfer afghanische Pässe ausgestellt hätten (UNSC 26.05.2022). Der UN-Sicherheitsrat berichtet im Jänner 2024, dass die Finanzierung der Jamaat Ansarullah von den Taliban und al-Qaida stammt. JA-Kämpfer sind die Haupttruppe von Lashkar-e Mansoori, dem Taliban-Spezialbataillon der Selbstmordattentäter. Kürzlich sollen sich mehrere JA-Befehlshaber in den Provinzen Nangarhar und Kunar den Reihen des ISKP angeschlossen haben (UNSC 29.01.2024).

Weitere Gruppierungen

Das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) verfügt über 150 bis 550 Kämpfer, die von dem neuen Emir Mamasoli Samatov (alias Abu Ali), einem usbekischen Staatsangehörigen, angeführt werden. Khatiba Imam al-Bukhari hat etwa 80 bis 100 Kämpfer unter der Führung von Dilshod Dekhanov in den Provinzen Badghis, Badakhshan, Faryab und Jawzjan, während die Gruppe Islamischer Dschihad unter der Führung von Ilimbek Mamatov in Badakhshan, Baghlan, Kunduz und Takhar mit etwa 200 bis 250 Mitgliedern vertreten ist. Die Vereinten Nationen bewerteten sowohl Khatiba Imam al-Bukhari als auch die Islamische Dschihad-Gruppe als den Taliban untergeordnet. Die im Juni 2022 gegründeten Tehrik-e-Taliban-Tadschikistan, deren Ziel es ist, die Scharia in Tadschikistan einzuführen und gleichzeitig die säkulare Regierung Tadschikistans zu stürzen, verfügt über rund 140 Kämpfer, die sich aus tadschikischen Staatsangehörigen und afghanischen Tadschiken zusammensetzen und in den nördlichen Provinzen Afghanistans stationiert sind. Die Vereinten Nationen berichten, die Gruppe arbeite unter der JA (UNSC 01.06.2023a). [...]

7. Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung 2024-04-10 20:17

Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (Hakimi A./Sadat M. 2020). Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren (FH 24.02.2022a; vergleiche STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Nach 23 Jahren Krieg (1978-2001) und dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 konnte Afghanistan 2004 eine neue Verfassung verkünden, die sowohl islamische als auch modern-progressive Werte enthält. Die juristischen und politikwissenschaftlichen Fakultäten sowie die Scharia waren zwei Institutionen, die zur Ausbildung des Justizpersonals beitrugen, indem sie Hunderte von jungen Männern und Frauen ausbildeten, die später als Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tätig waren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die internationale Gemeinschaft zahlreiche Entwicklungsprogramme durchgeführt, die auf den Wiederaufbau des afghanischen Rechtssystems und den Ausbau der Kapazitäten des Personals der Justizbehörden abzielen. Darüber hinaus hat die [Anm.: frühere] afghanische Regierung ein Justizverwaltungssystem eingeführt, das alle Justizeinrichtungen dazu verpflichtet, ihre Fälle und Verfahren aufzuzeichnen und zu dokumentieren (STDOK/Nassery 4.2024).

Nach ihrem Sturz im Jahr 2001 gelang es den Taliban, in den von ihnen kontrollierten, meisten ländlichen, Gebieten Gerichte einzurichten und den Menschen den Zugang zur Rechtsprechung auf lokaler Ebene zu erleichtern. Dies geschah zu einer Zeit, als die staatlichen Justizorgane aufgrund der weitverbreiteten Korruption ihre Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung weitgehend verloren hatten. Daher zogen die Menschen es vor, sich an die Gerichte der Taliban zu wenden, anstatt an die Gerichte der Regierung (STDOK/Nassery 4.2024; vergleiche AA 22.10.2021). In den vergangenen zwanzig Jahren gelang es dem Justizsystem der Taliban, mit seinen praktischen Maßnahmen das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Die Taliban-Richter fungierten sowohl als Richter im juristischen Bereich als auch als Gelehrte (ulama) im religiösen Bereich. Die Taliban-Richter absolvierten ihre Ausbildung an Deobandi-Schulen in Pakistan und Afghanistan, die sich hauptsächlich auf die hanafitische Rechtsprechung stützten (STDOK/Nassery 4.2024).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 übernahmen sie die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes (Rawadari 04.06.2023; vergleiche AA 26.06.2023) und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft (UNGA 28.01.2022). Bisher haben sich die Taliban noch nicht zu den Gesetzen geäußert, insbesondere nicht zu den Strafgesetzen, zur nationalen Sicherheit und zu den Gerichten (STDOK/Nassery 4.2024). Ein Experte für islamisches Recht schließt aus den Äußerungen der Taliban, dass sie diese Gesetze und Rechtsvorschriften in den meisten Bereichen, insbesondere Strafrecht, Familienrecht, Jugend- und Frauenrechte, ignorieren, und erwartet, auch als Folge der Auflösung unabhängiger Institutionen wie der Association of Defense Lawyers und der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC), weitere schwerwiegende Probleme für die Rechtsprechung in Afghanistan (STDOK/Nassery 4.2024).

Den Taliban zufolge bildet die hanafitische Rechtsprechung die Grundlage für das Rechtssystem (USDOS 15.05.2023; vergleiche STDOK/Nassery 4.2024), und derzeit verfügt das Land nicht über einen klaren und kohärenten Rechtsrahmen, ein Justizsystem oder Durchsetzungsmechanismen. Den Taliban zufolge bleiben Gesetze, die unter der Regierung vor August 2021 erlassen wurden, in Kraft, sofern sie nicht gegen die Scharia verstoßen (USDOS 15.05.2023; vergleiche AA 26.06.2023). Die Taliban-Führer zwingen den Bürgern ihre Politik weitgehend durch Leitlinien oder Empfehlungen auf, in denen sie akzeptable Verhaltensweisen festlegen (USDOS 15.05.2023; vergleiche Rawadari 04.06.2023), die sie aufgrund ihrer Auslegung der Scharia und der vorherrschenden kulturellen Normen, die die Taliban für akzeptabel halten, rechtfertigen (USDOS 15.05.2023).

Einem Experten für islamisches Recht zufolge betrafen die Änderungen im afghanischen Justizsystem seit der Machtübernahme der Taliban vor allem formale und administrative Bereiche, aber keine konkreten Änderungen in der Rechtsprechung der Gerichte (STDOK/Nassery 4.2024). So wurden beispielsweise Richter und Verwaltungsangestellte der Gerichte durch Angehörige der Taliban ersetzt, von denen die meisten nicht über ausreichend juristische Kenntnisse und Erfahrungen mit der Arbeit an den Gerichten verfügten (STDOK/Nassery 4.2024; vergleiche AA 26.06.2023). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Rawadari sind die meisten Richter und „Muftis“ an Taliban-Gerichten Studenten oder Absolventen religiöser Koranschulen, vor allem in Pakistan. Einige der derzeitigen Richter waren während des Krieges als Richter in den von den Taliban kontrollierten Gebieten tätig. Nur wenige Richter, beispielsweise in den Provinzen Herat und Panjsher, verfügen über eine formale Hochschulausbildung und haben an juristischen oder Scharia-Fakultäten von Universitäten studiert (Rawadari 04.06.2023).

Des weiteren kam es zur Absetzung von Richterinnen und Anwältinnen, und es werden keine Lizenzen mehr an Strafverteidigerinnen vergeben (STDOK/Nassery 4.2024).

Die Taliban haben zwar nicht ausdrücklich behauptet, bestimmte Gesetze außer Kraft zu setzen, aber sie haben immer wieder betont, dass sie im Einklang mit der Scharia regieren und jedes Gesetz ablehnen, das ihr zuwiderläuft (USDOS 15.05.2023; vergleiche AA 26.06.2023). Taliban-Mitglieder haben erklärt, dass sie nur die Teile der Verfassungen von 2004 und 1964 befolgen, die nicht im Widerspruch zur Scharia stehen. Einige Beobachter weisen auch darauf hin, dass keine der beiden Verfassungen in vollem Umfang in Kraft ist, sodass sie nur begrenzte Bedeutung für den geltenden Rechtsrahmen haben. Diesen Beobachtern zufolge wäre jede Abweichung von der Verfassung von 2004 insofern von Bedeutung, als diese besagt, dass Anhänger anderer Religionen als des Islams „ihren Glauben frei ausüben und ihre religiösen Riten innerhalb der Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen vollziehen können“, eine Bestimmung, die die Taliban ablehnen (USDOS 15.05.2023).

Die Taliban haben Anfang Juli 2023 ein Tonband veröffentlicht, das dem Emir Hibatullah Akhundzada zugeschrieben wird, der offenbar eine Predigt nach dem Eid al-Adha-Gebet am Mittwoch in Kandahar gehalten hat. Darin verkündet dieser, dass ein neues Rechtssystem auf der Grundlage der Scharia und Hanafi-Rechtsprechung von den entsprechenden Ministerien und der Talibanführung ausgearbeitet wird. Damit werden die unter der ehemaligen Verfassung geltenden Gesetze, u. a. auch gesonderte schiitische Rechtsprechung, ersetzt. Er erklärte, in Afghanistan gebe es jetzt ein vollständiges islamisches System, die Sicherheit sei gewährleistet, und in keinem Teil des Landes herrsche Unordnung oder Ungehorsam. Die meisten Angelegenheiten des Landes werden nun auf der Grundlage von Richtlinien und Dekreten geregelt, die dem Emir zugeschrieben werden. Er sagte, „unter der Herrschaft des Islamischen Emirats wurden konkrete Maßnahmen ergriffen, um Frauen von vielen traditionellen Unterdrückungen zu befreien“. In der Paschto- und Dari-Fassung der Botschaft begrüßt der oberste Taliban Führer auch die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023).

Im November 2022 ordnete Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada die Umsetzung der Scharia inklusive Körperstrafen wieder an (AA 26.06.2023). Seitdem wurden zahlreiche öffentliche Auspeitschungen vorgenommen (AP 20.06.2023; vergleiche AI 23.02.2024, AA 26.06.2023). Diese Strafe wurde u. a. für Drogen- und Alkoholkonsum (AA 26.06.2023) oder für „moralische“ Verbrechen verhängt (AMU 12.07.2023; vergleiche BAMF 31.12.2023). Am 07.12.2022 kam es zur ersten öffentlichen Hinrichtung durch die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan (AI 07.12.2022) und im Juni 2023 (AP 20.06.2023; vergleiche AJ 20.06.2023) sowie im Februar 2024 kam es zu weiteren Hinrichtungen (AI 23.02.2024; vergleiche ABC News 26.02.2024). [...]

8 Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung 2024-04-04 11:36

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022), und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.06.2023; vergleiche CPJ 01.03.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden.

Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.06.2023). Der Geheimdienst (General Directorate for [Anm.: auch „of“] Intelligence, GDI), ein Nachrichtendienst, der früher als „National Directorate of Security“ (NDS) bekannt war (CPJ 01.03.2022; vergleiche AA 26.06.2023), wurde dem Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada direkt unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen. Dies ist nach Angaben von UNAMA zumindest in Kabul teilweise erfolgt. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen. Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.06.2023), und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023). Experten zufolge sind die Taliban jedoch noch weit davon entfernt, eine funktionierende Luftwaffe zu verwirklichen, die den Luftraum im Falle ausländischer Übergriffe oder inländischer Aufstände sichern könnte. Der Bestand an Hubschraubern und Fluggeräten gilt als veraltet, und es gibt zumindest fünf bestätigte Unfälle in der Militärluftfahrt seit der Machtübernahme, wobei Pilotenfehler als wahrscheinlichste Ursache gelten. Nach Ansicht eines Afghanistan-Experten müssten die Taliban in erheblichem Umfang Piloten ausbilden und Strategien für die Kommunikation und Koordination mit den Bodentruppen entwickeln, um eine funktionsfähige Luftwaffe aufzubauen.

Zwar versuchen die Taliban, Piloten auszubilden, veröffentlichen jedoch keine Zahlen über die Anzahl ihrer Piloten und Techniker, und auf Grundlage von Fotos und Videos wird mit Stand Mai 2023 von etwa 50 einsatzfähigen Flugzeugen und Hubschraubern ausgegangen (RFE/RL 25.05.2023). [...]

9 Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 26.06.2023, vergleiche HRW 11.01.2024). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von ehemaligen Sicherheitskräften bzw. ehemaligen Regierungsbeamten (UNAMA 22.08.2023; vergleiche HRW 11.01.2024). Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (HRW 11.01.2024; vergleiche AA 26.06.2023) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten (AA 26.06.2023 vergleiche HRW 11.01.2024, AI 07.12.2023) auch in Gefängnissen wird berichtet (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 11.01.2024). Amnesty International berichtet beispielsweise über kollektive Strafen gegen Bewohner der Provinz Panjsher, darunter Folter und andere Misshandlungen (AI 08.06.2023).

Es gibt Berichte über öffentliche Auspeitschungen durch die Taliban in mehreren Provinzen, darunter Zabul (UNGA 01.12.2023), Maidan Wardak (8am 10.07.2023; vergleiche BAMF 31.12.2023), Kabul (ANI 12.07.2023; vergleiche AMU 12.07.2023), Kandahar (KaN 17.01.2023; vergleiche KP 17.01.2023) und Helmand (KP 02.02.2023; vergleiche KaN 02.02.2023). Der oberste Taliban-Führer, Emir Hibatullah Akhundzada, begrüßte die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023). [...]

10 Korruption

Letzte Änderung 2024-04-04 12:17

Mit einer Bewertung von 20 Punkten (von 100 möglichen Punkten - 0 = highly corrupt und 100 = very clean) belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2023 von Transparency International von 180 untersuchten Ländern den 162. Platz (TI o. D.a), was eine Verschlechterung um zwölf Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI o. D.b).

Die Taliban kündigten nach ihrer Übernahme von Kabul im August 2021 Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung an, darunter die Einrichtung von Kommissionen zur Ermittlung korrupter oder krimineller Taliban. Außerdem haben die Taliban über ihr Verteidigungsministerium eine Kommission eingesetzt, die Mitglieder ermitteln soll, die sich nicht an die Richtlinien der Bewegung halten. Ein Sprecher der Gruppe erklärte, dass im Jänner 2022 2.840 Taliban-Mitglieder wegen Korruption und Drogenkonsums entlassen worden seien. Der grenzüberschreitende Handel ist Berichten zufolge unter der Führung der Taliban viel einfacher geworden, da die „Geschenke“, die normalerweise für Zollbeamte erforderlich sind, abgeschafft wurden (USDOS 20.03.2023). Anfang 2024 erklärte ein Sprecher der Taliban Afghanistan zu einem korruptionsfreien Land (BNA 01.02.2024). Ein Experte warnt auch davor, dass die Versprechen der Taliban, gegen Korruption vorzugehen, nicht von Dauer sein könnten (BBC 18.07.2023).

Es gab dennoch zahlreiche Berichte über Korruption durch die Taliban (USDOS 20.03.2023; vergleiche DIP 17.01.2024), beispielsweise in den Passämtern der Taliban, wobei Antragsteller nach Angaben lokaler Quellen zwischen 1.000 und 3.500 Dollar für einen Pass zahlen mussten (USDOS 20.03.2023). Einem Bericht zufolge haben die Taliban seit der Wiedererlangung der Macht die staatliche Bürokratie genutzt, um Arbeitsplätze an Taliban-Mitglieder und ihre Familien zu vergeben und von der afghanischen Bevölkerung und dem Privatsektor Steuern, Bestechungsgelder und wertvolle Dienstleistungen zu erpressen (DIP 17.01.2024).

Internationale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die unter der Bedingung der Anonymität sprachen, weil sie nicht befugt waren, mit den Medien zu sprechen, sagten im Februar 2022, die Taliban hätten die Korruption in den letzten sechs Monaten reduziert. Das hat zu höheren Einnahmen in einigen Sektoren geführt, auch wenn die Geschäfte rückläufig sind. So seien beispielsweise die Zolleinnahmen gestiegen, obwohl die neue Taliban-Regierung weniger Geschäfte mache (AP 15.02.2022). Auch ein britischer Abgeordneter, dessen Beobachtungen auf Unterhaltungen mit Afghanen vor Ort beruhen, berichtet von einer Reduktion der Korruption in Afghanistan. Während Transparency International eine leichte Verbesserung gegenüber 2021 sieht, weisen Experten darauf hin, dass die leichte Verbesserung darauf zurückzuführen ist, dass der massive Zustrom von Militärhilfe und ausländischen Hilfsgeldern gestoppt wurde, die nach Ansicht mancher die Korruption vor Ort angeheizt haben (BBC 18.07.2023).

Im Juli 2022 kündigten die Taliban an, dass sie ehemalige afghanische Beamte nicht für die massive Korruption zur Rechenschaft ziehen werden, die in Zusammenhang mit Entwicklungshilfeprojekten stehen. Ehemalige Beamte, die der Korruption verdächtigt werden, müssen sich nur dann vor Gericht verantworten, wenn sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten Privateigentum oder öffentliches Vermögen an sich gerissen haben (VOA 06.07.2022). [...]

11 NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Letzte Änderung 2024-04-04 12:36

Die Lage von Menschenrechtsaktivisten in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme durch die Taliban verschlechtert (FH 1.2023; vergleiche USDOS 12.04.2022a, AA 26.06.2023). Sie sind unter den Taliban nicht nur in ihrer Arbeit eingeschränkt, sondern müssen auch aktiv um ihr Überleben im Land kämpfen, da das Taliban-Regime und andere Akteure sie mit Gewalt, Diskriminierung und Propaganda bedrohen. Menschenrechtsverteidiger im ganzen Land sind mehrfachen Risiken und Bedrohungen ausgesetzt, wie z. B. Entführung und Inhaftierung, körperliche und psychische Gewalt, Diffamierung, Hausdurchsuchungen, willkürliche Verhaftung und Folter, Androhung von Einschüchterung und Schikanen sowie Gewalt gegen Aktivisten oder Familienmitglieder durch die Taliban, einschließlich Mord (FH 1.2023; vergleiche FIDH 12.08.2022, AA 26.06.2023). Anfang Februar 2022 führten die Taliban beispielsweise flächendeckend Hausdurchsuchungen zunächst in Kabul, anschließend auch in angrenzenden Provinzen durch. Sie werden punktuell landesweit fortgesetzt, v. a. in Kabul und anderen Großstädten (AA 26.06.2023).

Einige afghanische Menschenrechtsorganisationen wollen ihre Arbeit aus dem Ausland fortsetzen und bauen zu diesem Zweck ihre oftmals zusammengebrochenen Informationsnetzwerke wieder auf (AA 26.06.2023). Die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC), deren Rolle in der Verfassung aus Zeiten der Republik verankert ist, war seit August 2021 faktisch aufgelöst. Im Mai 2022 ist per Dekret die rückwirkende Auflösung auch formell beschlossen worden, der von der Taliban-Regierung beschlossene Haushalt sieht keine Mittel für die Institution vor. Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Menschenrechtskommission bauen ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut im Exil auf (AA 26.06.2023; vergleiche AIHRC 26.05.2022).

Trotz der weitreichenden und zunehmenden Unterdrückung des Widerstands gegen die Taliban-Herrschaft hat die NGO Afghan Witness seit der ersten Demonstration im August 2021 fast 70 von Frauen geführte Straßendemonstrationen verifiziert, die zum großen Teil gegen die zunehmenden Einschränkungen des Zugangs von Mädchen und Frauen zu Bildung und Arbeit protestierten. Zwischen dem 01.03.2023 und dem 27.06.2023 hat Afghan Witness 95 separate Frauenproteste aufgezeichnet und analysiert, darunter 84 Proteste in Innenräumen und 11 Straßendemonstrationen in 12 Provinzen in Afghanistan (AfW 15.08.2023). Ab Mitte Jänner 2022 werden Aktivistinnen der seit August 2021 vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung sukzessive durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 12.01.2023), und es gibt Berichte über Haftbedingungen, u. a. zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 26.06.2023). Die Taliban-Behörden reagierten auch mit Gewalt auf Demonstranten (HRW 30.11.2023; vergleiche AI 07.12.2023) und setzten scharfe Munition ein, um diese aufzulösen (HRW 12.10.2022; vergleiche Guardian 02.10.2022). Human Rights Watch (HRW) berichtet, dass Frauen zusammen mit Familienmitgliedern, einschließlich kleiner Kinder, verhaftet wurden (HRW 30.11.2023; vergleiche AI 07.12.2023). Sie werden unter missbräuchlichen Bedingungen festgehalten und manchmal gefoltert. Wenn sie freigelassen werden, verlangen die Taliban Urkunden über den Besitz ihrer Familie und drohen, diesen zu konfiszieren, wenn die Frau ihren Aktivismus fortsetzt (HRW 30.11.2023).

Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen setzten sich über die Jahre 2022 (AI 16.11.2022; vergleiche HRW 20.10.2022, Rukhshana 04.08.2022, AfW 15.08.2023) und 2023 fort (HRW 11.01.2024; vergleiche AJ 21.07.2023, RFE/RL 21.08.2023, AfW 15.08.2023). So wurden beispielsweise Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an Protesten gegen das Universitätsverbot verhaftet (BBC 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022) oder im Juli 2023 Proteste gegen die Schließung von Schönheitssalons gewaltsam aufgelöst (RFE/RL 19.07.2023; vergleiche DW 20.07.2023).

Am 24.12.2022 erließen die Taliban-Behörden ein Dekret, das Frauen die Arbeit in NGOs verbietet (OHCHR 27.12.2022; vergleiche Guardian 26.12.2022). Fünf führende NGOs haben daraufhin ihre Arbeit in Afghanistan eingestellt. Care International, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) und Save the Children erklärten, sie könnten ihre Arbeit „ohne unsere weiblichen Mitarbeiter“ nicht fortsetzen. Auch das International Rescue Committee stellte seine Dienste ein, während Islamic Relief erklärte, es stelle den Großteil seiner Arbeit ein (BBC 26.12.2022; vergleiche Guardian 26.12.2022). [...]

12 Wehrdienst und Zwangsrekrutierung

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022), und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.06.2023; vergleiche CPJ 01.03.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.06.2023). Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.06.2023), und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023).

Ein Afghanistan-Analyst und ein internationaler Journalist gaben in Interviews mit EUAA zwischen Juni und Oktober 2023 an, dass ihnen keine Fälle von Zwangsrekrutierung bekannt wären. Sie beschrieben die Situation als das Gegenteil von Zwangsrekrutierung, da es in einer Wirtschaft ohne andere Beschäftigungsmöglichkeiten sehr beliebt ist, Teil der Taliban-Sicherheitsstruktur zu sein. In diesem Zusammenhang wurde auch auf den Mangel an anderen Beschäftigungsmöglichkeiten hingewiesen und erklärt, dass die Taliban über genügend Männer verfügen und dass viele bereit sind, auf freiwilliger Basis zu dienen, auch ohne Bezahlung (EUAA 12.2023).

Der einzige aktuelle Bericht, der über Zwangsrekrutierung, durch Taliban, ISKP oder andere bewaffnete Gruppen, gefunden wurde, war der Bericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan, in dem es heißt, dass die gesellschaftliche Diskriminierung von Hazara „in Form von Erpressung von Geld durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit, körperlicher Misshandlung und Inhaftierung“ stattgefunden hat (EUAA 12.2023; vergleiche USDOS 20.03.2023). Genau diese Aussage findet sich seit 2010 in jedem Jahresbericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan (EUAA 12.2023).

Vor ihrer Machtübernahme wurden Kinder durch die Taliban rekrutiert (HRW 20.09.2021), und einige Quellen berichten, dass es auch nach der Machtübernahme zu Zwangsrekrutierungen von Kindern kam (TBP 23.09.2022; vergleiche USDOS 15.06.2023). Einem afghanischen Analysten zufolge haben die Taliban eine Kommission gebildet, um Kindersoldaten aus ihren Reihen zu entfernen, und heute vermeiden die Taliban in der Regel die Rekrutierung zu junger Personen, indem sie Kinder ohne Bart ablehnen (EUAA 12.2023). Berichten zufolge hat auch der ISKP Kinder rekrutiert (USDOS 15.06.2023).

Was die Rekrutierung durch den Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) betrifft, so wurden Berichten zufolge die Salafi-Gemeinschaft und Taliban-Fußsoldaten zur Unterstützung der Gruppe aufgerufen (USIP 07.06.2023). Der Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi veröffentlichte einen Forschungsartikel, in dem er feststellte, dass zwei wichtige Quellen für die Rekrutierung in Afghanistan die Salafi-Gemeinschaft und Universitätsstudenten waren. In Interviews, die der Autor mit ISKP-Rekrutern in Afghanistan geführt hat, wird die Vorgehensweise des ISKP beschrieben. Hierbei werden „die religiösesten Studenten, die das größte Interesse an religiösen Fragen und insbesondere am Salafismus haben, ausgesucht und ins Visier genommen“. Sobald ein Student als Ziel identifiziert ist, wird versucht, seine Handynummer zu bekommen. Dann übernimmt die Abteilung „Medien und Kultur“ die Arbeit. Die Aufgabe des Medien- und Kulturteams, das seinen Sitz außerhalb der Universität und sogar in Europa hat, besteht darin, Videos mit Propagandamaterial an potenzielle Rekruten zu senden. Bei einer negativen Reaktion wird der „Eingeladene“, den Interviews zufolge, sofort von der Nachrichtenübermittlung abgeschnitten. Ist die Reaktion positiv, werden WhatsApp und andere Social-Media-Apps genutzt. Das Medien- und Kulturteam fügt außerdem gezielte Studenten zu verschiedenen ISKP-Telegram-Konten hinzu, von denen einige für die Aktivitäten des ISKP werben, während andere negative Propaganda gegen die Taliban verbreiten (RUSI/Giustozzi 3.2023). Auch die Vereinten Nationen berichten, dass sich der ISKP auf die Rekrutierung von mehr gebildeten Personen konzentriert, aber Rekrutierungen auch außerhalb der Salafi-Gemeinschaft betreibt (UNSC 01.06.2023b). [...]

13 Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2024-04-04 12:42

Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.06.2023).

Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 09.08.2022; vergleiche AA 26.06.2023, AfW 15.08.2023).

Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.06.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 11.01.2024; vergleiche AA 26.06.2023, USDOS 20.03.2023, UNGA 01.12.2023), darunter Hausdurchsuchungen (AA 26.06.2023), Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.06.2023, AfW 15.08.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 12.01.2023, AfW 15.08.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vergleiche FIDH 12.08.2022, AA 26.06.2023, AfW 15.08.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 11.01.2024; vergleiche AA 26.06.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 11.01.2024, AfW 15.08.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.06.2023). Die NGO Afghan Witness berichtet im Zeitraum vom 15.01.2022 bis Mitte 2023 von 3.329 Menschenrechtsverletzungen, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Für denselben Zeitraum gibt es auch immer wieder Berichte über die Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder. Hier wurden durch Afghan Witness 112 Fälle von Tötungen und 130 Inhaftierungen registriert, wobei darauf hingewiesen wurde, das angesichts der hohen Zahl von Fällen, in denen Opfer und Täter nicht identifiziert wurden, die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher ist (AfW 15.08.2023).

Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 12.10.2022, Guardian 02.10.2022), und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.02.2022a, AI 15.08.2022).

Afghan Witness konnte zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Taliban-Herrschaft einige Unterschiede erkennen. So gingen die Taliban im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Berichten zufolge Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr wurde hingegen beobachtet, dass sich die Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut haben, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlasse der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt - offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlässe zu protestieren (AfW 15.08.2023). [...]

14 Meinungs- und Pressefreiheit

Letzte Änderung 2024-04-04 12:48

Die Taliban haben zwar wiederholt Presse- und Meinungsfreiheit in allgemeiner Form zugesichert (AA 26.06.2023), jedoch hat sich die Situation der Medienlandschaft seit dem 15.08.2021 drastisch verschlechtert (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 11.01.2024). Berichten zufolge hatten schon bis Dezember 2021 insgesamt 43 % der afghanischen Medienunternehmen ihren Betrieb eingestellt (AA 26.06.2023; vergleiche ANI 01.05.2022), auch aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. 6.400 Medienschaffende hatten ihre Anstellung verloren (AA 26.06.2023; vergleiche RSF 02.12.2022), was vor allem Frauen betraf (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 11.01.2024, RSF 02.12.2022). Etablierte Journalisten sind zu einem großen Teil ins Ausland gegangen (HRW 11.01.2024; vergleiche AA 26.06.2023) und berichten aus dem Exil (HRW 11.01.2024) oder halten sich versteckt (AA 26.06.2023). Ankündigungen der Taliban-Regierung, das bisherige Mediengesetz umzusetzen und eine Beschwerdekommission einzurichten, ist das Informations- und Kulturministerium nicht nachgekommen. Fernsehsender wurden nach eigenen Angaben wiederholt durch den Taliban-Geheimdienst unter Druck gesetzt, Unterhaltungsprogramme den moralisch-religiösen Vorgaben der Taliban anzupassen (AA 26.06.2023). Auch für ausländische Korrespondenten gelten strenge Visabeschränkungen, wenn sie nach Afghanistan reisen, um zu berichten (HRW 11.01.2024).

Die Taliban-Behörden setzten eine umfassende Zensur durch und gingen mit unrechtmäßiger Gewalt gegen afghanische Medien und Journalisten in Kabul und den Provinzen vor (HRW 11.01.2024). Im November 2022 berichtete ein Medienunternehmen, dass es eine von dem Taliban-Informationsministerium vorformulierte Erklärung unterzeichnen musste, in der es sich u. a. zu einer Scharia-konformen Berichterstattung verpflichtete. Kritik an der Taliban-Regierung wurde untersagt. Im Falle der Nichtbeachtung wurden Konsequenzen für das Medienunternehmen sowie die dort Beschäftigten angedroht (AA 26.06.2023). Elf am 19.09.2021 vorgestellte Handlungsempfehlungen der Taliban-Regierung für Printmedien, TV und Radio fordern u. a. dazu auf, keine Inhalte zu veröffentlichen, die der Scharia widersprechen (AA 26.06.2023; vergleiche RSF 24.09.2021) und ermöglichen laut Reportern ohne Grenzen (RSF) Nachrichtenkontrolle oder gar Vorzensur (RSF 24.09.2021). Diese Empfehlungen werden landesweit unterschiedlich umgesetzt. Menschenrechtsorganisationen beobachten insbesondere in den Provinzen eine deutlich stärkere Einschränkung der Pressefreiheit. Medienschaffende berichten über ein aktives Monitoring und werden aufgefordert, ihre Arbeit vorab mit den lokal zuständigen Behörden zu teilen. Mancherorts müssen Medienschaffende vor Beginn ihrer Recherchen eine Erlaubnis bei den lokalen Behörden einholen. In mindestens 14 von 34 Provinzen gibt es keine weiblichen Medienschaffenden mehr, in einigen Provinzen wurde es Journalistinnen verboten, bei ihrer Arbeit in Erscheinung zu treten. Gegenüber Menschenrechtsorganisationen berichten Journalistinnen und Journalisten über einen stark eingeschränkten Zugang zu Informationen (AA 26.06.2023).

Berichten zufolge kommt es zu willkürlichen Verhaftungen von Medienschaffenden durch die Taliban (AfW 15.08.2023; vergleiche HRW 11.01.2024), die Human Rights Watch zufolge im Jahr 2023 zugenommen haben (HRW 11.01.2024). Am 13.08.2023 verhafteten die Taliban beispielsweise Ataullah Omar, einen Journalisten, der für Tolo News berichtet, und beschuldigten ihn, mit Medienunternehmen zusammenzuarbeiten, die vom Exil aus operieren. Am 10.08.2023 wurden Faqir Mohammad Faqirzai, der Leiter von Kilid Radio, und Jan Agha Saleh, ein Reporter, von den Taliban festgenommen. Am selben Tag wurde Hasib Hassas, ein Reporter von Salam Watandar, in Kunduz verhaftet (HRW 11.01.2024; vergleiche RSF 15.08.2023). Alle drei Journalisten wurden einige Tage später wieder freigelassen. Die Taliban-Behörden geben selten Auskunft über die Gründe für solche Verhaftungen oder darüber, ob die Festgenommenen vor Gericht gestellt werden. Die Festgenommenen haben keinen Zugang zu Anwälten, und in den meisten Fällen dürfen Familienangehörige sie nicht besuchen (HRW 11.01.2024). Am 05.01.2023 wurde der französische afghanische Journalist Mortaza Behboudi verhaftet; er wurde am 18.10.2023 wieder freigelassen, ohne dass eine Anklage gegen ihn erhoben wurde (HRW 11.01.2024; vergleiche RSF 18.10.2023).

Reporter ohne Grenzen (RSF) meldete, dass Razzien bei unabhängigen Medien in mindestens fünf Fällen mit Unterstützung der Generaldirektion des Nachrichtendienstes (GDI) durchgeführt wurden, ohne dass die Kommission für Medienbeschwerden und Rechtsverletzungen (MCRVC) eingeschaltet wurde. Die 2022 nach einjähriger Unterbrechung wieder eingerichtete MCRVC soll verhindern, dass sich andere Stellen in Medienangelegenheiten einmischen, und sicherstellen, dass eine „neutrale“ Gruppe jeden gemeldeten Verstoß untersucht, so der Sprecher des Taliban-Regimes und ehemalige stellvertretende Informationsminister Zabihullah Mujahid (RSF 15.08.2023).

Internet und Mobiltelefonie

Die Zahl der Internetnutzer in Afghanistan ist in den letzten Jahren zusammen mit der jugendlichen Bevölkerung rapide angestiegen und liegt mit April 2022 bei etwa neun Millionen Nutzern (BBC 22.04.2022). Im Jahre 2021 wurde die Anzahl der Mobiltelefonnutzer auf ca. 23 Millionen geschätzt (GBL 26.11.2021).

Es gibt keine Ausfälle in Gebieten, die vor der Übernahme durch die Taliban per Telefon oder Internet erreichbar gewesen wären. Laut Informationen von IOM haben sich die Telekommunikations- und Internetdienste seit dem Sturz der vorherigen Regierung verbessert, was auf einen Rückgang der Konflikte im ganzen Land und die Leichtigkeit zurückzuführen ist, mit der Telekommunikationsunternehmen ihr Dienstleistungsangebot erweitern können. In Afghanistan ist die Verfügbarkeit von Internet- und Telekommunikationsdiensten weit verbreitet und deckt den größten Teil des Landes ab, mit Ausnahme einiger isolierter und dünn besiedelter Siedlungen außerhalb der großen Städte. Derzeit sind fünf Telekommunikationsunternehmen in Afghanistan tätig, darunter der staatliche Festnetzbetreiber Afghan Telecom und vier Mobilfunkbetreiber:

Afghan Wireless Communication Company (AWCC), Roshan, MTN Afghanistan und Etisalat Afghanistan (IOM 22.02.2024).

Seit der Machtübernahme durch die Taliban gab es keine Berichte über größere Einschränkungen beim Zugang zu Telekommunikationsdiensten (IOM 12.01.2023; vergleiche IOM 22.02.2024). In den Provinzen, die Widerstand gegen das Taliban-Regime leisteten (z. B.: Provinz Panjsher), kam es jedoch in der Vergangenheit zu Abschaltungen von Telekommunikations- und Internetdiensten (IOM 12.01.2023). [...]

15 Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit

Letzte Änderung 2024-04-05 06:01

Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurde seit der Machtübernahme der Taliban entgegen allgemeiner Zusicherungen deutlich eingeschränkt (AA 26.06.2023; vergleiche FH 24.02.2022a). Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 11.01.2024, EUAA 12.2023), und es kam zum Einsatz von scharfer Munition und Wasserwerfern (AA 26.06.2023). Ab Mitte Jänner 2022 wurden sukzessive Vertreterinnen der vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen, und es gibt Berichte zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 26.06.2023). In diesem Jahr gab es nur wenige öffentliche Proteste im Vergleich zu 2021, als es zahlreiche kleinere Proteste von Frauen gab, die gleiche Rechte, die Beteiligung an Entscheidungsprozessen und den Zugang zu Bildung und Beschäftigung forderten (USDOS 20.03.2023). Diese gewalttätigen Zwischenfälle und die Androhung von Verhaftungen (und das Verschwinden in einem undurchsichtigen Gefängnissystem ohne ordnungsgemäße Verfahren) haben zunächst dazu geführt, dass die großen Anti-Taliban-Proteste eingedämmt wurden, obwohl es weiterhin kleinere Versammlungen gab (AI 15.08.2022). Gegen Ende des Jahres 2022 kam es wieder vermehrt zu Protesten, nachdem die Taliban Frauen vom Universitätsbesuch ausgeschlossen hatten (RFE/RL 29.12.2022; vergleiche BBC 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022) und NGO-Mitarbeiterinnen verboten, ihrer Arbeit nachzugehen (FR24 02.01.2023). Den Protesten schlossen sich auch Hunderte männliche Professoren, Studierende und Väter an (RFE/RL 29.12.2022; vergleiche ABC 30.12.2022).

Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivisten (HRW 11.01.2024; vergleiche AMU 23.01.2024, Afintl 19.09.2023) und Journalisten setzten sich über das Jahr 2023 hindurch fort (HRW 11.01.2024; vergleiche RSF 15.08.2023, RSF 18.10.2023). [...]

16 Haftbedingungen

Letzte Änderung 2024-03-28 11:44

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Gefängnisse, Jugendrehabilitationszentren und andere Haftanstalten von unterschiedlichen Organisationen verwaltet: Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), war verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das MoI und das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) waren verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren und Zivilhaftanstalten. Das National Directorate of Security (NDS) war verantwortlich für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Distriktebene, die in der Regel mit den jeweiligen Hauptquartieren zusammenarbeiten. Das Verteidigungsministerium betrieb die Nationalen Haftanstalten Afghanistans in Parwan (USDOS 12.04.2022a). Die Überbelegung der Gefängnisse war auch unter der ehemaligen Regierung ein ernstes und weitverbreitetes Problem. Nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban haben sich viele Gefängnisse geleert, da fast alle Gefangenen entkamen oder freigelassen wurden (USDOS 12.04.2022a; vergleiche UNHRC 08.03.2022).

Am 04.01.2022 setzte das Taliban-Kabinett eine hochrangige Kommission unter der Leitung des Obersten Gerichtshofs ein, um „die Gefängnisse und Haftanstalten zu inspizieren und eine dringende Entscheidung über die Freilassung unschuldiger Gefangener zu treffen“ (UNHRC 08.03.2022; vergleiche ATN 04.01.2022). Der dabei verabschiedete Verhaltenskodex und ähnliche Anweisungen an die Taliban-Sicherheitskräfte in der Folgezeit deuten darauf hin, dass die Taliban Behörden in Afghanistan gegen Folter und Misshandlung von Gefangenen vorgehen wollen. UNAMA sprach im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit den Taliban zu diesem Thema von einem „unterschiedlichen Maß an Offenheit“. Im Laufe des Jahres 2022 führte UNAMA eine Reihe von Sensibilisierungsveranstaltungen zu internationalen Standards für Leiter und Wärter von Haftanstalten durch und berichtet weiter, dass diese Veranstaltungen von den jeweiligen Polizeichefs und dem Talibanbüro für Strafvollzugsverwaltung begrüßt wurden (UNAMA 01.09.2023).

Trotz anhaltender Bemühungen, die Zahl der Inhaftierten zu reduzieren, meldete die Gefängnisverwaltung der Taliban Mitte Oktober 2023 einen Bestand von knapp 17.000 Gefangenen. Finanzielle Engpässe und die Einstellung der Finanzierung durch Geber wirkten sich weiterhin auf die Fähigkeit der Gefängnisverwaltung aus, internationale Standards zu erfüllen, einschließlich der systematischen Bereitstellung angemessener Nahrungsmittel und Hygieneartikel, der beruflichen Aus- und Weiterbildung und der medizinischen Versorgung (UNGA 01.12.2023). Die Haftbedingungen werden als hart und lebensbedrohlich beschrieben, und es wurde berichtet, dass neben der unzureichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln, Erwachsene und Jugendliche körperlich misshandelt wurden (USDOS 20.03.2023). So existieren Berichte über Folter in Gefängnissen, beispielsweise von Journalisten, Frauenrechtsaktivistinnen und ihren Verwandten, Demonstrierenden sowie ehemaligen Sicherheitskräften. Die ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen zeigte sich besorgt über Folter von Personen, denen vorgeworfen wird, den ehemaligen Sicherheitskräften oder der ehemaligen Regierung anzugehören oder ISKP-Anhänger zu sein (AA 26.06.2023). Auch erhoben Bewohner der Provinz Kandahar im August 2023 Vorwürfe, wonach bestimmte örtliche Taliban-Führer in der Provinz private Gefängnisse betreiben würden, in denen ehemalige Beamte und Militärangehörige der Republik festgehalten werden (BAMF 31.12.2023; vergleiche 8am 25.11.2023).

Die Situation in den Gefängnissen kann aufgrund von nur punktuellem Zugang für die Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen nicht abschließend beurteilt werden (AA 26.06.2023). UNAMA geht davon aus, dass die Lebensbedingungen in den Gefängnissen angesichts der insgesamt schlechten Versorgungslage sehr schlecht sind (AA 26.06.2023), und berichtet von Fällen, in denen Personen zum Zeitpunkt der Festnahme nicht über die Gründe für ihre Festnahme informiert wurden. Des Weiteren werden laut UNAMA Inhaftierte auch weder über ihre Rechte noch darüber informiert, wie sie während der Haft Beschwerden vorbringen können. Es wurden auch Fälle dokumentiert, in denen Inhaftierte nicht über ihr Recht auf einen Anwalt informiert wurden oder ihnen die Kontaktaufnahme mit ihrer Familie verwehrt wurde (UNAMA 01.09.2023).

Der Verhaltenskodex der Taliban zur Reform des Gefängnissystems sieht keine unverzügliche medizinische Untersuchung bei der Einweisung in eine Haftanstalt vor. Er sieht vor, dass in den Gefängnissen Erste-Hilfe-Einrichtungen und -Vorräte zur Verfügung stehen müssen und dass für die notwendige Behandlung von Schwerkranken rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu treffen sind. Mehrere Taliban-Polizeibehörden bestätigten gegenüber UNAMA, dass die Personen vor ihrer Einlieferung in die Polizeieinrichtungen von einem Arzt untersucht und bei Bedarf in ein Krankenhaus gebracht werden. Allerdings dokumentierte UNAMA keinen Fall, bei dem eine Person bei der Inhaftierung oder vor einer Befragung medizinisch untersucht wurde, wobei eingeräumt wird, dass insbesondere in abgelegenen Gebieten, nicht immer Ärzte zur Verfügung stehen (UNAMA 01.09.2023).

Entlassene Aktivistinnen und Aktivisten sowie ihre Familien werden unter Strafandrohung schriftlich verpflichtet, nicht über die Haftbedingungen zu sprechen. Die Einhaltung der Auflagen wird durch die Taliban-Sicherheitskräfte engmaschig überwacht (AA 26.06.2023).

Zwischen 01.01.2022 und 31.07.2023 dokumentierte UNAMA über 1.600 Menschenrechtsverletzungen (11 % betrafen Frauen) durch die Taliban-Behörden im Zusammenhang mit der Festnahme und anschließenden Inhaftierung von Personen. Knapp 50 % dieser Verstöße betrafen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Diese Vorfälle ereigneten sich in 29 der 34 Provinzen Afghanistans (UNAMA 01.09.2023). Berichten zufolge wurden Gefangene, die mit der Regierung vor dem 15.08.2021 in Verbindung standen, körperlich misshandelt und unterhalten die Taliban im ganzen Land separate Haftanstalten für politische Gefangene, wobei glaubwürdige Quellen von Schlägen in diesen Behelfsgefängnissen berichteten (USDOS 20.03.2023). [...]

17 Todesstrafe

Letzte Änderung 2024-04-09 12:24

Die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban im August 2021 sehen die Verhängung der Todesstrafe in bestimmten Fällen vor (AA 26.06.2023; vergleiche UNAMA 08.05.2023). Zwischen 2001 und dem 15.08.2021 hat die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan Berichten zufolge mindestens 72 Personen hingerichtet (UNAMA 08.05.2023).

Seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan am 15.08.2021 haben die Taliban de facto die Körperstrafen und die Todesstrafe eingeführt (UNAMA 08.05.2023). Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen. Die sowohl während des ersten Taliban-Regimes, als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis auf Grundlage ihrer Auslegung der Scharia, sieht die Todesstrafe vor (AA 26.06.2023). Ende November 2022 ordnete der oberste Führer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, allerdings Richtern an, Strafen zu verhängen, die öffentliche Hinrichtungen, öffentliche Amputationen und Steinigungen umfassen können (BBC 14.11.2022; vergleiche Guardian 14.11.2022, UNAMA 08.05.2023).

Am 07.12.2022 fand die erste öffentliche Hinrichtung der Taliban in Afghanistan seit der Machtübernahme im August 2021 statt (AA 26.06.2023; vergleiche BBC 07.12.2022, REU 07.12.2022). Der Hingerichtete soll gestanden haben, vor fünf Jahren bei einem Raubüberfall einen Mann mit einem Messer getötet und dessen Motorrad und Telefon gestohlen zu haben (RFE/RL 07.12.2022; vergleiche BBC 07.12.2022, REU 07.12.2022). Im Juni 2023 wurde in Laghman ein Mann durch die Taliban hingerichtet, der für schuldig befunden wurde, im vergangenen Jahr fünf Menschen ermordet zu haben (AP 20.06.2023; vergleiche AJ 20.06.2023). Im Februar 2024 vollstreckten die Taliban eine Doppelhinrichtung in Ghazni, bei der Angehörige der Opfer von Messerstechereien vor Tausenden von Zuschauern mit Gewehren auf zwei verurteilte Männer schossen (AI 23.02.2024; vergleiche ABC News 26.02.2024). [...]

19 Ethnische Gruppen

Letzte Änderung 2024-03-28 12:04

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.03.2022; vergleiche CIA 01.02.2024). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vergleiche CIA 01.02.2024), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 05.01.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 26.06.2023).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.03.2023).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 26.06.2023).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 26.06.2023). [...]

19.2 Tadschiken

Letzte Änderung 2024-03-28 12:44

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus (MRG 05.02.2021b; vergleiche AA 26.06.2023). Sie üben einen bedeutenden politischen Einfluss in Afghanistan aus und stellen den Großteil der afghanischen Elite, die über ein beträchtliches Vermögen innerhalb der Gemeinschaft verfügt. Während sie in der vor-sowjetischen Ära hauptsächlich in den Städten, in und um Kabul und in der bergigen Region Badakhshan im Nordosten siedelten, leben sie heute in verschiedenen Gebieten im ganzen Land, allerdings hauptsächlich im Norden, Nordosten und Westen Afghanistans (MRG 05.02.2021b).

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (MRG 05.02.2021b). Heute werden unter dem Terminus tājik - „Tadschike“ - fast alle Dari/Persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016). [...]

21 Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung 2024-03-29 09:44

Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen, „Ausweichmöglichkeiten“ im Land zu unterbinden (AA 26.06.2023).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 20.03.2023). Die Taliban setzen jedoch Kontrollpunkte ein, um den Verkehr innerhalb des Landes zu regeln, und es wird berichtet, dass sie Reisende durchsuchen und nach bekannten oder vermeintlichen Regimegegnern fahnden. Außerdem werden Mobiltelefone und Social-Media-Aktivitäten der Reisenden überprüft (FH 09.03.2023). So wurde im Jahr 2022 berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.05.2022; vergleiche NPR 09.06.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von „Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger“ (HRW 30.03.2022). Meistens handelt es sich um Routinekontrollen (IOM 22.02.2024), bei denen nur wenig kontrolliert wird (SIGA 25.07.2023). Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoff aufzuspüren. Kontrollpunkte, die von den Taliban besetzt sind, sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich in der Regel entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. Darüber hinaus werden je nach Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle oder VIP-Bewegungen eingerichtet (IOM 22.02.2024).

Seit Dezember 2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einen Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 20.03.2023). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.01.2022; vergleiche DW 26.12.2021). Zu darüberhinausgehenden Bewegungseinschränkungen liegen IOM-Afghanistan keine offiziellen Berichte vor. Es gab jedoch Fälle, in denen Bürger misshandelt wurden, weil sie sich nicht an die von den Taliban auferlegten üblichen Regeln hielten. IOM berichtet auch über eine steigende Anzahl von Vorfällen, bei denen UNSMS-Personal (United Nations Security Management System) vorübergehend angehalten wurde, wobei hier die Vorgehensweise der Taliban je nach Ort unterschiedlich ist (IOM 22.02.2024).

Anmerkung, Mahram kommt von dem Wort „Haram“ und bedeutet „etwas, das heilig oder verboten ist“. Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vergleiche GIWPS 8.2022). [...]

22 IDPs und Flüchtlinge

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Jahrelange Konflikte, Naturkatastrophen und wirtschaftliche Schwierigkeiten haben im verarmten Afghanistan Millionen von Menschen zu Binnenvertriebenen gemacht (VOA 11.07.2023). Binnenvertriebene wie auch Rückkehrende aus dem Ausland befinden sich laut UNHCR in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an (Einsparung von Lebensmitteln, Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit oder -verkauf) (AA 26.06.2023). Die Zahl der Binnenvertriebenen ist seit dem Jahr 2021 um 200.000 Personen gesunken (AA 26.06.2023) und lag 2023 zwischen 3,25 (UNHCR 01.02.2024) und 3,3 Millionen Menschen. Gründe für Vertreibung sind vor allem Konflikte und extrem wetterbedingte Ereignisse (AA 26.06.2023). [...]

23 Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan

23.1 Iran

Letzte Änderung 2024-04-05 06:01

Iran hat die Genfer Flüchtlingskonvention mit Vorbehalten unterzeichnet. Die Regierung ist restriktiv in der Vergabe des Flüchtlingsstatus, jedoch bietet die Islamische Republik Iran seit Jahrzehnten Millionen von afghanischen (SEM 30.03.2022) sowie irakischen Flüchtlingen und Migranten Zuflucht und Unterstützung (AA 30.11.2022). Iran duldet viele afghanische Staatsangehörige, die sich irregulär im Land aufhielten. Ein beträchtlicher Anteil befindet sich im Rahmen der Arbeitsmigration in Iran, die ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor für das Land ist. Im Rahmen verschiedener Regularisierungsinitiativen haben die iranischen Behörden einigen von ihnen einen regulären Aufenthalt bzw. eine Duldung ermöglicht (SEM 30.03.2022).

Die Behörden arbeiten mit UNHCR zusammen, um Flüchtlingen, aus Iran nach Afghanistan zurückkehrenden Flüchtlingen, Asylwerbern und anderen Personen Hilfe bereitzustellen (USDOS 12.04.2022b), vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Lebensunterhalt (UNHCR 08.11.2022). Die Regierung unterstützt eine integrative und progressive Politik gegenüber Flüchtlingen, die bei der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse vor großen Herausforderungen stehen (UNHCR 31.03.2022). Internationale Organisationen wie UNHCR und NGOs bestätigen, dass Iran afghanische Flüchtlinge einerseits in den vergangenen Jahren sehr großzügig aufgenommen und behandelt, andererseits aber sehr wenig internationale Unterstützung erhalten hat (ÖB Teheran 11.2021).

Die iranische Regierung ist über das Amt für Ausländer- und Einwanderungsangelegenheiten (Bureau for Aliens and Foreign Immigrant´sAffairs, BAFIA) für die Registrierung von Asylwerbern und Flüchtlingen sowie für die Feststellung des Flüchtlingsstatus in Iran gemäß den iranischen Rechtsvorschriften zuständig. UNHCR in Iran nimmt keine Asylanträge an und entscheidet nicht über diese (UNHCR 26.9.2021).

Grundsätzlich haben Asylsuchende in Iran die folgenden regulären Aufenthaltsmöglichkeiten:

Flüchtlingsstatus (Afghanen: Inhaber der Amayesh-Karte; Iraker: Hoviat-Karte (UNHCR o. D.a)), Aufenthalt mit Visa, oder Duldung durch Registrierung (sog. headcount von Ausländern ohne Aufenthaltsstatus) (SEM 30.03.2022). Im Jahr 2022 beherbergte Iran über vier Millionen Afghanen, darunter 750.000 afghanische Flüchtlinge (Inhaber der Amayesh-Karte) und fast 600.000 Afghanen mit afghanischen Pässen und iranischen Visa. Hinzu kamen rund 2,6 Millionen Afghanen ohne Papiere, die bei einer Ende Juni 2022 abgeschlossenen Zählung und Registrierung erfasst wurden und „Laissez-passers“ als zeitlich befristeten Schutz vor Rückführungen erhalten haben. Weitere 500.000 Afghanen, die sich laut den iranischen Behörden ohne Papiere im Land aufhalten, haben nicht an der Zählung teilgenommen. Hinzu kamen mit Stand 31.12.2022 rund 12.000 irakische Inhaber von Hoviat-Karten, welche in Iran leben (UNHCR 31.12.2022).

Seit der Machtübernahme der Taliban hat die traditionell hohe Migration von afghanischen Staatsangehörigen nach Iran zugenommen. Regulär einreisen kann, wer im Besitz eines gültigen Passes und Visums für Iran ist. Iran hatte seine konsularischen Dienste nach Machtübernahme der Taliban vorübergehend teils eingestellt (z. B. in Herat), sodass keine neuen Visa mehr beantragt werden konnten. Inzwischen können wieder regulär Visumsanträge gestellt werden. Dennoch findet die große Mehrheit der Einreisen nach Iran irregulär statt. Die meisten afghanischen Flüchtlinge gelangen über die südliche Route – über den Schmuggel-Drehpunkt Zaranj direkt oder häufiger über Pakistan – nach Iran. Genaue Zahlen zu irregulären Einreisen liegen nicht vor (SEM 30.03.2022). Nach vorläufigen Schätzungen der iranischen Behörden kamen im Jahr 2021 zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Afghanen neu nach Iran. Aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der Verschlechterung der Menschenrechtssituation, wie auch der sozioökonomischen Lage in Afghanistan, hielten die Ankünfte im Jahr 2022 an (UNHCR 29.09.2022), wobei UNHCR für das Jahr 2022 rund 57.000 Neuankünfte von Afghanen vermeldete, die um internationalen Schutz ansuchten (UNHCR 31.12.2022).

Amnesty International (AI) berichtete über Fälle von Rückschiebungen von Afghanen durch die iranischen Sicherheitsbehörden an der Grenze, ohne dass deren individueller Bedarf an internationalem Schutz bewerten worden wäre (AI 31.08.2022). Neu geflüchtete Personen können beim BAFIA ein Asylgesuch stellen, erhalten mit wenigen Ausnahmen de facto jedoch kein Asyl. In der Regel hindert die Regierung sie an einer Registrierung (SEM 30.03.2022). Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan bestand die übliche Strategie der iranischen Regierung darin, Neuankömmlinge in Lagern unterzubringen, indem neue Standorte in den Grenzgebieten eingerichtet wurden. Es kamen viele neue Flüchtlinge aus Afghanistan in den Lagern an und benötigten dringend humanitäre Hilfe (IOM 04.05.2022). Aufgrund der bis zu 1,5 Millionen Personen, die laut Angaben der iranischen Behörden aus dem Nachbarland nach Iran gekommen waren - wobei UNHCR diese Zahl aufgrund mangelnden Zugangs zur Grenzregion nicht verifizieren kann - forderte Iran substanzielle finanzielle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft (AA 30.11.2022).

Amayesh-Programm

Mit der Durchführung des Amayesh-Programms für Flüchtlinge in Iran wurde in der Zeit von 2001 bis 2003 begonnen. Im Jahr 2001 begann man mit den Vorregistrierungen und im Jahr 2003 wurde die erste Amayesh-Runde durchgeführt. Die Personen, die durch das Programm registriert worden sind, bekamen sogenannte Amayesh-Karten ausgestellt, die unter anderem das Recht auf medizinische Versorgung und Ausbildung einschließen. Die Amayesh-Karten haben eine begrenzte Gültigkeit, und um ihren legalen Status in Iran nicht zu verlieren, müssen sich Amayesh-registrierte Personen bei jeder Registrierungsrunde, die in Iran durchgeführt wird, erneut registrieren (Migra 10.04.2018; vergleiche UNHCR o. D.a). Der Prozess zur erneuten Registrierung ist immer noch mit Schwierigkeiten und unterschiedlichen Ausgaben verbunden, die in den verschiedenen Provinzen variieren können. Normalerweise geschieht die Erneuerung jedes Jahr (Migra 10.04.2018). Bei der jüngsten Registrierungsrunde („Amayesh 17“) lagen die Registrierungskosten für eine Familie mit fünf Personen bei 13,625.000 Rial [offizieller Umrechnungskurs: rund 325 Euro, am freien Markt (Stand 11.04.2023) rd. 24 Euro] (Shahrara 19.07.2022; EUAA 01.12.2022). Hierin sind die Kosten für die Arbeitserlaubnis für eine Person sowie die Provinzsteuer inkludiert. Die iranischen Behörden geben im Internet bekannt, wenn es Zeit für eine neue Amayesh-Runde ist. Sie informieren auch über andere Regeln online und erwarten, dass sich die Betroffenen auf dem Laufenden halten, was nicht immer der Fall ist. Hilfsorganisationen richten sich mit Sonderinformationen an die am meisten schutzbedürftigen Gruppen, damit sie nicht verpassen, sich erneut für eine neue Amayesh-Karte oder den Schulbesuch der Kinder zu registrieren (Migra 10.04.2018).

Die Afghanen, die vor 2001 nach Iran gekommen sind, werden – vorausgesetzt, dass sie sich bei sämtlichen Amayesh-Registrierungen registriert haben – von den iranischen Behörden als Flüchtlinge betrachtet. Das Amayesh-System ist aber kein offenes System, was bedeutet, dass neu eingereiste Afghanen kein Asyl in Iran beantragen können. Seit 2001 werden im Prinzip keine Neuregistrierungen mehr vorgenommen. Zu den Ausnahmen gehören wenige, besonders schutzbedürftige Fälle. Kinder von Amayesh-registrierten Eltern werden registriert. Wenn eine Person ihren Amayesh-Status infolge einer verpassten Registrierung verliert, gibt es keine Möglichkeit zur erneuten Registrierung. Amayesh-Registrierte verlieren ihren Status, wenn sie Iran verlassen, weil der Amayesh-Status keine Ausreise erlaubt (Migra 10.04.2018). Inhaber von Amayesh- (und Hoviat)-Karten, welche außerhalb der Provinz reisen wollen, in welcher sie registriert sind, müssen dafür bei der BAFIA-Niederlassung in ihrer Provinz um ein temporäres Laissez-Passer ansuchen, und es gibt designierte Gebiete, in welche die Karteninhaber nicht reisen dürfen (UNHCR o. D.b).

Registrierung von Personen ohne Aufenthaltsstatus

Als Teil der Bestrebungen der iranischen Behörden, Kontrolle über die sich illegal im Land aufhaltenden Afghanen zu bekommen, wurde 2017 ein Programm zur Identifikation und Registrierung afghanischer Staatsbürger durchgeführt. Dieser sogenannte ‚headcount‘ richtete sich zu Beginn nur auf Afghanen, wurde aber später auch auf irakische Staatsbürger im Land ausgeweitet. Hinsichtlich sich illegal im Land aufhaltender Afghanen wurde das Hauptaugenmerk in der ersten Runde auf drei besondere Kategorien gelegt:

1.           Unregistrierte Afghanen mit in die Schule gehenden Kindern;

2.           Unregistrierte Afghanen, die mit Amayesh-registrierten Personen verheiratet sind;

3.           UnregistrierteAfghanen, die mit iranischen Staatsbürgern verheiratet sind (Migra 10.04.2018).

Personen aus diesen Kategorien, die eine dem Programm entsprechende Identifikation durchlaufen haben, haben einen Papierbeleg (headcount slip) erhalten, der sie bis auf Weiteres davor schützt, aus Iran deportiert zu werden (Migra 10.04.2018). Beim letzten Zählungszyklus für Afghanen, der im Juni 2022 endete, wurden drei Kategorien von Berechtigten registriert:

1.           Besitzer von Papierbelegen der Zählung von 2017;

2.           Afghanische Staatsangehörige ohne Papiere, die bereits ihre „Impfeinführungsbriefe“ von Kefalat-Zentren erhalten haben und nicht an der Zählung von 2017 teilgenommen haben;

3.           Ausländer ohne Papiere, die an keiner der bisherigen Zählungen/Impfplänen teilgenommen haben (UNHCR o. D.c).

Die iranischen Behörden kündigten an, dass die Registrierten eine zeitweilige Aufenthaltserlaubnis von sechs Monaten erhalten, die erneuert werden kann (AJ 12.06.2022). Die Kosten für die Registrierung und Teilnahme von Afghanen ohne Aufenthaltsstatus an der Zählung belaufen sich auf 270.000 Rial pro Person [Anm.: mit Stand Februar 2023 rd. 6 Euro], wenn die Person sich an die Pishkhan-Zentren wendet, und auf 310.000 Rial pro Person [rd. 6,80 Euro], wenn die Person ein Impfzertifikat besitzt und sich an die Kefalat-Zentren wendet (UNHCR o. D.c). Pishkan- und Kefalat-Zentren sind lokale Servicezentren, die von den iranischen Behörden in Kooperation mit privaten Anbietern eingerichtet wurden (Landinfo 05.01.2021, UNHCR o. D.a).

Im Juli 2022 kündigte BAFIA an, dass sich Afghanen, die an der im Juni abgeschlossenen Zählung teilgenommen haben und vorübergehenden Schutz mit sechsmonatiger Gültigkeit (bis zum 22.10.2022) genießen, nur in der Provinz ihres Wohnsitzes (die zum Zeitpunkt der Teilnahme an der Zählung registrierte Provinz) aufhalten und sich innerhalb dieser bewegen dürfen. In der Mitteilung der Regierung wird darauf hingewiesen, dass Reisen in andere Gebiete und Provinzen untersagt sind, eine Verletzung dieser Regelung wird laut Ankündigung „die Abschiebung der betroffenen Personen auf dem Rechtsweg zur Folge haben“ (UNHCR 03.08.2022).

Rechte und Zugang zu Leistungen

Während Afghanen unabhängig von ihrem Status beispielsweise freien Zugang zum Schulwesen haben und viele von ihnen die versteckten Subventionen nutzen können, die die Regierung zur Kontrolle der Preise für Lebensmittel, Medikamente und Benzin bereitstellt, sind Personen ohne Aufenthaltsstatus beispielsweise nicht in der Lage, Bankkonten zu eröffnen oder Wohnungen und SIM-Karten für Mobiltelefone zu kaufen (AJ 12.06.2022). Amayesh- und Hoviat-Karteninhaber (UNHCR o. D.b) sowie durch den headcount registrierte Afghanen sind in ihrer Bewegungsfreiheit im Land eingeschränkt (UNHCR 03.08.2022). Besitzer gültiger Visa können sich dagegen frei im Land bewegen (IOM 04.05.2022). Im Dezember 2023 kündigte ein Behördenvertreter an, dass es afghanischen Staatsbürgern entsprechend einer neuen Direktive verboten sei, in 16 iranische Provinzen [Anm.: von insg. 31] zu reisen, dort zu wohnen oder zu arbeiten (RFE/RL 04.12.2023; vergleiche IRINTL 03.12.2023). Der Beamte berichtete auch über die Verhaftung von Arbeitgebern in der Provinz Kermanshah, die zuwiderhandelnde Personen eingestellt hatten (IRINTL 03.12.2023).

Von iranischer Seite gibt es einige NGOs, die sich um afghanische Flüchtlinge kümmern. Die iranischen Behörden haben den Spielraum dieser unabhängigen Organisationen in den letzten Jahren eingeschränkt. Betroffen war besonders die Imam Ali Society, ehemals eine der größten NGOs in Iran, die sich u. a. um afghanische Flüchtlinge gekümmert hat. Ihr Gründer wurde 2020 festgenommen und die Organisation 2021 gerichtlich aufgelöst. Sie scheint jedoch nach wie vor aktiv zu sein. Folgende Organisationen unterstützen beispielsweise ebenfalls afghanische Flüchtlinge bzw. speziell Frauen als Gewaltopfer: die landesweit tätige Organization for Defending Victims of Violence und Association for Protection of Refugee Women and Children (HAMI) oder die in Teheran aktive Omid-Mehr Foundation; die Society for Recovery Support (SRS) und die Rebirth Charity Organization im Bereich Drogensucht; und weitere Organisationen wie die World Relief Foundation (WRF), die Chain of Hope (COH); das Pars Development Activists Institute (PDA), die Iranian Life Quality Improvement Association (ILIA) oder die Kiyana Cultural and Social Group (KIYANA) (SEM 30.03.2022).

Bildungswesen

Seit 2015 ist die Schulpflicht auf alle afghanischen Kinder, auch jene ohne legalen Aufenthaltsstatus, ausgedehnt. Familien, deren Kind oder Kinder in Iran die Schule besuchen, können nicht abgeschoben werden. Die Schulgebühren für Flüchtlingskinder wurden 2016 aufgehoben. Dennoch finden nicht alle Kinder einen Schulplatz, etwa weil erschwingliche Transportmöglichkeiten fehlen, die Kinder illegal arbeiten geschickt werden, die allgemeine Einschreibegebühr von umgerechnet 60 US-Dollar zu hoch ist, oder Eltern iranischer Kinder gegen die Aufnahme von afghanischen Kindern sind (ÖB Teheran 11.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban wurde auch von Schwierigkeiten des iranischen Bildungsministeriums bei der Unterbringung der gestiegenen Anzahl an schulpflichtigen Kindern in iranischen Schulen berichtet (UNHCR 29.09.2022). Registrierte Schüler können sich direkt an Schulen in ihrer Nähe wenden, um sich einzuschreiben. Schüler ohne Registrierung müssen zuerst das BAFIA aufsuchen, um die erforderlichen Papiere auszufüllen (IOM 04.05.2022). Sie können sich mit einer speziellen „Bildungsschutzkarte“ oder blue card an Schulen anmelden, die vom BAFIA ausschließlich für die Einschreibung an Schulen in einer bestimmten Provinz ausgestellt wird. In Ermangelung ordnungsgemäßer Unterlagen enthält dieses Dokument Angaben des Antragstellers zu seinen persönlichen Daten und ist jeweils ein Jahr lang gültig (UNHCR o. D.a).

Flüchtlingskinder lernen Seite an Seite mit ihren iranischen Klassenkameraden nach dem iranischen Lehrplan. Es gibt einige von der afghanischen Gemeinschaft betriebene Schulen, in denen in Dari oder anderen in Afghanistan gesprochenen Sprachen unterrichtet wird. Diese Schulen sind mittlerweile anerkannt, nachdem sie zuvor regelmäßig von den Behörden geschlossen wurden (ACCORD 04.05.2020).

Bildung auf höherem Niveau ist nur für Inhaber eines Visums zugänglich. Flüchtlinge (Inhaber einer Amayesh-Karte) und Migranten ohne Registrierung können sich nicht für ein Hochschulstudium oder eine Berufsausbildung einschreiben (IOM 04.05.2022). Um an einer Universität zu studieren, müssen Inhaber einer Amayesh-Karte und Inhaber einer Aufenthaltsgenehmigung ihren Status aufheben, das Land verlassen und erneut ein Visum für die Ausbildung beantragen, um nach Iran einzureisen (IOM 04.05.2022; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Angesichts der volatilen Lage in Afghanistan kündigte das iranische Wissenschaftsministerium im Oktober 2021 an, dass Afghanen, die in Iran studieren wollen, zur Beantragung des Studentenvisums nun nicht mehr nach Afghanistan reisen müssen, sondern das Visum von der Insel Kish aus beantragen können (UNHCR 26.10.2021), die im Süden Irans liegt und eine Visa-freie Zone ist. Zuvor bestand diese Möglichkeit nur für Frauen (IOM 04.05.2022; vergleiche EUAA 01.12.2022). Mit Stand November 2022 war die neue Regelung in Kraft (EUAA 01.12.2022). Nach dem Studium besteht die Gefahr, keine Aufenthaltserlaubnis mehr zu erlangen. Infolgedessen beantragen viele stattdessen Asyl in Europa, um dort ihre Ausbildung fortzusetzen, obwohl sie dies lieber in Iran gemacht hätten (ÖB Teheran 11.2021).

Gesundheitswesen

Medizinische Grundversorgung ist für alle Menschen in Iran gratis zugänglich, nicht registrierte Flüchtlinge haben jedoch oft Angst, abgeschoben zu werden, und nehmen diese nicht in Anspruch (ÖB Teheran 11.2021). Der Zugang zur staatlichen Krankenversicherung ist hingegen abhängig vom konkreten Aufenthaltsstatus (SEM 30.03.2022). Seit 2016 können sich alle registrierten Flüchtlinge [Anm.: Inhaber einer Amayesh-Karte] in der staatlichen Krankenversicherung registrieren, müssen allerdings eine Gebühr zahlen, die sich viele nicht leisten können. UNHCR zahlt diese Gebühr für die vulnerabelsten Flüchtlinge (ÖB Teheran 11.2021). Inhaber der Amayesh-Karte sind über das von UNHCR unterstützte Versicherungssystem krankenversichert, Visuminhaber meist über eine Beschäftigung bei einer iranischen Organisation oder einem Unternehmen. Migranten ohne Papiere haben keinen Zugang zu einer Krankenversicherung, und wenn sie eine Gesundheitseinrichtung aufsuchen wollen, müssen sie alle Kosten selbst tragen. Es gibt keine ausreichenden Kapazitäten von NGOs, um Migranten ohne Aufenthaltstitel bei der Deckung medizinischer Kosten zu unterstützen. Lediglich bei den Grundkosten kann der UNHCR teilweise helfen (IOM 04.05.2022). Die Krankenversicherungsleistungen für registrierte Flüchtlinge sollen erweitert und möglichst alle Flüchtlinge in medizinische Betreuungsmaßnahmen aufgenommen werden. Dazu bedient sich die Flüchtlingsbehörde BAFIA zunehmend eines Überweisungssystems von besonders schwierigen Fällen an internationale NGOs oder UNHCR.

UNHCR ist mit Gesundheitsstationen in vielen Provinzen tätig und leistet mit einem zusätzlichen Versicherungsangebot innerhalb des bestehenden Krankenversicherungssystems für Geflüchtete (UPHI Universal Public Health Insurance) im aktuellen 8. Zyklus, der am 24.02.2023 abläuft, Hilfe in bis zu 120.000 Härtefällen. Zudem sind Flüchtlinge Teil der staatlichen COVID-19-Impfkampagne (AA 30.11.2022).

Arbeitsmöglichkeiten

Amayesh-registrierte Afghanen im Alter von 18 bis 60 Jahren können mit der Amayesh-Verlängerung eine Arbeitsgenehmigung erhalten (Diaran 25.07.2022). Männer in diesem Alter sind dazu verpflichtet, dies in Zusammenhang mit der Amayesh-Registrierung zu tun. Amayesh-registrierte Frauen können keine offizielle Arbeitserlaubnis in Iran beantragen, aber in der Praxis arbeiten auch einige afghanische Frauen – oft zu Hause. Der Arbeitsmarkt für Afghanen in Iran ist reguliert, und Afghanen haben das Recht, in 87 verschiedenen Berufen zu arbeiten. Ein Problem für Amayesh-registrierte, ausgebildete Personen ist, dass die Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt bedeuten können, dass sie nicht in dem Bereich arbeiten können, für den sie ausgebildet sind. In einzelnen Fällen, wo eine Amayesh-registrierte Person eine gewisse Berufskompetenz besitzt, die nicht unter die 87 erlaubten Berufe fällt, kann eine Ausnahme gestattet werden (Migra 10.04.2018). Die meisten Flüchtlinge gehen eher minderwertigen und schlecht bezahlten Arbeiten v. a. im informellen Sektor (Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder Landwirtschaft) nach, die offiziell versicherungspflichtig sind (AA 30.11.2022). Afghanen, die keine Amayesh-Karte und kein bestehendes Arbeitsvisum besitzen, müssen das folgende Verfahren durchlaufen: Rückkehr nach Afghanistan, um sich bei der iranischen Botschaft in Afghanistan ein Arbeitsvisum ausstellen zu lassen, dann können sie auf der Grundlage des Arbeitsvisums wieder nach Iran einreisen. Dieses Verfahren ist für viele Migranten aufgrund von Sicherheitsbedenken und der Tatsache, dass nicht garantiert ist, dass sie nach der Ausreise aus Iran ein Arbeitsvisum für die Wiedereinreise erhalten können, schwierig anzuwenden. Daher verbleiben viele afghanische Migranten in ihrer derzeitigen Situation und arbeiten illegal im informellen Sektor (IOM 04.05.2022).

Zugang zu Wohnraum

Nach iranischem Recht ist es Ausländern nicht gestattet, unbewegliches Eigentum wie Grundstücke und Gebäude zu besitzen, es sei denn, es gelten ganz besondere Bedingungen und Vereinbarungen zwischen Iran und anderen Ländern. Legale Migranten und Flüchtlinge (Inhaber einer Amayesh-Karte) können Geschäftsräume und Wohnungen zu Wohnzwecken mieten. Es ist verboten, Immobilien an Migranten ohne Papiere zu vermieten (IOM 04.05.2022). Die Wohnungskosten stellen einen der größten Ausgabenposten für Afghanen in Iran dar. Bei der Anmietung eines Hauses wird eine Kaution an den Besitzer bezahlt, und je größer die Kaution, die hinterlegt werden kann, desto billiger werden die Mietkosten (Migra 10.04.2018). Nach Angaben des UNHCR leben trotzdem nur etwa 6 % der Afghanen in Iran in Lagern, während die überwiegende Mehrheit unter der iranischen Bevölkerung lebt (AJ 12.06.2022).

Zugang zu afghanischen Dokumenten, Hochzeit und Staatsbürgerschaft von Kindern

Afghanen, die eine Tazkira beantragen wollen, müssen manchmal zwei Monate oder länger auf den ersten Termin bei der afghanischen Botschaft in Iran warten. Da die Tazkira in Afghanistan ausgestellt wird, müssen die Antragsteller eine Person in Afghanistan benennen, die ihren Antrag in ihrem Namen weiterverfolgt und die notwendigen Formalitäten in Afghanistan erledigt. Das Fehlen einer vertrauenswürdigen oder erreichbaren Person (z. B. schlechte Telefon- oder Internetverbindung) in Afghanistan, die die nötige Papierarbeit erledigt, ist eine der größten Herausforderungen für die Antragsteller, insbesondere für diejenigen, die ihre familiären Bindungen in Afghanistan verloren haben. Der Besitz einer Tazkira ist eine Voraussetzung für die Ausstellung eines Reisepasses und für die Beantragung einer Amayesh-Karte (IOM 04.05.2022).

Afghanische Staatsangehörige können unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in Iran heiraten, sofern sie ein gültiges Ausweisdokument besitzen. Ihre Ehe unterliegt den afghanischen Gesetzen und wird bei der afghanischen Botschaft registriert (IOM 04.05.2022). Hochzeiten zwischen Iranern und afghanischen Flüchtlingen sind, obwohl keine Seltenheit, schwierig, da die iranischen Behörden dafür Dokumente der Botschaft oder der afghanischen Behörden benötigen (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche IOM 04.05.2022). Staatenlosen wird von einigen Provinzverwaltungen Zugang zur öffentlichen Grundversorgung und das Ausstellen von Reisedokumenten und sonstigen Papieren verwehrt; eine einheitliche Praxis fehlt (ÖB Teheran 11.2021).

Mittlerweile ist es möglich, dass iranische Frauen ihre Staatsbürgerschaft an Kinder mit einem ausländischen Vater weitergeben können (USDOS 12.04.2022b; vergleiche FH 24.02.2022b). Iran wendet sowohl den Grundsatz des jus soli als auch den des jus sanguinis an. So erhält ein Kind, das von einem iranischen Vater und einer afghanischen Mutter im Rahmen einer offiziellen Ehe geboren wird, automatisch die iranische Staatsangehörigkeit (IOM 04.05.2022).

Weitere Aspekte

Kulturell, sprachlich, religiös und in den Grenzbereichen auch ethnisch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Iranern und Afghanen (ÖB Teheran 11.2021). Die iranischen Behörden sind sich jedoch uneins darüber, wie sie mit der wachsenden Zahl illegaler afghanischer Einwanderer umgehen sollen (IRINTL 28.09.2023). Iranische Behörden fürchten einerseits einen noch größeren Zustrom von Afghanen und verweisen auf die bereits große afghanische Gemeinde in Iran, die schlechte Wirtschaftslage angesichts der US-Sanktionen und die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie. Es werden Spannungen zwischen ansäßiger Bevölkerung und Neuankömmlingen befürchtet (ÖB Teheran 11.2021). Bereits bisher werden Afghanen teilweise diskriminiert (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche Stimson 24.10.2023), und es kommt zu anti-afghanischen Protesten (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche IRINTL 14.10.2023), z. B. gegen die Aufnahme afghanischer Kinder in Schulen (ÖB Teheran 11.2021). Im Oktober 2023 wurde auch von zwei Vorfällen gewalttätiger Angriffe auf Afghanen berichtet (IRINTL 14.10.2023; vergleiche RFE/RL 18.10.2023).

Andererseits werben manche Hardliner-Medien auch angesichts der gesunkenen Geburtenrate und gestiegenen Emigration von Iranern um eine Akzeptanz der Afghanen (IRINTL 28.09.2023). Die meisten Flüchtlinge gehen gering qualifizierten und schlecht bezahlten Arbeiten v. a. im informellen Sektor (Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder Landwirtschaft) nach (AA 30.11.2022) und sehen sich mit Vorurteilen und negativen Stereotypen konfrontiert (Stimson 24.10.2023). Sie sind im Großen und Ganzen - auch wenn sie zum Teil bereits in der zweiten Generation in Iran leben - wenig integriert (AA 30.11.2022). Die Tötung zweier schiitischer Geistlicher in Maschhad Anfang April 2022 hat reflexartige anti-afghanische und anti-sunnitische Vorurteile offenbart (AA 30.11.2022; vergleiche AJ 12.06.2022). Es wurde von Rassismus gegen Afghanen berichtet (Inkstick 06.01.2023), und im Jahr 2022 kam es in Afghanistan zu anti-iranischen Protesten, nachdem im Internet mehrere Videos veröffentlicht wurden, die angeblich zeigen, wie Flüchtlinge von iranischen Grenzsoldaten geschlagen werden (AJ 12.06.2022; vergleiche Inkstick 06.01.2023).

Die Revolutionsgarden sollen Tausende von in Iran lebenden afghanischen Migranten mithilfe von Zwangsmaßnahmen für den Kampf in Syrien rekrutiert haben. Human Rights Watch berichtete, dass sich unter den Rekrutierten auch Kinder im Alter von 14 Jahren befinden (FH 24.02.2022b; vergleiche USDOS 12.04.2022b).

Rückkehr

Die freiwillige Rückkehr registrierter afghanischer Flüchtlinge sank bis Ende August 2022 mit 246 Personen erneut deutlich (2021: 800 Personen) (AA 30.11.2022), insgesamt kehrten im Jahr 2022 376 Afghanen mit Unterstützung von UNHCR freiwillig von Iran nach Afghanistan zurück (UNHCR 31.12.2022). Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2021 sind laut IOM (Stand August 2022) mit 982.680 Personen weniger nicht-registrierte Afghanen aus Iran nach Afghanistan zurückgekehrt als zuvor. Trotz Stellungnahme von UNHCR zur Einhaltung des völkerrechtlichen Prinzips des non-refoulement führt Iran nach Angaben von UNHCR weiter Abschiebungen durch. UNHCR schätzt, dass 65 % der neu ankommenden afghanischen Flüchtlinge abgeschoben werden (AA 30.11.2022). Die iranischen Behörden haben bereits vor dem Fall Afghanistans an die Taliban jährlich hunderttausende Afghanen nach Afghanistan zurückgeschickt. Die vom IOM verzeichneten Rückreisen nach Afghanistan waren seit Jahren ansteigend. Viele kehrten dabei auch freiwillig zurück – oft, um später wieder nach Iran einzureisen (zirkuläre Migration). Iran hat in den Grenzregionen verschiedene Transitzentren eingerichtet, von wo aus die afghanischen Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgeschickt werden. UNHCR zeigt solche Zentren auf einer Karte von März 2022 in den Provinzen Razavi Khorasan, in Süd-Khorasan und in Sistan und Belutschistan. Die Einrichtungen werden als überfüllt und schmutzig beschrieben, mit mangelnder Ernährung und medizinischer Versorgung. Sicherheitskräfte haben demnach die Flüchtlinge – besonders diejenigen, die kein Geld für den Rücktransport vorweisen konnten – wiederholt geschlagen und angegriffen sowie ihres Geldes oder des Mobiltelefons beraubt. Internationale Organisationen, inkl. UNHCR, haben nur beschränkten Zugang zu diesen Lagern bzw. zur Grenzregion insgesamt (SEM 30.03.2022). Iran hat die Abschiebung von Afghanen seit einer Ankündigung vom September 2023, alle Migranten ohne Papiere auszuweisen, intensiviert (RFE/RL 18.10.2023). Ende 2023 berichteten die Grenzbehörden der Taliban von einer Zunahme an Abschiebungen von Afghanen aus Iran (FR24 08.11.2023; vergleiche TN 11.12.2023), zwischen September und Dezember 2023 betraf dies demnach über 345.000 Afghanen (TN 11.12.2023). [...]

24 Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung 2024-03-28 14:23

Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 12.01.2023, UNDP 18.04.2023), was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt (WEA 17.07.2022; vergleiche UNDP 18.04.2023, NH 31.01.2024). Die humanitäre Lage bleibt angespannt (AA 26.06.2023; vergleiche UNGA 01.12.2023). Während Afghanistan gute Fortschritte bei der Aufrechterhaltung von Stabilität und Sicherheit gemacht zu haben scheint, hat sich die afghanische Wirtschaft von dem erheblichen Produktionsrückgang seit 2020 nicht erholt. Dies ist größtenteils auf eingeschränkte Bankdienstleistungen und Operationen des Finanzsektors, Unterbrechungen in Handel und Gewerbe, geschwächte und isolierte wirtschaftliche Institutionen und fast keine ausländischen Direktinvestitionen oder Geberunterstützung für die produktiven Sektoren zurückzuführen (UNDP 12.2023).

Fast zwei Drittel der afghanischen Haushalte haben auch zwei Jahre nach dem Regimewechsel mit einem extrem hohen Maß an Entbehrungen zu kämpfen. Im Jahr 2023 sind laut einem Bericht von UNDP (United Nations Development Programme) 69 % der afghanischen Bevölkerung existenzgefährdet, da sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, lebensnotwendigen Gütern, angemessenen Lebensbedingungen und Beschäftigungsmöglichkeiten haben, die für ein Leben auf dem Existenzminimum notwendig sind. Dies ist eine Verbesserung um 19 % im Vergleich zu den 85 % im Jahr 2022 (UNDP 12.2023). Laut einem Bericht des World Food Programmes hatten im Dezember 2023 38 % der Haushalte im Rahmen der Nahrungsmittelaufnahme hohe Bewältigungsstrategien aufzuwenden, was einen Rückgang um 5 % gegenüber September 2023 bedeutet. Zu diesen verbrauchsorientierten Bewältigungsstrategien zählen beispielsweise der Kauf billigerer Nahrungsmittel, das Borgen von Lebensmitteln von Verwandten oder Freunden, die Einschränkung der Portionsgröße bei Erwachsenen oder das Reduzieren der Anzahl der Mahlzeiten pro Tag (WFP 11.02.2024).

Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden die Gehälter aller Staatsbediensteten, einschließlich der Frauen, die zu Hause bleiben mussten, weitergezahlt. Das Taliban-Ministerium für Märtyrer- und Behindertenangelegenheiten gab Anfang September bekannt, dass es die Zahlungen für die Familien von Märtyrern und Behinderten aus den Zeiten der Republik und der de facto-Taliban-Behörde abgewickelt habe, obwohl die Pensionen der pensionierten Staatsbediensteten aus der Zeit der Republik nicht ausgezahlt wurden (UNGA 01.12.2023). Laut einem Rechtsanwalt in Kabul ist das Rentensystem in Afghanistan derzeit ausgesetzt. Mit Stand Februar 2024 gibt es keine wirksamen Vorschriften und Gesetze der Taliban, die zeigen, wie ein Rentensystem funktionieren soll (RA KBL 19.02.2024).

Seit April 2023 ist ein anhaltender deflationärer Trend zu beobachten, der durch schwindende Ersparnisse der Haushalte, geringere öffentliche Ausgaben, höhere Arbeitslosigkeit und negative Auswirkungen auf die Einkommen der Landwirte aufgrund des Verbots des Opiumanbaus gekennzeichnet ist (WFP 11.02.2024). Insgesamt haben sich die Lebensbedingungen der Haushalte im Jahr 2023 leicht verbessert, was größtenteils auf internationale Hilfe zurückzuführen ist. Trotz eines Anstiegs des durchschnittlichen monatlichen Realeinkommens der Haushalte um 76 % im Vergleich zu 2022 ist der Subsistenzbedarf von mehr als der Hälfte der Haushalte immer noch höher als ihr Einkommen (UNDP 12.2023).

Frauen und Mädchen sind unverhältnismäßig stark von der sozioökonomischen Krise betroffen (UNDP 12.2023) und sehen sich größeren Hindernissen bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und finanziellen Mitteln gegenüber (HRW 11.01.2024). 2023 ist der Beschäftigungsanteil der erwerbstätigen weiblichen Haushaltsmitglieder über alle Beschäftigungsarten hinweg um fast die Hälfte zurückgegangen, während der Beschäftigungsanteil der erwerbstätigen männlichen Haushaltsmitglieder im gleichen Zeitraum um 11 % gestiegen ist (UNDP 12.2023). Die Politik der Taliban, Frauen von den meisten bezahlten Tätigkeiten auszuschließen, hat die Situation noch verschlimmert (HRW 11.01.2024; vergleiche UNDP 18.04.2023), vor allem für Haushalte, in denen Frauen die einzigen oder wichtigsten Lohnempfängerinnen waren. In den Fällen, in denen die Taliban Frauen die Arbeit erlaubten, wurde dies durch repressive Auflagen fast unmöglich gemacht, wie z. B., dass Frauen von einem männlichen Familienmitglied zur Arbeit begleitet werden und dort während des gesamten Arbeitstages beaufsichtigt werden müssen (HRW 11.01.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90 % der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben (ATR/STDOK 03.02.2023).

Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison (ACAPS 16.06.2023).

Naturkatastrophen

Afghanischen Haushalte sind nach wie vor stark von Naturkatastrophen betroffen und anfällig für Klimaschocks. Afghanistan hat unter den Ländern mit niedrigem Einkommen in den letzten 40 Jahren die meisten Todesopfer durch Naturkatastrophen zu beklagen und steht weltweit auf Platz 5 der klimatisch am stärksten gefährdeten Länder (UNDP 18.04.2023).

Afghanistan erlebte im Jahr 2022 Naturkatastrophen (UNOCHA 1.2023), von denen allein zwischen Jänner 2022 und Jänner 2023 mehr als 241.052 Menschen in 33 von 34 Provinzen betroffen waren. Afghanistan ist anfällig für Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, Erdrutsche und Lawinen. Mehr als drei Jahrzehnte Konflikt, gepaart mit Umweltzerstörung und unzureichenden Investitionen in Strategien zur Verringerung des Katastrophenrisikos, haben dazu beigetragen, dass die afghanische Bevölkerung immer schwerer mit Naturkatastrophen fertig wird. Im Durchschnitt sind jedes Jahr 200.000 Menschen von solchen Katastrophen betroffen (UNOCHA 02.02.2023).

Nach einem Bericht von UNOCHA erlebt Afghanistan 2024 das dritte Dürrejahr in Folge, während 30 von 34 Provinzen mit einer schlechten oder sehr schlechten Wasserqualität zu kämpfen haben (UNOCHA07.01.2024).

Im März 2023 kam es zu einem schweren Erdbeben im Norden Afghanistans (REU 22.03.2023; vergleiche FR24 22.03.2023). Berichten zufolge kamen bei Überschwemmungen im Juli 2023 mindestens 47 Menschen in elf Provinzen ums Leben (PAN 27.07.2023). Die durch heftige saisonale Regenfälle verursachten Sturzfluten haben Häuser sowie Hunderte von Quadratkilometern landwirtschaftlicher Nutzfläche teilweise oder vollständig zerstört (UNHCR 01.08.2023; vergleiche AJ 24.07.2023). Betroffene Provinzen waren vor allem Kabul, Maidan Wardak und Ghazni (AJ 24.07.2023), aber auch die Provinzen Kunar, Paktia, Khost, Nuristan, Nangarhar, Paktika und Helmand hatten Opfer zu verzeichnen (PAN 27.07.2023).

Am 07.10.2023 kam es zu einem schweren Erdbeben in Herat, gefolgt von zusätzlichen Nachbeben (UN News 16.10.2023; vergleiche UNOCHA 16.10.2023). Das Epizentrum des Bebens war der Distrikt Zendahjan (AP 12.10.2023), den UNOCHA zusammen mit den Distrikten Herat und Enjil als die am stärksten betroffenen Regionen identifizierte (UNOCHA 20.10.2023). Berichten zufolge wurden ganze Dörfer zerstört (CNN 15.10.2023), und Tausende Menschen getötet (AP 11.10.2023; vergleiche AAN 11.11.2023). Nach Angaben von UNOCHA waren mehr als 275.000 Menschen in neun Distrikten direkt von den Erdbeben betroffen (UNOCHA 16.11.2023a), die mindestens 1.480 Todesopfer und 1.950 Verletzte forderten (UNOCHA 16.11.2023b). Mehr als 8.429 Häuser wurden zerstört und weitere 17.088 stark beschädigt (UNOCHA 20.10.2023). [...]

24.1 Armut und Lebensmittelunsicherheit

Letzte Änderung 2024-03-28 14:30

Afghanistan gehört zu den Ländern mit der weltweit höchsten Prävalenz von unzureichender Ernährung. Der Hunger ist in erster Linie auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen, die Afghanistan seit August 2021 erfasst hat. Hinzu kommen jahrzehntelange Konflikte, Klimaschocks und starke Einschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen auf Arbeit und Hochschulbildung (WFP 25.06.2023).

Die Ernährungsunsicherheit in Afghanistan ist weiterhin hoch (IPC 14.12.2023; vergleiche WFP 25.06.2023). Im Oktober 2023, während der Nacherntezeit, waren etwa 13,1 Millionen Menschen, d. h. 29 % der Gesamtbevölkerung, mit einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert (IPC-Phase 3 oder höher) (IPC 14.12.2023). Laut einem Bericht des World Food Programme (WFP) sank der Anteil der Haushalte mit mangelhaftem Nahrungsmittelverbrauch im Juni 2023 kurzfristig auf 48 %, stieg jedoch im Dezember wieder auf 54 %, wobei Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sowie Haushalte mit Menschen mit Behinderung überproportional von den negativen Ergebnissen beim Lebensmittelkonsum betroffen sind (WFP 11.02.2024).

Zu den Hauptursachen dieser akuten Ernährungsunsicherheit gehören unter anderem die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen (IPC 14.12.2023; vergleiche WFP 25.06.2023), die hohe Arbeitslosigkeit sowie die anhaltend hohen Preise für Lebensmittel und landwirtschaftliche Betriebsmittel. Die negativen Auswirkungen der extremen und wechselhaften klimatischen Bedingungen, insbesondere der mehrjährigen Dürre zwischen 2021 und 2023, waren auch 2023 noch zu spüren. Darüber hinaus gefährden andere Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdbeben die begrenzten Bewältigungskapazitäten der Bevölkerung, was zu einer anhaltenden ernsten Ernährungsunsicherheit führt (IPC 14.12.2023). Anmerkung, Erklärungen zu den einzelnen IPC-Phasen finden sich am Ende des Kapitels.

Die folgende Grafik zeigt die Lebensmittelunsicherheit im November 2023 und die prognostizierte (November 2023 bis März 2024) Lebensmittelunsicherheit in Afghanistan nach Angaben von IPC (IPC 14.12.2023). [...]

Mit Blick auf den Projektionszeitraum zwischen November 2023 und März 2024, welcher der Wintermagersaison entspricht, wird eine Verschlechterung der Ernährungssicherheit erwartet, wobei die Zahl der Menschen in IPC-Phase 3 oder höher wahrscheinlich auf 15,8 Millionen (36 % der Gesamtbevölkerung) ansteigen wird, darunter etwa 3,6 Millionen Menschen in IPC-Phase 4 (Notfall) (IPC 14.12.2023).

Die anhaltende Dürre beeinträchtigt die landwirtschaftliche Produktivität, was zu Engpässen und Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln führt, während politische Veränderungen den Handel, die Produktion und die Vertriebskanäle direkt beeinflussen (IOM 22.02.2024).

Die Lebensmittelpreise sind seit der Machtübernahme durch die Taliban zunächst gestiegen (IOM 12.01.2023; vergleiche WEA 17.07.2022), was die prekäre Lebensmittelversorgung für einen Großteil der Bevölkerung verstärkte (AA 26.06.2023). Ab Mitte 2022 begannen die Lebensmittelpreise wieder langsam zu sinken (WFP 18.02.2024). Ein Trend, der sich auch im Jänner 2024 fortsetzt. So lagen die Preise für Grundnahrungsmittel zu diesem Zeitpunkt etwa 1 bis 3 % niedriger als im Dezember 2023 und 20 bis 35 % niedriger als im Vorjahr. Der Preisrückgang ist in erster Linie auf die Aufwertung des Afghani zurückzuführen, der den Import von Lebensmitteln förderte. Darüber hinaus hat die laufende Einfuhr von Nahrungsmitteln aus den Nachbarländern, insbesondere aus Kasachstan, Iran und Pakistan, wesentlich zur Aufrechterhaltung eines stabilen Marktangebots beigetragen, was wiederum zu niedrigeren Preisen für wichtige Nahrungsmittel geführt hat (FEWS NET 28.02.2024). [...]

IOM-Mitarbeiter befragten im Jänner 2024 Einzelhandelsgeschäfte auf den lokalen Märkten in Afghanistan und sammelten Informationen aus erster Hand für die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif (IOM 22.02.2024). Die nachfolgende Tabelle zeigt die Ergebnisse:

Quelle: IOM 22.02.2024, die Umrechnung EUR zu AFN wurde mit Stand 21.02.2024 von IOM durchgeführt.

Der Afghanistan Welfare Monitoring Survey (AWMS) vom Oktober 2023 deutet darauf hin, dass sich die Ernährungssicherheit afghanischer Haushalte seit den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban am 15.08.2021 verbessert hat, auch wenn die meisten von ihnen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Dies spiegelt sich in einem Rückgang der Haushalte wider, die von einer akuten Nahrungsmittelkrise berichten (WB 10.2023).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.1.2022). In der ein Jahr später durchgeführten Studie von ATR Consulting in Kabul gaben ca. 53 % der Befragten an, dass sie kaum in der Lage sind, die Familie mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen (ATR/STDOK 03.02.2023). [...]

24.2 Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten

Letzte Änderung 2024-03-29 07:07

Die Dynamik der Mietpreise in städtischen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, darunter Lage, Ausstattung und die allgemeine Qualität der Unterkunft (IOM 22.02.2024).

Die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News hatte im September 2022 bei Immobilienhändlern in den Kabuler Stadtteilen Shahr-i-Naw, Khoshal Khan und Qasaba Informationen über Kauf- und Verkaufspreise sowie Mietkosten eingeholt (PAN 19.09.2022). Demnach sanken Mietpreise für Häuser und Grundstücke nach dem Regierungswechsel im Jahr 2021 um 60 %. Im Jahr 2022 stiegen die Preise jedoch wieder um 50 %. So lag die Miete für eine Dreizimmerwohnung vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 je nach Stadtteil zwischen 8.000 AFN und 35.200 AFN. In den ersten Tagen des Talibanregimes sank der Preis auf zwischen 4.250 AFN und 25.400 AFN, und mit September 2022 lag der Preis zwischen 5.000 AFN und 19.800 AFN (PAN 19.09.2022). Ein afghanischer Wirtschaftsexperte gab an, dass zwar die Preise für Wohnungen und Autos seit der Machtübernahme durch die Taliban stark gesunken wären, jedoch gleichzeitig auch die Kaufkraft der Menschen erheblich gesunken ist (WEA 17.07.2022). [...]

Folgende Tabelle zeigt Informationen von IOM (International Organization for Migration), die im Jänner 2024 Daten zu Mietpreisen pro Monat vor Ort bei Vermietern und Hauseigentümern in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif erhoben hat. Sie sind nach der Anzahl der Betten in der Wohnung geordnet und bieten Einblicke in die Schwankungen der Mietpreise in verschiedenen Wohnumgebungen (IOM 22.02.2024).

Quelle: IOM 22.02.2024, die Umrechnung EUR zu AFN wurde mit Stand 21.2.2024 von IOM durchgeführt.

In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66 %) und Mazar-e Sharif (63 %) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50 % der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3 % der Befragten in Kabul, 48,4 % in Balkh und 8,7 % in Herat an, dass sie 5.000 bis 10.000 AFN pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3 % der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3 % und in Balkh 48,4 %. Nur 4,3 % der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.01.2022).

Laut der Studie, die ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchführte, leben ca. 58 % der Befragten in Mietwohngen bzw. -häusern, während der Rest Hausbesitzer sind. Von den Befragten, die in einer Mietwohnung leben, bezahlen ca. 60 % weniger als 5.000 AFN im Monat an Miete und ca. 33 % zwischen 5.000 und 10.000 AFN (ATR/STDOK 03.02.2023).

Anmerkung, Wechselkurse, so nicht anders angegeben, wurden zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der jeweiligen Quelldokumente durchgeführt, diese können sich im Laufe der Zeit geändert haben. [...]

24.3 Arbeitsmarkt

Letzte Änderung 2024-03-29 07:58

Nach Angaben von IOM nimmt die Höhe und Häufigkeit des Einkommens ab, und es gibt keine Anzeichen für eine Umkehrung dieser Entwicklung (IOM 12.01.2023; vergleiche UNDP 18.04.2023). Im Oktober 2023 schätzte die Weltbank, dass fast jeder dritte junge Mann arbeitslos ist und sich die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Zeitraum vor der Machtübernahme der Taliban mehr als verdoppelt hat, wobei der Anstieg der Arbeitslosigkeit auch mit einem Rückgang der von den Erwerbstätigen geleisteten Arbeitsstunden einherging (WB 10.2023).

Die von den Taliban verhängten Arbeitsbeschränkungen haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, welche die einzigen Lohnempfängerinnen ihrer Familien waren (AI 7.2022), was durch die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan noch verschärft wird (AI 7.2022; vergleiche UNDP 18.04.2023). Laut Erhebungen der Weltbank ist die Arbeitslosigkeit bei Frauen in allen Altersgruppen deutlich höher als bei Männern (WB 10.2023). [...]

Seit der Machtübernahme ist Berichten zufolge die Kinderarbeit und die Anzahl der Bettler deutlich gestiegen (IOM 12.01.2023; vergleiche WB 10.2023). Der Anstieg der Kinderarbeit könnte auch mit der Schließung von Schulen und Universitäten für Frauen sowie mit der vorherrschenden Konzentration auf religiöse Lehren in Schulen für Männer zusammenhängen. In Afghanistan ist Kinderarbeit vor allem in ländlichen Gebieten vorzufinden (IOM 12.01.2023). Kinder werden beispielsweise bei der Herstellung von Ziegeln (AJ 26.09.2022) oder in Kohleminen als Arbeiter eingesetzt (NPR 31.12.2022).

Seit Januar 2023 sind die Löhne für qualifizierte und ungelernte Arbeitskräfte leicht gestiegen, was mit der erhöhten Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt während der Erntesaison zusammenfällt. Während die Löhne für qualifizierte Arbeitskräfte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum leicht anstiegen, stagnierten die Löhne für ungelernte Arbeitskräfte in den letzten beiden Jahren. Laut einem Bericht des World Food Programme (WFP) ist der Durchschnittslohn für ungelernte Arbeitskräfte im Nordosten Afghanistans (Badakhshan, Baghlan, Kunduz und Takhar) von 350 AFN im Juni 2023 auf 325 AFN im Dezember 2023 gesunken. Auch die Zahl der Arbeitstage ist im gleichen Zeitraum von 3,25 Tagen auf 2,50 Tage gesunken (WFP 11.02.2024).

Auf der Grundlage des IOM Economic Resilience Employee Report, der Kabul, Herat und Mazar-e Sharif abdeckt, lassen die Ergebnisse unterschiedliche Muster bei den durchschnittlichen Tageslöhnen erkennen. So liegt der durchschnittliche Tageslohn in Kabul zwischen 300 und 500 AFN (3,71 - 6,19 EUR), was die vielfältigen wirtschaftlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten in der Hauptstadt widerspiegelt. Für Herat gibt der Bericht an, dass der durchschnittliche Tageslohnempfänger eine etwas geringere Spanne von 250 bis 350 AFN (3,00 - 4,34 EUR) erhält. In Mazar-e Sharif schließlich liegt der durchschnittliche Tageslohn bei 200 AFN (2,48 EUR). Diese Unterschiede bei den Tageslöhnen in den einzelnen Städten verdeutlichen die lokalen wirtschaftlichen Bedingungen, die Faktoren wie die Zusammensetzung der Industrie, die Nachfrage nach Arbeitskräften und die regionale wirtschaftliche Entwicklung umfassen und ein differenziertes Verständnis der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit in den verschiedenen städtischen Zentren ermöglichen (IOM 22.02.2024).

Anmerkung, Ein Euro entspricht mit Stand Februar 2024 ca. 77 AFN. [...]

24.4 Bank- und Finanzwesen

Letzte Änderung 2024-03-29 09:43

Einem Bericht der UNDP zufolge kam es nach dem Regimewechsel zu einer erheblichen Verschlechterung des Bankensystems in Afghanistan, die in erster Linie auf Bank-Runs (d. h. eine große Gruppe von Einlegern zieht ihr Geld gleichzeitig von den Banken ab) und einen Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit zurückzuführen ist. Diese Krise führte zu einem erheblichen Abzug von Einlagen aus den Banken, was zu einem starken Rückgang sowohl der Gesamteinlagen als auch der ausstehenden Kredite führte. Die abrupte Einstellung der internationalen Hilfe in Verbindung mit der Schrumpfung der Bankbilanzen wirkte sich unmittelbar auf die Geldmenge aus und führte zu einem erheblichen Rückgang in realen Werten. Die Tatsache, dass die Zentralbank [Anm.: Da Afghanistan Bank - DAB] nicht in der Lage war, AFN-Banknoten zu produzieren, sowie das Einfrieren der Devisenreserven verschärften die Liquiditätsengpässe in der Wirtschaft sowohl im Inland als auch in Fremdwährung (UNDP 12.2023; vergleiche IOM 22.02.2024).

Mit Stand Februar 2024 ist es möglich, Geld sowohl vor Ort als auch aus dem Ausland nach Afghanistan zu überweisen. Verschiedene Partner und Agenturen erleichtern Geldüberweisungen aus dem Ausland. Es ist auch möglich, Geld über örtliche Banken in Afghanistan zu überweisen. Allerdings können Empfänger in abgelegenen Gebieten aufgrund der begrenzten Reichweite und der Anforderungen an die Kundenidentifizierung (KYC) Schwierigkeiten beim Zugang zu den Banken haben (IOM 22.02.2024).

Der Mangel an Bargeld in Afghanistan trägt zur aktuellen Wirtschaftskrise bei (UNDP 12.2023; vergleiche IOM 22.02.2024). Zusätzlich haben die Taliban die Verwendung von Fremdwährungen im November 2021 verboten (RFE/RL 03.11.2021). Da afghanische Banknoten in Europa gedruckt werden, konnten aufgrund der Sanktionen lange keine neuen Banknoten bestellt werden (WB 4.2022). Auch ist nur ein kleiner Teil des existierenden Bargelds in Umlauf, weil einzelne Privatpersonen und Unternehmen große Summen an Bargeld horten (NRC 1.2022). Nach einer Spezialgenehmigung konnte die DAB im November 2022 erstmals wieder neue Banknoten importieren (REU 09.11.2022; vergleiche UNDP 12.2023).

Der Afghani (AFN) hat seine Stabilität gegenüber dem USD seit März 2022 durchgehend beibehalten. Diese Stabilität ist auf die anhaltenden Auswirkungen der Bargeldtransporte der Vereinten Nationen und die USD-Auktionen der Zentralbank zurückzuführen. Infolge dieser Maßnahmen und einer daraus resultierenden Währungsverringerung wertete der AFN im Laufe des Jahres gegenüber den wichtigsten Währungen auf (WFP 11.02.2024).

Anfang Dezember 2023 kündigte der Leiter der DAB die Umstellung auf ein komplett islamisches Bankensystem an, bei dem Banken keine Profite machen dürfen (AT 03.12.2023; vergleiche BAMF 31.12.2023). Die Auswirkungen dieses Schrittes auf das ohnehin stark geschwächte Finanzsystem werden von Beobachtern kritisch gesehen (BAMF 31.12.2023).

Hawala-System

Wesentlich verbreiteter als Western Union oder MoneyGram (IOM 12.04.2022; vergleiche BAMF 12.2022) wird für Geldsendungen von und nach Afghanistan das informelle Hawala-System verwendet (IOM 22.02.2024; vergleiche UNDP 12.2023).

Das System funktioniert ohne staatliche Regulierung und kann deswegen auch dort praktiziert werden, wo es entweder keine Staatlichkeit gibt oder die Beteiligten den Staat umgehen wollen (BAMF 12.2022). Es funktioniert fast weltweit, wird aber vor allem in muslimischen Ländern genutzt. Hawala wird von Geldwechslern, die Saraf oder Hawaladar genannt werden, betrieben, die über ein weit verflochtenes Netzwerk verfügen. Beispielsweise kann eine Person [Anm.: beispielsweise in Österreich] einem Saraf Geld geben. Dieser Saraf hat eine Handelsbeziehung zu einem Saraf in Afghanistan, den er anweisen kann, das Geld nach der Nennung eines vereinbarten Passworts an eine bestimmte Person auszuzahlen. Durch Netzwerke zwischen Sarafs kann das Geld auch über mehrere Stationen weitergeschickt werden und so aus dem Ausland über Kabul und ggf. eine Provinzhauptstadt bis in rurale Gegenden Afghanistans geschickt werden. Transaktionen können in wenigen Minuten bis maximal zwei Tagen abgeschlossen werden. Ähnlich wie bei Sendungen über Western Union oder MoneyGram entstehen Gebühren für das Senden und Wechseln des Geldes. Die Sarafs begleichen ihre Rechnungen durch Überweisungen in die andere Richtung, Banküberweisungen oder Bargeldsendungen (NRC 1.2022; vergleiche BAMF 12.2022). [...]

26 Rückkehr

Letzte Änderung 2024-04-05 06:35

Nach Angaben von UNHCR sind zwischen Jänner und August 2023 8.029 afghanische Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt (95 % aus Pakistan, 4 % aus Iran und 1 % aus anderen Ländern). Die Zahl der Rückkehrer in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 war fünfmal so hoch wie die Zahl der Rückkehrer im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 (UNHCR 01.08.2023). Als Hauptgründe für die Rückkehr aus Iran und Pakistan nannten die Rückkehrer die Lebenshaltungskosten und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern, die verbesserte Sicherheitslage in Afghanistan und die Wiedervereinigung mit der Familie. Im Jahr 2023 kehrten 57 % der Flüchtlinge in fünf Provinzen zurück: Kabul (21 %), Kunduz (13 %), Kandahar (10 %), Nangarhar (7 %) und Jawzjan (6 %). Außerdem hielten sich 72 % der Rückkehrer seit mehr als zehn Jahren im Asylland auf, und 25 % wurden im Asylland geboren (UNHCR 24.07.2023). Am 03.10.2023 billigte der nationale Apex-Ausschuss Pakistans einen Plan zur Rückführung von über einer Million Ausländern ohne gültige Papiere, überwiegend Afghanen, die das Land bis zum 01.11.2024 verlassen sollten. Seit dem 15.09.2023 sind mit Stand März 2024 über eine halbe Million Afghanen aus Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt. Der größte Teil dieser Bewegungen fand im November 2023 statt, danach ging die Zahl deutlich zurück, wobei der Januar und die erste Februarhälfte 2024 die niedrigsten Zahlen verzeichneten. In den letzten beiden Wochen des Februars ist wieder ein Anstieg der Rückkehrer zu verzeichnen (UNHCR 08.03.2024).

Anmerkung, Für weitere Informationen zu diesem Thema sei auf das Unterkapitel „Pakistan“ im Kapitel „Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan“ verwiesen.

Auch wenn es nur wenig Informationen zu Rückkehrern aus Europa nach Afghanistan gibt, berichtet das österreichische BMI (Bundesministerium für Inneres) (BMI 27.03.2024) und andere Quellen (MEE 01.06.2022; vergleiche AAN 20.01.2024, DRC 28.11.2022), dass es auch nach der Machtübernahme der Taliban zur freiwilligen Rückkehr afghanischer Staatsbürger kommt (MEE 01.06.2022; vergleiche AAN 20.01.2024). Dem Afghanistan Analysts Network (AAN) zufolge kehren auch einige Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und internationaler NGOs nach Afghanistan zurück, darunter ein Mitarbeiter einer NGO, der mit seiner Familie nach zwei Jahren Aufenthalt in Dänemark nach Afghanistan zurückkehrte (AAN 20.01.2024). Auch die Nachrichtenagentur Middle East Eye berichtet von der freiwilligen Rückkehr von Afghanen, darunter Mitarbeiter von internationalen NGOs (MEE 01.06.2022), und nach Angaben von EUAA gibt es auch freiwillige Rückkehrer aus den USA (EUAA 12.2023). Die Taliban haben am 16.03.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.06.2023).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.08.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART römisch III unterstützt werden. IOM Afghanistan hält jedoch die Kommunikation mit ehemaligen Rückkehrern aufrecht, um humanitäre Hilfe anzubieten, die Stabilisierung der Gemeinschaft zu unterstützen und die interne Migration in Zusammenarbeit mit den Taliban-Behörden, humanitären Partnern und lokalen Gemeinschaften zu steuern. IOM Afghanistan wendet verschiedene Methoden an, um mit ehemaligen unterstützten Rückkehrern in Afghanistan in Kontakt zu bleiben. Dazu gehören das Engagement in den Gemeinden, eine zentralisierte Datenbank (Displacement Tracking Matrix [DTM]) und die direkte Kommunikation als Folgemaßnahme, insbesondere mit den Begünstigten, die von IOM direkt mit ihren Diensten durch Überwachungs- und Folgebesuche unterstützt wurden (IOM 22.02.2024).

Nach dem Deutschen Auswärtigen Amt dürften Rückkehrende nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (AA 26.06.2023). Auch Dr. Liza Schuster, Dozentin für Soziologie an der University of London, spricht über die schwierige wirtschaftliche Lage der Rückkehrende aus Europa und hebt, mit Verweis auf den Afghanistanexperten Thomas Ruttig, die hohe Bedeutung der sozialen Netzwerke im Falle einer Rückkehr hervor (DRC 28.11.2022). Weiterhin sehen sich viele Rückkehrer dem Stigma, versagt zu haben, ausgesetzt (DRC 28.11.2022; vergleiche AAN 20.01.2024).

Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 26.06.2023). [...]

27 Dokumente

Letzte Änderung 2024-04-05 14:41

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.07.2020; vergleiche SEM 12.04.2023). Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Personenregister lückenhaft und nicht ausreichend miteinander vernetzt sind. Zudem sind viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden nicht ausreichend geschult im Umgang mit den Registern und der Ausstellung von Dokumenten. Aus diesen Gründen ist es den Behörden oft nicht möglich, die Angaben der Personen, die Dokumente beantragen, zuverlässig zu verifizieren. Stattdessen müssen sie sich auf die mündlichen Angaben der Antragsteller und der Zeugen verlassen. Außerdem besteht je nach Dokument eine unterschiedliche Praxis, Geburtsdatum, Geburtsort und Nachnamen einzutragen. Deshalb kommt es vor, dass die Personalien derselben Person in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich eingetragen sind (SEM 12.04.2023).

Besonders fälschungsanfällig sind Papier-Tazkira [Anm.: Tazkira ist ein nationales Personaldokument] (SEM 12.04.2023; vergleiche MBZ 3.2022). In Pakistan sind zahlreiche gefälschte Tazkira im Umlauf. Bei der schwarz-weißen Papier-Tazkira sind weder Layout noch Drucktechnik standardisiert. Die verwendeten Stempel sind aufgrund der großen Anzahl zuständiger Behörden nicht überprüfbar. Die Dokumente sind deshalb leicht fälschbar. In der Regel ist es unmöglich, die Authentizität solcher Dokumente zu prüfen. Reisepass und e-Tazkira haben ein einheitliches Layout mit zahlreichen Sicherheitsmerkmalen. Deshalb lässt sich die Authentizität dieser Dokumente am besten überprüfen. Es besteht aber auch hier die Möglichkeit, dass Inhalte manipuliert sind oder dass sie an nicht berechtigte Personen ausgestellt sind (SEM 12.04.2023).

Mit Stand Februar 2024 können Reisepässe, Tazkira und e-Tazkira laut einem Rechtsanwalt in Kabul in allen Provinzen Afghanistans beantragt werden. Die Ausstellung von Reisepässen kann jedoch bis zu einem Jahr dauern. Reisepässe sehen noch genauso aus wie früher. Die e-Tazkira werden jedoch mit einigen Änderungen in Bezug auf das Layout ausgestellt. Auf der Vorderseite der e-Tazkira steht nicht mehr „Innenministerium“, sondern „Nationale Behörde für Statistik und Information“ in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Vorder- und Rückseite der e-Tazkira das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, was vorher nicht der Fall war (RA KBL 19.02.2024). Zusätzlich sind neben der Religion auch die Nationalität, der Stamm und die ethnische Zugehörigkeit vermerkt (USDOS 15.05.2023). IOM weist jedoch darauf hin, dass Reisepässe nicht in allen Provinzen erhältlich sind. Das Innenministerium der Taliban hat in 15 der 34 Provinzen (Farah, Nimroz, Badghis, Paktika, Samangan, Laghman, Uruzgan, Kunar, Takhar, Zabul, Jawzjan, Bamyan, Panjsher, und Baghlan) Passämter wiedereröffnet und verlangt von den Antragstellern, dass sie sich in ihrer Herkunftsprovinz einen Pass besorgen. Die Funktionsfähigkeit dieser Abteilungen ist jedoch nach wie vor unklar. Verlängerungen von Reisepässen sind laut IOM möglich, unterliegen jedoch denselben geografischen Einschränkungen wie bei der Beantragung eines neuen Passes. Laut IOM gibt es in Afghanistan insgesamt 74 Verteilungszentren für elektronische Personalausweise und alle 34 Provinzen verfügen über solche Einrichtungen (IOM 22.02.2024).

Andere Dokumente wie Heiratsurkunden können nach Angaben von IOM nur in sieben Provinzen ausgestellt werden: in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Balkh, Herat, Paktia, Kandahar und Khost. Einwohner aus anderen Provinzen müssen in eine dieser Provinzen reisen, um diese Dokumente zu erhalten (IOM 22.02.2024).

Tazkira

Um eine Tazkira oder e-Tazkira zu erhalten, muss der Antragsteller ein (online-) Antragsformular ausfüllen, das die folgenden Informationen/Unterlagen/Überprüfungen erfordert:
-              Persönliche Informationen des Antragstellers
-              Tazkira des Vaters des Antragstellers (falls der Antragsteller unter 18 Jahre alt ist)
-              Lichtbild des Antragstellers
-              Bestätigung des Gebietsvertreters
-              Um eine e-Tazkira zu erhalten, ist zusätzlich die Papier-Tazkira des Antragstellers notwendig (RA KBL 11.03.2024). Falls der Antragsteller keine Tazkira in Papierform besitzt, ist für Antragsteller unter 18 Jahren eine Geburtsurkunde erforderlich. Für Personen, die älter als 18 Jahre sind, ist die Tazkira (entweder elektronisch oder auf Papier) eines der Hauptverwandten des Antragstellers vorzulegen (Vater, Bruder, Onkel … usw.), und zwei andere Personen müssen die Identität des Antragstellers bescheinigen (RA KBL 11.03.2024). In weiterer Folge muss der Antragsteller bei der e-Tazkira-Ausgabestelle erscheinen, um seine biometrischen Daten erfassen zu lassen und die entsprechende Gebühr (diese wurde vor Kurzem von 800 AFN auf 1.000 AFN angehoben) zu zahlen (RA KBL 19.02.2024).

Nach Angaben von IOM liegen die Kosten für den Erhalt einer Tazkira bei 700 AFN (IOM 22.02.2024).

Reisepass

Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es immer wieder Probleme, wenn es um die Ausstellung von Reisepässen geht. Beispielsweise wurde die Ausstellung von Reisepässen für einige Monate ausgesetzt, da es nach Angaben der Passdirektion technische Schwierigkeiten gab (RA KBL 26.01.2023; vergleiche KP 08.10.2022, SEM 12.04.2023). Es kam immer wieder zu Beschwerden über die langen Bearbeitungsdauern von Reisepässen (TN 11.12.2022; vergleiche PAN 09.01.2023, TN 01.08.2023. AAN 04.02.2024). Es wird auch berichtet, dass Wartezeiten durch Zusatzzahlungen verringert werden können, wenn man über eine Kontaktperson in einem Passbüro verfügt (AAN 04.02.2024). Ein in Afghanistan tätiger Rechtsanwalt bestätigt, dass dies (im geringen Ausmaß) vorkommt, jedoch beide Seiten eine Strafe erhalten, sollte es bekannt werden (RA KBL 11.03.2024).

Laut einer Erklärung des Sprechers der Generaldirektion für Pässe werden keine Pässe an Personen mit Ausreiseverboten wegen beispielsweise unbezahlter Schulden oder laufenden Straf-, Zivil- oder Handelsverfahren oder an Kinder, die keinen gesetzlichen Vormund haben, ausgestellt (TN 01.08.2023). Laut Angaben eines lokalen Rechtsanwalts in Kabul ist es für Frauen möglich, in Afghanistan auch ohne Begleitung eines Mahram [Anm.: männl. Begleitperson] einen Reisepass zu erhalten (RA KBL 11.03.2024), auch wenn sich die Behandlung der Antragsstellerinnen von Ort zu Ort unterscheiden kann. In Kabul ist es derzeit nicht vorgeschrieben. Der Erhalt eines Reisepasses für Frauen ist auch möglich, wenn sich der Ehemann der Frau zum Antragszeitpunkt im Ausland befindet (RA KBL 29.08.2023).

Für den Erhalt eines Reisepasses gelten dieselben Voraussetzungen wie für eine e-Tazkira.

Es muss ein Formular online ausgefüllt werden, und nach Vorlage eines Identitätsdokumentes (e-Tazkira, Tazkira in Papierform oder Geburtsurkunde), sowie eines Lichtbildes und der Unterschrift (RA KBL 26.01.2023; vergleiche RA KBL 19.02.2024, IOM 22.02.2024) werden die Fingerabdrücke des Antragsstellers biometrisch erfasst. Falls der Antragssteller bereits einen Reisepass besessen hat, so ist dieser ebenso vorzulegen bzw. sind Informationen zu diesem notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller die Gebühr entrichten und zu einem bestimmten Termin zur biometrischen Untersuchung in der Passabteilung erscheinen. Die Gebühr für einen Reisepass liegt zwischen 10.000 AFN (RA KBL 26.01.2023; vergleiche RA KBL 19.02.2024) und 11.000 AFN für einen Reisepass, der für zehn Jahre gültig ist, bzw. bei 5.900 AFN für einen Reisepass mit fünfjähriger Gültigkeit (IOM 22.02.2024; vergleiche RA KBL 11.03.2024).

Bis vor Kurzem gab es nur einen Reisepass mit zehnjähriger Gültigkeit (RA KBL 11.03.2024).

Reisepässe außerhalb Afghanistans

Berichte über die Ausstellung bzw. Verlängerung von afghanischen Reisepässen im Ausland sind unterschiedlich. Laut Angaben eines Rechtsanwalts in Kabul ist die Erlangung eines Reisepasses außerhalb von Afghanistan mit Stand Februar 2024 in einigen wenigen Ländern, nämlich China, Pakistan, Iran und Usbekistan, mit Einschränkungen möglich (RA KBL 19.02.2024). IOM weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass neue afghanische Reisepässe außerhalb Afghanistans in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan (Islamabad und Peshawar) ausgestellt werden. Zusätzlich können afghanische Reisepässe in Saudi Arabien (Riyadh) verlängert, jedoch nicht neu ausgestellt werden (IOM 22.02.2024).

Nach Informationen des österreichischen BMI (Bundesministerium für Inneres) verlängert die afghanische Botschaft in Österreich abgelaufene maschinenlesbare Reisepässe, stellt jedoch keine neuen aus. Auch werden von der Botschaft Heimreisezertifikate ausgestellt (BMI 27.03.2024).

[...]“

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen hinsichtlich der Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellung zu der vom Beschwerdeführer angeführten Identität ergibt sich aus seinen Angaben im Verfahren (Seite 1 der Niederschrift der Erstbefragung, Seite 3 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde, Seite 4 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Mangels Vorlage von Identitätsdokumenten im Original war die Identität des Beschwerdeführers nicht zweifelsfrei festzustellen. Eine Tazkira wurde lediglich in Kopie vorgelegt.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zu seinen Sprachkenntnissen, seiner Schulbildung und seiner Arbeitserfahrung gründen ebenso wie die Feststellungen zu seinem Familienstand und seinen Kindern auf den diesbezüglich plausiblen, weitgehend widerspruchsfreien und sohin glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren (Seiten 1 ff der Niederschrift der Erstbefragung, Seiten 2 und 4 bis 6 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde, Seiten 4 bis 7 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung); das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen Angaben zu zweifeln.

Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Familie (in der Provinz Takhar oder in Kabul) ein Geschäft zur Herstellung bzw. Reparatur und dem Second-Hand-Verkauf von Armeebekleidung und Militärschuhen geführt hat (Begründend ist auf die Ausführungen unter den Punkten 2.2.1.1. und 2.2.1.3. zu verweisen).

Die Feststellungen zum Geburtsort des Beschwerdeführers, seinem Wohnort in Afghanistan sowie seiner Reiseroute, der Ausreise in den Iran und der Reise in Richtung Europa und schließlich nach Österreich konnten den Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung (Seiten 1 und 3 bis 5 der Niederschrift der Erstbefragung), der Einvernahme vor dem Bundesamt (Seite 3 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde) sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (Seite 4 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) entnommen werden.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer – anders als er vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und in der mündlichen Verhandlung angab (Seiten 5 und 8 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde, Seiten 8 f der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) – nicht bereits im August 2021 bzw. eine Woche nach der Machtübernahme durch die Taliban, sondern, wie von ihm in der Erstbefragung angegeben, (Seite 4 der Niederschrift der Erstbefragung) erst ca. sechs Monate vor dem Zeitpunkt der Erstbefragung, sohin ca. im März 2022 ausgereist ist, ergibt sich zunächst daraus, dass der Beschwerdeführer in der – in einer für ihn verständlichen Sprache rückübersetzten (Seite 7 der Niederschrift der Erstbefragung) – Erstbefragung exakte Angaben zu seiner Reiseroute tätigte, die stimmig mit einem Ausreisezeitpunkt ca. im März 2022 zusammenpassen. So führte er an, sich nach seiner Ausreise in den Iran zunächst 15 Tage dort aufgehalten zu haben, daraufhin drei Monate in der Türkei, zwei Wochen in Griechenland, jeweils vier Tage in Albanien und Montenegro, danach zwei Wochen in Bosnien und Herzegowina, eine Woche in Kroatien, einen Tag in Slowenien, eine Woche in Italien und schließlich zwei Wochen in der Schweiz geblieben zu sein, bevor er nach Österreich eingereist sei (Seite 5 der Niederschrift der Erstbefragung). Zu diesem Umstand in der mündlichen Verhandlung befragt, gab der Beschwerdeführer an: „[…] Als ich Afghanistan verlassen habe, habe ich ca. drei Wochen im Iran gelebt und danach habe ich meine Ausreise bis hierher angetreten.“ (Seite 8 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) und: „Von der Türkei bis nach Österreich habe ich ungefähr fünf Monate und drei Wochen benötigt.“ (Seite 9 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Aus diesen Angaben ergibt sich – unter der Annahme, dass sich der Beschwerdeführer, so wie von ihm in der Erstbefragung ausgeführt, drei Monate in der Türkei aufgehalten hat (Seite 5 der Niederschrift der Erstbefragung) – sohin eine Reisedauer von annähernd neun Monaten. Der Beschwerdeführer führte zwar an, dass die Erstbefragung nicht am Tag seiner Einreise nach Österreich stattgefunden habe (Seite 9 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung), dass er sich bereits längere Zeit im Bundesgebiet aufgehalten habe, machte er jedoch nicht geltend. Dies würde eine Ausreise aus Afghanistan ca. im Jänner 2022 bedeuten. Der Beschwerdeführer tätigte sohin im Verfahren dahingehend wiederholt erheblich voneinander abweichende Angaben. Da anzunehmen ist, dass die Umstände seiner Reiseroute unmittelbar nach der Einreise des Beschwerdeführers in das Bundesgebiet noch sehr frisch in seiner Erinnerung gewesen sein müssen, wurde seinen Ausführungen in der Erstbefragung gefolgt. Es entstand in diesem Zusammenhang der Eindruck, dass seine später abweichenden Angaben darauf abzielten, eine berechtigte Fragestellung dahingehend zu verhindern, weshalb es dem Beschwerdeführer möglich gewesen wäre, auch nach der Machtübernahme durch die Taliban noch geraume Zeit in Afghanistan zu verweilen.

Dass der Beschwerdeführer und seine Familie – entgegen seinen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und in der mündlichen Verhandlung (Seiten 4 und 8 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde, Seite 4 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) – nicht nach Kabul umzogen, sondern bis zur Ausreise im Heimatdorf des Beschwerdeführers wohnten, ergibt sich zunächst aus der entsprechenden Angabe zu seinem Wohnsitz in der Erstbefragung (Seite 3 der Niederschrift der Erstbefragung). Auf entsprechenden Vorhalt in der mündlichen Verhandlung, weshalb er Kabul in der Erstbefragung nicht als Wohnsitz angegeben habe, führte der Beschwerdeführer aus: „Ich wurde nicht danach gefragt, hätten sie mich gefragt, ob ich auch wo anders gelebt habe, hätte ich das gesagt.“ (Seiten 4 f der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Damit vermochte der Beschwerdeführer im Ergebnis nicht zu überzeugen. Hätte er tatsächlich zwischen den Jahren 2018 und zumindest Anfang 2022 in Kabul gelebt, wäre anzunehmen, dass er Kabul ebenso als Wohnsitz angeführt hätte. Zudem gab der Beschwerdeführer als Grund für den Umzug nach Kabul eine Entführung und Folter seiner Person durch die Taliban an (Seiten 4 und 8 f der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde, Seite 9 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung), welche er jedoch nicht glaubhaft machen konnte (Begründend ist auf die Ausführungen unter Punkt 2.2.1.2. zu verweisen). Letztlich vermochte der Beschwerdeführer auch keinerlei genauere zeitliche Einordnung seines vorgeblichen Umzugs nach Kabul vorzunehmen und er führte nur wiederholt pauschal das Jahr 2018 an (Seiten 4 und 8 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde, Seiten 4 f und 9 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).

Die Feststellungen zum Aufenthalt seiner Familienangehörigen im Iran und zum Kontakt zu diesen gründen sich ebenfalls auf die Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren (Seite 3 der Niederschrift der Erstbefragung, Seiten 3 und 5 f der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde, Seite 7 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Dass seine Familie Afghanistan bereits kurz nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 gemeinsam mit dem Beschwerdeführer verlassen hätte, konnte der Beschwerdeführer jedoch nicht glaubhaft machen. Zunächst wird schon dem Beschwerdeführer selbst – wie oben ausgeführt – nicht geglaubt, dass er Afghanistan vor dem März 2022 verlassen hat. Zudem gab der Beschwerdeführer noch in der Erstbefragung am 10.09.2022 an, dass sich seine Ehefrau, seine Kinder und seine Geschwister in Afghanistan aufhalten würden (Seite 3 der Niederschrift der Erstbefragung). Sohin konnte nicht festgestellt werden, wann genau seine Familie Afghanistan in Richtung Iran verlassen hat.

Dass der Beschwerdeführer in Afghanistan nach wie vor über zumindest zwei Onkeln samt deren Familien verfügt, konnte seinen Angaben in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 07.09.2023 entnommen werden (Seiten 4 und 7 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde). Insoweit der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung am 18.04.2024 ausführte, dass auch diese Onkeln ca. ein Jahr nach dem Beschwerdeführer (sohin im März 2023 oder den Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl folgend überhaupt schon im August 2022, Seite 5 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde) aus Afghanistan ausgereist seien, steht dies in diametralem Widerspruch zu seinen am 07.09.2023 – sohin zu einem Zeitpunkt deutlich nach dem März 2023 – getätigten Angaben und ist deshalb als nicht glaubhaft zu beurteilen.

Die Feststellungen zur Einreise nach Österreich, zur Asylantragstellung, zur Gewährung von subsidiärem Schutz, zur befristeten Aufenthaltsberechtigung sowie zu seinem Aufenthalt im Bundesgebiet ergeben sich zweifelsfrei aus dem Akteninhalt, dem Bescheid vom 04.10.2023 und einer Einsichtnahme in das Zentrale Fremdenregister sowie das Zentrale Melderegister (Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2023 zur Zl.: römisch 40 , Seite 2 der Niederschrift der Erstbefragung, Seite 2 der [nicht nummerierten] Niederschrift vom 09.09.2022 im Verfahren vor der belangten Behörde, Aktenvermerk der belangten Behörde vom 09.09.2022).

Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beruht auf seinen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Seite 2 der [nicht nummerierten] Niederschrift vom 09.09.2022, Seite 2 der Niederschrift vom 07.09.2023 jeweils im Verfahren vor der belangten Behörde) sowie in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (Seite 3 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) und stützt sich zudem auf den Umstand, dass keine medizinischen Unterlagen vorgelegt wurden, aus welchen körperliche oder psychische Beeinträchtigungen, regelmäßige medizinische Behandlungen oder eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit abzuleiten wären. Nicht übersehen wird, dass der Beschwerdeführer in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anführte, zur Zeit Antibiotika wegen einer kleineren Verletzung einnehmen zu müssen. Er gab jedoch an, dass es ihm ansonsten gut gehe (Seite 3 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).

Die Feststellung zur Berufstätigkeit des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ergibt sich einerseits aus den Aussagen des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Seiten 3, 7 und 12 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde) und andererseits aus den im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt am 07.09.2023 vorgelegten Verdienstnachweisen sowie einem Auszug aus dem AJ-Web.

Seine strafgerichtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus einer Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich.

2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Das Bundesverwaltungsgericht geht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und aufgrund des dabei gewonnenen persönlichen Eindrucks der erkennenden Richterin davon aus, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan im Falle einer Rückkehr nicht individuell und konkret bedroht oder verfolgt wird. Dies ergibt sich aus nachstehenden Erwägungen:

2.2.1.1. Der Beschwerdeführer stützte sein Fluchtvorbingen vorrangig darauf, dass er aufgrund des Führens eines Geschäftes zur Herstellung bzw. Reparatur und dem Second-Hand-Verkauf von Armeebekleidung und Militärschuhen in der Provinz Takhar durch seine Familie und ihn einer Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt sei und in der Vergangenheit bereits auf der Straße angehalten, entführt und gefoltert worden wäre.

Zunächst fällt dabei auf, dass der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung zu seinem Fluchtgrund befragt, zwar eine Bedrohung durch die Taliban angegeben hatte, da er mit diesen verfeindet sei, sie Geld gefordert und den Beschwerdeführer auch verletzt hätten, dabei hatte er jedoch mit keinem Wort weder das gemeinsam mit seiner Familie geführte Geschäft noch die Tatsache erwähnt, selbst entführt und gefoltert worden zu sein. (Seite 6 der Niederschrift der Erstbefragung).

Das erkennende Gericht hält dem Beschwerdeführer zwar grundsätzlich zu Gute, dass eine Erstbefragung in einem fremden Land eine für jeden Asylwerber außergewöhnliche Situation darstellt. Eine gewisse, anfängliche Verlegenheit in der Erzählung persönlicher Erlebnisse erscheint daher im Allgemeinen nachvollziehbar. Ebenso ist klar, dass im Rahmen einer Erstbefragung in keine allzu große Detailtiefe bei der Schilderung des eigentlichen Fluchtgrundes vorgestoßen werden kann. Trotzdem trifft auch den Schutzsuchenden im Asylverfahren eine Mitwirkungspflicht an der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts, über welche der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung auch nachweislich aufgeklärt wurde vergleiche Seite 2 der Niederschrift der Erstbefragung). Das vom Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung erfolgte Weglassen fundamentaler Aspekte des in weiterer Folge geltend gemachten Fluchtgrundes steht dieser Mitwirkungspflicht eindeutig entgegen. Nach Ansicht des erkennenden Gerichtes kann es einem erwachsenen Menschen durchaus zugemutet werden, bei den Behörden jenes Landes, von dem er sich Schutz und Hilfe vor behaupteter Verfolgung und Tod erwartet, möglichst zeitnahe zum Antrag auf internationalen Schutz zumindest ansatzweise Angaben zu den eigentlichen Hintergründen der behaupteten, gegenständlichen Verfolgung im Heimatland zu tätigen.

Der Beschwerdeführer hatte in der Erstbefragung zu seinem Beruf befragt lediglich angeführt, zuletzt Bauarbeiter gewesen zu sein (Seite 2 der Niederschrift der Erstbefragung). Dazu vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass er seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen habe und die Tätigkeit im Geschäft nicht erwähnt zu haben, da er nicht danach gefragt worden sei (Seite 5 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde). Damit vermochte der Beschwerdeführer nicht zu überzeugen.

In der mündlichen Verhandlung erwiderte der Beschwerdeführer auf den Vorhalt, in der Erstbefragung lediglich Bauarbeiter als Beruf angegeben zu haben, zunächst, immer dann als Bauarbeiter ausgeholfen zu haben, wenn es im Geschäft keine Arbeit gegeben hätte (Seite 6 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) und führte weiter begründend aus: „Bei der Polizei war es eine ganz einfache Einvernahme, die nur fünf Minuten gedauert hat.“ (Seite 6 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) und „Ich habe damals meine Berufsangabe als nicht so wichtig empfunden und habe deshalb angegeben, dass ich Bauarbeiter gewesen wäre.“ (Seite 7 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Aus der Niederschrift der Erstbefragung vom 10.09.2022 ergibt sich jedoch, dass diese um 16:00 begonnen und um 16:55 geendet hat (Seiten 2 und 7 der Niederschrift der Erstbefragung), sohin tatsächlich 55 Minuten und nicht 5 Minuten gedauert hat. Weiters scheint es wenig schlüssig, dass der Beschwerdeführer Angaben zu seiner Tätigkeit im eigenen Geschäft als unwichtig empfunden haben soll, wenn er gleichzeitig die vorgebliche Bedrohung durch die Taliban – sohin sein wesentliches Fluchtvorbringen – in der Folge gerade auf diese Berufsausübung stützte.

Nicht lebensnahe erscheint auch, dass der Vater des Beschwerdeführers – der seit dem Jahr 2002 als Bauer gearbeitet hat – gemeinsam mit seinen zwei Söhnen, die zuvor ihrem Vater in der Landwirtschaft geholfen haben, ohne eine entsprechende Ausbildung, etwa als Schneider oder Schuster, oder einen entsprechenden familiären Hintergrund gerade ein Geschäft, welches auf die Herstellung bzw. Reparatur oder Restaurierung von Armeebekleidung und Militärschuhen spezialisiert war, eröffnet haben soll (Seiten 5 und 9 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Dem Beschwerdeführer gelang es auch auf ganz konkrete Nachfrage nicht, nachvollziehbar darzulegen, weshalb gerade ein derartiges Geschäft eröffnet worden sei. Der Erklärungsversuch, dass sein Bruder und sein Vater im Nachhinein gelernt hätten, wie man Kleider restauriert, überzeugte nicht (Seite 13 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).

Auch machte der Beschwerdeführer im Grunde keine gleichbleibenden Angaben dazu, worin die Geschäftstätigkeit des Geschäfts in der Provinz Takhar überhaupt genau gelegen sein soll. Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte er aus: „Wir haben Militäruniformen und Militärschuhe hergestellt.“ (Seite 5 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde) sowie „Wir haben teilweise Militäruniformen verkauft und diese auch repariert“ (Seite 5 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde), vor dem Bundesverwaltungsgericht erklärte er unter anderem: „Wir haben die Uniformen gekauft, gewaschen, restauriert und wieder verkauft.“ (Seite 13 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Sohin scheint nicht klar, ob die Armeebekleidung und -schuhe nunmehr lediglich repariert und/oder gewaschen und verkauft oder auch hergestellt worden sein sollen und der Beschwerdeführer machte während des gesamten Verfahrens auch keinerlei detaillierte Angaben zu den Abläufen im Geschäftsbetrieb.

Sohin wird schon der Führung eines Geschäftes für die Herstellung bzw. Reparatur und den Second-Hand-Verkauf von Armeebekleidung und Militärschuhen durch den Beschwerdeführer und seine Familie kein Glaube geschenkt.

2.2.1.2. Der Beschwerdeführer stütze seine vorgebliche Anhaltung auf der Straße, Entführung und Folter durch die Taliban aber gerade auf die Führung dieses Geschäftes. Schon deshalb ist dieses Vorbringen mit mangelnder Glaubhaftigkeit belastet. Zusätzlich weisen die diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers zahlreiche Ungereimtheiten sowie Widersprüche auf und wurden zudem gesteigert.

Auffällig ist zunächst, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbingen im Laufe des Verfahrens sukzessiv steigerte und veränderte. In der Erstbefragung hatte er noch lediglich angegeben, dass er mit den Taliban verfeindet wäre, diese Geld von ihm fordern würden und ihn auch verletzt hätten (Seite 6 der Niederschrift der Erstbefragung). Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte er aus, von den Taliban festgenommen, entführt und in eine Ruine gebracht worden sein, wo man ihn ein Mal am Tag sehr brutal gefoltert habe (Seiten 8 f der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde). In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer erstmals an, dass ihm während der gesamten zwei Wochen seiner Gefangenschaft die Augen verbunden gewesen wären und er in dieser Zeit nur gefoltert worden sei (Seite 11 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Von einer Ruine erwähnte er nichts mehr, sondern gab lediglich an, sich nicht erinnern zu können, wohin er mitgenommen worden wäre (Seite 11 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).

Es entstanden aber noch weitere Widersprüche: Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sprach der Beschwerdeführer davon, nicht zu wissen, wie viele Mitglieder der Taliban im Zuge seiner Anhaltung auf der Straße dabei gewesen wären, dass er aber von drei Taliban attackiert worden sei (Seite 9 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde), in der mündlichen Verhandlung legte er in Abweichung davon dar, von fünf Taliban angehalten und auch von allen fünf Männern geschlagen worden zu sein (Seite 10 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Diesen Widerspruch vermochte der Beschwerdeführer auch nach Vorhalt in der mündlichen Verhandlung nicht aufzulösen. Er antwortete vielmehr lediglich mit der Gegenfrage, was das für einen Unterschied machen würde und dass hier auch ein Fehler seitens des Bundesamtes passiert sein könne (Seite 10 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Dies erscheint jedoch im Lichte der Niederschrift nicht wahrscheinlich. Außerdem gestalteten sich – wie auch vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid bereits ausgeführt (Seite 33 des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2023 zur Zl. römisch 40 ) – die Angaben dahingehend, wer das Lösegeld bezahlt haben soll, nicht einheitlich. Zunächst gab der Beschwerdeführer an, dass sein Vater dieses hätte bezahlen müssen (Seite 9 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde), direkt anschließend erklärte er, dass die Dorfältesten es bezahlt hätten (Seite 10 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde) und in der mündlichen Verhandlung führte er wiederum aus, dass sein Vater sich das Geld ausgeliehen und somit bezahlt habe und die Dorfältesten es an die Taliban übergeben hätten (Seite 11 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).

Der Beschwerdeführer gab außerdem an, dass ihm seine Verwandtschaft zu einem Zeitpunkt, zu dem er und seine Familie bereits nach Kabul umgezogen wären, erzählt habe, dass die Taliban wieder nach ihm gefragt hätten. Dazu in der Folge genauer befragt, konnte er jedoch weder darlegen, bei wem die Taliban sich nach ihm erkundigt hätten noch, wann auch nur ungefähr sich dies ereignet habe (Seiten 10 f der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde) und er gab letztlich überhaupt an: „Ich weiß nicht, wie dieses Gerücht aufgekommen ist. Vielleicht wurde es erzählt.“ (Seite 11 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde).

Der Beschwerdeführer konnte zudem keinerlei genauere zeitliche Einordung des vorgeblichen Anhaltungs- und Entführungsvorfalls vornehmen und bediente sich überwiegend äußerst unpräziser zeitlicher Angaben, wie „nach ein paar Jahren“, „eines Tages“ oder auch „eine Weile“ (Seite 8 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde). Sowohl vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als auch vor dem Bundesverwaltungsgericht gab er an, sich an diese Zeit nicht erinnern zu können (Seite 8 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde, Seite 10 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung). Auch wenn nicht verkannt wird, dass es im Zusammenhang mit traumatischen Erlebnissen zweifelsfrei zur Aktivierung von Verdrängungsmechanismen kommen kann, so scheint es doch nicht lebensnahe, dass dem Beschwerdeführer keine zeitliche Einordung dem Monat oder zumindest der Jahreszeit nach möglich sein soll, zumal die Familie seinen Angaben nach bereits einen Tag später nach Kabul umgezogen sein soll (Seite 9 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde).

Letztlich scheint es auch – wie wiederum bereits seitens der belangten Behörde zutreffend ausgeführt (Seite 33 des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.10.2023 zur Zl. römisch 40 ) – nicht plausibel, dass die Taliban einen derartigen Aufwand – nämlich hinsichtlich der Ausforschung des Arbeitsweges des Beschwerdeführers und der Zeit, in der er regelmäßig den Heimweg antrat, der Errichtung einer Straßensperre, des Anhaltens des Beschwerdeführers mittels Schüssen vergleiche etwa Seite 9 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde) – betrieben und den Beschwerdeführer dermaßen lange angehalten hätten, um zu erreichen, dass er und seine Familie den Geschäftsbetrieb aufgeben. Hätten die Taliban tatsächlich ein gesteigertes Interesse an der Schließung des Geschäftsbetriebes gehegt, wäre wohl zu erwarten gewesen, dass sie persönlich im Geschäft oder an der Wohnadresse des Beschwerdeführers und seiner Familienangehörigen aufgetaucht wären, um der Forderung Nachdruck zu verleihen.

2.2.1.3. In einer Gesamtschau ist es dem Beschwerdeführer schon nicht gelungen, glaubhaft zu machen, dass er gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder ein Geschäft für die Herstellung bzw. Reparatur und dem Second-Hand-Verkauf von Armeebekleidung und Militärschuhen geführt hat und demzufolge oder aus anderen Gründen von den Taliban angehalten, entführt oder gar gefoltert wurde.

Wie bereits unter Punkt 2.1. ausführlich dargelegt, wird dem Beschwerdeführer auch der Umzug nach Kabul gemeinsam mit seiner Familie nicht geglaubt. Daraus folgt, dass auch die vorgebrachte (neuerliche) Eröffnung eines Geschäftes in Kabul (Seiten 5 und 8 der Niederschrift vom 07.09.2023 im Verfahren vor der belangten Behörde, Seite 5 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) als nicht glaubhaft gemacht anzusehen ist.

Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zunächst angab, dass sie im Geschäft in der Provinz Takhar Militäruniformen und -schuhe hergestellt hätten, in Kabul aber aufgrund mangelnden Vermögens und Ressourcen keine Möglichkeit gehabt hätten, wieder ein Geschäft aufzubauen, um zu einem späteren Zeitpunkt der Einvernahme und in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hingegen zu behaupten, dass sie sowohl in der Provinz Takhar als auch in der Folge in Kabul ein Geschäft zur Restaurierung und dem Verkauf von Armeebekleidung und -schuhen geführt hätten (Seite 5 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).

2.2.2. Hinsichtlich der vom Beschwerdeführer pauschal in den Raum gestellten Behauptung, dass sein Vater vor dem Jahr 2000 Kommandant der afghanischen Freiheitskämpfer gewesen wäre, bleibt festzuhalten, dass sich daraus schon aus Gründen des geraumen Zeitablaufes, aber vor allem in Ermangelung näherer diesbezüglicher Angaben des Beschwerdeführers eine Verfolgungsgefahr in Bezug auf seine Person nicht entnehmen lässt und wurde auch eine mögliche Verfolgung seines Vaters aus diesem Grunde vom Beschwerdeführer nicht einmal ansatzweise erwähnt, sondern erklärte er im Zuge seiner Einvernahme viel mehr, dass sein Vater Lösegeld an die Taliban bezahlt hätte, um den Beschwerdeführer frei zu bekommen.

2.2.3. Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden Länderinformationen zur allgemeinen Lage von Rückkehrern in Afghanistan haben sich weiters derzeit keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle Rückkehrer aus Europa gleichermaßen, bloß auf Grund ihrer Eigenschaft, als Rückkehrer und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften, im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, konkreter und individueller physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Dass es aufgrund des Umstandes, dass der Beschwerdeführer als Rückkehrer aus Europa erkennbar ist, zu Ungleichbehandlungen kommen kann, ist auf Basis der Länderberichte, wonach Rückkehrer aus Europa häufig misstrauisch wahrgenommen werden, nicht auszuschließen, es ist derzeit daraus jedoch nicht das Bestehen einer im gegenständlichen Fall konkret drohenden Verfolgungsgefahr von entsprechender Intensität ersichtlich. Dass der Beschwerdeführer eine Wertehaltung, in der etwa eine politische oder religiöse Überzeugung erkannt werden könnte, angenommen und verinnerlicht hätte, bzw. eine Lebensweise angenommen hätte, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen und ihn im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan der konkreten und individuellen Gefahr aussetzen würde, mit der Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt bedroht zu werden, ist nicht hervorgekommen.

2.2.4. Dem Beschwerdeführer ist es somit nicht gelungen, in Bezug auf seine Person eine Verfolgungsgefahr in seiner Heimat Afghanistan glaubhaft aufzuzeigen und es haben sich auch aus den festgestellten Länderinformationen keine Hinweise ergeben, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Afghanistan einer wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt wäre.

2.3. Zu den Feststellungen hinsichtlich der Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.

Von der Beschwerdeseite wurde vorgebracht, dass die Länderberichte nicht aktuell wären, da aus den Medien bekannt sei, dass hunderttausende Afghanen, die nach Pakistan geflüchtet wären, zur Rückkehr gezwungen würden (Seite 2 der Beschwerdeschrift vom 09.11.2023). Inwieweit das für den gegenständlichen Fall relevant sein soll, ist für das erkennende Gericht nicht ersichtlich.

Insoweit zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung noch Berichte älteren Datums rezent waren, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht (wesentlich) geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Die Beschwerde ist rechtzeitig und zulässig.

Zu Spruchteil A)

3.2. Abweisung der Beschwerde:

3.2.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde vergleiche VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 mwN). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Herkunftsstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 06.09.2018, Ra 2017/18/0055; vergleiche auch VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100, mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Herkunftsstaates bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Herkunftsstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr vergleiche VwGH 10.06.1998, 96/20/0287).

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Herkunftsstaat des Betroffenen aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren vergleiche etwa VwGH 12.06.2018, Ra 2018/20/0177; 19.10.2017, Ra 2017/20/0069). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist vergleiche VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinne der ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, das heißt, er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, Paragraph 45,, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden Verwaltungsgerichtes vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom Verwaltungsgericht nicht getroffen werden (VwGH 28.06.2016, Ra 2018/19/0262; vergleiche auch VwGH 18.11.2015, Ra 2015/18/0237-0240, mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

3.2.2. Lediglich der Vollständigkeit halber bleibt anzumerken, dass die Einstellung des Verfahrens nach Paragraph 24, AsylG 2005 am 17.02.2023 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Unrecht erfolgte, da der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt bereits seit über vier Monaten über eine Hauptwohnsitzmeldung außerhalb der Unterkunft der Betreuungseinrichtung verfügte und bis dato zu keinem Zeitpunkt gegen seine Meldepflicht nach dem MeldeG verstoßen hat. Im [nicht nummerierten] vom Bundesamt geführten Verwaltungsakt ist auch eine mit dem 17.02.2023 datiert ZMR-Abfrage enthalten.

3.2.3. Wie beweiswürdigend dargelegt, vermochte der Beschwerdeführer keine wie immer geartete Verfolgung in Afghanistan glaubhaft darzulegen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den UNHCR-Richtlinien besondere Beachtung zu schenken. Auch in diesem Zusammenhang ist keine konkrete asylrelevante Bedrohung oder Verfolgung des Beschwerdeführers in Afghanistan ersichtlich.

Vor dem Hintergrund der Feststellungen zur individuellen Situation des Beschwerdeführers ist auch sonst nicht zu erkennen, dass ihm in seinem Herkunftsstaat aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht.

Es ist daher insgesamt nicht zu erkennen, dass ihm in seinem Herkunftsstaat aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention droht und die Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid ist somit als unbegründet abzuweisen.

Zu Spruchteil B)

3.3. Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel vergleiche z.B. VwGH 30.08.2018, Ra 2018/21/0149, mwN).

Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.


European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2024:W220.2281245.1.00