Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

26.04.2024

Geschäftszahl

W283 2273015-1

Spruch


W283 2273015-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Stefanie KUSCHNIG als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geboren am römisch 40 2001, StA. SYRIEN, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2023, Zl. 1305378708/ römisch 40 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Syrien, stellte am 25.04.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie in ihrer Erstbefragung am Folgetag im Wesentlichen damit begründete, dass in Syrien Krieg herrsche und es für sie keine Sicherheit gebe und sie nicht weiter die Schule besuchen bzw. weiter studieren könne. Ferner wolle ihr Cousin väterlicherseits sie zwangsweise heiraten. Im Falle einer Rückkehr habe sie Angst zwangsverheiratet zu werden.

Am 29.06.2022 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt). Befragt zu ihren Fluchtgründen gab sie im Wesentlichen an, dass sie aufgrund der Sicherheitslage Syrien verlassen habe. Ferner hätten ihr Großvater sowie ihr Onkel väterlicherseits sie zu einer Heirat mit ihrem Cousin väterlicherseits zwingen wollen.

Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid wies das Bundesamt den Antrag der Beschwerdeführerin hinsichtlich des Status einer Asylberechtigten ab (Spruchpunkt römisch eins.), erkannte ihr jedoch den Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkte römisch II. und römisch III.).

Mit fristgerecht erhobener Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides, wiederholte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen. Ergänzend führte sie an, einige Tage nach der Einvernahme römisch 40 geheiratet zu haben, mit dem sie inzwischen einen gemeinsamen Sohn, römisch 40 , geboren am römisch 40 2023, habe. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien wäre die Beschwerdeführerin als Angehörige der sozialen Gruppe der jungen, (de facto) alleinstehenden Frauen ohne männlichen Schutz vor allem geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sowie aufgrund der mit ihrer eigenen illegalen Ausreise und Asylantragstellung in Europa verbundenen, unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung von Seiten des syrischen Regimes verfolgt.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 31.08.2023 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Arabisch und im Beisein der Vertretung der Beschwerdeführerin eine öffentliche Verhandlung durch.

Der Beschwerdeführerin wurde aufgrund der geänderten Länderinformationen die Möglichkeit der Durchführung einer weiteren öffentlichen Verhandlung zur Erörterung derselben eingeräumt. Auf diese Möglichkeit wurde, ebenso wie auf die Möglichkeit der Abgabe einer weiteren Stellungnahme dazu, verzichtet.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

1.1.1. Die Beschwerdeführerin führt den im Spruch angeführten Namen und das im Spruch angeführte Geburtsdatum. Sie ist zum Entscheidungszeitpunkt 23 Jahre alt. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige von Syrien, gehört der Volksgruppe der AraberInnen an, bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam und beherrscht die arabische Sprache in Wort und Schrift.

1.1.2. Die Beschwerdeführerin ist in der Stadt Ar-Raqqa, Bezirk römisch 40 , geboren und aufgewachsen. In ihrem Geburtsort besuchte die Beschwerdeführerin 9 Jahre lang die Schule. Ihren Lebensunterhalt hat sie sich durch die Zubereitung von Lebensmitteln (etwa eingelegtes Gemüse) verdient.

Im Jahr 2015 zogen die Beschwerdeführerin und ihre Familie in die Türkei. Dort waren sie etwa 3 Jahre aufhältig. Nach der Ausreise ihres Vaters nach Europa kehrte die Beschwerdeführerin 2018/2019 mit ihrer Mutter und den Geschwistern nach Ar-Raqqa zurück. Dort lebte sie bis zu ihrer Ausreise aus Syrien Ende 2021 im Familienverband.

1.1.3. Die Beschwerdeführerin war zum Zeitpunkt der Einreise nach Österreich ledig. In Österreich heiratete die Beschwerdeführerin römisch 40 , geboren am römisch 40 1989. Die Eheschließung erfolgte im römisch 40 2022 in Österreich. Dem Ehemann der Beschwerdeführerin wurde in Österreich der Status des Asylberechtigten zugesprochen. Mit ihm hat sie einen gemeinsamen Sohn, namens römisch 40 , geboren am römisch 40 2023. Die Beschwerdeführerin lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann und dem Sohn in Österreich. Der Vater der Beschwerdeführerin ist ebenso in Österreich aufhältig und subsidiär schutzberechtigt. Die Mutter, ihre zwei Brüder ( römisch 40 ca. 21 Jahre; römisch 40 ca. 13 Jahre) und die vier Schwestern ( römisch 40 ca. 17 Jahre; römisch 40 ca. 19 Jahre; römisch 40 ca. 27 Jahre und römisch 40 ca. 25 Jahre) der Beschwerdeführerin leben in der Türkei. Zwei ihrer Schwestern haben bereits geheiratet. In Ar-Raqqa leben noch Onkel und Tanten väterlicher- und mütterlicherseits.

Die Beschwerdeführerin hat Kontakt zu ihrem Vater und zu ihrer Familie in der Türkei. Der Vater der Beschwerdeführerin hat Kontakt zu seiner Familie in Syrien.

1.1.4. Die Beschwerdeführerin ist gesund. Ihr kommt in Österreich der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

1.2.1. Die Herkunftsregion der Beschwerdeführerin, die Stadt Ar-Raqqa im gleichnamigen Gouvernement, steht nicht im Einfluss- oder Kontrollgebiet des syrischen Regimes, sondern unter der Kontrolle der Kurden. Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten des syrischen Regimes bestehen nicht. Der Beschwerdeführerin ist es möglich ihre Herkunftsregion ohne Kontakt zum syrischen Regime zu erreichen. Die Einreise in die Gebiete unter der Kontrolle der SDF/YPG in Nordost Syrien ist für die Beschwerdeführerin beispielsweise über den Grenzübergang Semalka – Faysh Khabur, ohne in Kontakt zum syrischen Regime zu geraten, möglich. Auch die Weiterreise vom Grenzübergang Semalka – Faysh Khabur in die Herkunftsregion der Beschwerdeführerin ist ohne jeden Kontakt zum syrischen Regime möglich.

1.2.2. Die Beschwerdeführerin ist in Syrien keinem maßgeblichen Risiko von psychischen und physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr allein aufgrund ihres Geschlechtes ausgesetzt. Die Beschwerdeführerin ist eine verheiratete Frau mit Familiennetzwerk in Syrien. Somit ist sie im Falle einer Rückkehr nicht als alleinstehend anzusehen. Frauen sind in Syrien keiner systematischen Gefahr einer Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt.

1.2.3. Die Beschwerdeführerin ist auch aus keinen sonstigen Gründen einer Verfolgung durch das syrische Regime, anderen bewaffneten Gruppierungen oder Privatpersonen ausgesetzt. Die Beschwerdeführerin war niemals in der Vergangenheit und ist auch aktuell oder künftig nicht der Gefahr einer Zwangsverheiratung ausgesetzt.

1.2.4. Auch aufgrund ihrer Ausreise aus Syrien und ihrer Asylantragstellung in Österreich droht der Beschwerdeführerin nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung aufgrund der Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung. Eine Verfolgung aufgrund der Ausreise der Beschwerdeführerin oder ihrer Familienangehörigen bzw. einer ihr hierdurch allfällig unterstellten oppositionellen Haltung ist unwahrscheinlich. Nicht alle Rückkehrenden, die unrechtmäßig ausgereist sind und die im Ausland einen Asylantrag gestellt haben, wird eine oppositionelle Gesinnung unterstellt.

1.2.5. Auch sonst ist die Beschwerdeführerin nicht der Gefahr ausgesetzt, aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Syrien mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.

1.2.6. Die Beschwerdeführerin ist in Syrien nie Mitglied einer bewaffneten Gruppierung gewesen, hat sich nicht aktiv an gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt und hat keine Strafrechtsdelikte begangen. Die Beschwerdeführerin genießt nicht den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen. Die Beschwerdeführerin hat kein Verbrechen gegen den Frieden, kein Kriegsverbrechen und kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Die BF hat kein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb von Österreich begangen und sich keine Handlungen zuschulden kommen lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen. Die Beschwerdeführerin ist in Österreich unbescholten und wurde weder von einem inländischen noch einem ausländischen Gericht verurteilt.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:

1.3.1. Auszug aus den aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation zu Syrien vom 27.03.2024, Version 11 (OZ 12):

Festgehalten wird, dass es im Hinblick auf die Version 10 (OZ 12) und die Version 11 der Länderinformationen der Staatendokumentation zu Syrien lediglich zu einem – im gegenständlichen Fall nicht relevanten Kapitel, zu einer Aktualisierung gekommen ist, weswegen von der weiteren Einräumung eines Verhandlungstermins Abstand genommen wurde.

Politische Lage

Letzte Änderung 2024-03-08 10:59

Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).

Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 Prozent des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023). Solange das militärische Engagement von Iran, Russland, Türkei und USA auf bisherigem Niveau weiterläuft, sind keine größeren Veränderungen bei der Gebietskontrolle zu erwarten (AA 2.2.2024).

Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen (AA 2.2.2024). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus (FH 9.3.2023). In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus (AA 2.2.2024). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).

Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023).

Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).

Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen (AA 2.2.2024). Das propagierte „Normalisierungsnarrativ“ verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vergleiche SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon (CMEC 16.5.2023; vergleiche Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren (AA 2.2.2024). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen(AA 2.2.2024).

Regional positionierte sich das Regime seit Ausbruch der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023 öffentlich an der Seite der Palästinenser und kritisierte Israel, mit dem sich Syrien formell weiterhin im Kriegszustand befindet, scharf (AA 2.2.2024).

Syrische Arabische Republik

Letzte Änderung 2024-03-08 11:06

Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 2.5.2023). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba’athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer der Alawiten und anderer religiöser Minderheiten (FH 9.3.2023) und die alawitische Minderheit hat weiterhin einen im Verhältnis zu ihrer Zahl überproportional großen politischen Status, insbesondere in den Führungspositionen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Nachrichtendienste, obwohl das hochrangige Offizierskorps des Militärs weiterhin auch Angehörige anderer religiöser Minderheitengruppen in seine Reihen aufnimmt (USDOS 15.5.2023). In der Praxis hängt der politische Zugang jedoch nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten. Alawiten, Christen, Drusen und Angehörige anderer kleinerer Religionsgemeinschaften, die nicht zu Assads innerem Kreis gehören, sind politisch entrechtet. Zur politischen Elite gehören auch Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft, doch die sunnitische Mehrheit des Landes stellt den größten Teil der Rebellenbewegung und hat daher die Hauptlast der staatlichen Repressionen zu tragen (FH 9.3.2023).

Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba’ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba’ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige (USDOS 20.3.2023). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienstund Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft infrage stellen könnten (FH 9.3.2023). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch die Verfassung und den bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v. a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich (AA 29.3.2023).

Dem ehemaligen Berater des US-Außenministeriums Hazem al-Ghabra zufolge unterstützt Syrien beinahe vollständig die Herstellung und Logistik von Drogen, weil es eine Einnahmemöglichkeit für den Staat und für Vertreter des Regimes und dessen Profiteure darstellt (Enab 23.1.2023). Baschar al-Assad mag der unumschränkte Herrscher sein, aber die Loyalität mächtiger Warlords, Geschäftsleute oder auch seiner Verwandten hat ihren Preis. Beispielhaft wird von einer vormals kleinkriminellen Bande berichtet, die Präsident Assad in der Stadt Sednaya gewähren ließ, um die dort ansässigen Christen zu kooptieren, und die inzwischen auf eigene Rechnung in den Drogenhandel involviert ist. Der Machtapparat hat nur bedingt die Kontrolle über die eigenen Drogennetzwerke. Assads Cousins, die Hisbollah und Anführer der lokalen Organisierten Kriminalität haben kleine Imperien errichtet und geraten gelegentlich aneinander, wobei Maher al-Assad, der jüngere Bruder des Präsidenten und Befehlshaber der Vierten Division, eine zentrale Rolle bei der Logistik innehat. Die Vierte Division mutierte in den vergangenen Jahren ’zu einer Art Mafia-Konglomerat mit militärischem Flügel’. Sie bewacht die Transporte und Fabriken, kontrolliert die Häfen und nimmt Geld ein. Maher al-Assads Vertreter, General Ghassan Bilal, gilt als der operative Kopf und Verbindungsmann zur Hisbollah (Spiegel 17.6.2022).

Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 2.2.2024).

Institutionen und Wahlen

Syrien ist nach der geltenden Verfassung von 2012 eine semipräsidentielle Volksrepublik. Das politische System Syriens wird de facto jedoch vom autoritär regierenden Präsidenten dominiert. Der Präsident verfügt als oberstes Exekutivorgan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Generalsekretär der Ba’ath-Partei über umfassende Vollmachten. Darüber hinaus darf der Präsident nach Artikel 113, der Verfassung auch legislativ tätig werden, wenn das Parlament nicht tagt, aufgelöst ist oder wenn „absolute Notwendigkeit“ dies erfordert. De facto ist die Legislativbefugnis des Parlaments derzeit außer Kraft gesetzt. Gesetze werden weitgehend als Präsidialdekrete verabschiedet (AA 29.3.2023).

Der Präsident wird nach der Verfassung direkt vom Volk gewählt. Seine Amtszeit beträgt sieben Jahre. Seit der letzten Verfassungsänderung 2012 ist maximal eine einmalige Wiederwahl möglich. Da diese Verfassungsbestimmung jedoch erstmals bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zur Anwendung kam, war es dem aktuellen Präsidenten Baschar al-Assad erlaubt, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2021 erneut zu kandidieren. Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt werden nach Artikel 85, vom Obersten Verfassungsgericht überprüft und müssen Voraussetzungen erfüllen, die Angehörige der Opposition faktisch weitgehend ausschließen. So muss ein Kandidat u. a. im Besitz seiner bürgerlichen und politischen Rechte sein (diese werden bei Verurteilungen für politische Delikte in der Regel entzogen), darf nicht für ein „ehrenrühriges“ Vergehen vorbestraft sein und muss bis zum Zeitpunkt der Kandidatur ununterbrochen zehn Jahre in Syrien gelebt haben. Damit sind im Exil lebende Politikerinnen und Politiker von einer Kandidatur de facto ausgeschlossen (AA 29.3.2023). Bei den Präsidentschaftswahlen, die im Mai 2021 in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie einigen syrischen Botschaften abgehalten wurden, erhielt Bashar al-Assad 95,1 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von rund 77 Prozent und wurde damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 Prozent und 3,3 Prozent der Stimmen (Standard 28.5.2021; vergleiche Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als ’weder frei noch fair’ und als ’betrügerisch’, und die Opposition nannte sie eine ’Farce’ (Standard 28.5.2021).

Das Parlament hat nicht viel Macht. Dekrete werden meist von Ministern und Ministerinnen vorgelegt, um ohne Änderungen vom Parlament genehmigt zu werden. Sitze im Parlament oder im Kabinett dienen nicht dazu, einzelne Machtgruppen in die Entscheidungsfindung einzubinden, sondern dazu, sie durch die Vorteile, die ihnen ihre Positionen verschaffen, zu kooptieren (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden die Wahlen für das „Volksrat“ genannte syrische Parlament mit 250 Sitzen statt, allerdings nur in Gebieten, in denen das Regime präsent ist. Auch diese Wahlen wurden durch die weitverbreitete Vertreibung der Bevölkerung beeinträchtigt. Bei den Wahlen gab es keinen nennenswerten Wettbewerb, da die im Exil lebenden Oppositionsgruppen nicht teilnahmen und die Behörden keine unabhängigen politischen Aktivitäten in dem von ihnen kontrollierten Gebiet dulden. Die regierende Ba’ath-Partei und ihre Koalition der Nationalen Progressiven Front erhielten 183 Sitze. Die restlichen 67 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, die jedoch alle als regierungstreu galten (FH 9.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7 Prozent (BS 23.2.2022). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.7.2020).

Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba’ath-Partei (MEI 24.7.2020). Die vom Regime und den Nachrichtendiensten vorgenommene Reihung auf der Liste ist damit wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen. Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien quasi zu managen und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren (BS 23.2.2022). Zudem gilt der Verkauf öffentlicher Ämter an reiche Personen, im Verbund mit entsprechend gefälschten Wahlergebnissen, als zunehmend wichtige Devisenquelle für das syrische Regime (AA 29.3.2023). Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022).

Im September 2022 fanden in allen [unter Kontrolle des syrischen Regimes stehenden] Provinzen Wahlen für die Lokalräte statt. Nichtregierungsorganisationen bezeichneten sie ebenfalls als weder frei noch fair (USDOS 20.3.2023).

Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien

Letzte Änderung 2024-03-08 11:12

2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) gekommen sein, deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine ’zweite Front’ in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba’ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrîn, ’Ain al-’Arab (Kobanê) und die Jazira/Cizîrê von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017).

Im November 2013 - etwa zeitgleich mit der Bildung der syrischen Interimsregierung (SIG) durch die syrische Opposition - rief die PYD die sogenannte Demokratische Selbstverwaltung (DSA) in den Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê aus und fasste das so entstandene, territorial nicht zusammenhängende Gebiet unter dem kurdischen Wort für „Westen“ (Rojava) zusammen. Im Dezember 2015 gründete die PYD mit ihren Verbündeten den Demokratischen Rat Syriens (SDC) als politischen Arm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) (SWP 7.2018). Die von den USA unterstützten SDF (TWI 18.7.2022) sind eine Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheitengruppen (USDOS 20.3.2023), in dem der militärische Arm der PYD, die YPG, die dominierende Kraft ist (KAS 4.12.2018). Im März 2016 riefen Vertreter der drei Kantone (Kobanê war inzwischen um Tall Abyad erweitert worden) den Konstituierenden Rat des „Demokratischen Föderalen Systems Rojava/Nord-Syrien“ (Democratic Federation of Northern Syria, DFNS) ins Leben (SWP 7.2018). Im März 2018 (KAS 4.12.2018) übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrîn mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022). Im September 2018 beschloss der SDC die Gründung des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria,AANES) auf dem Gebiet der drei Kantone (abzüglich des von der Türkei besetzten Afrîn). Darüber hinaus wurden auch Gebiete in Deir-ez Zor und Raqqa (K24 6.9.2018) sowie Manbij, Takba und Hassakah, welche die SDF vom Islamischen Staat (IS) befreit hatten, Teil der AANES (SO 27.6.2022).

Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet ’belohnt’ zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 20.3.2023). Türkische Vorstöße auf syrisches Gebiet im Jahr 2019 führten dazu, dass die SDF zur Abschreckung der Türkei syrische Regierungstruppen einlud, in den AANES Stellung zu beziehen (ICG 18.11.2021). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren (ÖB Damaskus 1.10.2021). Mit Stand Mai 2023 besteht kein entsprechender Vertrag zwischen den AANES und der syrischen Regierung (Alaraby 31.5.2023). Unter anderem wird über die Verteilung von Öl und Weizen verhandelt, wobei ein großer Teil der syrischen Öl- und Weizenvorkommen auf dem Gebiet der AANES liegen (K24 22.1.2023). Normalisierungsversuche der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und der syrischen Regierung wurden in denAANES im Juni 2023 mit Sorge betrachtet (AAA 24.6.2023).Anders als die EU und USA betrachtet die Türkei sowohl die Streitkräfte der YPG als auch die Partei PYD als identisch mit der von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und daher als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 2.2.2024).

Die Führungsstrukturen der AANES unterscheiden sich von denen anderer Akteure und Gebiete in Syrien. Die „autonome Verwaltung“ basiert auf der egalitären, von unten nach oben gerichteten Philosophie Abdullah Öcalans, der in der Türkei im Gefängnis sitzt [Anm.: Gründungsmitglied und Vorsitzender der PKK]. Frauen spielen eine viel stärkere Rolle als anderswo im Nahen Osten, auch in den kurdischen Sicherheitskräften. Lokale Nachbarschaftsräte bilden die Grundlage der Regierungsführung, die durch Kooptation zu größeren geografischen Einheiten zusammengeführt werden (MEI 26.4.2022). Es gibt eine provisorische Verfassung, die Lokalwahlen vorsieht (FH 9.3.2023). Dies ermöglicht mehr freie Meinungsäußerung als anderswo in Syrien und theoretisch auch mehr Opposition. In der Praxis ist die PYD nach wie vor vorherrschend, insbesondere in kurdisch besiedelten Gebieten (MEI 26.4.2022), und derAANES werden autoritäre Tendenzen bei der Regierungsführung und Wirtschaftsverwaltung des Gebiets vorgeworfen (Brookings 27.1.2023; vergleiche SD 22.7.2021). Die mit der PYD verbundenen Kräfte nehmen regelmäßig politische Opponenten fest. Während die politische Vertretung von Arabern formal gewährleistet ist, werden der PYD Übergriffe gegen nicht-kurdische Einwohner vorgeworfen (FH 9.3.2023). Teile der SDF haben Berichten zufolge Übergriffe verübt, darunter Angriffe auf Wohngebiete, körperliche Misshandlungen, rechtswidrige Festnahmen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie willkürliche Zerstörung und Abriss von Häusern. Die SDF haben die meisten Vorwürfe gegen ihre Streitkräfte untersucht. Einige Mitglieder der SDF wurden wegen Missbrauchs strafrechtlich verfolgt, jedoch lagen dazu keine genauen Zahlen vor (USDOS 20.3.2023).

Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP [Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak] nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der PYD, welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 1.10.2021).

Seitdem der Islamische Staat (IS) 2019 die Kontrolle über sein letztes Bevölkerungszentrum verloren hat, greift er mit Guerilla- und Terrortaktiken Sicherheitskräfte und lokale zivile Führungskräfte an (FH 9.3.2023). Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021).

Anmerkung: s. die entsprechenden Unterkapitel des Kapitels Sicherheitslage zum Frontverlauf in Nordsyrien sowie zur Vorgehensweise der Türkei.

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2024-03-08 11:17

Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023).

Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).

Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse

Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Im Wesentlichen gibt es drei Militärkampagnen: Bestrebungen durch eine Koalition den Islamischen Staat zu besiegen, Kampfhandlungen zwischen der Syrischen Regierung und Kräften der Opposition und türkische Militäroperationen gegen syrische Kurden (CFR 24.1.2024). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).

Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 60 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 2.2.2024). United Nations Geospatial veröffentlichte eine Karte mit Stand Juni 2023, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind (UNGeo 1.7.2023):

Quelle: UNGeo 1.7.2023 (Stand: 6.2023)

Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten mit IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:

Quelle: CC 13.12.2023 (Stand: 30.9.2023)

Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten

Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (VN) für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023). Für keinen Landesteil Syriens kann insofern von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (AA 2.2.2024).

Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) der VN stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den VN benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Im Mai 2023 begannen zusätzlich dazu die jordanischen Streitkräfte Luftangriffe gegen die Drogenschmuggler zu fliegen (SOHR 8.5.2023). Die USA sind mit mindestens 900 Militärpersonen in Syrien, um Anti-Terror-Operationen durchzuführen (CFR 24.1.2024). Seit Ausbruch des Krieges zwischen der Hamas und Israel begannen die USA mehrere Luftangriffe gegen iranische Milizen in Syrien und dem Irak zu fliegen. Anfang Februar 2024 eskalierten die Spannungen zwischen dem Iran und den USA, nachdem iranische Milizen in Jordanien eine militärische Stellung der USA mit einer Drohne angriffen und dabei mehrere US-amerikanische Soldaten töteten und verletzten. Die USA reagierten mit erhöhten und verstärkten Luftangriffen auf Stellungen der iranischen Milizen in Syrien und dem Irak. In Syrien trafen sie Ziele in den Räumen Deir ez-Zor, Al-Bukamal sowie Al-Mayadeen. Die syrische Armee gab an, dass bei den Luftangriffen auch Zivilisten sowie reguläre Soldaten getötet wurden (CNN 3.2.2024).

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 intensivierte Israel die Luftangriffe gegen iranische und syrische Militärstellungen CFR 24.1.2024). Infolge der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023, wurde israelisch kontrolliertes Gebiet auch von Syrien aus mindestens dreimal mit Raketen beschossen. Israel habe daraufhin Artilleriefeuer auf die Abschussstellungen gerichtet. Beobachter machten iranisch kontrollierte Milizen für den Raketenbeschuss verantwortlich. Israel soll im selben Zeitraum, am

12.10.2023 und 14.10.2023 jeweils zweimal den Flughafen Aleppo sowie am 12.10.2023 den Flughafen Damaskus mit Luftschlägen angegriffen haben; aufgrund von Schäden an den Startund Landebahnen mussten beide Flughäfen daraufhin den Betrieb einstellen (AA 2.2.2024).

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung hat derzeit die Kontrolle über ca. zwei Drittel des Landes, inklusive größerer Städte, wie Aleppo und Homs. Unter ihrer Kontrolle sind derzeit die Provinzen Suweida, Daraa, Quneitra, Homs sowie ein Großteil der Provinzen Hama, Tartus, Lattakia und Damaskus. Auch in den Provinzen Aleppo, Raqqa und Deir ez-Zor übt die syrische Regierung über weite Teile die Kontrolle aus (Barron 6.10.2023). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 2.2.2024). Die Opposition konnte eingeschränkt die Kontrolle über Idlib und entlang der irakisch-syrischen Grenze behalten. Das Erdbeben 2023 in der Türkei und Nordsyrien machte die tatsächliche Regierung fast unmöglich, weil die Opposition Schwierigkeiten hatte, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen (CFR 24.1.2024).

Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland,

Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Iran unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah (AA 2.2.2024). Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).

Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:

Quelle: Jusoor 30.7.2023

Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen ’Operation Claw-Sword’, die nach türkischen Angaben auf Stellungen der SDF und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022; vergleiche CFR 24.1.2024). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten ’eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen’ in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022). Die Türkei bombardierte auch im Oktober 2023 kurdische Ziele in Syrien als Reaktion auf einen Bombenangriff in Ankara durch die PKK (Reuters 7.10.2023; vergleiche AA 2.2.2024).

Im Gouvernement Dara’a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten ’Versöhnungsabkommens’. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023). In Suweida kam es 2020 und 2022 ebenfalls zu Aufständen, immer wieder auch zu Sicherheitsvorfällen mit Milizen, kriminellen Banden und Drogenhändlern. Dies führte immer wieder zu Militäroperationen und schließlich im August 2023 zu größeren Protesten (CC 13.12.2023). Die Proteste weiteten sich nach Daraa aus. Die Demonstranten in beiden Provinzen forderten bessere Lebensbedingungen und den Sturz Assads (Enab 20.8.2023).

Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).

Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nichtidentifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).

Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)

Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vergleiche DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vergleiche CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vergleiche BAMF 6.12.2022). Im August 2023 wurde dieser bei Kampfhandlungen mit der HTS getötet und der IS musste zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren einen neuen Führer ernennen. Als Nachfolger wurde Abu Hafs al-Hashimi al-Qurayshi eingesetzt (WSJ 3.8.2023). Die Anit-Terror-Koalition unter der Führung der USA gibt an, dass 98 Prozent des Gebiets, das der IS einst in Syrien und Irak kontrollierte, wieder unter Kontrolle der irakischen Streitkräfte bzw. der SDF sind (CFR 24.1.2024).

Der Sicherheitsrat der VN schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Mit mehreren Tausend Kämpfern sowie deren Angehörigen, die sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF befinden, sowie einer vermutlich dreistelligen Zahl von im Untergrund aktiven Kämpfern bleibt der IS jedoch ein relevanter asymmetrischer Akteur (AA 2.2.2024). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle und Attentate (DIS 29.6.2020). Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien (AA 2.2.2024). IS-Kämpfer sind in der Wüste von Deir ez-Zor, Palmyra und Al-Sukhna stationiert und konzentrieren ihre Angriffe auf Deir ez-Zor, das Umland von Homs, Hasakah, Aleppo, Hama und Raqqa (NPA 15.5.2023). In der ersten Jahreshälfte 2023 wurde von 552 Todesopfer durch Angriffe des IS berichtet (NPA 8.7.2023).

Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent beiAnti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). NachAngaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich zehn bis 15 Angriffe auf die Regierungsstreitkräfte pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).

Zivile Todesopfer landesweit

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London (SOHR), verzeichnete für das Jahr 2023 mit 4.361 getöteten Personen die höchste Todesopferzahl in drei Jahren. Darunter zählten sie 1.889 ZivilistInnen, darunter 307 Kinder und 241 Frauen (SOHR 31.12.2023).

Quelle: SOHR 31.12.2023

Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.2021 bis 30.6.2023 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern. Demnach kamen im Jahr 2022 5.949 Menschen ums Leben und im ersten Halbjahr 2023 2.796 Personen (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):

: ACLED o.D.

Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 1.1.2020-30.6.2023 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):

Quelle: ACLED o.D.; *2023: Zeitraum 1.1.-30.6.2023

Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).

Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).

Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien

Die syrische Regierung wird beschuldigt mehrmals chemische Waffen eingesetzt zu haben, was zu internationalen Verurteilungen in den Jahren 2013, 2017 und 2018 führte (CFR 24.1.2024). Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Teams“ (IIT) zu ermitteln. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.3.2017 sowie Chlorgas am 25.3.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 1.3.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 7.4.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds“). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.5.2019 wiederholt Chlorgas in Kabana/Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 1.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (1.8.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.1.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.9.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.1.2022). In einem weiteren Bericht vom 1.2.2022 kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.10.2016 in Kafr Zeita eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 1.2.2022).

Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 Prozent der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021).

Auch wenn es im Jahr 2022 kein Einsatz von chemischen Waffen berichtet wurde, so wird davon ausgegangen, dass das Regime weiterhin über ausreichende Vorräte von Sarin und Chlor verfügt, und über die Expertise zur Produktion und Anwendung von Chlor-hältiger Munition verfügt. Das Regime erfüllte nicht die Forderungen der Organization for the Prohibition of Chemical

Weapons (OPCW) Conference of the States Parties, weshalb seine Rechte in der Organisation suspendiert bleiben (USDOS 20.3.2023).

Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln

Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Die Gesamtzahl der durch Landminen (bekannten) getöteten Opfer im Jahr 2023 beträgt 101, darunter 25 Kinder und acht Frauen. Laut dem Humanitarian Needs Overiew der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und - Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 2.2.2024).

Rechtsschutz / Justizwesen

Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes unter HTS- oder SNA-Dominanz

Letzte Änderung 2024-03-08 19:52

In Gebieten außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes ist die Lage von Justiz und Verwaltung von Region zu Region und je nach den örtlichen Herrschaftsverhältnissen unterschiedlich (AA 2.2.2024). In von oppositionellen Gruppen kontrollierten Gebieten wurden unterschiedlich konstituierte Gerichte und Haftanstalten aufgebaut, mit starken Unterschieden bei der Organisationsstruktur und bei der Beachtung juristischer Normen. Manche Gruppen folgen dem (syrischen) Strafgesetzbuch, andere folgen dem Entwurf eines Strafgesetzbuches auf Grundlage der Scharia, der von der Arabischen Liga aus dem Jahr 1996 stammt, während wiederum andere eine Mischung aus Gewohnheitsrecht und Scharia anwenden. Erfahrung, Expertise und Qualifikation der Richter in diesen Gebieten sind oft sehr unterschiedlich und häufig sind diese dem Einfluss der dominanten bewaffneten Gruppierungen unterworfen (USDOS 11.3.2020). Auch die Härte des angewandten islamischen Rechts unterscheidet sich, sodass keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Doch werden insbesondere jene religiösen Gerichte, welche in (vormals) vom Islamischen Staat (IS) und von Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: HTS wird von den Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Verbindungen zu Al Qa’ida als ausländische Terrororganisation eingestuft (CRS 8.11.2022)] kontrollierten Gebieten Recht sprechen, als nicht mit internationalen Standards im Einklang stehend charakterisiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die Gerichte extremistischer Gruppen verhängen in ihren religiösen Gerichten harte Strafen wegen in ihrer Wahrnehmung religiösen Verfehlungen (FH 9.3.2023). Urteile von Scharia-Räten der Opposition resultieren manchmal in öffentlichen Hinrichtungen, ohne dass Angeklagte Berufung einlegen oder Besuch von ihren Familien erhalten können (USDOS 20.3.2023).

Das Gebiet unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten syrischen Oppositionsgruppen wird von der „Syrischen Interimsregierung“ (Syrian Interim Government - SIG) verwaltet. Das Justizsystem ist hauptsächlich mit erfahrenem Personal als Richter, Staatsanwälte und Anwälte besetzt, aber die Justiz gilt als direkt und indirekt unter Einfluss der türkischen Streitkräfte und ihrer lokalen syrischen Verbündeten stehend. Implizit werden Korruption und Schikanen durch diese von der Justiz toleriert. Gleichzeitig wird gegen jegliche Opposition zur SIG oder der türkischen Präsenz strikt vorgegangen. Neben einem zivilen Justizsystem gibt es auch eine Militärjustiz, welche für militärische Strafverfahren und für das Militärpersonal zuständig ist (NMFA 5.2022).

In Idlib übernehmen quasi-staatliche Strukturen der sogenannten „Errettungs-Regierung“ der HTS Verwaltungsaufgaben (AA 2.2.2024) und verfügen auch über eine Justizbehörde. Die Gruppe unterhält auch geheime Gefängnisse. Die HTSunterwirft ihre Gefangenen geheimen

Verfahren, den sogenannten „Scharia-Sitzungen“. In diesen werden die Entscheidungen von den Scharia- und Sicherheitsbeamten (Geistliche in Führungspositionen der HTS, die befugt sind, Fatwas [Rechtsgutachten] und Urteile zu erlassen) getroffen. Die Gefangenen können keinen Anwalt zu ihrer Verteidigung hinzuziehen und sehen ihre Familien während ihrer Haft nicht (NMFA 6.2021). Die COI(die von der UNO eingesetzte Independent International Commission ofInquiryon the SyrianArabRepublic) stellt in ihrem Bericht vom Februar 2022 fest, dass durch HTSund andere bewaffnete Gruppierungen eingesetzte, rechtlich nicht legitimierte Gerichte Urteile bis hin zur Todesstrafe aussprechen. Dies sei als Mord einzustufen und stelle insofern ein Kriegsverbrechen dar (AA 2.2.2024).

Für ganz Syrien gilt, dass nicht gewährleistet ist, dass justizielle und administrative Dienstleistungen allen Bewohnern und Bewohnerinnen in gleichem Umfang und ohne Diskriminierung zugutekommen (AA 2.2.2024). Willkürliche Verhaftungen, summarische Gerichtsverfahren und extralegale Strafen finden durch alle Kriegsparteien statt (FH 9.3.2023).

Nordost-Syrien

Letzte Änderung 2024-03-08 19:53

In Gebieten unter Kontrolle der sogenannten „Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ übernimmt diese quasi-staatliche Aufgaben wie Verwaltung und Personenstandswesen (AA 2.2.2024). Es wurde eine von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst (AI 12.7.2017). Das Justizsystem in den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und Ermittlungsbehörden (USDOS 20.3.2023). Juristen, welche unter diesem Justizsystem agieren, werden von der syrischen Regierung beschuldigt, eine illegale Justiz geschaffen zu haben. Richter und Justizmitarbeiter sehen sich mit Haftbefehlen der syrischen Regierung konfrontiert, verfügen über keine Pässe und sind häufig Morddrohungen ausgesetzt (JS 28.10.2019).

In den Gebieten unter der Kontrolle der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (engl. Abk.: AANES) - auch kurd. „Rojava“ genannt, setzten die Behörden einen Rechtskodex basierend auf einem „Gesellschaftsvertrag“ („social contract“) durch. Dieser besteht aus einer Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht und Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und Steuerhinterziehung an EU-Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt (USDOS 20.3.2023). Zudem mangelt es an der Durchsetzung der Rechte für einen fairen Prozess (NMFA 6.2021).

Leute, die im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren gesucht werden, erhalten keine Vorladung, sondern werden einfach verhaftet. In Pressekonferenzen der Asayish werden nur Verhaftungen von Verdächtigen in Strafverfahren vermeldet - nicht die Verhaftungen von Personen, welche wegen ihrer Meinungsäußerungen festgenommen oder die entführt wurden (NMFA 6.2021). Die SDF (Syrian Democratic Forces) führen willkürliche Verhaftungen von ZivilistInnen, einschließlich JournalistInnen durch (HRW 11.1.2024).

Verfahren gegen politische Gefangene werden in der Regel vor Strafgerichten oder vor einem Gericht für Terrorismusbekämpfung verhandelt. In Strafgerichten können Inhaftierte einen Anwalt beauftragen, in Gerichten für Terrorismusbekämpfung geht dies laut International Center for Transitional Justice (ICTJ) nicht und auch eine Berufung ist nicht möglich. Die meisten Inhaftierten werden nicht vor Gericht gestellt, sondern entweder freigelassen - oft unter Bedingungen, die mit Stammesführern ausgehandelt wurden - oder die Betroffenen verschwinden unter Gewaltanwendung (NMFA 6.2021).

Im März 2021 einigten sich Repräsentanten von kurdischen, jesidischen, arabischen und assyrischen Stämmen im Nordosten Syriens auf die Einrichtung eines Stammesgerichtssystems, bekannt als „Madbata“, für die Klärung von intertribalen Streitigkeiten, Raubüberfällen, Rache und Plünderungen in der Jazira-Region in der Provinz Hassakah. Es besteht aus einer Reihe von Gesetzen und Bräuchen, die als Verfassung dienen, welche die Stammesbeziehungen regeln und die Anwendung dieser Gesetze überwachen, auf die sich eine Gruppe von Stammesältesten geeinigt hat. Aufgrund von schlechten Sicherheitsbedingungen und dem Fehlen einer effektiven und unparteiischen Justiz wurde wieder auf dieses traditionelle Rechtssystem zurückgegriffen (AM 4.4.2021).

Umgang mit ehemaligen in-und ausländischen IS-Kämpfern,-Mitgliedern, und-Familienangehörigen

Das sogenannte Volksverteidigungsgericht (People’s Defense Court) als Spezialgericht für Terrorismusstraftaten weist Verletzungen der Bedingungen für faire Gerichtsprozesse auf (NMFA 5.2022, Haaretz 8.5.2018). Zum Beispiel wird bei einer erstmaligen Anklage oft eher eine Hilfe oder Anleitung für die DeliquentInnen statt einer Strafe beschlossen (NMFA 5.2022). Durch den Fokus auf Konfliktlösung und milde Strafurteile versucht dieAANES Brücken zur ihnen misstrauenden arabischen Bevölkerungsmehrheit in Ostsyrien zu bauen, ihre Regierungskompetenz gegenüber der lokalen Bevölkerung hervorzuheben und internationale Legitimität zu gewinnen. Die Todesstrafe wurde abgeschafft. Die Höchststrafe ist eine lebenslange Freiheitsstrafe, de facto eine zwanzigjährige Haftstrafe. Gerichtsurteile werden bei guter Führung, oder wenn sich der Angeklagte selbst den kurdischen Behörden gestellt hat, gemildert. 2017 gab es Versöhnungs- und Vermittlungsversuche mit großen arabischen Stämmen. Über 80 IS-Kämpfer erhielten eine Amnestie, um gute Beziehungen zu schaffen, und andere dazu zu bringen, sich zu stellen. Das Gericht ist auch weder von den syrischen Behörden noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt (Ha’aretz 8.5.2018).

Viele europäische Länder sind weiterhin zurückhaltend, was die Rückholung ihrer StaatsbürgerInnen betrifft. Gleichzeitig wird die Verurteilung vor syrischen und irakischen Gerichten nicht als den Standards der internationalen Menschenrechte entsprechend angesehen, und die Chancen, ein internationales Tribunal vor Ort zu etablieren sind gering. So stellt die Autonome Administration ehemalige IS-Kämpfer vor provisorische Tribunale. Bis März 2021 kam es zu 8.000

Verurteilungen von Syrern in Zusammenhang mit dem IS, Jabhat an-Nusra Anmerkung, an-Nusra Front) und Fraktionen der Syrian National Army, wie der Hamza Division und der Suleyman Shah Brigade (ICCT 16.3.2021).

53.000 Personen, darunter etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige aus rund 60 verschiedenen Ländern, darunter auch Österreich, werden im Lager al-Hol festgehalten (Standard 7.11.2022). 80 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder von Mitgliedern des Islamischen Staats (SHRC 1.2023). SNHR geht von „Zehntausenden syrischen BürgerInnen“ und „Tausenden anderen“ in al-Hol aus, die ohne gesetzliche Basis und ohne Haftbefehl festgehalten werden. Die meisten befinden sich seit Jahren in dem Lager. Die Lebensbedingungen, einschließlich der Mangel an Lebensmitteln und medizinischer Versorgung, werden z. B. von SNHR (SNHR

17.1.2023) wie auch von Ärzte ohne Grenzen schärfstens kritisiert. Aktuell sind 64 Prozent der Menschen in al-Hol Kinder. Für sie ist das Leben in dem Camp besonders gefährlich, so Ärzte ohne Grenzen. Im Jahr 2021 kamen 79 Kinder zu Tode - mehr als ein Drittel aller im Jahr 2021 Verstorbenen waren Kinder unter 16 Jahren. Die häufigste Todesursache (38 Prozent) in Al-Hol ist der Tod infolge von Verbrechen. Zusätzlich zu den 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen wurden in dem Lager 2021 auch 30 Mordversuche gemeldet (Standard 7.11.2022).

Zum aktuellen Gebietsumfang der Gebiete unter obiger Selbstverwaltung siehe die Karten im Kapitel Sicherheitslage und besonders auch das Unterkapitel Nordost-Syrien.

Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge (regimekontrollierte Gebiete)

Letzte Änderung 2024-03-08 19:54

Der rechtliche Status von Frauen

Zu den Gesetzen, die Frauen diskriminieren, gehören Straf-, Familien-, Religions-, Personenstands-, Arbeits-, Staatsangehörigkeits-, Erbschafts-, Renten- d Sozialversicherungsgesetze (USDOS 20.3.2023), darunter Obsorgeangelegenheiten (FH 9.3.2023). Außerdem stehen Verfahrensrechte nicht allen syrischen Bürgern in gleichem Ausmaß zur Verfügung, zum Teil, weil Auslegungen des religiösen Rechts die Grundlage für Elemente des Familien- und Strafrechts bilden und Frauen diskriminieren (USDOS 20.3.2023).

Personenstandsgesetz von 1953 (mit Nivellierungen)

Im muslimisch dominierten multireligiösen und multiethnischen Syrien haben die unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften seit Langem das Recht, bestimmte Angelegenheiten des Familienrechts entsprechend ihren jeweiligen religiösen Vorschriften zu regeln (SLJ 3.10.2019). Im Allgemeinen wird das Familienrecht durch das Personenstandsgesetz (qanun al-ahwal alshakhsiyya) von 1953 geregelt, eine Kodifizierung islamischen Rechts. Das Gesetz gilt für alle Syrer, aber bestimmte Ausnahmen gelten für Drusen, Christen und Juden, die ihre eigenen religiösen Gesetze in Bezug auf Heirat, Scheidung, Kindesunterhalt, Mitgift, Testamente und Erbschaft anwenden können (MPG 2018). Andere Bereiche wie Vormundschaft und Vaterschaft gelten jedoch für alle Syrer, unabhängig von ihrer Religion - nach einer zeitweisen Ausnahme für Katholiken (Landinfo 22.8.2018). Das Personenstandsrecht und die Scharia-Gerichte, die dieses Recht anwenden, haben Vorrang gegenüber den nicht-muslimischen Gerichten (Eijk 2013).

Nicht nur die verschiedenen Religionsgruppen, auch die unterschiedlichen Konfessionen haben eine jeweils eigene Gesetzgebung in bestimmten rechtlichen Angelegenheiten den Personenstand betreffend (Eijk 2013). So existiert ein kodifiziertes Familienrecht für Katholiken, Protestanten sowie für die Armenisch-, Griechisch- sowie Syrisch-Orthodoxen Kirchen u. a. in verschiedenen Personenstandsgesetzen (MPG 2018). Das Gesetz unterscheidet hingegen nicht zwischen den verschiedenen islamischen Konfessionen und gilt für Sunniten, Alawiten und andere schiitische Gruppen gleichermaßen (ausgenommen sind hiervon Drusen, wenn man diese als muslimische Gruppe ansieht) (Eijk 2016).

Am 25.3.2021 ist mit der Unterschrift des Präsidenten das Gesetz Nr. 13/2021 zum Erlass eines neuen Personenstandsgesetzes (PSG) verabschiedet worden. Das neue Gesetz ersetzt das Personenstandsgesetz von 2007. Gegenstand der enthaltenen Neuerungen sind insbesondere die Automatisierung und Informatisierung von Registerprozessen und ihre Vereinfachung; u. a. soll es Erleichterungen bei der Beantragung von Urkunden geben (VfSt 30.3.2021). Bezüglich Heirat, Scheidung, Kinderobsorge und Erbschaft sind Frauen weiterhin im Personenstandsgesetz diskriminiert (HRW 11.1.2024).

Eheschließung

Religionsverschiedenheit ist ein Hindernis für die Eheschließung in Syrien. So ist die Ehe einer muslimischen Frau mit einem nicht-muslimischen Mann nichtig. Eine Ehe zwischen einem muslimischen Mann und einer nicht-muslimischen Frau, sofern diese dem Christentum oder Judentum angehört, ist gültig (MPG 2018, vergleiche USDOS 2.6.2022). Inwieweit eine Ehe mit einer Jesidin rechtmäßig ist, ist unklar (MPG 2018). Im Jahr 2019 erfolgten Änderungen. Das Heiratsalter wurde für Männer wie Frauen von 17 auf 18 Jahre erhöht. Der Ehemann und die Ehefrau können nun ihre jeweiligen Bedingungen im Ehevertrag festschreiben, wenn diese weder islamisches noch syrisches Recht verletzen. Sollte islamisches oder syrisches Recht hingegen verletzt sein, werden diese Bedingungen nichtig, aber der Ehevertrag behält seine Gültigkeit (LoC 8.4.2019).

Der Zuständige des Gerichts kann die Ehe im Gericht oder zuhause schließen. Das Brautpaar muss nicht anwesend sein. Die Frau kann auch durch ihren Vormund vertreten werden. Eine Vertretung wird entsprechend in der Eheschließungsurkunde/Heiratsurkunde vermerkt (NMFA 5.2022) [Anm.: zur Praxis von diesbezüglichen Vermerken bei der Bestätigung informeller Heiraten siehe weiter unten.]. Theoretisch braucht eine erwachsene Frau nicht die ausdrückliche Zustimmung ihres Vaters oder Vormunds, um eine traditionelle Ehe eingehen zu können. Auf die Anwesenheit des Vormunds der Frau wird jedoch großer Wert gelegt, weil von ihm erwartet wird, dass er die Interessen der Familie und der Braut schützt (NMFA 6.2021). In den unterschiedlichen Strömungen des islamischen Rechts ist es umstritten, ob eine erwachsene, voll geschäftsfähige Frau ihre Ehe ohne ihren Ehevormund schließen kann. Ein erwachsener Mann kann seine Ehe ohne einen Ehevormund schließen (MPG o.D.a). Stellvertretung bei der Ehe (tawkîl) ist gemäß Artikel 8, PSG zulässig und durchaus üblich (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Die Mitwirkung des Staates ist für die Wirksamkeit der Eheschließung nicht erforderlich. Vielmehr stellen die Eheschließung an sich und die Mitteilung bzw. Registrierung der Eheschließung bei Gericht oder einer anderen Behörde getrennte Vorgänge dar. Die Registrierung ist verpflichtend und kann entweder vor oder nach der Eheschließung erfolgen (MPG o.D.a). Das Scharia-Gericht (oder religiöse Behörde) meldet die geschlossenen gesetzlichen Heiraten dem Zivilregister (NMFA 5.2022).

Paare, bei denen ein Partner ausländischer Staatsbürger ist, benötigen eine Genehmigung des Innenministeriums, denn dies gilt als Frage der nationalen Sicherheit (SLJ 3.10.2019).

Eine informelle Heirat mit Bezeichnungen wie sheikh, ‘urfi und katb al-kitab (NMFA 5.2022) auch unter der Bezeichnung „traditionelle Ehe“ (SLJ 3.10.2019) - ist eine islamische Heirat, die ohne die Involvierung einer kompetenten Autorität geschlossen wird (NMFA 5.2022). Gründe für eine traditionelle Ehe können sein, dass das Paar unterschiedlichen islamischen Konfessionen angehört, dass es gegen die Wünsche der Familie heiratet, oder es sich um eine polygame Ehe handelt (mit oder ohne Wissen der ersten Ehefrau), die grundsätzlich im syrischen Personenstandsrecht erlaubt, jedoch strukturell beschränkt ist. Ein Mann kann einer solchen Ehe auch zustimmen, um dem unehelichen Kind seiner Frau einen Vater und somit einen Familiennamen zu geben (Eijk 2013). Ein Richter kann weiterhin eine informelle Heirat ratifizieren, wenn die Bedingungen im ersten Absatz (des Gesetzes) nicht gegeben sind. Das kann auch als Möglichkeit für die Heirat von Minderjährigen genutzt werden, ohne das eine Dispens durch den Richter nötig ist (NMFA 5.2022).

Ein weiterer Grund für informelle Heiraten ist, dass Männer, die in der Armee [Anm.: je nach Zeitpunkt vor oder nach der Gesetzesänderung 2019 nur Berufssoldaten oder auch andere - siehe auch weiter unten] dienen, eine Genehmigung der Armee für eine Eheschließung benötigen (Eijk 2013). Männer müssen nämlich sonst Dokumente vorlegen, welche belegen, dass ihre militärdienstlichen Verpflichtungen erfüllt sind (STJ 3.10.2019). Im Jahr 2019 benötigte z. B. jeder in der Altersgruppe zwischen 18 und 42 Jahren die Erlaubnis seiner Militäreinheit für eine Heirat. Viele Männer, egal ob Wehrdienstpflichtige oder Deserteure schlossen daher informelle Ehen, welche sie dann bei einem Scharia-Gericht ratifizieren ließen. Letzteres soll ohne Erlaubnis des Militärs möglich gewesen sein, wenn die Frau schwanger war oder schon ein Kind geboren hatte. Mit mehreren Änderungen im Personenstandsgesetz im Jahr 2019, Artikel 40, Absatz 1, benötigen nur Berufssoldaten eine Erlaubnis zur Heirat. Ob ein Deserteur seine informelle Heirat durch ein Scharia-Gericht bestätigen lassen kann, das beim Zivilregister registriert ist, hängt hauptsächlich davon ab, ob diese informelle Heirat bestätigt wird (NMFA 5.2022).

Da eine Ehe auch formlos zustande kommen kann, gibt es oft keine vorherige Anzeige der Eheabsicht bei Gericht. Zudem können die Brautleute in vielen Fällen die erforderlichen Dokumente nicht beibringen. Der Bedarf, die informell geschlossene Ehe zu registrieren, entsteht immer dann, wenn für ein Kind aus dieser Ehe Dokumente (z. B. eine Geburtsurkunde oder die Staatsbürgerschaftsurkunde) ausgestellt werden sollen. Das Gesetz bestimmt, dass eine Registrierung der bereits geschlossenen Ehe im Nachhinein erfolgen darf, wenn festgelegte

Anforderungen erfüllt sind. Im Fall einer Schwangerschaft der Ehefrau oder des Vorhandenseins von Kindern aus dieser Ehe ist diese leichter nachweisbar. Können bestimmte Unterlagen zur Gültigkeit der außergerichtlichen Eheschließung nicht vorgelegt werden, besteht die Möglichkeit, eine einvernehmliche Feststellungsklage über das Bestehen der Ehe zu erheben. Bei der Feststellungsklage werden lediglich Tatsachen festgehalten, die von den Parteien selbst vorgebracht werden. Das Gericht überprüft die vorgebrachten Behauptungen nicht (MPG o.D.a).

Scharia-Gerichte können diese informellen Ehen ratifizieren, wobei die Bestätigung in schriftlicher Form erfolgt, aber die Dokumente werden inhaltlich wie formal je nach Gericht unterschiedlich nach Gutdünken der Richter ausgestellt. Zum Beispiel ist die Anwesenheit des Brautpaars oder seiner Repräsentanten nicht zwingend im Dokument erwähnt. Es wird auch nicht immer explizit erwähnt, ob ein Gatte oder eine Gattin durch eine andere Person vertreten wurde (NMFA 5.2022).

Das Datum der Eheschließung wird bei einer nachträglichen Registrierung vom Gericht bestimmt. Wenn das Gericht die traditionelle Eheschließung als gültig anerkennt, ist das Datum der traditionellen Eheschließung das Datum der Eheschließung, nicht das Datum der Registrierung. Da es auch möglich ist, Kinder ex post facto zu registrieren (oftmals gleichzeitig mit der Registrierung der Ehe), und Kinder im Kontext einer Ehe geboren werden sollten, sollte das Hochzeitsdatum hierbei jedenfalls vor dem Geburtsdatum der Kinder liegen. Daher würde es laut der Einschätzung einer Expertin für syrisches Ehe- und Familienrecht Sinn machen, dass das Gericht das Datum der traditionellen Eheschließung als das „echte Hochzeitsdatum“ festlegt (Eijk 4.1.2018).

Ein Gerichtsbeschluss wird besonders in Fällen gewählt, in denen ein Gatte verstorben, verschwunden, die Adresse unbekannt ist, nicht im Gericht erscheinen kann oder sich weigert, seine informelle Heirat zu bestätigen oder zu registrieren. Der Weg kann auch gewählt werden, wenn beide Gatten nicht vor Gericht erscheinen können. Ein Anwalt initiiert als Vertreter einer der beiden Eheleute das Verfahren zur Ratifizierung der außergerichtlichen Heirat. Dieses Verfahren war weit verbreitet, als die Genehmigung des Registrierungsbüros für den Militärdienst von Nöten war, und der Gatte nicht im Gericht erscheinen konnte (NMFA 6.2021).

In Bezug auf christliche Ehen werden vom Staat Ehen, die in einer Kirche geschlossen werden, als gültige Ehen anerkannt. Nach der Zeremonie sendet die Kirche die Unterlagen an das Zivilregisterbüro (Ejk 2013).

Kinderehe und Zwangsehe

Frühe und Zwangsehen sind ein Problem in Syrien. Besonders vertriebene Familien verheiraten ihre jungen Töchter als wahrgenommene Absicherung gegen sexuelle Gewalt oder aufgrund wirtschaftlichen Drucks (FH 9.3.2023).

Nach Gesetzesänderungen liegt mittlerweile das Ehemündigkeitsalter für Männer und Frauen bei 18 Jahren (SLJ 3.10.2019, vergleiche OSS 18.1.2023) [Anm.: bzgl. eines möglichen Schlupfloches siehe auch obigen Abschnitt]. Einige Ausnahmen erlauben Richtern, die Autorisierung und Registrierung von Heiraten ab dem Alter von 15 Jahren, wenn ein Zusammenleben und eine Schwangerschaft oder sexuelle Beziehungen stattgefunden haben. Diese Ausnahmen werden frei angewendet, auch wenn sie oft auf falschen Berichten beruhen (SJAC 7.10.2021). Wenn Minderjährige mit einer Dispens des Richters eines Familiengerichts heiraten, wird die Dispens in einem Zug mit der Eheschließung erteilt. Es ist nicht bekannt, in welchem Ausmaß die Dispens im Ehevertrag erwähnt wird (NMFA 5.2022).

Die meisten Ehen von Minderjährigen werden jedoch außerhalb der Scharia-Gerichte geschlossen, und dann von den Scharia-Gerichten nach den gesetzlichen Bestätigungsverfahren und der Bezahlung der Geldbuße ratifiziert. Andere Strafen wie etwa eine Haft werden selten angewendet. Ein Antrag auf Ratifizierung stellt oft das Gericht vor vollendete Tatsachen, z. B. wenn die Frau bereits schwanger ist oder bereits Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind oder die Ehe nicht angefochten wird (NMFA 6.2021).

Außerdem hat eine Frau das Recht, eine von ihrem Vormund auferlegte Ehe ohne ihre ausdrückliche Zustimmung für ungültig zu erklären. Ebenso sehen die neuen Änderungen vor, dass Frauen das Recht haben, ohne die Zustimmung ihres Vormunds zu heiraten, wenn sie 18 Jahre alt sind (LoC 8.4.2019).

Scheidung

Das syrische Personenstandsrecht erkennt auf Basis des islamischen Rechts drei Arten der Scheidung an: die einseitige Scheidung oder Verstoßung durch den Ehemann („talaq“), die Scheidung mit gegenseitigem Einverständnis (mukhala‘a) und die gerichtliche Scheidung („tafriq“) (Eijk 2013). Das Scheidungsrecht steht grundsätzlich dem Ehemann zu und dieser kann ohne Angabe von Gründen die Scheidung verlangen, bzw. seine Frau verstoßen (MPG o.D.a). Die einseitige Verstoßung der Ehefrau durch den Ehemann gilt als die gängige Version der Scheidung, wobei der Ehemann die Scheidung verbal oder schriftlich aussprechen kann. Die Scheidung kann vor einem Richter oder außergerichtlich ausgesprochen und im Nachhinein beim Gericht registriert werden. Diese relativ verbreitete Art der Scheidung führt jedoch zu Fällen, in denen Frauen das Gericht aufsuchen müssen, um zu erfahren, ob sich ihre Ehemänner von ihnen scheiden haben lassen. In einer Wartezeit von etwa drei Monaten kann der Ehemann seine Frau noch zurücknehmen (Eijk 2013). Ist die Ehe zwischen denselben Personen dreimal durch Verstoßung aufgelöst worden, wie es bei „talaq“ notwendig ist, entsteht ein Eheverbot zwischen den Geschiedenen. Eine Wiederheirat zwischen diesen Personen ist nur dann möglich, wenn die Ehefrau zuerst einen anderen Mann ehelicht und sich von diesem wieder scheiden lässt (MPG o.D.a).

Die Scheidung in gegenseitigem Einverständnis wird häufig von der Frau initiiert. Sie beinhaltet oftmals eine Vereinbarung, laut welcher der Ehemann sein Einverständnis für die Scheidung gibt, und die Ehefrau im Gegenzug teilweise oder gänzlich auf Unterhalt verzichtet. Der entsprechende Vertrag kann bei Gericht oder außerhalb des Gerichtes geschlossen und ex post facto registriert werden. Jedenfalls muss die Ehefrau bei Gericht erscheinen und ihren Verzicht auf Unterhalt bekannt geben (Eijk 2013). Frauen verzichten mitunter somit für die Einwilligung ihres Ehemannes in die Scheidung auf ihren Anspruch auf Unterhalt (USDOS 2.6.2022). Eine Frau kann aus bestimmten festgelegten Gründen auch eine gerichtliche Scheidung beantragen.

So gibt es die Scheidung aufgrund von Krankheit oder Mangel („defect“) des Ehemannes, Abwesenheit oder Verschwinden des Ehemannes, Unterlassen der Unterhaltszahlungen durch den Ehemann oder aufgrund von Eheproblemen. Bei dieser Art der Scheidung müssen jedoch bestimmte Beweise vorgelegt werden. Wenn beispielsweise eine Ehefrau aufgrund der Abwesenheit ihres Ehemannes die Scheidung einreichen will, muss sie diesbezüglich zweimal in drei verschiedenen nationalen Zeitungen eine Anzeige aufgeben, was kostspielig ist (Eijk 2013). Es ist auch möglich ehevertragliche Vereinbarungen vor der Ehe zu treffen, aus deren Verletzung sich für die Frau ein Scheidungsrecht ergibt. Dabei kann der zukünftige Ehemann auch im Vertrag selbst der Frau eine Vollmacht zur Scheidung erteilen (MPG o.D.a).

Die gestiegene Zahl an Scheidungen ist teilweise darauf zurückzuführen, dass viele Frauen ihre Ehemänner während des Kriegs verloren haben, ohne deren Schicksal zu kennen, sodass sie die Scheidung auf Basis der Abwesenheit der Ehemänner einreichten. Eine vermisste Person kann nach vier Jahren unter verschiedenen Bedingungen für tot erklärt werden (SLJ 3.10.2019).

Laut christlichem Familienrecht ist die Ehe ein Sakrament, und es ist daher sehr schwierig, sich scheiden zu lassen (Eijk 2013). In manchen Fällen ist eine Scheidung nach dem jeweiligen Kirchenrecht gar nicht möglich (FH 9.3.2023). Die katholische Kirche erkennt z. B. Scheidung nicht an, lediglich die Annullierung ist unter bestimmten Bedingungen möglich. Dies führt teilweise zu drastischen Maßnahmen wie einer Konversion zum Islam eines Ehepartners, um eine Scheidung zu erwirken (Eijk 2013).

Anerkennung von Kindern, Vormundschaft, Sorgerecht und Staatsbürgerschaft

Das in wirksamer Ehe geborene Kind gilt als vom Ehemann abstammend, wenn seit der Eheschließung die Mindestdauer einer Schwangerschaft verstrichen ist, und der körperliche Kontakt der Ehegatten nicht unmöglich gewesen ist, also wenn nicht etwa einer der Ehepartner über die Dauer der Schwangerschaft hinaus abwesend war (z. B. Gefängnis). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so gilt das Kind als vom Ehemann abstammend, wenn er das Kind anerkennt oder seine Vaterschaft gerichtlich geltend macht (MPG o.D.b).

Das islamische Recht sieht zwei Konzepte des Sorgerechtes für Kinder vor: Erstens die Vormundschaft (wilāya), welche immer der Vater, bzw. dessen Seite der Familie (Großvater des Kindes) innehat, und zweitens die physische Obsorge, welche bei der Mutter, bzw. prioritär bei ihrer Seite der Familie (Großmutter des Kindes), liegt. Für die Obsorge steht eine Vergütung durch den Vormund zu, abhängig von dessen finanziellen Verhältnissen (MPG o.D.b). Mit Vollendung des 15. Lebensjahres erlischt bei Mädchen und mit 13 Jahren bei Buben das Recht auf Personenobsorge mütterlicherseits. Im Falle einer Scheidung kann die Mutter die physische Obsorge über die Kinder bis zu dieser Altersgrenze erhalten (USDOS 2.6.2022), wobei die Altersgrenze hierbei von der Konfession abhängt (STDOK 8.2017). Die Gesetze bezüglich Vormundschaft (wilāya) sind laut syrischem Personenstandsrecht für alle Religionen/Konfessionen anzuwenden. Zur Obsorge (ḥaḍāna) verfügen jedoch die jüdischen und christlichen Gemeinden über eigene Regelungen (Eijk 2013).

Frauen können das Obsorgerecht auch verlieren. Etwa wenn die Mutter Christin, der Vater aber Muslim ist, könnte der Vater im Falle einer Scheidung argumentieren, dass die Mutter die Kinder nicht richtig erziehen kann (STDOK 8.2017). Es gibt auch Fälle, in denen christliche Männer zum Islam konvertiert sind und vor Scharia-Gerichten das volle Sorgerecht, also Obsorge und Vormundschaft, für ihre Kinder eingefordert haben (Eijk 2013). Geht die Mutter eine neue Ehe ein, verliert sie ebenfalls das Recht auf Obsorge (MPG o.D.b). Selbst wenn die Mutter die Obsorge innehat, besitzt der Vater stets die Vormundschaft über die Kinder und somit Entscheidungsgewalt über ihre Ausbildung oder die Reisebewegungen der Kinder. Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden. Auch nach dem Tod des Vaters geht die Vormundschaft nicht auf die Mutter, sondern auf die Familie des Vaters über. Kinder können so als Druckmittel benutzt werden, um die Frau dazu zu bringen, sich nicht scheiden zu lassen oder auf Unterhaltszahlungen zu verzichten. Im Falle einer Scheidung zeigen die Gerichtsdokumente der Scheidungsverhandlung, wem das Obsorgerecht zugesprochen wurde. Ein gesondertes Dokument über den Zuspruch der Obsorge ist nicht bekannt (STDOK 8.2017).

Das Gesetz erlaubt die Weitergabe der Staatsbürgerschaft durch die Mutter nur, wenn das Kind in Syrien geboren wurde, und der Vater „unbekannt“ ist. In der Praxis wird betroffenen Kindern die Staatsbürgerschaft jedoch nicht immer zuerkannt (STDOK 8.2017 - Anmerkung, zur Lage von Kindern ohne Registrierung oder registrierte Vaterschaft siehe auch weiter unten). Wenn ein Kind im Ausland geboren wurde, kann es die syrische Staatsbürgerschaft nur erlangen, wenn der Vater syrischer Staatsbürger ist. Die Mutter kann ihre syrische Staatsbürgerschaft nicht an ein im Ausland geborenes Kind weitergeben (USDOS 20.3.2023).

Wenn eine Geburt nicht registriert wird, führt dies für das Kind zu bestimmten Einschränkungen im Zugang zu Leistungen, wie Abschlusszeugnissen, Zugang zu Universitäten, Zugang zu formaler Beschäftigung oder Dokumenten (STDOK 8.2017). Die Zahl unregistrierter Kinder oder Kinder ohne dokumentierte Vaterschaft, bzw. unbekannte Vaterschaft, stieg vor allem aufgrund illegaler/informeller Trauungen, des Verlustes von Identitätsdokumenten (besonders bei der Flucht oder Vertreibung, gegebenenfalls auch durch den Tod des Kindsvaters), mangelnden Zugangs zu Regierungsbehörden zwecks Beantragung von Dokumenten oder auch z. B. durch falsche Identitäten bei ausländischen Kämpfern. 70 % der befragten IDPs in einer Umfrage des Norwegian Refugee Council fehlten wichtige Identitätsdokumente (Fanack 27.5.2022).

Heiratsdokumente

Ein „bayān zawāj“ ist ein Auszug aus einer Heiratsurkunde und enthält eine Reihe von Feldern oder Abschnitten. Die „raqm al-wathīqa“ (Dokumentennummer) ist eine codierte Nummer, die sich auf die Provinz, das zuständige Standesamt und die Seriennummer des Dokuments bezieht. Die Dokumentennummer ist die Nummer des Heiratsdokuments und wird vom SchariaGericht oder im Falle von Christen oder Drusen von einem anderen Familiengericht vergeben.

Die „raqm al-wāqiʿa“ (Vorgangsnummer) bezieht sich auf die Nummer des registrierten Vorfalls (wie Geburt, Tod, Heirat, Scheidung und damit zusammenhängende Vorfälle) und den Ort, an dem der Vorfall registriert wurde. Die Vorgangsnummer wird von den Standesämtern vergeben. Das „tārīḫ al-ʿaqd“ (wörtlich „das Datum des Vertrags“) bezieht sich auf das Datum der Eheschließung - entweder das Datum, an dem die Ehe vor einem oder durch einen Eheschließungsbeamten des Gerichts geschlossen wurde, oder das Datum der Eheschließung, das durch die rückwirkende Ratifizierung einer traditionellen Ehe durch das Gericht bestimmt wurde. Im Falle einer rückwirkenden Ratifizierung einer traditionellen oder „Urfi-Ehe“ entspricht dieses Datum - wenn es korrekt ist, wie die Quelle hinzufügt - dem Datum der Eheschließung, das in der Gerichtsentscheidung zu finden ist (NMFA 6.2021).

Der Heiratsurkunde/Eheschließungsurkunde (sakk zawaj) beinhaltet drei Zahlen auf der oberen linken Seite: as-sahifa (Seitenzahl), al-asas (Laufnummer) und as-sidjil (Registrierungsbuchnummer des Zivilregisterarchivs). Kopien der Heiratsurkunde ergehen an das jeweilige Zivilregisterbüro der Eheleute, sodass ihre Ehe dort als registriert aufscheint. Das kann mehrere Tage dauern. Manche Paare bringen lieber selbst die Kopien zu den Registrierungsbüros, um das Prozedere zu beschleunigen, bzw. als Vorsichtsmaßnahme (NMFA 5.2022).

Im Fall einer nachträglichen Ratifizierung einer informellen Heirat kann in der Zwischenzeit eine Schwangerschaft vorliegen, was der Richter bei der Ratifizierung vermerken kann, was aber kein Standardvorgehen darstellt (NMFA 5.2022).

Außerhalb der regimekontrollierten Gebiete

Der militärische und politische Zerfall Syriens hat auch Auswirkungen auf das Familienrecht, weil die einzelnen politischen Gruppen in ihren Herrschaftszonen zum Teil eigene Normensysteme gebildet haben und anwenden (MPG 2018).

Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen

Letzte Änderung 2024-03-08 19:55

Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie die militärischen und zivilen Geheimdienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen (AA 29.3.2023). Die Regierung hat die effektive Kontrolle über die uniformierten Polizei-, Militär- und Staatssicherheitskräfte, und setzt diese zur Ausübung von Menschenrechtsverletzungen ein. Sie hat jedoch nur beschränkten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Einheiten, z. B. russische Streitkräfte, die mit dem Iran verbündete Hizbollah und die iranischen Islamischen Revolutionsgarden, deren Mitglieder ebenfalls zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begingen (USDOS 20.3.2023).

Straflosigkeit unter den Sicherheitsbehörden bleibt ein weitverbreitetes Problem bei Sicherheitskräften, NachrichtendienstmitarbeiterInnen und auch sonst innerhalb des Regimes. In der Praxis sind keine Fälle von Strafverfolgung oder Verurteilung von Polizei- und Sicherheitskräften hinsichtlich Misshandlungen bekannt. Es gibt auch keine Berichte von Maßnahmen der Regierung, um die Einhaltung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu verbessern (USDOS 20.3.2023), wenngleich im März 2022 ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet wurde (HRW 11.1.2024). Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats wie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen - ebenso wie Gefängnisse, wo Zehntausende gefoltert wurden und werden (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist, (OSS

1.10.2017), während die Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen kriminalisiert wird (USDOS 20.3.2023). Die Nachrichtendienste haben ihre traditionell starke Rolle verteidigt oder sogar weiter ausgebaut (AA 29.3.2023) und greifen in die Unabhängigkeit des Justizwesens ein, indem sie RichterInnen und AnwältInnen einschüchtern (USDOS 20.3.2023). Durch die Entwicklungen der letzten Jahre sind die Schutzmöglichkeiten des Individuums vor staatlicher Gewalt und Willkür – welche immer schon begrenzt waren – weiterhin deutlich verringert worden (AA 29.3.2023).

Es ist schwierig, Informationen über die Aktivitäten von spezifischen Regierungs- oder regierungstreuen Einheiten zu spezifischen Zeiten oder an spezifischen Orten zu finden, weil die Einheiten seit dem Beginn des Bürgerkrieges oft zu Einsätzen organisiert („task-organized“), bzw. aufgeteilt oder für spezielle Einsätze mit anderen Einheiten zusammengelegt werden. Berichte sprechen oft von einer speziellen Militäreinheit an einem bestimmten Einsatzort (z. B. einer Brigade), wobei die genannte Einheit aus Teilen mehrerer verschiedener Einheiten nur für diesen speziellen Einsatz oder eine gewisse Zeit zusammengestellt wurde (Kozak 28.12.2017).

Trotz grob abgesteckter Einflussgebiete überschneiden sich die Gebiete der Sicherheitsorgane und ihrer Milizen, und es herrscht Konkurrenz um Checkpoints und Handelsrouten, wo sie von passierenden ZivilistInnen und Geschäftsleuten Geld einnehmen, sowie um Gebiete, welche Rekrutierungspools von ehemaligen Oppositionskämpfern darstellen. Die Spannungen zwischen Offizieren, Soldaten, Milizionären und lokaler Polizei eskalieren in Verhaftungen niederrangiger Personen, Angriffen und Zusammenstößen sowie Anschuldigungen zufolge in Ermordungen der von der Konkurrenz angeworbenen „versöhnten“ ehemaligen Oppositionskämpfer (TWP 30.7.2019). So ist z. B. Aleppo Stadt Schauplatz fallweiser Zusammenstöße zwischen Regierungsmilizen untereinander und mit Regierungssoldaten (ICG 9.5.2022).

Anmerkung, In den folgenden Unterkapiteln sind Informationen zu einigen wichtigen Gruppen, Einheiten, Milizen und Sicherheitsbehörden, die auf der Seite der Regierung zum Einsatz kommen, zu finden. Dies stellt jedoch keine abschließende Aufstellung dar.

Streitkräfte

Letzte Änderung 2023-07-17 16:14

Die syrischen Streitkräfte bestehen aus dem Heer, der Marine, der Luftwaffe, den Luftabwehrkräften und den National Defense Forces (NDF, regierungstreue Milizen und Hilfstruppen). Aktuelle Daten zur Anzahl der Soldaten in der syrischen Armee existieren nicht. Vor dem Konflikt soll die aktive Truppenstärke geschätzt 300.000 Personen umfasst haben (CIA 7.2.2023). Zu Jahresbeginn 2013 war etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Soldaten, Reservisten und Wehrpflichtigen desertiert, bzw. zur Opposition übergelaufen (zwischen 60.000-100.000 Mann). Weitere rund 50.000 Soldaten fielen durch Verwundung, Invalidität, Haft oder Tod aus. Letztlich konnte das Regime 2014 nur mehr auf rd. 70.000 bis 100.000 loyale und mittlerweile auch kampferprobte Soldaten zurückgreifen (BMLV 12.10.2022). 2014 begann die syrische Armee mit Reorganisationsmaßnahmen (MEI 18.7.2019), und seit 2016 werden irreguläre Milizen in die regulären Streitkräfte integriert, in einem Ausmaß, das je nach Quelle unterschiedlich eingeschätzt wird (CMEC 12.12.2018; Üngör 15.12.2021; Voller 9.5.2022). Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von regierungsfreundlichen, proiranischen Milizen unterstützt, deren Truppenstärke in die Zehntausende gehen dürfte (CIA 7.2.2023). Das Offizierskorps gilt in den Worten von Kheder Khaddour als kleptokratisch, die die Armee als Institution ausgehöhlt. Den Offizieren bleibt nichts übrig, als sich an den Regimenetzwerken zu beteiligen und mit Korruption ihre niedrigen Gehälter aufzubessern. Die Praxis der Bestechung der Offiziere durch Rekruten gegen ein Decken ihrer Abwesenheit vom Dienst durch Offiziere ist so verbreitet, dass sie im Sprachgebrauch als tafyeesh oder feesh (Bezeichnung für den Personalakt, der bei einem Offizier aufliegt) bezeichnet wird. Auch der Einsatz von Rekruten für private Arbeiten für die Offiziere und deren Familien kommt vor - ebenso wie die Annahme von Geschenken oder lokalen Lebensmittelspezialitäten (CMEC 14.3.2016). Die Höhe der Geldsummen für Tafyeesh [Anm.: im Artikel auf eingezogene Reservisten und Soldaten bezogen] variieren zwar nach Einheit und Offizier, aber aufgrund der Verschlechterung der Lebensbedingungen und der zunehmenden geheimdienstlichen Kontrolle über die Militäreinheiten stiegen die verlangten Preise für Tafyeesh seit Anfang 2023, was diejenigen, welche sich dies nicht mehr leisten konnte, dazu veranlasste, zu ihren Einheiten zurückzukehren. Der Hintergrund für die monetäre Abgeltung für das Decken der abwesenden Soldaten durch ihre Offiziere ist, dass die Militärs mindestens zweimal so viel Geld benötigen, als die Löhne im öffentlichen Dienst ausmachen, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien abzudecken. Das führt dazu, dass Männer im Reserve- oder Militärdienst (retention service) mit unbestimmter Dauer aufTafyeesh zurückgreifen. Einem Präsidialdekret von Ende Dezember 2022 zufolge verdient z.B. ein Oberleutnant regulär umgerechnet 17 US-Dollar monatlich und ein Brigadegeneral 43,5 US-Dollar pro Monat, während SoldatInnen entsprechend weniger verdienen als die Offiziersränge (Enab 7.2.2023, zu weiteren Formen der Korruption durch Mitglieder des Sicherheitsapparats siehe auch Kapitel Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung). Aufgrund der Stationierung (Hauptquartier u.a.) von Divisionen in bestimmten Gebieten im Rahmen des Quta’a-Systems [arab. Sektor, Landstück] verfügen die Divisionskommandanten über viel Freiraum in ihrer Befehlsgewalt wie auch für persönliche Vorteile. Diese Strukturierung kann von Bashar als-Assad auch genutzt werden, den Einfluss einzelner Divisionskommandeure einzuschränken, indem er sie gegeneinander ausspielt, um so das System auch zur Prävention von Militärputschen zu nutzen (CMEC 14.3.2016).

Die syrische Armee war der zentrale Faktor für das Überleben des Regimes während des Bürgerkriegs. Im Laufe des Krieges hat ihre Kampffähigkeit jedoch deutlich abgenommen (CMEC 26.3.2020a) und mit Stand September 2022 war die syrische Armee in jeglicher Hinsicht grundsätzlich auf die Unterstützung Russlands, Irans bzw. sympathisierender, vornehmlich schiitischer Milizen angewiesen – d. h. ein eigenständiges Handeln, Durchführung von Militäroperationen usw. durch Syrien sind nicht oder nur in äußerst eingeschränktem Rahmen möglich (BMLV 12.10.2022).

Das syrische Regime und damit auch die militärische Führung unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und ’rein militärischen Zielen’ (BMLV 12.10.2022). Nach Experteneinschätzung trägt jeder, der in der syrischen Armee oder Luftwaffe dient, per defintionem zu Kriegsverbrechen bei, denn das Regime hat in keiner Weise gezeigt, dass es das Kriegsrecht oder das humanitäre Recht achtet. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass eine Person in eine Einheit eingezogen wird, auch wenn sie das nicht will, und somit in einen Krieg, in dem die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern nicht wirklich ernst genommen wird (Üngör 15.12.2021). Soldaten können in Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein, weil das Militär in Syrien auf persönlichen Vertrauensbeziehungen, manchmal auch auf familiären Netzwerken innerhalb des Militärs beruht. Diejenigen, die Verbrechen begehen, handeln innerhalb eines vertrauten Netzwerks von Soldaten, Offizieren, Personen mit Verträgen mit der Armee und Zivilisten, die mit ihnen als nationale Verteidigungskräfte oder lokale Gruppen zusammenarbeiten (Khaddour, Kheder 24.12.2021).

Anmerkung: für Informationen zum 4. und 5. Korps der syrischen Armee s. auch Kap. Regierungstreue Einheiten, ausländische Kämpfer, russischer und iranischer Einfluss.

Zivile und militärische Sicherheits- und Nachrichtendienste, Polizei

Letzte Änderung 2023-07-17 16:14

Die vier wichtigsten Sicherheits- und Nachrichtendienste sind der Militärische Nachrichtendienst, der Nachrichtendienst der Luftwaffe, das Direktorat für Politische Sicherheit und das Allgemeine Nachrichtendienstdirektorat. Dazu kommen noch die Abteilung für Kriminalsicherheit und der Zoll, der über mehr Einfluss verfügt, als gemeinhin erwartet (EIP 7.2019). Die zahlreichen syrischen Sicherheitsbehörden arbeiten autonom und ohne klar definierte Grenzen zwischen ihren Aufgabenbereichen (USDOS 20.3.2023). Jeder Geheimdienst unterhält eigene Gefängnisse und Verhöreinrichtungen, bei denen es sich de facto um weitgehend rechtsfreie Räume handelt. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle im Zuge des Konfliktes verteidigt oder sogar weiter ausgebaut (AA 29.3.2023). Vor 2011 war die vorrangige Aufgabe der Nachrichtendienste die syrische Bevölkerung zu überwachen. Seit dem Beginn des Konfliktes nutzt Assad den Sicherheitssektor, um die Kontrolle zu behalten. Diese Einheiten überwachten, verhafteten, folterten und exekutierten politische Gegner sowie friedliche Demonstranten. Um seine Kontrolle über die Sicherheitsdienste zu stärken, sorgte Assad für Feindschaft und Konkurrenz zwischen den Diensten. Dies fördert Nepotismus und Patronage wie auch böswilliges Melden wahrgenommener Opponenten sowie Erpressung bzw. Ausbeutung von Geschäftsleuten und BürgerInnen, welche für viele Genehmigungen und Lizenzen auf die Genehmigung der Sicherheitsdienste angewiesen sind. Auch werden hohe Summen für die Freilassung von Inhaftierten oder für Informationen über das Schicksal von Gefangenen erpresst (EIP 7.2019). Auch in der Polizei ist Korruption allgegenwärtig (USDOS 20.3.2023).

Anmerkung, zur Korruption durch Mitglieder des Sicherheitsapparats siehe auch Kapitel Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung.

Die Sicherheitskräfte nutzen eine Reihe an Praktiken, um Bürger einzuschüchtern oder zur Kooperation zu bringen. Diese Techniken beinhalten im besten Fall Belohnungen, jedoch auch Zwangsmaßnahmen wie Reiseverbote, Überwachung, Schikanen von Individuen und/oder deren Familienmitgliedern, Verhaftungen, Verhöre oder dieAndrohung von Inhaftierung. Die Zivilgesellschaft und die Opposition in Syrien sind Ziel spezieller Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte, aber auch ganz im Allgemeinen müssen Gruppen und Individuen mit dem Druck der Sicherheitsbehörden umgehen (GS 11.2.2017; für nähere Informationen siehe Kapitel Menschenrechte), wobei Gebiete, in denen es in der Vergangenheit viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie z. B. Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, nun unter verstärkter Beobachtung der Geheimdienste stehen. Dort ist der Druck auf RückkehrerInnen auch nach bestandener Sicherheitsüberprüfung umfassend als InformantInnen zu fungieren (Üngör 15.12.2021).

In den letzten Jahren baute das syrische Regime seine Sicherheitsdienste um, indem es neue „Loyalisten“ in leitende Sicherheitspositionen berufen hat. Es handelt sich um Personen, die sich durch ihre Rolle bei der Eskalation der Gewalt nach 2011 einen Namen machten, und gegen die das Regime in Form von Akten über Korruption erhebliche Druckmittel besitzt. Dies wurde als gewisse Stärkung der syrischen Position gegenüber der russisch-iranischen Konkurrenz bei der Gestaltung der syrischen Sicherheitsstrukturen gewertet (Clingendael 5.2020). Im Jahr 2022 erfolgten weitere Personalrochaden in den Führungsbereichen der Nachrichtendienste.

Die Neu- und Umbesetzungen sollen eine Nichtbeteiligung der beförderten Offiziere an der Gewalt seit 2011 suggerieren (OSS 18.1.2023). Die Führung der Sicherheitsdienste hat oft enge familiäre und persönliche Beziehungen zum Präsidenten, der Alawit ist. Im Allgemeinen sind diese Behörden weitgehend mit Personen aus Gemeinschaften besetzt, die historisch der herrschenden Familie gegenüber loyal sind. Das klarste Beispiel hierfür ist die unverhältnismäßig große Anzahl an Alawiten, die im Sicherheitssektor arbeiten (SJAC 1.4.2019).

Regierungstreue Einheiten, ausländische Kämpfer, russischer und iranischer Einfluss

Letzte Änderung 2024-03-11 06:43

Nach Massendesertionen [Anm.: in den Jahren 2011/2012] suchte Assad die Hilfe lokaler und schlussendlich auch ausländischer paramilitärischer Gruppen. Die Regierung begann dann mit der Formalisierung und Professionalisierung der hunderten Selbstverteidigungsmilizen und quasi-kriminellen Banden - bekannt als Schabiha durch die Schaffung einer nationalen Dachorganisation unter der Bezeichnung Nationale Selbstverteidigungskräfte (NDF - National Defence Forces) am 5.8.2013 mittels Legislativdekret 55 (Clingendael 29.3.2022). Der Iran und die libanesische Hizbullah spielten eine wichtige Rolle bei der Gründung der NDF nach dem Vorbild der iranischen paramilitärischen Basij-Einheiten (ISW 3.2017).

Zusätzlich zu den NDF schlossen sich weitere paramilitärische Organisationen mit unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen der Regierungsseite an, wie z. B. die Eagles of the Whirlwind (pan-syrischer Nationalismus), die Ba’ath Brigade (syrisch-arabische Vormachtstellung) sowie halb angeschlossene Armeeeinheiten wie die Qalamoun Shield Forces. In einigen Gebieten wie z. B. an der Küste und in einigen Religionsgemeinschaften wurden bewaffnete Organisationen („coercive organisations“) gegründet, um spezifische lokale Bevölkerungsgruppen zu beschützen (Clingendael 29.3.2022; Anmerkung, Dort findet sich auch eine Grafik mit einer ideologischen Einordnung einer Anzahl der in diesem Abschnitt genannten Gruppen).

Pro-Regime Milizen wie die NDF wurden integriert und führten ähnliche Aufgaben ohne definierte Zuständigkeiten aus (USDOS 20.3.2023) und stellen mittlerweile selbst eine Bedrohung der staatlichen Souveränität dar, weil sie an Größe, Anzahl und Einfluss gewonnen haben (CMEC 26.3.2020a). Sie stellen für die Regierung jedoch auch eine Konkurrenz dar, z. B. in Zusammenhang mit der Rekrutierung, weil die Milizen teilweise über eine bessere Finanzierung verfügen, und somit einen höheren Sold bezahlen können. Manche der bewaffneten Gruppen kritisieren die syrische Regierung und ihre Geheimdienste auch vergleichsweise offen (FIS 14.12.2018).

Quasi-Regierungs- und Hybrid-Organisationen gehören nun fix zu den syrischen Sicherheitsstrukturen. Mit dem Rückgang der Kämpfe seit 2018 versucht Assad die Kontrolle über diese Gruppen zu verstärken, indem führende Mitglieder in die regierende Elite z. B. via Parlamentswahlen integriert werden [Anm.: siehe dazu auch Kapitel Politische Lage]. Bei den pro-iranischen Gruppen stößt Assad jedoch auf erhebliche Hindernisse bei der Eingliederung in seinen Sicherheitsapparat (Clingendael 29.3.2022), und der Iran verfügt mittlerweile über mindestens 300 Militärstellungen in Syrien und seine Milizen über die de-facto-Kontrolle von strategisch wichtigen Gebieten (TJF 11.3.2022).

Die traditionelle Strategie des Iran besteht darin, parallele nicht-staatliche Militärstrukturen zu schaffen und zu entwickeln, die dem syrischen Staat nicht direkt unterstellt und dem Iran gegenüber loyaler sind als dem syrischen Zentralkommando (CMEC 26.3.2020a). Die wachsende Rolle des Iran im Konflikt führte zum Einsatz von iranisch gesponsorten, hauptsächlich schiitischen Gruppen zur Unterstützung der Assad-Herrschaft, darunter die libanesische Hizbullah oder die Harakat Hezbollah an-Nujaba (aus dem Irak). Diese Organisationen sind tendenziell religiös ausgerichtet und bestehen vor allem aus ausländischen Kämpfern (Clingendael 29.3.2022). Die iranische Koalition besteht aus iranischen Kämpfern (Teileinheiten der Iranischen Revolutionswächter und regulären iranischen Streitkräften - sogenannte „Artesh“-Kämpfer) und ausländischen Kämpfern, darunter Iraker (ISW 3.2017), Pakistanis und Afghanen (TJF 11.3.2022). Iranische Offiziere unterstützen auch Einheiten der syrischen Armee, regierungstreue Milizen, die (libanesischen) Hizbullah sowie irakische schiitische Milizen bei der Planung und Koordination von Einsätzen. Die afghanischen und pakistanischen Kämpfer werden von den iranischen Einheiten rekrutiert, ausgebildet, versorgt und ihre Führung im Kampf wird von iranischer Seite organisiert (KAS 4.12.2018).

Russland konzentriert sich vor allem auf den Aufbau von staatlichen Institutionen, während der Iran auch Einfluss außerhalb syrischer staatlicher Institutionen ausübt. Sie sind in Syrien Kooperationspartner und Konkurrenten in einem. Russland ist dabei im Rahmen seiner Bemühung um die Stärkung des Souveränitätsprinzips besonders in den Wiederaufbau der syrischen Streitkräfte involviert (Clingendael 5.2020). Im Oktober 2015 wurde das sogenannte Vierte Korps (Fourth Storming Corps/Fourth Assault Corps) und im November 2016 das Fünfte Korps („Fifth Storming Corps“/„Fifth Assault Corps“) gegründet (Kozak 3.2018). In das Vierte Korps wurden neben bereits existenten Einheiten aus den syrischen Streitkräften auch irreguläre Einheiten aus NDF-Mitgliedern und Wehrpflichtigen aus Lattakia aufgenommen (CMEC 26.3.2020b). Das Fünfte Korps besteht ausschließlich aus Freiwilligen, einerseits aus verschiedenen Einheiten der syrischen Armee, andererseits vor allem aber aus irregulären Einheiten wie den NDF oder loyalen Ba’ath-Bataillonen. Rekrutiert wurde in ganz Syrien. 2018 wurden auch ehemalige Rebellen aus der Provinz Dara’a in das Fünfte Korps integriert. Zu Beginn oblag das Kommando vollständig dem russischen Militär. Mittlerweile haben russische Berater weniger Einfluss (CMEC 26.3.2020b).

Angesichts der Sensibilität der russischen öffentlichen Meinung in Bezug auf militärische Verluste sind viele der in Syrien kämpfenden russischen Söldner offiziell auf Eigeninitiative aktiv, aber gehören in Wirklichkeit zu privaten Militärunternehmen mit mutmaßlichen Verbindungen zum Kreml, wie z.B. der Wagner-Gruppe (EPRS 11.2018), denn Söldnertruppen sind in Russland eigentlich verboten. Die Wagner-Gruppe ist seit 2015 in Syrien im Einsatz (BBC 23.1.2023). Die Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen der Wagner-Gruppe führten im Jahr 2022 zu einer Einreichung einer Klage gegen die Wagner-Gruppe beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, wobei Russland bereits seinen Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt hatte. Deshalb ist es fraglich, ob der Gerichtshof noch die Möglichkeit haben wird, über den Fall zu entscheiden (SJAC 22.6.2022).

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Unterstützung mit fortschrittlichen Waffentechnologien, Spezial- und Lufteinheiten, sowie die ausgeweitete Bodenintervention Irans konnten im Jahr 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Das Eingreifen Russlands, des Irans und der Hizbullah bildet seit 2011 jedoch auch die wichtigste Quelle für die Erosion der Autonomie und Souveränität des syrischen Regimes: Dieses ist weiterhin abhängig von der politischen und militärischen Unterstützung Russlands und des Irans (Clingendael 5.2020). Hochrangige syrische Funktionäre erlebten durch die iranische und russische Dominanz einen Machtverlust, der wiederholt zu Spannungen in der iranisch-russisch-syrischen Militärkooperation führte. Damit einhergehend forciert der Iran seinen Einfluss auf Kultur, Gesellschaft und Religion in Syrien, was besonders bei Sunniten auf Misstrauen und Widerwillen stößt (KAS 4.12.2018). Im Zuge dessen soll es auch zu Säuberungen, Exekutionen und Versetzungen von niederrangigen wie auch höherrangigen syrischen Offizieren gekommen sein, die sich gegen die Ausweitung des iranischen Einflusses gewehrt hatten (ISW 3.2017). Im Jahr 2017 und vor allem im Jahr 2018 standen sich die verschiedenen Unterstützer des syrischen Regimes immer stärker konfrontativ gegenüber (BS 29.4.2020). Im

Juni 2018 kam es beispielsweise zu einem offenen Zusammenstoß zwischen der Hizbullah und syrischen Truppen unter russischer Führung und im Januar 2019 zu Kämpfen zwischen dem Vierten (de facto iranisch kontrollierten) und dem Fünften (unter russischer Dominanz stehenden) Korps der syrischen Armee in der Provinz Hama (BS 23.2.2022). Im Dezember 2021 wurde von der Ermordung prominenter Offiziere in der Küstenregion Syriens berichtet, welche möglicherweise mit dem Machtkampf zwischen Russland und dem Iran zu tun hatten. Der Konflikt zwischen Iran und Russland wurde weiterhin auch über die vom Iran unterstützte Vierte Division, die vom Bruder des Regimepräsidenten Maher al-Assad angeführt wird, und auf das Fünfte Korps, das neben mehreren anderen Brigaden Russland vertritt, ausgetragen (TSO 15.12.2021;

Anmerkung, Zu den Konflikten zwischen bewaffneten Akteuren auf Regierungsseite siehe auch im Überkapitel Streitkräfte.).

Die Diversifizierung der bewaffneten Akteure im Sicherheitsapparat hat zur Etablierung lokaler, mafiaartiger Machtzentren geführt und verschafft Warlords Einfluss (BS 23.2.2022), sodass bei Übergriffen regimetreuer Milizen der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben teils fließend ist (AA 2.2.2024).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Allgemeine Informationen

Letzte Änderung 2024-03-13 16:02

Syrien ist eine patriarchalische Gesellschaft, aber je nach sozialer Schicht, Bildungsniveau, Geschlecht, städtischer oder ländlicher Lage, Region, Religion und ethnischer Zugehörigkeit gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug auf Rollenverteilung, Sexualität sowie Bildungs- und Berufschancen von Frauen. Der anhaltende Konflikt und seine sozialen Folgen sowie die Verschiebung der de-facto-Kontrolle durch bewaffnete Gruppen über Teile Syriens haben ebenfalls weitreichendeAuswirkungen auf die Situation der Frauen (NMFA6.2021). Mehr als ein Jahrzehnt des Konflikts hat ein Klima geschaffen, das der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zuträglich ist, besonders angesichts der sich verfestigenden patriarchalischen Gesellschaftsformen, und Fortschritte bei den Frauenrechten zunichtemachte. Diese Risiken steigen unvermeidlicherweise angesichts von mehr als 15 Millionen Menschen in Syrien, die im Jahr 2023 humanitäre Hilfe benötigen. Gleichzeitig gibt es einen Anstieg an Selbstmorden unter Frauen und Mädchen, was laut ExpertInnen auf den fehlenden Zugang von Heranwachsenden zu Möglichkeiten und entsprechenden Hilfsleistungen liegt (UNFPA 28.3.2023).

Offizielle Mechanismen, welche die Rechte von Frauen sicherstellen sollen, funktionieren Berichten zufolge nicht mehr, und zusammen mit dem generellen Niedergang von Recht und Ordnung sind Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen besonders durch extremistische Gruppen ausgesetzt, die ihre eigenen Interpretationen von Religionsgesetzen durchsetzen. Die persönliche gesellschaftliche Freiheit von Frauen variiert je Gebiet außerhalb der Regierungskontrolle und reicht von schwerwiegenden Kleidungs- und Verhaltensvorschriften in Gebieten extremistischer Gruppen bis hin zu formaler Gleichheit im Selbstverwaltungsgebiet der Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD). Durch die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) und dem Zurückgehen der Kampfhandlungen im Lauf der Zeit ist die Bevölkerung in geringerem Ausmaß den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheiten ausgesetzt (FH 9.3.2023). Gleichwohl haben verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufgrund der Pandemie und der Bewegungseinschränkungen zugenommen, welche auch zur ökonomischen Ausbeutung von Frauen beitragen (UNFPA 28.3.2023).

Frühe Heiraten nehmen zu (UNFPA 28.3.2023): In Syrien lässt sich in den letzten Jahren ein sinkendes Heiratsalter von Mädchen beobachten, weil erst eine Heirat ihnen die verloren gegangene, aber notwendige rechtliche Legitimität und einen sozialen Status, d. h. den ’Schutz’ eines Mannes, zurückgibt (ÖB Damaskus 1.10.2021), denn die Angst vor sexueller Gewalt und ihr Stigma könnte die Mädchen zu Ausgestoßenen machen. Überdies müssen die Eltern durch eine möglichst frühe Verheiratung ihrer Töchter nicht mehr für deren Unterhalt aufkommen. Die Verheiratung von Minderjährigen gilt als die häufigste Form von Gewalt gegen heranwachsende Mädchen. Einige Frauen und Mädchen werden auch gezwungen, die Täter, welche ihnen sexuelle Gewalt angetan haben, zu heiraten. Bei Weigerung droht Isolation, weil sie nicht zu ihren Familien zurückkehren können, bzw. kann ein ’Ehrenmord’ drohen. Hintergrund ist, dass rechtliche Mittel gegen den Täter zuweilen nicht leistbar sind, und so mangels eines justiziellen Wegs die Familien keine andere Möglichkeit als eine Zwangsehe sehen (UNFPA 28.3.2023). Dieses Phänomen ist insbesondere bei IDPs (FH 9.3.2023) (und Flüchtlingen in Nachbarländern) zu verzeichnen. Das gesunkene Heiratsalter wiederum führt zu einem Kreislauf von verhinderten Bildungsmöglichkeiten, zu frühen und mit Komplikationen verbundenen Schwangerschaften und in vielen Fällen zu häuslicher und sexueller Gewalt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Auch geschiedene oder verwitwete Frauen gelten als vulnerabel, denn sie können Druck zur Wiederverheiratung ausgesetzt sein (UNFPA 28.3.2023). Im Allgemeinen ist eine von fünf Frauen in Syrien heutzutage von sexueller Gewalt betroffen (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Bereits vor 2011 waren Frauen aufgrund des autoritären politischen Systems und der patriarchalischen Werte in der syrischen Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Häuser geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Es wird angenommen, dass konservative Bräuche, die Frauen in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zuweisen, für viele Syrer maßgeblicher waren als das formale Recht (FH 3.3.2010). Doch selbst die formellen Gesetze legen für Frauen nicht denselben Rechtsstatus und dieselben Rechte fest wie für Männer, obwohl die Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen vorsieht (USDOS 20.3.2023). Frauen werden vor allem durch das Personenstandsgesetz bezüglich Heirat, Scheidung, Sorgerecht und Erbschaft weiterhin diskriminiert (HRW 11.1.2024).

Per legem haben Männer und Frauen dieselben politische Rechte. Der Frauenanteil im syrischen Parlament liegt je nach herangezogener Quelle zwischen 11,2 und 13,2 %. Auch manche der höheren Regierungspositionen werden derzeit von Frauen besetzt. Allerdings sind sie im Allgemeinen von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und haben wenig Möglichkeiten, sich inmitten der Repression durch Staat und Milizen unabhängig zu organisieren. Im kurdisch-geprägten Selbstverwaltungsgebiet werden alle Führungspositionen von einem Mann und einer Frau geteilt, während außerhalb der PYD-Strukturen die politische Autonomie für die Bevölkerung eingeschränkt ist (FH 9.3.2023).

Die Gewalt zusammen mit bedeutendem kulturellem Druck schränkt stark die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten ein. Zusätzlich erlaubt das Gesetz, bestimmten männlichen Verwandten Frauen ein Reiseverbot aufzuerlegen. Bewegungseinschränkungen wurden einem UNBericht von Februar 2022 zufolge in 51 % der untersuchten Orte ermittelt (USDOS 20.3.2023). Obwohl erwachsene Frauen keine offizielle Genehmigung brauchen, um das Land zu verlassen, reisen viele Frauen in der Praxis nur dann ins Ausland, wenn der Ehemann oder die Familie dem zugestimmt hat (NMFA 5.2022).

Anmerkung, für Informationen zur rechtlichen Lage von Frauen bzgl. Personenstandsrecht siehe Kapitel: Rechtsschutz / Justizwesen im Unterkapitel Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge (regimekontrollierte Gebiete).

Frauen in Wirtschaft und medizinischer Versorgung

Letzte Änderung 2024-03-13 16:14

Wirtschaft

Durch den anhaltenden Konflikt und die damit einhergehende Instabilität sowie sich verschlechternde wirtschaftliche Situation hat sich die Situation der Frauen zunehmend erschwert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Der Global Gender Gap Report stuft Syrien 2021 auf Platz 152 ein, dem fünftletzten Platz (WEF 3.2021). Aufgrund fehlender Daten ist Syrien im diesjährigen Bericht (2022) nicht erfasst (WEF 7.2022).

Während weiterhin Vorstellungen, welche Berufe für Frauen passend sind, die Arbeitsmöglichkeiten von Frauen einschränken oder ihnen Arbeitsmöglichkeiten verwehrt werden (UNFPA 28.3.2023), hat der Krieg auch ihre Rolle in der Arbeitswelt verändert, und ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet, die zuvor Männern vorbehalten waren (HART 2.8.2022): So wurden Frauen in einigen Haushalten zu denjenigen, die Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen (UNFPA 28.3.2023), weil viele Männer getötet wurden oder sich aus Angst vor der Einberufung zur Armee, vor Verhaftung oder Inhaftierung versteckt hielten. So lag die Beteiligung von Frauen an der syrischen Erwerbsbevölkerung im Jahr 2018 in Damaskus, Lattakia und Tartus im Durchschnitt zwischen 40 und 50 Prozent, während in anderen Teilen des Landes der Anteil an erwerbstätigen Frauen zwischen 10 und 20 Prozent betrug und in den Provinzen Idlib, Raqqa und Quneitra sogar noch niedriger war. Insgesamt waren Schätzungen zufolge im Jahr 2018 11,6 Prozent der Frauen erwerbstätig, gegenüber 69,75 Prozent der Männer (NMFA 5.2020). Mittlerweile stieg im Jahr 2022 die Erwerbsquote auf insgesamt 16,8 Prozent der weiblichen Bevölkerung, sie ist aber noch immer niedriger als im Jahr 1990 (WB o.D.). Während der Anteil der erwerbstätigen Männer im Alter von 25 bis 54 Jahren im Jahr 2021 auf 95 Prozent stieg, wurde die Zahl der Erwerbstätigen vor allem durch Frauen, Jugendliche und ältere Leute vergrößert d.h. Menschen mit relativ begrenzten Verdienstmöglichkeiten. Die Weltbank sieht die steigende Zahl an Vulnerablen am Arbeitsmarkt als einen Indikator für die Notlage der Betroffenen, die darauf angewiesen sind, jedwede Einkommensmöglichkeit unabhängig von den Bedingungen anzunehmen (WB 2023): Geschlechtsbasierte Gewalt hat zugenommen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht einschließlich Ausbeutung bei der Arbeit wie auch Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit. ’Finanzielle Gewalt’ in der Terminologie von UNFPA hat zugenommen, darunter die Vorenthaltung finanzieller Mittel, Bildung, Arbeitsmöglichkeiten und von Gehältern. Wenn Frauen das Nachgehen einer Erwerbsarbeit erlaubt wird, kann es zum Beispiel vorkommen, dass ihr Einkommen von männlichen Familienangehörigen an sich genommen wird (UNFPA 28.3.2023). Umgekehrt gibt es nun Frauen, die mehr an den finanziellen Entscheidungen ihrer Familie beteiligt sind (CARE 3.2016).

Neben der großen Kluft zwischen den Geschlechtern bei der Erwerbsbeteiligung existiert außerdem eine geschlechtsspezifische Benachteiligung bei Sozialleistungen. Dem Besitz von Grund durch Frauen stehen gesellschaftliche Praktiken gegenüber, welche davon abschrecken (FH 9.3.2023). Seit einer Änderung des Personenstandsrechts im Jahr 2019 ist es möglich, dass eine Frau fordert, dass in ihrem Ehevertrag das Recht auf Arbeit enthalten ist (SLJ 3.10.2019).

Frauen sind in verschiedenen öffentlichen und politischen Positionen tätig. Dies kann entweder aus freiem Willen geschehen oder aus der Notwendigkeit heraus, die Familie in Abwesenheit eines männlichen Versorgers zu unterstützen (NMFA 5.2022).

Frauen und frauengeführte Haushalte haben allgemein besonders unter den Folgen des Konfliktes zu leiden, (AA 2.2.2024) wie auch Haushalte mit behinderten Personen. 16 Prozent der von Frauen geleiteten Haushalte sowie 12 Prozent von Haushalten mit Menschen mit Behinderung sind überhaupt nicht in der Lage, ihren Lebensbedarf zu decken (UNFPA 28.3.2023).

Öffentliche Räume wie besonders Kontrollpunkte, aber auch Märkte, Schulen oder Straßen stellen potenzielle Risiken dar, wo Frauen und Mädchen sexueller Gewalt ausgesetzt sind (UNFPA 28.3.2023).

In Fällen, in denen der Zugang zu Bildung eingeschränkt ist, kompensieren Frauen den Verlust von Bildung, indem sie ihre Kinder zu Hause unterrichten. In Fällen, in denen der Zugang zu Infrastrukturgütern wie Wasser oder Strom eingeschränkt ist, legen die Frauen lange Wege zurück, um Wasser oder Diesel für den Betrieb ihrer eigenen Generatoren zu beschaffen. Darüber hinaus erhöht der Mangel an Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern die Arbeitsbelastung der Frauen zu Hause, weil die Aufgaben arbeitsintensiver geworden sind (z. B. backen Frauen zu Hause Brot, wenn es keine Bäckereien mehr gibt) (CARE 3.2016).

Alleinstehende Frauen

Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Die gesellschaftliche Akzeptanz alleinstehender Frauen ist jedoch nicht mit europäischen Standards zu vergleichen (STDOK 8.2017). Armut,

Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Mädchen, Witwen und Geschiedene werden als besonders gefährdet eingestuft. Auch Überlebende sexueller Gewalt sind besonders vulnerabel (UNFPA 10.3.2019, vergleiche für aktuelle Beispiele UNFPA 28.3.2023). Vor 2011 war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich, allein zu leben, z. B. für Frauen mit Arbeit in städtischen Gebieten. Seit dem Beginn des Konflikts ist es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz hat. In den meisten Fällen würde eine Frau nach einer Scheidung zu ihrer Familie zurückkehren. Der Zugang alleinstehender Frauen zu Dokumenten hängt von ihrem Bildungsgrad, ihrer individuellen Situation und ihren bisherigen Erfahrungen ab. Für ältere Frauen, die immer zu Hause waren, ist es beispielsweise schwierig, Zugang zu Dokumenten zu erhalten, wenn sie nicht von jemandem begleitet werden, der mehr Erfahrung mit Behördengängen hat (STDOK 8.2017). Die Wahrnehmung alleinstehender Frauen durch die Gesellschaft variiert von Gebiet zu Gebiet, in Damaskus-Stadt gibt es mehr gesellschaftliche Akzeptanz als in konservativeren Gebieten (SD 30.7.2018).

Da die syrische Gesellschaft als konservativ beschrieben wird, gibt es strenge Normen und Werte in Bezug auf Frauen, obwohl es durchaus auch säkulare Einzelpersonen und Familien gibt. Es gibt zwar keine offizielle Kleiderordnung, bestimmte gesellschaftliche Erwartungen bestehen aber dennoch. In den Großstädten wie Damaskus oder Aleppo und in der Küstenregion haben Frauen mehr Freiheiten, sich modern zu kleiden. Trotzdem kann die eigene Familie einer Frau in dieser Hinsicht ein hinderlicher Faktor sein (NMFA 5.2022).

In Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand besteht ein höheres Risiko, sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, insbesondere für die Mädchen in diesen Familien. Witwen und geschiedene Frauen sind in der Gesellschaft mit einem sozialen Stigma konfrontiert (NMFA 5.2020).

Frauen und medizinische Versorgung

Angesichts der drastisch gekürzten öffentlichen Dienste sind syrische Frauen gezwungen, zusätzliche Aufgaben in ihren Familien und Gemeinden zu übernehmen und haben Berichten zufolge eine führende Rolle im informellen humanitären Bereich übernommen. Frauen kümmern sich um Verletzte, Behinderte, ältere Menschen und Menschen mit anderen medizinischen Problemen, wenn es keine Gesundheits- und Rehabilitationsdienste mehr gibt. Die Frauen erbringen die medizinische Versorgung entweder in ihren Häusern oder arbeiten als Freiwillige in improvisierten, geheimen Gesundheitszentren [Anm.: in den Oppositionsgebieten] (CARE 3.2016). Gewalt überall im Land macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung einschließlich reproduktiver Medizin teuer und gefährlich (USDOS 20.3.2023). So schränkt die HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen ein und unterwirft sie Beschränkungen auch in Bezug auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung (SNHR 25.11.2019).

Syrischen AktivistInnen zufolge verweigerten die Regierung und bewaffnete Extremisten manchmal schwangeren Frauen das Passieren von Checkpoints und zwangen sie, unter oft gefährlichen und unhygienischen Bedingungen und ohne adäquate medizinische Betreuung ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Angriffe des Regimes und Russlands führen dazu, dass Gesundheitseinrichtungen oft im Geheimen operieren oder in einigen Fällen die Arbeit im Land einstellen. Konfliktbedingt ist der Sektor reproduktiver Gesundheit schwer belastet, und die Zahl der Frauen, welche während der Schwangerschaft oder der Geburt sterben, steigt weiterhin. Gemäß UNFPA (United Nations Population Fund) benötigen 7,3 Millionen Frauen und Mädchen Gesundheitsleistungen im Bereich reproduktiver und sexualmedizinischer Medizin wie auch Unterstützung in Fällen geschlechtsbasierter Gewalt, denn physische und sexuelle Gewalt wie auch Kinderheiraten sind im Steigen begriffen (USDOS 20.3.2023). Mit der Ausnahme, dass eine Fortführung der Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, sind Abtreibungen in Syrien nach wie vor illegal (UNFPA 12.2021).

Die Risiken von Kinderheiraten sind für Mädchen beträchtlich: Dazu gehören das erhöhte Risiko sexuell übertragbarer Infektionen, die enormen Gesundheitsrisiken für Mädchen durch frühe Schwangerschaften, das Risiko des Schulabbruchs und zusätzlicher Freiheits- und Bewegungseinschränkungen, das Risiko häuslicher Gewalt (physisch, verbal oder sexuell) und das Risiko, von Freunden und Familie isoliert zu werden. Kinderheiraten und die damit verbundenen Risiken können sich negativ, auch auf die psychische Gesundheit der Mädchen auswirken und zu emotionalen Problemen und Depressionen führen (UNFPA 11.2017) Anmerkung, für aktuelle Beispiele für die Gründe von Kinderheiraten siehe UNFPA 28.3.2023).

Anmerkung, Für weitere Informationen zur aktuellen Situation der Gesundheitsversorgung siehe Kapitel Medizinische Versorgung.

Sexuelle Gewalt gegen Frauen und ’Ehrverbrechen’

Letzte Änderung 2024-03-13 16:16

Ausmaß und Berichtslage zu sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the SyrianArab Republic (CoI) hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen (AA 2.2.2024). Der UN Population Fund (UNFPA) und weitere UN-Organisationen, NGOs und Medien stufen das Ausmaß an Vergewaltigungen und sexueller Gewalt als ’endemisch, zu wenig berichtet und unkontrolliert’ ein (USDOS 20.3.2023). Allgemein ist eine von fünf Frauen in Syrien heute von sexueller Gewalt betroffen, wobei eine Zunahme von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt infolge der allgemeinen Unsicherheit und Perspektivlosigkeit der Menschen und der verloren gegangenen Rolle des Mannes als ’Ernährer der Familie’ auch innerhalb der gebildeten städtischen Bevölkerung und auch in Damaskus zu verzeichnen ist (ÖB Damaskus 1.10.2021). ’Ehrverbrechen’ in der Familie - meist gegen Frauen - kommen in ländlichen Gegenden bei fast allen Glaubensgemeinschaften vor (AA 29.3.2023).

Im November 2021 schätzte das Syrian Network for Human Rights (SNHR), dass die Konfliktparteien seit März 2011 sexuelle Gewalt in mindestens 11.526 Fällen verübt haben. Die Regimekräfte und mit ihr verbündete Milizen waren für den Großteil dieser Straftaten verantwortlich mehr als 8.000 Fälle, darunter mehr als 880 Straftaten in Gefängnissen und mehr als 440 Übergriffe auf Mädchen unter 18 Jahre. Fast 3.490 Fälle sexueller Gewalt wurden vom sogenannten Islamischen Staat (IS) begangen und 13 Verbrechen durch die Syrian Democratic Forces (SDF) (USDOS 20.3.2023). Die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Jahr 2019, Rückschläge für andere extremistische Gruppen und der Rückgang an Kampfhandlungen haben dazu geführt, dass die Bevölkerung nicht mehr derart den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheit ausgesetzt ist (FH 9.3.2023).

Sexuelle Gewalt durch Regimekräfte

Seit 2011 wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und die Gesellschaft zu destabilisieren sowie demografische Veränderungen, z. B. in Homs, durch Vertreibungen zu erreichen (LDHR 10.2018): U.a. die CoI, Amnesty International und Human Rights Watch berichten immer wieder über Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen und Mädchen, insbesondere von Seiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, bei Militärkontrollen und in Haftanstalten. Vor allem Haftpraktiken in Syrien wiesen hiernach eine konstant stark geschlechtsorientierte Komponente auf. Sowohl Frauen als auch Männer werden Opfer sexualisierter Gewalt, insbesondere als Bestandteil von Misshandlungs- und Folterpraktiken. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass es bisher in mindestens 20 Haftanstalten in Syrien zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen gekommen ist (AA 2.2.2024). Dazu gehören Vergewaltigung, Leibesvisitationen und erzwungene Nacktheit, andere Akte sexueller Gewalt, die Androhung sexueller Gewalt, die Folterung an Geschlechtsorganen und weitere erniedrigende und demütigende Behandlungen (SJAC 10.4.2019). Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen (USDOS 12.4.2022). Auch sind einer Menschenrechtsorganisation zufolge nach Syrien rückkehrende Flüchtlinge, besonders Frauen und Kinder, sexueller Gewalt durch Regimekräfte ausgesetzt (USDOS 20.3.2023).

Sexuelle Gewalt durch bewaffnete Gruppen in Gebieten außerhalb der Regimekontrolle

In den Gebieten unter Kontrolle von oppositionellen Kräften im Norden und Nordwesten Syriens, laufen insbesondere Aktivistinnen erhöhte Gefahr, Opfer von Repressionen zu werden. So gehe, laut Berichten der CoI und des SNHR, z.B. die Türkei-nahe SNA besonders rigoros gegen zivilgesellschaftliche Akteure vor, die sich zu Genderthemen äußern und auf sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam machen. Sexualisierte Gewalt wird daneben, laut früheren CoI-Berichten, aber auch von anderen bewaffneten Gruppierungen systematisch ausgeübt, wie etwa durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und durch HTS. Sexualisierte Gewalt wird daneben nach früheren CoI-Berichten auch von anderen bewaffneten Gruppierungen systematisch ausgeübt, wie etwa den Terrororganisationen Hay’at Tahrir ash-Sham HTS und IS (AA 2.2.2024). Frauen sind, bzw. waren, zudem in den vom IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Der Niedergang von Recht und Ordnung setzt Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen aus, besonders durch extremistische Gruppen, die der Bevölkerung ihre eigenen Interpretationen des Religionsrechts auferlegen (FH 9.3.2023): Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Frauen durch Mitglieder nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen sind zwar dokumentiert, kommen aber schätzungsweise weniger häufig vor als durch die Regierungstruppen und ihre Verbündeten. Berichten zufolge stehen Fälle von sexueller Gewalt dort im Zusammenhang mit sozialen Phänomenen wie Ausbeutung, Konfessionalismus und Rache, wobei Fälle dokumentiert sind, die Opfer mit kurdischem Hintergrund, vermeintliche Schiiten oder regierungstreue Personen sowie Minderheitengruppen wie Drusen und Christen betreffen (UNCOI 8.3.2018).

Sexuelle Gewalt ebenso wie Ausbeutung und Hürden beim Zugang zu Hilfsleistungen betreffen besonders oft geschiedene Frauen, Witwen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023). Neben Fällen von Versklavung, dem sinkenden Heiratsalter und Fällen von Zwangsheirat wurden offenbar vor allem in IS-kontrollierten Gebieten auch zunehmend Fälle von Genitalverstümmelung beobachtet, eine Praxis, die bis zum Ausbruch der Krise in Syrien unbekannt war und auf die Präsenz von Kämpfern aus Sudan und Somalia zurückzuführen war (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Dazu kamen Berichte ausAfrin über dieAuferlegung strenger Bekleidungsvorschriften für Frauen und Mädchen und die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit sowie die Belästigung durch Mitglieder der bewaffneten Gruppen, insbesondere beim Passieren von Kontrollpunkten (UNCOI 15.8.2019). Die Angst vor Entführung und sexueller Gewalt wird als ein wichtiger Faktor genannt, der die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen auch in den türkischen Einflussgebieten einschränkt, wobei auch die Angst vor Schande und Stigmatisierung im Zusammenhang mit sexueller Belästigung eine Rolle spielt (UNPFA 10.3.2019) Anmerkung, Siehe auch weiter unten).

Ungefähr 12.715 Personen bestehend aus verwitweten und geschiedenen Frauen und Mädchen leben mit ihren Kindern in 42 Witwenlagern, was ihrem Schutz und dem Erhalt ihrer ’Ehre’ dienen soll, aber ihre Isolierung basiert auf der Einstellung, dass unverheiratete Frauen Schande über ihre Familie bringen (UNPFA 28.3.2023).

Häusliche Gewalt und Gewalt in der Familie und an öffentlichen Orten sowie Umgang mit Gewaltopfern

Die meisten Fälle von ’Ehrenmorden’ stehen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt, aber nicht notwendigerweise mit Vergewaltigung: In einigen Fällen sind es Belästigungen oder Übergriffe auf der Straße oder in anderen Fällen die Annahme, dass während der Entführung/Gefangenschaft sexuelle Gewalt stattgefunden habe (UNFPA 3.2019). Ehemalige weibliche Häftlinge leiden unter psychischen Problemen, in vielen Fällen unter schweren körperlichen Verletzungen durch Gewalt, einschließlich gynäkologischer Verletzungen durch sexuelle Gewalt, und unter gesundheitlichen Problemen wie Lungenentzündung und Hepatitis. Darüber hinaus ist die Annahme weit verbreitet, dass weibliche Häftlinge sexuelle Gewalt erfahren haben, was von der Familie und der Gemeinschaft als Schande für die Würde und Ehre des Opfers empfunden werden kann. Diese Stigmatisierung kann Berichten zufolge zu sozialer Isolation, Ablehnung von Arbeitsplätzen, Scheidung, Verstoßung durch die Familie und sogar zu ’Ehrenmorden’ führen (UNFPA 11.2017). So bleibt die Gefahr von ’Ehrenmorden’ durch Familienmitglieder einer der Gründe, warum sexuelle Gewalt nicht in vollem Ausmaß berichtsmäßig erfasst ist. Tausende Überlebende von Gewalt, sexueller Ausbeutung und Zwangsheiraten wurden von ihren Familien verstoßen (USDOS 20.3.2023). Eltern oder Ehemänner verstoßen oftmals Frauen, die während der Haft vergewaltigt wurden oder wenn eine Vergewaltigung auch nur vermutet wird (STDOK 8.2017). Frühe und erzwungene Heiraten kommen auch besonders bei Binnenvertriebenen vor, weil die Familien die Ehe unter anderem als Schutz vor der verbreiteten sexuellen Gewalt wahrnehmen (FH 9.3.2023).

Darüber hinaus stellt die Angst vor sozialer Stigmatisierung oder vor der Polizei ein Hindernis für die Anzeige von sexueller Gewalt dar. Einflussreiche Beziehungen der Frau oder des Täters spielen eine große Rolle bezüglich der Wirksamkeit einer solchen Anzeige. Es besteht die Gefahr, dass die Frau beschuldigt wird. Wenn sie einen Vorfall anzeigt - in der Regel gegen ihren Ehemann - ist der soziale Druck, die Anzeige zurückzuziehen, enorm. Es heißt daher, dass Frauen versuchen, häusliche Gewalt innerhalb der Familie zu klären. Welche Hilfe tatsächlich geleistet wird, hängt jedoch von ihrer Familie ab (NMFA 5.2022).

Berichten zufolge kam es seit 2011 zu einem Anstieg an ’Ehrenmorden’ infolge des Konfliktes (USDOS 12.4.2022). Drei Organisationen dokumentieren zusammen von 2019 bis November 2022 insgesamt 185 ’Ehrenmorde’ (USDOS 20.3.2023). Laut dem niederländischen Außenministerium ist es jedoch nicht möglich, das konkrete Ausmaß an Blutfehden und ’Ehrenmorden’ in Syrien in absoluten Zahlen auszudrücken. Dass diese vorkommen, wird aber von zahlreichen Quellen und Beispielen aus dem Berichtszeitraum [Anm.: Mai 2021 bis Mai 2022] belegt. Eine Quelle stellt zudem fest, dass sie hauptsächlich in Gebieten vorkommen, in denen Stämme eine wichtige Rolle spielen, wie z. B. in Suweida und im Nordosten, aber auch, dass sie nicht auf eine spezifische ethnische Gemeinschaft beschränkt sind (NMFA 5.2022).

Insbesondere Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sind einem erhöhten Risiko sexueller Gewalt ausgesetzt. Darüber hinaus sind unbegleitete Mädchen, Waisen oder solche, die bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern leben, Berichten zufolge von sexueller Gewalt bedroht. Syrische Mädchen, die für den UNFPA-Bericht 2017 befragt wurden, berichteten von einem besonderen Risiko sexueller Gewalt auf dem Weg zur oder von der Schule, und diese Risiken sollen oft der Hauptgrund dafür sein, dass Mädchen entweder die Schule abbrechen oder von ihren Eltern aus der Schule genommen werden (UNFPA 11.2017). Für aktuelle Beispiele hierzu siehe UNFPA vom 28.3.2023.

Anzeige und Strafverfolgung

Eine Anzeige wegen sexueller Gewalt in Syrien muss durch ein medizinisches Gutachten eines Gerichtsmediziners untermauert werden, aus dem die Schwere der körperlichen Verletzung hervorgeht. Dieses Verfahren sowie soziale Normen und Stigmata machen es Frauen, die missbraucht wurden, schwer, Hilfe zu suchen (NMFA 6.2021). Zudem besteht das Risiko, dass man ihr die Schuld für das Vorgefallene gibt (NMFA 5.2022). Die Anzeige von Gewalt durch Regierungsbeamte ist noch schwieriger, weil sie rechtlich gegen Anklagen für Handlungen geschützt sind, die sie im Rahmen ihrer Arbeit vornehmen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand es wagen würde, Sicherheitsbeamte wegen Gewaltanwendung trotz der Angst vor Verschwindenlassen, der Verhaftung oder der Anschuldigung des Terrorismus anzuzeigen (NMFA6.2021). Obwohl Vergewaltigung außerhalb der Ehe strafbar ist, setzt die Regierung diese Bestimmungen nicht wirksam um. Darüber hinaus kann der Täter eine Strafminderung erhalten, wenn er das Opfer heiratet, um das soziale Stigma der Vergewaltigung zu vermeiden. Dem stimmen manche Familien wegen des sozialen Stigmas durch Vergewaltigungen zu (USDOS 20.3.2023). Eine Frau in Furcht vor einem ’Ehrverbrechen’ kann keinen Schutz von den Behörden wie etwa in Form eines Frauenhauses erwarten. Ihre Optionen für eventuellen Schutz hängen gänzlich von ihren persönlichen und gesellschaftlichen Umständen ab (NMFA 5.2022), denn offizielle Mechanismen zum Schutz von Frauenrechten funktionieren Berichten zufolge nicht (FH 9.3.2023).

Wenn eine Frau aus Anlass angeblicher ’illegitimer sexueller Handlungen’ zu Schaden kommt, wird dies aus rechtlicher Sicht seit 2020 nicht mehr als mildernder Umstand anerkannt.Allerdings bleiben andere Gesetze statt des Artikels 548 des Strafgesetzes in Kraft, welche trotzdem eine Strafmilderung erlauben (HRW 11.1.2024). Es kommt nur zu wenigen Strafverfolgungen wegen

Mordes oder versuchten Mordes aus Gründen der ’Ehre’ (NMFA 5.2022). Auch können sich Vergewaltiger durch die Heirat des Opfers vor Strafe schützen (FH 9.3.2023).

Bei ’Ehrverbrechen’ in der Familie - meist gegen Frauen - besteht laut deutschem Auswärtigen

Amt kein effektiver staatlicher Schutz (AA 29.3.2023). So stellt Vergewaltigung nach syrischem Recht zwar eine Straftat dar, allerdings nicht in der Ehe. Ebenso kennt das syrische Strafrecht keinen expliziten Straftatbestand für häusliche Gewalt (AA 2.2.2024). Es gibt zwar Frauenhäuser in verschiedenen Gegenden des Landes, aber diese sind vor allem für Witwen und geschiedene Frauen gedacht.Auch ist die Suche nach Zuflucht schwierig, denn die Schutz suchenden Frauen müssen in ein anderes Gebiet umziehen und den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen. Es gibt zwar Organisationen zur Unterstützung von Frauen in Not, aber die Dauer des Schutzes hängt von der Laufzeit des Projekts ab. Die Wahrscheinlichkeit ist nach Einschätzung des niederländischenAußenministeriums groß, dass die Frauen zu ihren Familien zurückkehren müssen (NMFA 5.2022). Die Finanzierung von Projekten gegen geschlechtsbasierte Gewalt ging im Jahr 2022 zurück - mit Auswirkungen auf die Sicherheit von Frauen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023).

Zur Lage von Mädchen siehe auch Unterkapitel Kinder im Kapitel Relevante Bevölkerungsgruppen.

Die (selbstproklamierte) Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES Autonomous Administration of North and East Syria)

Letzte Änderung 2023-07-17 15:46

Nachdem sich die Regierungstruppen 2012 aus dem Nordosten zurückgezogen und die Partei der Demokratischen Union (PYD) die Kontrolle übernommen hatte, wurde die Geschlechterfrage zu einem zentralen Thema der Politik der Partei der Demokratischen Union (PYD), und in jeder autonomen Gemeinde und auf jeder Ebene des Systems wurden Frauenverbände gegründet (Allsop, van Wilgenburg 2019). Per Gesetz werden alle Regierungseinrichtungen von einem Mann und einer Frau gleichzeitig geleitet, und die meisten staatlichen Behörden und Gremien müssen zwischen Männern und Frauen gleich besetzt sein, abgesehen von Einrichtungen, die nur für Frauen sind und von Frauen geleitet werden. Mit den YPJ-Einheiten (Women’s Protection Units, Y.P.J.) gibt es eigene Milizen aus Frauen (TNYT 24.2.2018), und bei der Rückeroberung Raqqas hatte ein Mitglied dieser Einheit das übergeordnete Kommando. Gesetze und Regulierungen sollen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen abschaffen. Kinderheiraten und häusliche Gewalt stehen unter Strafe (NMFA 6.2021) Anmerkung, für Beispiele in Manbij siehe TNYT 24.2.2018). Die Verwaltungscharta des Gesellschaftsvertrags räumt den Frauen das Recht auf Teilhabe an politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten ein und legt den Frauenanteil in allen Leitungsgremien, Institutionen und Ausschüssen auf 40 Prozent fest. Dies ist jedoch nur auf Bereiche beschränkt, die unter der Kontrolle der Syrian Democratic Forces (SDF) stehen, und es wird in diesem Zusammenhang betont, dass Partizipation nicht gleichbedeutend mit tatsächlicher Ermächtigung ist (AC 13.8.2019), zumal außerhalb der PYD-Strukturen die politische Autonomie für die Bevölkerung eingeschränkt ist (FH 9.3.2023).

Kurdische Frauen erleben liberalere kulturelle Normen in den kurdischen Gemeinschaften, was durch die politischen Parteien gefördert wird. Die Partizipation von Frauen an traditionell männlichen Aktivitäten ist in vielen Fällen weniger restriktiv. Allerdings ist die jeweilige Lage der Frauen großteils von ihren Familien und deren Einstellungen abhängig, sodass in religiöseren oder traditionelleren kurdischen Gemeinschaften auch mehr traditionelle gesellschaftliche Normen gelten (Allsop & van Wilgenburg 2019). Diese Aspekte gelten jedoch nur für kurdische Frauen in den kurdischen Gebieten, nicht für arabische Frauen in den kurdischen Gebieten oder für kurdische Frauen im Rest Syriens. Beispiele für vulnerable Frauen wären z. B. kurdische Frauen in den kurdischen Gebieten, die gegen die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) eingestellt sind (STDOK 8.2017).

Obwohl die Reformen definitiv Frauen zugutekommen, fühlen sich einige syrisch-kurdische Frauen Berichten zufolge mit der Ideologisierung der Frauenrechte, den impliziten Assoziationen von Befreiung mit Militarisierung und der Art der Umsetzung der Gleichberechtigung unwohl (Allsopp & van Wilgenburg 2019) Anmerkung, zu der im AANES eingeführten, aber nicht staatlich anerkannten Zivilehe siehe Kapitel Religionsfreiheit.).

Der Nordosten Syriens wird im Allgemeinen immer noch als ländliche und stammesgebundene Gesellschaft angesehen, in der die Rolle der Frauen auf die Arbeit im Haus oder innerhalb von Verwaltungseinrichtungen beschränkt ist (Atlanctic Council 12.3.2019). In Gebieten mit arabischer Mehrheitsbevölkerung, die als konservativer gelten und wo Stammesstrukturen noch stark verwurzelt sind, ist es für die kurdischen Behörden schwerer, Gleichberechtigungsmaßnahmen ohne Widerstand durchzusetzen. So wurde beispielsweise in Kobanê Polygamie verboten, von der lokalen Bevölkerung in Manbij gab es jedoch Widerstand durch lokale Stammesführer, was zu einer Ausnahme für Manbij von dieser Regelung führte (TNYT 24.2.2018).

Generell wurde geschlechtsspezifische Gewalt, wie sexuelle Gewalt, häusliche und familiäre Gewalt, Kinderehen und Ehrenmorde, aus allen Teilen Syriens gemeldet, auch aus den von den SDF kontrollierten Regionen (UNPFA 28.3.2023).

Jesidische Frauen litten Berichten zufolge unter dem Trauma ihrer Erlebnisse, unter der Furcht vor Stigmatisierung wegen der gegen sie verübten Gräueltaten durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) sowie unter dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung, psychologischer Unterstützung und Traumatherapie. Gemäß einer Entscheidung des Obersten Geistlichen Rates der Jesiden werden gerettete jesidische Frauen wieder in ihre Gemeinschaft aufgenommen, allerdings ohne ihre Kinder, die in Folge von Vergewaltigungen durch IS-Kämpfer geboren wurden. In einigen Fällen trug das Dilemma zwischen ihren Kindern und dem Exil von ihrer Gemeinschaft wählen zu müssen, dazu bei, dass jesidische Mütter zögerten, das Lager al-Hol zu verlassen, was sie weiter von ihren Gemeinschaften entfremdete (UNCOI 15.8.2019).

Zur Lage im al-Hol Lager siehe Unterkapitel Kinder sowie das Unterkapitel Nordost-Syrien im Kapitel Rechtsschutz / Justizwesen.

Zur Rekrutierung Minderjähriger inklusive Mädchen durch die SDF siehe Abschnitt Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Kapitel Rekrutierung Minderjähriger durch verschiedene Organisationen.

Rückkehr

Letzte Änderung 2024-03-13 20:36

Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 11.1.2024).

Die offizielle politische Position des Regimes hinsichtlich der Rückkehr von Geflüchteten wurde im Berichtszeitraum angepasst. In einem anlässlich des UNHCR-Exekutivkomitees am 12.10.2023 veröffentlichten Statement versicherte das syrische Regime, dass es sichere Rückkehrbedingungen schaffe. Die Versprechungen, z. B. zum Wehrdienst, bleiben jedoch vage. Nach Einschätzung vieler Beobachter könne kaum mit großangelegter Flüchtlingsrückkehr gerechnet werden (AA 2.2.2024).

Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten (CNN 10.5.2023). Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nichts geändert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine „freiwillige Rückkehr“ zu erwirken (AA 2.2.2024).

RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023; vergleiche Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Beschränkungen beim Zugang zu ihren Herkunftsgebieten (HRW 11.1.2024). Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden. Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. UNHCR, IKRK und IOM vertreten unverändert die Auffassung, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann derzeit insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden (AA 2.2.2024).

Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).

Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).

Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).

Hindernisse für die Rückkehr

Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation ’Friedensquelle’ im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z. B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).

Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen’s Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).

Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).

Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialien wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].

Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer ’sehr begrenzten’ und ’abnehmenden’ Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).

Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: mehr dazu siehe in dem Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort sowie im Unterkapitel Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr].

Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.

Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr

Letzte Änderung 2024-03-14 11:46

Die Bedeutung von Überweisungen von SyrerInnen im Ausland und die Rolle der syrischen Lohnpolitik für Angestellte des öffentlichen Diensts dabei

Neben dem wachsenden Auswanderungsdruck auf gebildete SyrerInnen durch die Bevorzugung der Militärs bezüglich Gehälter zielt die syrische Lohnpolitik im öffentlichen Sektor laut einer Studie von Omran for Strategic Studies darauf ab, junge Leute dazu zu bewegen, ins Ausland zu gehen, damit sie später Geld an ihre Familien schicken. So profitiert Syrien von den Devisenüberweisungen in die Gebiete unter Regimekontrolle sowie von den großen Summen, welche für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst zu zahlen sind (Omran 23.1.2023). Rücküberweisungen aus dem Ausland (remittances) sind angesichts der Wirtschaftskrise eine wichtige Einnahmequelle für viele Syrerinnen und Syrer. Seit Konfliktbeginn sind sie merklich angestiegen: 2010 betrugen sie laut der syrischen Zentralbank (CBS) 906 Mio. USD. 2019 waren es 3.01 Mrd. USD (elf Prozent des BIP). Seither hat die CBS keine Zahlen mehr veröffentlicht. Laut Medienberichten lagen die Rücküberweisungen 2022 bei über drei Mrd. US-Dollar (20 Prozent des gesamten BIP 2022; laut Weltbank etwa 15,5 Mrd. US-Dollar). Sie sind weiterhin eine signifikante Einnahmequelle für die Bevölkerung. Gleichzeitig verbreiteten Syrien und Russland bei einer Konferenz Mitte Oktober 2022 den Vorwurf, ’der Westen’ würde eine Rückkehr von Geflüchteten verhindern (AA 29.3.2023). Das Regime wünscht sich laut Experten-Einschätzung RückkehrerInnen mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021)oder ehemalige Flüchtlinge, zumal die Regierung, nicht die Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten hätte, für die ehemaligen Flüchtlinge zu sorgen (The Guardian 23.3.2023).

Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies werden rückkehrende Syrer mehrheitlich als Folge der obigen Lohnpolitik sich gezwungenermaßen einer militärischen Einrichtung oder einer Miliz anschließen müssen, denn diese Organisationen bieten als einzige eine berufliche Perspektive in den Regime-kontrollierten Gebieten (Omran 23.1.2023) [Anm.: zu weiteren Kriterien wie z. B. bereits vorhandenen Verbindungen zu Personen mit Einfluss im Staatsapparat sowie Loyalität der Assad-Herrschaft gegenüber siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft sowie Kapitel Korruption und speziell zu illegalen Zweitjobs von Militärs zur Aufbesserung der Gehälter siehe Unterkapitel Streitkräfte im Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen].

Wahrnehmung vonRückkehrerInnnen ja nach Profil

Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert (AA 20.3.2023). Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023; vergleiche Balanche 13.12.2021). Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert (AA 2.2.2024), bzw. insgeheim als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen angesehen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024).

Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z. B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021), zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (The Guardian 23.2.2023).

Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen siehe Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).

Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z. B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien

weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).

Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:

•             Der Syrien-Experte Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Präsident Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen [Anm.: siehe hierzu das Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen und das Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage bzgl. der Gesetze zur Schädigung des Ansehens im Ausland sowie bzgl. positiver Äußerungen über Staaten, mit denen Syrien verfeindet ist] über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage].

•             Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein

’erweitertes Syrien’, und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im LibanonKorruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).

•             Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als ’Krankheitserreger’ sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).

•             Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).

Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 2.2.2024). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).

Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die ’davongelaufen’ sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vergleiche Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich ’sauber’ [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch die Thematik des Immobiliendiebstahls durch Betrug, der sich oft gegen seit langem Abwesende richtet, z. B. im Überkapitel Rückkehr].

Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021).

Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort

Letzte Änderung 2024-03-14 11:51

Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen

Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als ’Sicherheitsüberprüfung’ (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der AntragstellerInnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten ’Statusregelungsverfahren’ (arabisch: taswiyat wade) beantragen die AntragstellerInnen, wie es in einigen Quellen heißt, die ’Versöhnung’, sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022). Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen (AA 2.2.2024).

Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, zur Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und zu gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) berichtet von Menschenrechtsverletzungen in ihrem Berichtszeitraum, darunter den Tod eines Rückkehrers in Haft, dem man lebensrettende medizinische Versorgung verweigert hatte. Er war Anfang 2022 bei seiner Rückkehr nach Syrien trotz eines erfolgten Beilegungs-, bzw. ’Versöhnungsprozesses’, verhaftet worden (UNCOI 7.2.2023).

So gilt es zum Beispiel für die Rückkehr nach Homs, in die von der Regierung gehaltenen Teile von Idlib sowie ins Umland von Damaskus (Rif Dimashq) mehrere und sich überlappende Genehmigungsprozesse bei einer Reihe von Behörden zu durchlaufen. Oft beinhalten diese Prozedere eine geheimdienstliche Sicherheitsgenehmigung oder ein Beilegungsabkommen Anmerkung, auch ’Versöhnungsabkommen’) oder beides, je nachdem woher die Rückkehrenden kommen, wo sie hingehen, und was ihre Profile sind. Einige mussten etwa schon vor ihrer Rückkehr ihren Status bei Zentren zur ’Statusklärung’ in Regierungsgebieten ’klären’, indem Verwandte oder Freunde vor Ort dies für sie durchführten. Andere gingen direkt zu diesen Zentren, nachdem sie durch Schmuggelrouten in das Gebiet zurückkehrten oder nachdem sie an einem Grenzübergang um eine ’Statusklärung’ angesucht hatten. Andere wiederum mussten eine Sicherheitsgenehmigung für einen Wohnsitz, bzw. Aufenthalt (’residence’) bereits vor ihrer Rückkehr einholen. Andere versuchten an kollektiven Rückkehraktionen aus dem Libanon teilzunehmen (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: siehe dazu Unterkapitel Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa].

Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024).

Sicherheitsüberprüfungen (besonders al-Muwafaqa al-Amniyeh, die Sicherheitsgenehmigung) vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzzusagen

Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht (AA 19.5.2020). Gemäß einem Rechtsexperten der ÖB Damaskus hat prinzipiell jeder syrische Staatsbürger das Recht, sich auf dem syrischen Staatsgebiet zu bewegen sowie es zu verlassen. Er darf gemäßArtikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 nicht an der Rückkehr gehindert werden. Daraus folgt, dass von syrischen StaatsbürgerInnen vor ihrer Rückkehr keine Sicherheitsgenehmigung verlangt wird, oder sie um eine solche ansuchen müssen. Der Konflikt hat die Sicherheitsgenehmigung jedoch ins Zentrum gerückt. Viele syrische StaatsbürgerInnen haben die Rückkehr nach Syrien erwägt, fürchten allerdings, von den syrischen Behörden verhaftet zu werden. Da die syrische Regierung bestrebt war, zu zeigen, dass Syrien sicher ist, und für die Rückkehr von Flüchtlingen offen steht, damit diese am Wiederaufbau des Landes teilnehmen, hat die syrische Regierung zur Erleichterung der Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien zugestimmt, in manchen Fällen bekannt zu geben, ob jemand gemäß ihrer Aufzeichnungen in Syrien gesucht wird. Dies ist bei der freiwilligen Rückkehr von Gruppen von Syrern aus dem Libanon der Fall, erleichtert durch die Kooperation des General Security Office (GSO) [Anm.: libanesischer Nachrichtendienst] im Libanon mit den syrischen Behörden. Das heißt, bei der Teilnahme an einer GSO-unterstützten Rückkehr führt das GSO akkordiert mit den syrischen Behörden eine Sicherheitsüberprüfung durch und leitet die persönlichen Daten der RückkehrerInnen an die syrischen Behörden weiter. Letztere informieren das GSO dann darüber, welche Personen eine Sicherheitsfreigabe erhalten haben. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch bei individuellen Rückkehrern aus

Jordanien vermerkt: Rückkehrer müssen hierzu bei der syrischen Botschaft in Amman um eine Sicherheitsfreigabe ansuchen (VB der ÖB Damaskus 27.9.2022).

Laut einer in Syrien tätigen Menschenrechtsorganisation überprüfen die syrischen Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung Informationen über den/die AntragstellerIn, Familienmitglieder und eventuell auch seine/ihre erweiterte Familie. Das syrische Außenministerium ermöglichte im Rahmen des Amnestiegesetzes (Gesetzesdekret Nr. 7/2022 vom 30.4.2022), welches alle von syrischen StaatsbürgerInnen vor dem 30.4.2022 verübten ’terroristischen Verbrechen’ ohne Todesopfer beinhaltet, dass syrische StaatsbürgerInnen im Ausland durch die diplomatischen Vertretungen überprüft werden, ob sie unter das Amnestiegesetz fallen. Die betroffenen Personen müssen bei der syrischen Botschaft ihres Wohnorts erscheinen, und einen gesonderten Antrag ausfüllen. Die syrische Botschaft leitet den Antrag dann an das Außenministerium weiter, das eine Liste mit den persönlichen Daten der AntragstellerInnen vorbereitet, und sie an das syrische Innenministerium weiterleitet. Letzteres gleicht die Namen auf der Liste mit einer zentralen Datenbank ab, um zu überprüfen, ob eine Person Verbindungen zu ’terroristischen’ Gruppierungen hat (Rechtsexperte 27.9.2022). Das Auswärtige Amt weist jedoch darauf hin, dass jeder Geheimdienst auch eigene Fahndungslisten führt. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.3.2023) Anmerkung, Zu der Amnestie siehe Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst im Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen].

Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.5.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Personen, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.5.2020). Auch nach Angaben der International Crisis Group stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde auf der Grundlage von Befragungen, dass SyrerInnen, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete dem DIS hingegen, dass nur SyrerInnen im Libanon, die über eine ’organisierte Gruppenrückkehr’ nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020).

Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl und keine Probleme mit dem Regime haben, auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z. B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht (Balanche 13.12.2021). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt demnach immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zu Verhaftungen kommen kann (AA 2.2.2024), zum Teil, um von den Rückkehrenden Geld zu erpressen (UNCOI 7.2.2023; vergleiche Balanche 13.12.2021).

Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. SyrerInnen aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.), stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsgenehmigung zu bekommen, und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichterstatten müssen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: zum Informantenwesen siehe auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen].

Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw. Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vergleiche Khaddour 24.12.2021, Rechtsexperte 27.9.2022). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021). Personen, die erfahren, dass sie von den Behörden gesucht werden, bezahlen große Summen an Vermittler und Mitglieder der Sicherheitskräfte, um bei der Rückkehr eine Verhaftung zu vermeiden (UNCOI 7.2.2023).

’Versöhnungsanträge’, Statusregelungsverfahren

Das Regime hat einen Mechanismus zur Erleichterung der ’Versöhnung’ und Rückkehr geschaffen, der als ’Regelung des Sicherheitsstatus’ (taswiyat al-wadaa al-amni) bezeichnet wird. Das Verfahren beinhaltet eine formale Klärung mit jedem der vier großen Geheimdienste und eine Überprüfung, ob die betreffende Person alle vorgeschriebenen Militärdienstanforderungen erfüllt hat. Einzelne Personen in Aleppo berichteten jedoch, dass sie durch die Teilnahme am ’Versöhnungsprozess’ einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden (ICG 9.5.2022). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, werden aufgefordert, ihren Status zu ’regularisieren’, bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vergleiche SD 16.1.2019).

Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf ’Versöhnung’ stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen über ihre Aktivitäten während ihres Auslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. SyrerInnen, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nach Angaben des Generals einen ’Versöhnungsantrag’ ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen SyrerInnen, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020; vergleiche EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020). Zwei Quellen berichteten EASO Anmerkung, nun EUAA), dass, wenn ein/e RückkehrerIn durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. ’wasta’) herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).

Rückkehrverweigerungen

Die Regierung verweigert gewissen BürgerInnen die Rückkehr nach Syrien, während andere SyrerInnen, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchten (USDOS 12.4.2022). Der Prozentsatz der AntragstellerInnen, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020): Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen aus den Jahren 2018 bis 2022 auf 5 Prozent (SD 16.1.2019), 10 Prozent (Reuters 25.9.2018), 20 Prozent (Qantara 2.2.2022) oder bis zu 30 Prozent (ABC 6.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integration von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.4.2022). Einige BeobachterInnen und humanitäre HelferInnen geben an, dass die Bewilligungsquote für AntragstellerInnen aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.2.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vergleiche ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019).

Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen

Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr. Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB Damaskus 12.2022).

Es muss z. B. bei Abschluss eines Immobilienkaufvertrags, bevor die Immobilie übertragen werden kann, bei den Sicherheitsbehörden um eine Freigabe Anmerkung, al-Muwafaqa al-Amniyeh - die Sicherheitsgenehmigung) angesucht werden. Bei Mietverträgen wurde diese Regelung jüngst vereinfacht, sodass die Daten erst nach Abschluss des Vertrags an die Gemeinde übermittelt werden mussten. Diese Information wird dann an die Sicherheitsbehörden weitergegeben, die im Nachhinein einen Einspruch erheben können. Diese Regelung wurde aber nach aktuellen Informationen nur in Damaskus umgesetzt, außerhalb muss die Genehmigung nach wie vor vorab eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen. Die Niederlassung ist dementsprechend – für alle Gebiete unter Regierungskontrolle – von einer Zustimmung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 12.2022). Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, welche die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).

Anmerkung, für grundsätzliche Informationen zur Sicherheitsgenehmigung siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.

Gefährdungslage

Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt gemäß deutschem Auswärtigem Amt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).

Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-) kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024). Einer Umfrage des Middle East Institute im Februar 2022 zufolge berichteten 27 Prozent der RückkehrerInnen, dass sie oder jemand Nahestehender aufgrund ihres Herkunftsorts, für das illegale Verlassen Syriens oder für das Stellen eines Asylantrags Repression ausgesetzt sind. Ein Rückkehrhindernis ist zudem laut Menschenrechtsberichten das Wehrdienstgesetz, das die Beschlagnahmung von Besitz von Männern ermöglicht, die den Wehrdienst vermieden haben, und nicht die Befreiungsgebühr bezahlt haben (USDOS 20.3.2023).

Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu dürfen. Die RückkehrerInnen sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019) [Anm.: siehe hierzu auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen].

Gemäß der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Unterlassen einer klaren Information über die Rückkehrverfahren und das Vorenthalten der Gründe für Rückkehrverweigerungen, bzw. einer Einspruchsmöglichkeit in solchen Fällen eine ’willkürliches Vorenthalten des Rechts auf Einreise von SyrerInnen im Ausland in ihr eigenes Land’ durch die syrische Regierung darstellen. Dieses Vorgehen könnte auch als Verletzung des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts gelten (UNCOI 7.2.2023).

Rückkehr an den Herkunftsort

Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen durften. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). SyrerInnen, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen (ÖB Damaskus 21.8.2019). Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 2.2.2024). Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021).

Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen (VN) und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentieren nicht zuletzt offizielle staatliche Gazetten. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut der oben angeführten Berichte hätten Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen zudem der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Das Gesetz Nr. 10 von 2018 wird weiterhin zur Belohnung von regimeloyalen Personen verwendet und schafft Hürden für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die in ihre Heime zurückkehren möchten. Laut Berichten ersetzt die Regierung so ehemalige BewohnerInnen von vormaligen Oppositionsgebieten durch ihr gegenüber loyalere Personen. Dies betrifft disproportional sunnitische Flüchtlinge und IDPs. Laut Einschätzung von SNHR (Syria Network for Human Rights) steckt die Regierungsstrategie dahinter, durch einen demografischen und gesellschaftlichen Wandel des Staats, automatisch eine Hürde für die Rückkehr von IDPs und Flüchtlingen zu schaffen (USDOS 2.6.2022).

Andere RückkehrerInnen müssen Berichten zufolge Bestechungsgelder an die Lokalverwaltung zahlen, um Zugang zu ihren Heimen zu erhalten. Anderen wird der Zugang zu ihren Heimen verwehrt. Auch gibt es Fälle, wo Immobilien von Nachbarn übernommen wurden, und die Rückkehrwilligen bedrohen, wenn sie versuchen, ihren Besitz wieder zu beanspruchen. Eine regierungstreue Miliz erlangte z. B. durch öffentliche Versteigerungen an enteignetes Land, was einer bereits dokumentierten Praxis entspricht. Gegenmaßnahme für derartige Situationen fehlen oder sind ineffektiv (UNCOI 7.2.2023).

Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara’a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020).

Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können, und eine Sicherheitsfreigabe vorliegt. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten dort 160.000 PalästinenserInnen zusätzlich zu SyrerInnen) (TOI 17.11.2022). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen oder aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wohnung nicht zurück. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem ’Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur’ (TOI 17.11.2022).

Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (Weltbank 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer ’sehr begrenzten’ und ’abnehmenden’ Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022), wenngleich von der UNO auch Fälle dokumentiert sind, dass Binnenvertriebene von aktuell oppositionell gehaltenen Gebieten aus nicht in ihre Heimatdörfer im Regierungsgebiet zurückkehren durften - trotz vorheriger Genehmigung (UNCOI 7.2.2023).

Laut Einschätzung der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Vorgehen der Regierung möglicherweise eine Verletzung von Unterkunfts-, Land- und Besitzrechten dar. Die Duldung der Inbesitznahme von Immobilien durch Dritte könnte eine Verletzung des Schutzes genannter Rechte darstellen. Sie haben auch mögliche Verletzungen des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts zur Folge bezüglich der Besitzrechte von Vertriebenen (UNCOI 7.2.2023).

Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft im Abschnitt Wohnsituation und Enteignungen.

Ergänzende Informationen zur Behandlung bei und nach der Rückkehr

Letzte Änderung 2024-03-14 11:52

Am 10.5.2023 erklärten die Außenminister von Russland, Türkei, Iran und Syrien, dass erst die nötige Infrastruktur für eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien geschaffen werden müsse (SNHR 6.2023). Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang von UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB Damaskus 29.9.2020).

Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude Anmerkung, über die Rückkehr) der RückkehrerInnen (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von RückkehrerInnen (TN 10.12.2018; vergleiche TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vergleiche TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat sind immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021). BürgerInnen in von der Regierung rückeroberten Gebieten wie auch Rückehrende gehören zu den verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. RückkehrerInnen und Binnenvertriebene sind am ehesten von gesellschaftlichem Ausschluss und einem Mangel an Zugang zu öffentlichen Leistungen in der näheren Zukunft ausgesetzt (BS 23.3.2022). Enteignungen dienen der Schaffung von Hürden für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene und der Belohnung von regimeloyalen Personen mit einer daraus resultierenden demografischen Änderung in ehemaligen Hochburgen der Opposition (USDOS 15.5.2023).

Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert und sehen sich daher oft mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen. Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024). Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z. B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Die Definition des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, ist nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020). So folgten z. B. Abschiebungen aus dem Libanon im April 2023 von mindestens 130 Menschen - darunter auch unbegleitete Minderjährige - Berichte, wonach es zu Verhaftungen [Anm.: die Zahlen variieren je nach Quelle - z. B. mindestens vier dokumentierte Verhaftungen] und zwangsweisem Einzug zum Wehrdienst [Anm.: keine Zahlenangaben, nur Beispiele] kam (Reuters 1.5.2023).

Generell ist es schwer, in Erfahrung zu bringen, was der Status einer Person bezüglich der syrischen Regierung ist. Für Menschen mit Geld und guten Beziehungen zu den Behörden oder einflussreichen Personen besteht die Möglichkeit, nachzuforschen, ob ihre Namen auf Suchlisten stehen. Allerdings kann die Suche nach diesen Informationen diese auch exponieren - bzw. die Personen, welche für sie nach Informationen suchen. Es gibt keine Garantie, dass sie dabei nicht mit Schwierigkeiten konfrontiert sein werden, darunter das Risiko einer Verhaftung (DIS 9.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen, der Vereinten Nationen und von Betroffenen haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen (AA 22.2.2024).

Anhand der von der CoI (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen), Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende (AA 2.2.2024). Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 2.2.2024).

Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte beinahe 2.000 Verhaftungen von RückkehrerInnen nach Syrien von 2014 bis 2019. Ein Drittel von ihnen wurde ’verschwunden gelassen’ (BS 23.3.2022). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden Berichten von 2019 zufolge nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein ’Versöhnungsabkommen’ mit der Regierung unterzeichnet hatten. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vergleiche EIP 7.2019). Amnesty International legte in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vor, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des ’Terrorismus’, weil sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 RückkehrerInnen, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen. Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was laut Amnesty International darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).

Eine gemeinsame Studie von Zivilgesellschaftsorganisationen im Frühjahr 2022 (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens dokumentiert schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).

Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa

Letzte Änderung 2024-03-14 11:54

Syrische Rückkehrende aus den Nachbarstaaten Libanon, Jordanien und der Türkei

Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen laut deutschem Auswärtigem Amt, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nicht verbessert hat, erhöhen manche

Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozio-ökonomischen

Druck auf syrische Geflüchtete, um eine ’freiwillige Rückkehr’ zu erwirken. So hat die türkische Regierung im Juli 2022 entsprechende Programme für rund eine Million Syrerinnen und Syrer mit Infrastrukturprojekten in sog. ’sicheren Zonen’ angekündigt, deren Umsetzung sich schwer unabhängig überprüfen lässt. Die libanesische Regierung hat ebenfalls versucht, das Thema Rückkehr von syrischen Geflüchteten aktiv voranzutreiben. Es fanden mehrere Gespräche zwischen libanesischen und syrischen Behörden und Delegationsreisen nach Damaskus statt, um Modalitäten einer Rückführungspolitik zu sondieren (AA 2.2.2024).

Im Mai 2023 wurde die syrische Bevölkerung mit 22.933.531 Millionen Menschen beziffert (CIA 30.5.2023). Mitte November 2022 waren 5.534.620 Personen als syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens und in Ägypten registriert. Nach Angaben des UNHCR kehrten im

Jahr 2022 (Stand 30.11.2022) insgesamt rund 47.623 Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten und Ägypten nach Syrien zurück (UNHCR 30.11.2022).

Auf der folgenden Grafik sind die Provinzen ersichtlich, in welche die Flüchtlinge im Jahr 2022

(Stand 30.11.2023) zurückkehrten Anmerkung, Die fünf zahlenstärksten Rückkehrziele befinden sich ganz oder teilweise in Händen von Oppositionsgruppen - siehe Kapitel Sicherheitslage.]:

Quelle: UNHCR 30.11.2022

UNHCR hat die Rückkehrzahlen je nach Land grafisch für die Jahre 2017 bis 2023 aufbereitet.

Die meisten Rückkehrbewegungen fanden demnach aus Türkei statt:

Quelle: UNHCR 11.5.2023

Hier sind für das 1. Quartal 2023 folgende Zahlen bezüglicher RückkehrerInnen dokumentiert.

Auch in diesem Zeitabschnitt führen RückkehrerInnen aus der Türkei mit 4.028 Personen die

Statistik an:

Quelle: UNHCR 11.5.2023

Der folgenden Trendanalyse von UNHCR zufolge liegen die Rückkehrzahlen von 2022 wie vom 1. Quartal 2023 unter denen des zahlenstärksten Jahres 2019:

Quelle: UNHCR 11.5.2023

Laut niederländischem Außenministerium kehrten im Jahr 2021 ein Tausend PalästinenserInnen aus den Nachbarländern und anderen Staaten nach Syrien zurück. Es betont aber, dass keine Informationen vorliegen, ob diese Rückkehr dauerhaft war, und verweist auf die Möglichkeit, dass diese Syrien wieder verlassen haben. Viele von diesen (etwaigen) Rückehrenden wurden zu Verhören vorgeladen. Ob sie dabei anders als zurückgekehrte SyrerInnen behandelt wurden, ist nicht bekannt (NMFA 5.2022).

Nach entsprechenden Berichten vonAmnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien (AA 2.2.2024).

- Libanon

Ende Oktober 2022 begann der Libanon damit, Gruppen syrischer Geflüchteter vermeintlich freiwillig nach Syrien zurückzuführen. Trotz Kritik von Menschenrechtsorganisationen nahm die libanesische Regierung die mit Beginn der Corona-Krise ausgesetzte, von der libanesischen General Security [Anm.: ein libanesischer Geheimdienst] durchgeführte, freiwillige Rückkehr wieder auf, in deren Rahmen am 26.10.2022 324 Personen nach Syrien zurückgekehrt sein sollen. Eine zweite Gruppe von 353 Personen soll am 5.11.2022 nach Syrien zurückgekehrt sein (AA 29.3.2023). Die Rückkehraktionen werden vom General Security Directorate mit den syrischen Geheimdiensten koordiniert, welche dann über die Rückkehrerlaubnis entscheiden. In einigen Fällen wurde der Rückkehrantrag noch vor Abfahrt des Konvois aus ’Gründen der Kriminalität’ oder aus ’Sicherheitsgründen’ abgelehnt, ohne dass Näheres bekannt gegeben wurde. Anderen SyrerInnen wurde direkt an der Grenze die Einreise verwehrt (UNCOI 7.2.2023). Die libanesischen Statistiken weisen darauf hin, dass Syriens Sicherheitsapparat mit Berichtsdatum 2.2.2022 lediglich 20 Prozent der AntragstellerInnen für eine Rückkehr aus dem Libanon eine Heimkehrerlaubnis gewährte (Qantara 2.2.2022). Seit Beginn des Jahres 2023 wurden durch die Lebanese Armed Forces (LAF) in einem zunehmend angeheizten politischen Klima vermehrt auch zwangsweise Rückführungen nach Syrien durchgeführt. Den LAF zufolge geht es dabei um „Kriminelle und Terroristen“. Hingegen waren lt. UNHCR-Libanon v.a. syrische Geflüchtete ohne gültige Aufenthaltstitel betroffen, darunter aber auch beim UNHCR registrierte Personen (AA 2.2.2024). Dabei kam es in einigen Fällen zur Trennung von abgeschobenen Minderjährigen von ihren Familien, die nicht von einer Abschiebung betroffen waren (Al Jazeera 17.5.2023).

Berichten von Human Rights Watch zufolge wurden zwischen April und Mai 2023 Tausende Syrer, inklusive unbegleiteter Kinder, nach Syrien deportiert (HRW 11.1.2024).

Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 2.2.2024). Michael Young, vom Think Tank Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Centre in Beirut bestätigte, dass RückkehrerInnen verhaftet wurden, einschließlich Fällen von Verschwindenlassen (Now 4.4.2023). Zum Beispiel im Fall von abgeschobenen SyrerInnen im April 2023 berichteten Angehörige wie auch AktivistInnen von Verhaftungen sowie zwangsweisem Einziehen zum Wehrdienst. Amnesty International dokumentierte mindestens vier Verhaftungen zusätzlich zu den Personen, die zum Wehrdienst eingezogen wurden. Einige Angehörige berichteten, dass die verhafteten Familienmitglieder von der Vierten Division festgehalten werden, die wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen unter Sanktionen steht (Reuters 1.5.2023).

Seit 2018 gibt es immer wieder Versuche im Libanon, zahlreiche syrische Staatsangehörige zur Rückkehr zu bewegen. Hierbei wird eine weite Palette von Druckmitteln eingesetzt, die internationale Beobachter an der Freiwilligkeit vieler der berichteten Rückreisen zweifeln lässt. Syrische Flüchtlinge im Libanon sind im Regelfall den Folgen des ökonomischen Zusammenbruchs des Landes stärker ausgesetzt als libanesische Staatsangehörige, weil sie zu vielen Dienstleistungen keinen Zugang haben und ihnen der Arbeitsmarkt nur sehr begrenzt legal zur Verfügung steht. Der Libanon ist kein Signatarstaat der Genfer Flüchtlingskonvention (BAMF 7.11.2022). Die Abschiebungen im April 2023 waren zum Beispiel ’von einer Welle von Hetzreden, Restriktionen durch Stadtverwaltungen gegen SyrerInnen und Kommentaren von Offiziellen begleitet, die ein Umfeld von Druck erzeugte’, um syrische Flüchtlinge dazu zu bringen, den Libanon zu verlassen (Reuters 1.5.2023). Einige Flüchtlinge hatten bereits im Jahr 2019 erklärt, dass sie wegen der strikten Politik und der sich verschlechternden Bedingungen im Libanon zurückkehrten, nicht weil sie Syrien für sicher hielten. Gemeinden im Libanon hatten bereits damals Tausende von Flüchtlingen ohne Rechtsgrundlage und ohne ordnungsgemäßes Verfahren gewaltsam vertrieben (HRW 17.1.2019).

- Jordanien

Im ersten Quartal 2023 kehrten UNHCR zufolge 923 SyrerInnen aus Jordanien in ihr Heimatland zurück (UNHCR 11.5.2023). Bisher kehrte aufgrund der Sicherheits- und Wirtschaftslage in Syrien nur eine geringe Zahl von SyrerInnen zurück (SD 6.5.2020), obwohl die wirtschaftliche Lage vieler syrischer Flüchtlinge in Jordanien schwierig ist (TN 3.10.2019; vergleiche SD 6.5.2020).

Im Jahr 2021 normalisierten mehrere Staaten, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate und Jordanien, trotz der Menschenrechtsverletzungen in Syrien ihre Beziehungen zum syrischen Regime. Dabei wurden Kooperationszusagen gemacht, welche bei BeobachterInnen die Frage einer verfrühten Rückkehr von Flüchtlingen und das eventuelle Ermöglichen von Menschenrechtsverletzungen aufwarfen (HRW 13.1.2022).

- Türkei

Die Türkei beherbergt mit Stand 30.11.2022 3.577.714 Millionen syrische Flüchtlinge (UNHCR 30.11.2022). Im ersten Quartal 2023 kehrten 4.028 SyrerInnen nach Syrien von der Türkei zurück (UNHCR 11.5.2023).

Im Juli 2019 änderte sich die Haltung der türkischen Regierung den syrischen Flüchtlingen gegenüber. Die türkischen Sicherheitskräfte begannen, syrische Flüchtlinge zusammenzutreiben und sie in die türkischen Provinzen zurückzuschicken, in denen sie registriert waren. Sie fingen damit an, einige von ihnen abzuschieben und andere zu ermutigen, in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, einschließlich der Konfliktzone Idlib, zu ziehen (SWP 5.2.2020). NGO-Berichten zufolge haben die türkischen Behörden immer wieder Flüchtlinge inhaftiert und sie gezwungen, ’freiwillige’ Rückkehrdokumente zu unterschreiben, manchmal durch Schläge und Drohungen (SJAC 8.10.2020). Auch die Organisation Syrians for Truth and Justice erhob in ihrem Bericht vom Februar 2022 diesen Vorwurf (STJ 14.2.2022). Human Rights Watch beziffert für das Jahr 2023 die Zahl der Abschiebungen nach Nordsyrien mit ’Tausenden’ (HRW 11.1.2024). Der Modus der Abschiebungen umfasst Verhaftungen in Wohnungen, an Arbeitsplätzen und auf der Straße, gefolgt von Haft unter schlechten Bindungen und physischen Schikanen, um die Unterzeichnung eines ’Formulars für eine freiwillige Rückkehr’ zu erreichen. Dann werden die Syrer zu den Grenzübergängen zu Nordsyrien gebracht und ’mit vorgehaltenem Gewehr’ zum Grenzübertritt gezwungen (USDOS 20.3.2023).

Für nähere Informationen siehe auch COI-CMS-Länderinformationen Türkei [Anm.: letzte Aktualisierung am 29.6.2023], Kapitel Binnenvertriebene und Flüchtlinge sowie zur völkerrechts-

widrigen Verbringung von syrischen Gefangenen in die Türkei und deren dortige Verurteilung

siehe Kapitel Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland.

- Syrische Rückkehrende aus Europa

Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann laut deutschem Auswärtigen Amt für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden.

Auch UNHCR und andere Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).

Die verfügbaren Informationen über SyrerInnen, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es auch aufgrund deren geringer Zahl keine Angaben (ÖB Damaskus 12.2022): Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn SyrerInnen bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 SyrerInnen mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Europäische Union selbst sowie der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), bleiben bei ihrer Einschätzung, dass Syrien nicht sicher für eine Rückkehr von Flüchtlingen ist. Im Juli 2022 entschied das Netherlands Council of State, dass syrische Asylsuchende nicht automatisch nach Dänemark transferiert werden dürften angesichts der dortigen Entscheidung, Teile Syriens für ’sicher’ zu erklären (HRW 12.1.2023). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr in Würde nicht gegeben sind, auch angesichts von Fällen von Rückkehrverweigerungen, willkürlichen Verhaftungen und der Verhinderung der Rückkehr zu ihren Heimen in Regierungsgebieten (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt weist darauf hin, dass UNHCR, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die International Organization for Migration (IOM) unverändert die Auffassung vertreten, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. UNHCR bekräftigte, dass sich seine Position und Politik nicht geändert hätten. Im Einklang mit dieser Einschätzung führt laut deutschem Auswärtigem Amt weiterhin kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union Rückführungen nach Syrien durch (AA 2.2.2024). Auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht nicht die menschenrechtlichen Voraussetzungen für Abschiebungen nach Syrien gegeben (Die Presse 5.6.2023).

Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen

Letzte Änderung 2023-07-12 08:31

- Informationssammlung des Sicherheitsapparats und ’Berichte’ von InformantInnen

Der Sicherheitssektor nutzt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um seinen historischen Einsatz lokaler InformantInnen zur Sammlung von Informationen und zur Kontrolle der Bevölkerung wieder zu verstärken und zu institutionalisieren. Die Regierung baut weiterhin eine umfangreiche Datenbank mit Informationen über alle Personen auf, die ins Land zurückkehren oder im Land bleiben. In der Vergangenheit wurde diese Art von Informationen genutzt, um Personen zu erpressen oder zu verhaften, die aus irgendeinem Grund als Bedrohung oder Problem wahrgenommen wurden (EIP 7.2019). Das Verfassen eines ’Taqrir’ (eines ’Berichts’, d. h., die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden) war im ba’athistischen Syrien jahrzehntelang gang und gäbe und wird laut International Crisis Group (ICG) auch unter Flüchtlingen im Libanon praktiziert. Die Motive können persönlicher Gewinn oder die Beilegung von Streitigkeiten sein, oder die Menschen schreiben ’Berichte’, um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Selbst Regimevertreter geben zu, dass es aufgrund unbegründeter Denunziationen zu Verhaftungen kommt (ICG 13.2.2020). Eine Umfrage des Middle East Institute veröffentlicht im Februar 2022 ergab, dass 27 Prozent der RückkehrerInnen berichteten, dass sie oder ihnen nahestehende Personen aufgrund ihres Herkunftsorts, ihres illegalen Verlassens von Syrien oder wegen eines Asylantrags im Ausland Repressionen ausgesetzt sind (USDOS 20.3.2023).

Zur digitalen Überwachung einschließlich Hackerangriffen durch die Syrian Electronic Army siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage sowie bzgl. Abfrage von Login-Daten bei Einund Ausreise siehe Kapitel Bewegungsfreiheit im Unterkapitel Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen.

- Überwachung von SyrerInnen im Ausland

Die Überwachung im Ausland ist ein Eckpfeiler der syrischen Außenpolitik, und wird von einem koordinierten Netzwerk von Botschaftsangestellten, nachrichtendienstlichen Quellen und Sicherheitsdiensten umgesetzt. Es sind keine Änderung diesbezüglich absehbar. Das Syria Justice and Accountability Centre sieht die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen Syriens und die Wiedereröffnung ausländischer Botschaften auch als Weg zu einer verstärkten Kontrolle der im Ausland aufhältigen SyrerInnen. Seit 2011 mehren sich die Berichte über syrische Botschaften als Ausgangspunkt für die Überwachung und Einschüchterung von Oppositionellen. Bereits vor dem SJAC-Bericht mit einer Auswertung von interner Korrespondenz der involvierten syrischen Behörden (SJAC 3.5.2023) gingen Berichte verschiedener Stellen davon aus, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, politische Aktivitäten im Exil auszuspionieren und darüber zu berichten (ÖB Damaskus 29.9.2020; vergleiche TWP 2.6.2019, EASO 6.2021). Dabei erstreckt sich die Überwachung über die Länder mit großen Zahlen an SyrerInnen hinaus rund um die Welt (SJAC 3.5.2023). Nach Angaben von Jusoor for Studies haben die syrischen Behörden Agenten und Informanten in Asylstaaten, unter anderem in die EU und der Türkei entsandt, die Syrer in der Diaspora beobachten und wöchentlich über sie berichten. Diese Agenten und Informanten arbeiten für verschiedene Abteilungen der Sicherheitsbehörden: die 4. Division des Sicherheitsbüros, die Abteilung 279 desAllgemeinen Nachrichtendienstes, die Abteilung 297 der Abteilung für militärische Aufklärung, das Direktorat für den Geheimdienst der Luftwaffe und die Abteilung 300 (EASO 6.2021). In Staaten mit etablierter syrischer diplomatischer Präsenz, wie die Türkei und der Libanon, werden besonders große Ressourcen für die Überwachung eingesetzt. In der Türkei werden auch die Kreise der politischen Exilopposition unterwandert, z. B. indem sich in einem dokumentierten Fall ein Agent als Unterstützer der Opposition ausgab, um Informationen über diese zu sammeln (SJAC 3.5.2023).

Trotz der Konkurrenz zwischen den Organisationen des syrischen Sicherheitsapparats koordinieren sich diese, wenn notwendig, zwecks Sammlung von Informationen über für sie interessante Personen. Gleichwohl ist z. B. ein Fall aus Zypern bekannt, wo ein Oppositioneller es schaffte, aufgrund seiner Rolle als vermeintlicher Informant für das Büro des syrischen Militärattachés weiterhin offen seinen regimegegnerischen Aktivitäten nachzugehen (SJAC 3.5.2023).

Syrische Sicherheitsdienste setzen auch Drohungen gegen in Syrien lebende Familienmitglieder ein, um Druck auf Verwandte im Ausland auszuüben, die z.B. in Deutschland leben (AA 13.11.2018): Seit 2011 sind in Syrien lebenden Familien von im Ausland aufhältigen oppositionellen Ziele. Dabei taucht in schriftlichen Anweisungen des Sicherheitsapparats an ihre MitarbeiterInnen der Befehl ’das Notwendige zu tun’ auf. Diese Anweisung erlaubt den Mitgliedern des Sicherheitsapparats bei der Ausführung von Befehlen den Einsatz einer Bandbreite an Maßnahmen bis hin zu tödlicher Gewalt nach ihrem Ermessen (SJAC 3.5.2023). Auch Gewalt und Drohungen gegen Personen außerhalb Syriens werden berichtet, darunter Fälle, in denen SyrerInnen zur Rückkehr nach Syrien mit dem Ziel politischer Repressalien gegen sie gezwungen wurden (USDOS 20.3.2023).

Einem Syrien-Experten des Europäischen Friedensinstituts zufolge werden Syrer in der Diaspora auf zwei Arten überwacht: informell und formell. Die formelle Art der Überwachung besteht darin, dass staatliche Einrichtungen wie Botschaften und Sicherheitsdienste Informationen über im Ausland lebende Dissidenten sammeln einschließlich durch Überwachung von Social-Media-Konten und Social-Media-Gruppen im Ausland lebender Syrerinnen und Syrern. Bei der informellen Überwachung melden Einzelpersonen andere Personen an die syrischen Behörden. Diese Informanten sind nicht offiziell bei den Sicherheitsbehörden angestellt, melden aber andere Personen, um der Regierung gegenüber loyal zu erscheinen. Auf diese Weise versuchen sie, mögliche negative Aufmerksamkeit von sich abzuwenden (EASO 6.2021). Laut Syrien-Experten Prof. Uğur Ümit Üngör war ein Auslandsaufenthalt schon vor dem Krieg ein Grund für Misstrauen. SyrerInnen mit einem europäischen Pass nach der Asylantragstellung und mit einer bewiesenen regimeloyalen Haltung können seiner Erfahrung nach sehr nützlich für das Regime sein. Bei manchen Fällen stellt sich die Frage, ob das Regime ihre Flucht erlaubt hat. Z. B. gab es in den Niederlanden einen derartigen Fall, wo der Betreffende syrische Gemeinschaften ausspionierte, und sich zurück in Syrien mit diversen offiziellen Funktionären fotografieren ließ, bevor er wieder in die Niederlande zurückkehrte, wo dann ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde (Üngör 15.12.2021).

Die syrische Regierung sammelt nicht nur Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland, sondern verwendet diese auch gegen diese, was Fragen zur Sicherheit zurückkehrender SyrerInnen aufwirft (SJAC 3.5.2023). Die Informationen, welche die syrischen Botschaften sammeln, sind detailliert und genau, einschließlich Details, die eine Identifizierung von Rückkehrenden und ihrer vorhergehenden Aktivitäten im Ausland erlaubt (Enab 5.5.2023). Die Gefährdung eines Rückkehrers im Falle politischer Aktivitäten im Exil hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und vielen anderen Faktoren ab, wie dem Hintergrund der Familie und den der Regierung zur Verfügung stehenden Ressourcen (STDOK 8.2017). Politische und humanitäre Aktivisten, die erwägen, nach Syrien zurückzukehren, sind nach Ansicht von Jusoor for Studies aufgrund der Auslandsüberwachung großen Gefahren ausgesetzt (EASO 6.2021).

Es gibt nicht nur eine Unzahl weiter zurückliegender Fälle, bei denen Personen am Flughafen Damaskus aufgrund von Informantenberichten aus dem Ausland verhaftet wurden, sondern auch in der Gegenwart: So wurde bereits eine Anzahl an RückkehrerInnen in Syrien verhaftet und gezwungen, Informationen über ihre Familienmitglieder bekannt zu geben. Andere wurden auch zwecks Erhalt von Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland gefoltert (SJAC 3.5.2023).

- Unterstützung von nach dem Prinzip der universellen Jurisdiktion angeklagten ehemaligen Regimemitarbeitern und das Vorgehen gegen syrische ZeugInnen

Die Wiedereröffnung von syrischen Botschaften schafft auch Hindernisse für Gerichtsverfahren im Rahmen universeller Jurisdiktion. Überwachungen sind eine zusätzliche Hürde für die Behörden und die Menschenrechtsorganisationen bei den Gerichtsverfahren in Europa, denn ZeugInnen werden eingeschüchtert und mit ihren Familien (in Syrien) erpresst: So wurden im Fall eines in Deutschland wegen Mordes, Folter und sexuellen Missbrauchs in syrischen Militärspitälern angeklagtenArztes dieAngehörigen der Zeugen in Syrien bedroht.Aufgrund der Gefahr für die Angehörigen im Regimegebiet Syriens haben viele ZeugInnen die Aussage verweigert, weil der Angeklagte sonst ihre Namen erfahren hätte. Ein Syrer, der im Verdacht steht, Zeugen in diesem Gerichtsverfahren bedroht zu haben, wurde von Norwegen an Deutschland ausgeliefert. Der angeklagte Arzt erhielt zudem von einem syrischen Botschaftsmitarbeiter Angebote zur Hilfe bei der Flucht nach Syrien (SJAC 3.5.2023).

1.3.2. ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak, vom 06.05.2022, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/de/dokument/2073007.html (Beilage ./VI):

Ein Syrienexperte, der im Auftrag von ACCORD mit lokalen Quellen vor Ort, inklusive Beamten der Provinz Al-Hasaka und der Autonomen Region Kurdistan Irak, sowie Fahrern, die am Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur arbeiten, gesprochen hat, gibt an, dass es nur Syrer:innen, die aus Gebieten unter Kontrolle der SDF/YPG stammen, gestattet sei, von außerhalb in die Region Nordostsyrien einzureisen. Dies bedeute, dass eine Person innerhalb der von den SDF kontrollierten Gebiete registriert sein müsse, um von außerhalb einreisen zu können. Selbst wenn eine Person zum Beispiel 50 Jahre in Al-Hasaka gelebt habe, jedoch ihr Personenstandsregister in Deir Ezzor registriert sei, gelte die Person nicht als aus Al-Hasaka stammend (Syrienexperte, 25. April 2022).

Die Expat-Karte

Al-Monitor beschreibt in einem Artikel vom Jänner 2022, dass intern vertriebene Araber:innen in von den SDF kontrollierten Gebieten um eine sogenannte Expat-Karte ansuchen müssten, um in die Gebiete einreisen oder dort bleiben zu dürfen. Die Anforderungen seien von Region zu Region unterschiedlich, jedoch müsse in allen Fällen ein lokal wohnhafter Bürge vorhanden sein und der Personalausweis sowie ein Mietvertrag vorgelegt werden. Die Expat-Karte sei für sechs Monate gültig (Al-Monitor, 12. Jänner 2022). JFL (Justice for Life Organization) präzisiert im Februar 2022, dass auch Einwohner der SDF-Gebiete, die in Gebieten unter Kontrolle der Regierung gemeldet seien, um eine Expat-Karte ansuchen müssten (JFL, Februar 2022, Sitzung 5).

Laut des genannten Syrienexperten müssten Antragsteller·innen bei der Antragstellung der Expat-Karte persönlich anwesend sein. Es sei aus diesem Grund nicht möglich, dass Syrer:innen von außerhalb der SDF-Gebiete mit syrischen Reisedokumenten aus Europa direkt in die SDF-Gebiete einreisen würden, da es ihnen nicht möglich sei, außerhalb des Landes eine Bewilligung zu erhalten. Es sei ihnen folglich nicht gestattet, den Semalka-Grenzübergang zu überqueren. Von ihm kontaktierte Fahrer hätten angegeben, dass Personen aus Damaskus und Homs aus diesem Grund die Einreise am Grenzübergang Semalka verweigert worden sei. Der Syrienexperte wisse auch von Fällen, in denen sich potenzielle Bürgen an die kurdischen Sicherheitsbehörden (Asayish) gewandt hätten, um in Abwesenheit des Expats die Beantragung der Expat-Karte einzuleiten. Die Anträge seien abgelehnt worden. In anderen Fällen hätten die Bürgen, um ein Dokument vom Komin (die Person, die die Angelegenheiten der Nachbarschaft organisiert, wie ein Mukhtar) angesucht, in dem stehe, dass eine Person aus dem Ausland zu Besuch nach Al-Hasaka käme. Der Bürge habe in Semalka auf den Expat gewartet und das Dokument den Grenzbeamten übergeben. In einigen Fällen hätte der Expat einreisen können, in anderen sei die Person an der Grenze abgelehnt und die Einreise verweigert worden. Laut des Syrienexperten seien Korruption und Bestechung gang und gäbe an der Grenze (Syrienexperte, 25. April 2022).

Legale Einreise aus der Türkei

ANHA (Hawar News Agency) schreibt in einem Artikel vom April 2021, dass die Türkei alle Grenzübergänge mit dem Nordosten Syriens seit 2014 für Personen- und Güterverkehr geschlossen habe (ANHA, 12. April 2021).

Legale Einreise aus dem Irak

Der genannte Syrienexperte gibt an, dass es keinen Flugverkehr in die von den SDF kontrollierten Gebiete gebe. Die einzige Möglichkeit den Nordosten Syriens direkt von Europa kommend zu erreichen, sei nach Erbil (Autonome Region Kurdistan Irak) zu fliegen und von dort zum Grenzübergang Semalka- Faysh Khabur zu fahren. Syrer:innen, die mit syrischen Reisedokumenten reisen, müssten zunächst ein Visum der irakischen Autonomen Region Kurdistan beantragen und erhalten (Syrienexperte, 25. April 2022).

Einreise in den Irak für syrische Staatsbürger:innen

Die Vertretung der Regionalregierung Kurdistan-Irak in Österreich schreibt auf ihrer Webseite, dass alle Staatsbürger:innen, die keine Staatsbürgerschaft eines europäischen Landes oder der Länder Australien, Brasilien, China, Iran, Japan, Kanada, Katar, Kuwait, Neuseeland, Südkorea, Türkei, USA oder den Vereinigten Arabischen Emiraten haben, vor Reiseantritt ein Visum beantragen müssten, welches 110.000 irakische Dinar (68 Euro1) koste und für 90 Tage gültig sei (Regionalregierung Kurdistan-Irak - Vertretung in Österreich, 17. April 2019).

Laut der Vertretung der Regionalregierung Kurdistan-Irak in Großbritannien müssten Antragsteller:innen einen Reisepass vorlegen, dessen Gültigkeit nicht weniger als sechs Monate betrage. Weiters werde eine Farbkopie des Reisepasses oder des Reisedokuments benötigt, ein Passfoto, das ausgefüllte Visumsformular, Name und Adresse des Hotels, in dem die Person in der Region Kurdistan übernachten werde, beziehungsweise Name, Telefonnummer, Adresse und E-Mail-Adresse, wenn der/die Antragsteller:in bei einer Privatperson übernachten werde, sowie die Antragstellungsgebühr (Kurdistan Regional Government - Representation in the United Kingdom, ohne Datum).

Grenzübergänge Irak-Nordostsyrien und ihre Verwaltung

Enab Baladi schreibt in einem Artikel vom März 2022, dass sich die Grenze der Autonomen Verwaltung von Nordostsyrien zum Irak über 150 Kilometer erstrecke. Es gebe vier Grenzübergänge und Einreisepunkte: Rabia-Yarubiyah, Semalka- Faysh Khabur, Al-Waleed und Al-Faw.

Der Rabia-Yarubiyah-Grenzübergang sei 2020 durch ein russisches Veto im UN-Sicherheitsrat geschlossen worden (Enab Baladi, 9. März 2022). CEIP (Carnegie Endowment for International Peace) erklärt, dass von den vier Grenzübergängen nur Rabia-Yarubiyah von der irakischen und syrischen Regierung als formeller Grenzübergang anerkannt sei. Beide Regierungen hätten jedoch den Zugang dazu verloren und er sei seit 2013 geschlossen (CEIP, 30. März 2021).

Der Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur liege zwischen der Stadt Faysh Khabur am Ostufer des Tigris in der Provinz Duhok auf irakischer Seite und dem Ort Semalka im Distrikt Malikiya auf syrischer Seite. Der Übergang sei zwischen er irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstritten, und die Regierung in Bagdad erkenne ihn nicht offiziell an. Derzeit verwalte die Demokratische Partei Kurdistan (KDP) die irakische Seite und die SDF würden die syrische Seite kontrollieren (CEIP, 30. März 2021). Laut Enab Baladi hänge die Öffnung beziehungsweiße Schließung des Grenzüberganges von den politischen Spannungen zwischen der Regionalregierung Kurdistans und der Autonomen Verwaltung Nordostsyriens ab (Enab Baladi, 9. März 2022).

Der Al-Waleed-Übergang befinde sich im umstrittenen Unterbezirk Zummar in der Nähe der Provinz Duhok im Irak. Er werde von der Regionalregierung Kurdistans (KRG) auf irakischer Seite und der Autonomen Verwaltung auf syrischer Seite kontrolliert. Im Jahr 2013 habe die KRG den Übergang vorübergehend geöffnet, nachdem der Semalka-Faysh Khabur-Grenzübergang geschlossen worden sei. Die Benutzung des Grenzübergangs sei auf Personen beschränkt gewesen, die vom Irak nach Syrien hätten ziehen wollen. 2017 sei der Grenzübergang für Handel genützt worden. 2019 hätten die US-Truppen den Grenzübergang bei ihrem Abzug aus Syrien genützt (CEIP, 30. März 2021).

Al-Faw sei ein informeller Übergang, der laut lokalen Quellen vor allem von der PKK genützt werde (CEIP, 30. März 2021).

Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur

Der kontaktierte Syrienexperte erklärt gegenüber ACCORD den Ablauf ab Einreise in der Region Kurdistan bis zur Ankunft in Syrien für Personen, die im Gebiet der Autonomen Verwaltung gemeldet sind:

Vom Flughafen Erbil brächten Taxis oder Minibusse Reisende zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur, welcher der einzige offene Grenzübergang zwischen der Autonomen Region Kurdistan Irak und Nordostsyrien sei. Die Transportkosten vom Flughafen Erbil nach Semalka - Faysh Khabur betrügen in etwa 50 US-Dollar pro Person in einem geteilten Minibus oder etwa 100 US-Dollar für ein privates Taxi. Die Fahrt dauere ca. 2,5 Stunden. Am Grenzübergang angekommen, gehe der/die Reisende ein kurzes Stück zu Fuß, um dann Grenzbeamt:innen Ausweispapiere und etwaige andere Dokumente, nach denen in manchen Fällen gefragt werde, wie den Personalausweis, das Familienbuch, das Personenstandsregister und ähnliches vorzulegen. Wenn es der Person erlaubt wird zu passieren, nehme sie auf syrischer Seite des Grenzüberganges ein neues Auto mit Fahrer, um nach Al-Hasaka zu gelangen. Es sei für Reisende nicht möglich, die Grenze mit einem Auto zu passieren. Fahrer von beiden Seiten würden sich jedoch oft kennen und zusammenarbeiten. Die Fahrt vom Grenzübergang nach Al-Hasaka koste in etwa 50 US-Dollar und dauere circa zwei Stunden.

Der Grenzübergang sei momentan montags, freitags und samstags geöffnet. Laut dem Syrienexperten seien logistische Hürden, um die Grenze passieren zu können, ein Problem. Der Grenzübergang sei häufig geschlossen und seine betrieblichen Regeln und Vorschriften würden sich häufig ändern (Syrienexperte, 25. April 2022).

Schließungen des Semalka - Faysh Khabur Grenzübergangs

NPA (North Press Agency) berichtet am 16. Dezember 2021 von der Schließung des Grenzübergangs für jeglichen Transitverkehr sowie Handel. In den vergangenen Jahren sei der Übergang mehrmals geschlossen worden, unter anderem für eine Woche im Juni 2021 (NPA, 16. Dezember 2021).

Laut VOA (Voice of America) sei der Grenzübergang von Seiten der Regionalregierung Kurdistans im Irak Im Dezember 2021 auf unbestimmte Zeit geschlossen worden, aufgrund von Zusammenstößen zwischen Demonstranten der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) und Sicherheitskräften der irakischen Regionalregierung Kurdistans. Auch frühere Schließungen seien das Resultat politischer Dispute gewesen. Die Grenzschließung verhindere nicht nur den Reiseverkehr, sondern auch den Warentransport, was Befürchtungen aufkommen lasse, dass dies zu einer Verknappung der Grundversorgung in Syrien führen könnte (VOA, 22. Dezember 2021).

NPA schreibt am 24. Jänner 2022, dass der Grenzübergang nach über einem Monat wieder teilweise geöffnet worden sei. Güterverkehr sei wieder gestattet sowie limitierter Personenverkehr bestimmter Gruppen (NPA, 24. Jänner 2022).

Laut dem irakisch-kurdischen Nachrichtensender Kurdistan 24 sei der Grenzübergang am 27. Jänner 2022 wieder vollständig geöffnet worden. Laut irakischer Seite habe es während der Zeit der Schließung Ausnahmen für bestimmte Personen gegeben, denen das Passieren erlaubt gewesen sei (Kurdistan 24, 28. Jänner 2022).

Enab Baladi beschreibt die Schließung des Grenzübergangs im Dezember/Jänner, als schwerwiegend, da der Grenzübergang für Privatpersonen, wie auch Handel geschlossen worden sei und auch der zehn Kilometer südlich gelegene Al-Waleed Grenzübergang nicht geöffnet worden sei. Dies habe zu einer Wirtschaftskrise in den von der SDF-kontrollierten Gebieten in Nordostsyrien geführt, die stark von der Autonomen Region Kurdistan im Irak abhängig seien, insbesondere im Hinblick auf den Handel und die Sicherung von Rohstoffen und Industrieerzeugnissen (Enab Baladi, 9. März 2022).

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt, in den Gerichtsakt, in die vorgelegte Urkunde, sowie durch die Befragung der Beschwerdeführerin in der Verhandlung in Verbindung mit dem dadurch gewonnenen persönlichen Eindruck. Die Feststellungen basieren auf den in den Klammern angeführten Beweismitteln.

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin:

2.1.1. Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführerin ergeben sich aus ihren eigenen Angaben und dem vom der Beschwerdeführerin vorgelegten Personenstandsregisterauszug im Original (AS = Aktenseite 45 ff). Das Alter der Beschwerdeführerin zum Entscheidungszeitpunkt ergibt sich aus dem Geburtsdatum der Beschwerdeführerin.

Die Feststellungen betreffend die Staats-, Volksgruppen-, und Religionszugehörigkeit, sowie die Sprachkenntnisse der Beschwerdeführerin konnten ihren diesbezüglich gleichbleibenden und glaubhaften Angaben im Verfahren entnommen werden (AS 1 f, 31, 34; Verhandlungsprotokoll vom 31.08.2023 = VP Sitzung 3, 7).

2.1.2. Die Feststellungen zum Geburtsort der Beschwerdeführerin, ihrem Aufwachsen, ihrer Schulbildung sowie der Finanzierung ihres Lebensunterhaltes ergeben sich aus ihren diesbezüglichen Angaben in der Erstbefragung (AS 1), der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt (AS 34, 36) sowie der Beschwerdeverhandlung (VP Sitzung 7 f).

Dass die Beschwerdeführerin 2015 mit ihrer Familie in die Türkei zog, nach etwa 3 Jahren wieder nach Syrien zurückkehrte und bis zu ihrer Ausreise in Ar-Raqqa im Familienverband lebte, ergibt sich aus einer Zusammenschau ihren im Wesentlichen übereinstimmenden und gleichbleibenden Angaben in der Erstbefragung (AS 3), der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt (AS 34 f) und der Beschwerdeverhandlung (VP Sitzung 9 ff).

2.1.3. Die Feststellungen zum Familienstand, zur Eheschließung, dem Asylstatus des Ehemannes, zum Sohn der Beschwerdeführerin, ihren weiteren Familienangehörigen und deren Aufenthaltsorten sowie dem bestehenden Kontakt zur Familie, folgen allesamt den eigenen Angaben der Beschwerdeführerin im Verfahren, die im Wesentlichen gleichbleibend und konstant waren (AS 1, 3, 34 ff, 188; VP Sitzung 7 f, 10 f, 15 ff.

2.1.4. Dass die Beschwerdeführerin gesund ist, kann ihren diesbezüglich glaubhaften Angaben beim Bundesamt (AS 33) und in der Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht (VP Sitzung 5) entnommen werden, wonach sie weder in medizinsicher Behandlung steht, noch Medikamente einnimmt. Dass der Beschwerdeführerin in Österreich der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zukommt, war dem im Akt aufliegenden Bescheid des Bundesamtes zu entnehmen (AS 55 ff).

2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

2.2.1. Dass die Herkunftsregion der Beschwerdeführerin unter der Kontrolle und im Einflussgebiet der Kurden steht, ergibt sich aus der ins Verfahren eingebrachten Abfrage einer Karte von Syrialivemap betreffend die Kontroll- und Einflussgebiete in Syrien und steht dies zudem mit den Länderinformationen in Einklang (Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien, Version 10 bzw. Version 11 = OZ 12; Ausschnitt der Syrialivemap sowie Screenshots von Google-Maps = Beilage ./III). Dass die Herkunftsregion der Beschwerdeführerin zudem ohne Kontakt zum syrischen Regime erreichbar ist, fußt auf den Länderinformationen, welchen zu entnehmen ist, dass die SDF den Grenzübergang Semalka – Faysh Khabur im Bereich des AANES Gebietes kontrolliert. Die Einreise über den Grenzübergang von Faysh Khabur im Irak über die Grenze nach Semalka im Bereich des AANES Gebietes, ist der BF daher ohne jeglichen Kontakt zum syrischen Regime möglich. Auch eine Weiterreise von Semalka bis zum Herkunftsort der Beschwerdeführerin ist ihr ohne jeglichen Kontakt zum syrischen Regime möglich, da das gesamte Gebiet auf der Route vom Grenzübergang Semalka bis zum Herkunftsort der BF im Einfluss- und Kontrollgebiet der Kurden bzw. der SDF liegt (Beilage ./II; OZ 12; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Einreise türkisch-syrische Grenze, Weiterreise in AANES-Gebiete, besonders Tal Rifaat, vom 29.03.2023 = Beilage ./VII).

2.2.2. Dass die Beschwerdeführerin über männliche Angehörige im Herkunftsstaat verfügt, kann ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung entnommen werden, wonach Onkel väterlicher- und mütterlicherseits nach wie vor in Syrien leben (VP Sitzung 11, 15). Zwar führte die Beschwerdeführerin vor dem Bundesverwaltungsgericht an, keinen Kontakt zu ihren Familienangehörigen in Syrien zu haben, jedoch habe der Vater Kontakt zu seiner Familie in Syrien (VP Sitzung 15). Auch war die Beschwerdeführerin in der Lage den Aufenthaltsort ihrer Verwandten in Syrien zu benennen (VP Sitzung 15). Es ist also jedenfalls davon auszugehen, dass der Kontakt nicht vollständig abgerissen ist und gegebenenfalls auch wieder intensiviert werden könnte. Die Beschwerdeführerin verfügt daher über männliche Verwandte im Herkunftsstaat, deren Aufenthaltsort sie kennt und die sie aufnehmen könnten, zumal auch Gegenteiliges nicht hervorgekommen ist. Die Beschwerdeführerin ist zudem auch de facto nicht alleinstehend, sondern mittlerweile, wie festgestellt mit einem syrischen Staatsangehörigen verheiratet. Daher war auch festzustellen, dass die Beschwerdeführerin keiner Gefahr einer Verfolgung aufgrund einer Zugehörigkeit zur Gruppe der alleinstehenden Frauen in Syrien ausgesetzt ist vergleiche VwGH 26.09.2022, Ra 2022/20/0065-12).

Dass Frauen in Syrien einer systematischen Verfolgung ausgesetzt wären, ist vor dem Hintergrund der Länderinformationen nicht zu objektivieren. Den Länderinformationen kann betreffend Frauen in Syrien entnommen werden, dass die Lage der Frauen prekär ist und Frauen immer wieder Opfer unterschiedlicher Kampfhandlungen der verschiedenen Konfliktparteien werden. Eine systematische Verfolgung von Frauen, schon alleine aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit, kann den Länderinformationen jedoch nicht entnommen werden. Auch bezüglich dem Vorbringen der Beschwerdeführerin, eine „de facto alleinstehende Frau“ zu sein, kann vor dem Hintergrund der Länderinformationen keine Verfolgung festgestellt werden. Den Länderinformationen kann zwar entnommen werden, dass alleinstehende Frauen aufgrund des Konflikts in Syrien einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind. Den Länderinformationen kann jedoch auch entnommen werden, dass die Wahrnehmung alleinstehender Frauen durch die Gesellschaft von Gebiet zu Gebiet variiert und im Gegensatz zu vom syrischen Staat oder anderen Akteuren beherrschten Gebieten, genießen Frauen in von Kurden besetzten Gebieten größere Freiheiten und sind rechtlich Männern gleichgestellt.

Zudem wird die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nicht als alleinstehende Frau angesehen, da sie über das Vorhandensein männlicher Verwandter in Syrien zudem auch mit einem Syrer verheiratet ist und mit diesem ein Kind hat. Die Beschwerdeführerin heiratete in Österreich nach dem islamischen Ritus ihren Ehemann. Aus den Länderinformationen geht hervor, dass die Eheschließung nach islamischem Ritus in Syrien auch anerkannt wird. Dies hat die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt (VP Sitzung 14). Die Beschwerdeführerin lebt mit ihrem Ehemann und ihrem gemeinsamen Sohn zusammen im gleichen Haushalt und Familienverband. Es handelt sich bei der Beschwerdeführerin daher nicht um eine unverheiratete oder alleinstehende Frau.

Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Frauen in Syrien haben sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Syriens einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-)Verfolgung ausgesetzt zu sein. Ein spezifisches Risikoprofil, welches auf eine asylrelevante Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frau hinweist, weist die Beschwerdeführerin nicht auf.

2.2.3. Dass die Beschwerdeführerin auch aus keinen sonstigen Gründen der Gefahr einer Bedrohung oder Verfolgung durch das syrische Regime, andere bewaffnete Gruppierungen oder Privatpersonen ausgesetzt ist, war festzustellen, da sich dafür im Verfahren keine Hinweise ergeben haben und das Vorbringen im Hinblick auf die Zwangsverheiratung nicht glaubhaft war. Dass die Beschwerdeführerin niemals in der Vergangenheit der Gefahr einer Zwangsverheiratung ausgesetzt war und auch aktuell nicht der Gefahr einer Zwangsverheiratung ausgesetzt ist, fußt auf nachstehenden Erwägungen:

Die beim Bundesamt erstmals vorgebrachte Behauptung, sie sei mit dem Tod bedroht worden, da sie die Heirat mit ihrem Cousin abgelehnt habe: „[…] Sie sagten mir, wenn ich meinen Cousin nicht heirate, bringen sie mich um.“ (AS 39) ließ die Beschwerdeführerin in der Erstbefragung völlig unerwähnt. Dass zentrale Elemente einer Bedrohungssituation, wie derartige Todesdrohungen gegen die Beschwerdeführerin im Rahmen der Erstbefragung von der Beschwerdeführerin völlig unerwähnt geblieben sind, erschüttert die Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin schwer. Hätte es tatsächlich derartige Todesdrohungen gegeben, hätte die Beschwerdeführerin diese bereits bei der Erstbefragung, zumindest ansatzweise erwähnt. Dort gab sie jedoch lediglich an, dass sie im Falle einer Rückkehr befürchten würde zwangsverheiratet zu werden (AS 6). Das Gericht verkennt bei der Würdigung der Aussagen der Beschwerdeführerin in der Erstbefragung nicht, dass gemäß Paragraph 19, Absatz eins, AsylG die Erstbefragung zwar "insbesondere" der Ermittlung der Identität und der Reiseroute einer Fremden dient und sich nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen hat. Die Beweisergebnisse der Erstbefragung dürfen nicht unreflektiert übernommen werden vergleiche VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061). Ein vollständiges Beweisverwertungsverbot normiert Paragraph 19, Absatz eins, AsylG jedoch nicht. Im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen können Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten in den Angaben in der Erstbefragung zu späteren Angaben - unter Abklärung und in der Begründung vorzunehmender Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind – einbezogen werden (VwGH 26.03.2019, Ra 2018/19/0607 bis 0608-12, VwGH 28.6.2018, Ra 2018/19/0271, mwN). Das Gericht geht davon aus, dass jemand, der Todesdrohungen erlebt hat, dies zumindest ansatzweise in der Erstbefragung vorbringen würde.

Die Angaben der Beschwerdeführerin waren im Hinblick auf die Zwangsverheiratung zudem von massiven Widersprüchen geprägt, oberflächlich und auch nicht stringent:

Beim Bundesamt gab die Beschwerdeführerin an, dass die Familie ihres Vaters keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie habe: „Sie sind jetzt sauer und haben keinen Kontakt mehr zu meiner Familie in Syrien und meine Familie wird nicht mehr anerkannt.“ (AS 39), beim Bundesverwaltungsgericht hingegen gab die Beschwerdeführerin in völligem Widerspruch dazu an, dass ihr Vater Kontakt zu seiner Familie in Syrien habe: „[…], aber mein Vater ist schon mit ihnen in Kontakt. Sie bleiben seine Familie. […] Das Verhältnis ist normal. Er spricht nicht viel mit seinen Geschwistern, aber mit seinen Eltern. Er fragt immer wieder nach seinen Eltern, fragt, wie es ihnen geht. Mehr nicht.“ (VP Sitzung 15). Die Behauptung, dass ihre Familie in Syrien nicht mehr anerkannt werde steht in eklatanten Widerspruch zu der Aussage, dass das Verhältnis des Vaters zu seiner Familie normal sei. Diese Schilderungen der Beschwerdeführerin waren somit weder plausibel noch stringent.

Auf konkrete Nachfrage beim Bundesamt schilderte die Beschwerdeführerin zudem, dass ihr einen Monat vor der Ausreise die Ehe mit ihrem Cousin vorgeschlagen worden sei (AS 38). In der mündlichen Verhandlung gab die Beschwerdeführerin demgegenüber nicht übereinstimmend an, dass die Heirat bereits Ende 2020 angesprochen worden sei: „Sie haben begonnen, dieses Thema anzusprechen, gegen Ende 2020 […].“ (VP Sitzung 13). Dies war mit den eigenen Angaben der Beschwerdeführerin beim Bundesamt nicht in Einklang zu bringen.

Abgesehen von der Diskrepanz in den Aussagen ist für das erkennende Gericht nicht nachvollziehbar, wie es der Beschwerdeführerin nach der Ankündigung einer Zwangsverheiratung gelang noch bis zu ihrer Ausreise Ende 2021 in ihrer Heimatregion zu bleiben, ohne tatsächlich zwangsverheiratet worden zu sein – bei Zugrundelegung, dass die Beschwerdeführerin mehrfach von ihren Verwandten bedroht wurde.

Von konkreten Versuchen des Großvaters/Onkels väterlicherseits, ihren Willen im Hinblick auf die Heirat durchzusetzen, beispielweise von einem arrangierten Treffen, berichtete sie nicht. In der Beschwerdeverhandlung schilderte die Beschwerdeführerin lediglich vage, dass die Heirat immer wieder angesprochen worden sei: „Sie haben begonnen, dieses Thema anzusprechen, gegen Ende 2020. […] Nachdem mein Vater hier ankam 2021, haben sie dann ernsthaft begonnen, darüber zu sprechen. Ein bzw. zwei Monate, nachdem sie das Thema mit mir besprochen haben und angefangen haben, mich zu bedrohen, bin ich von Syrien weggekommen. […]“ (VP Sitzung 13). Die Beschwerdeführerin blieb hierzu im gesamten Verfahren überaus vage. Aufgrund ihrer oberflächlichen Angaben konnte die Beschwerdeführerin nicht den Eindruck vermitteln, dass sie von tatsächlich Erlebten berichtete.

Angesprochen auf den Mann, den sie hätte heiraten sollen, konnte sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG überdies keinerlei Details angeben (VP Sitzung 13 f). Sie machte keinerlei Angaben zu seinem Nachnamen oder zum Geburtsdatum. Zur Charakteristik des Heiratskandidaten, führe sie lediglich oberflächlich aus, dass er ungebildet und nicht reif genug für die Ehe sei (AS 37, VP Sitzung 14).

Zudem ist für das erkennende Gericht unschlüssig warum nur der Beschwerdeführerin die Gefahr einer Zwangsverheiratung in Syrien gedroht habe, ihre Schwestern jedoch nicht Zwangsverheiratet wurden bzw. einer solchen Gefahr nicht ausgesetzt waren: „[…] In meiner Familie heiraten wir nicht unsere Cousins meine beiden Schwestern sind auch mit ‚Fremden‘ verheiratet.“ (AS 38). In der Beschwerdeverhandlung führte sie hierzu ergänzend aus: „Nein, weil als wir in der Türkei gelebt haben, haben wir in unserer Kernfamilie gelebt. Mein Vater würde niemanden zwingen, jemanden zu heiraten. Das war die persönliche Wahl meiner Schwestern.“ (VP Sitzung 14).

Auf Nachfrage warum sie die Ausnahme sei gab sie vor dem Bundesamt lediglich an: „Ich war die Einzige die im heiratsfähigen Alter war. Meine beiden Schwestern sind bereits verheiratet. So dachten sie sich ‚zwingen wir sie zur Heirat‘.“ (AS 38)

Jedoch verstrickte sich die Beschwerdeführerin hinsichtlich des Alters ihrer unverheirateten Schwester in Widersprüche: „Ich habe damals gesagt, dass meine Schwester römisch 40 19 Jahre alt war und mein Bruder 17 Jahre alt ist. Die Schwester ist 2003 geboren und römisch 40 ist 2004 geboren.“ (VP Sitzung 16).

R: […] Diesem Protokoll folgend wurde festgehalten, dass römisch 40 etwa 19 Jahre alt ist und römisch 40 etwa 17 Jahre alt ist.

BF: „Das wird ein Missverständnis gewesen sein. römisch 40 ist älter als römisch 40 . römisch 40 hätte über eine Familienzusammenführung kommen sollen und römisch 40 nicht, da sie älter ist.“

R: Beim Bundesamt haben Sie gesagt, dass Sie die Einzige im heiratsfähigen Alter waren und Ihre Schwestern nicht. Wie passt das jetzt zusammen (AS 38)?

BF: „Ich bin älter als meine Schwester römisch 40 . Das Thema vom Heiraten hat 2020 begonnen. Da war meine Schwester wesentlich jünger als ich. Sie war zu dem damaligen Zeitpunkt 17.“ (VP Sitzung 16)

Abschließend ist noch anzumerken, dass nach eigene Angaben der Beschwerdeführerin die Bedrohungen aufgehört hätten, nachdem der Vater seiner Familie in Syrien mitteilte, dass sie geheiratet habe: „[…] Daraufhin sagte ihnen mein Vater ‚Sie ist bei mir und sie hat geheiratet‘. […] Das war das letzte Mal, dass sie mich bedroht haben. Nachher habe ich nicht mehr von ihnen gehört.“ (VP Sitzung 15).

Auch geht aus den Länderinformationen hervor, dass die Eheschließung der Beschwerdeführerin in Österreich nach islamischem Ritus in Syrien auch anerkannt wird, was die Beschwerdeführerin im Wesentlichen auch bestätigte (VP Sitzung 14). Warum ihr dann trotzdem immer noch in Syrien die Gefahr einer Zwangsverheiratung drohen würde, konnte die Beschwerdeführerin nicht nachvollziehbar darlegen: „Es ist ihnen egal, ob ich verheiratet bin oder nicht. Sie könnten mich auch von meinem Mann scheiden lassen und mir meinen Sohn wegnehmen.“ (VP Sitzung 14). Im Lichte der Länderinformationen war dies als unsubstantiierte Schutzbehauptung zu werten.

Insgesamt war das erstattete Vorbringen im Hinblick auf die drohende Zwangsverheiratung aus den dargelegten Gründen nicht glaubhaft. Die Beschwerdeführerin war in der Vergangenheit niemals der Gefahr einer Zwangsverheiratung ausgesetzt und ist dies auch aktuell oder künftig nicht. Nachdem die Beschwerdeführerin im Entscheidungszeitpunkt zudem verheiratet ist und aus dieser Ehe ein Sohn entstammt und sie mit ihrem Ehemann und dem Kind im Familienverband zusammenlebt, ist auch nicht von der Gefahr einer künftigen Zwangsverheiratung bzw. Wiederverheiratung auszugehen.

2.2.4. Dass eine Verfolgung alleine aufgrund der illegalen Ausreise der Beschwerdeführerin oder ihrer Antragstellung auf internationalen Schutz in Österreich bzw. einer ihr hierdurch allfällig unterstellten oppositionellen Haltung unwahrscheinlich ist, fußt auf den Länderberichten. Aus den Länderberichten ergibt sich auch nicht, dass allen Rückkehrenden, die unrechtmäßig ausgereist sind und die im Ausland einen Asylantrag gestellt haben, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. vergleiche auch VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0147; AS 276).

2.2.5. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin keiner sonstigen Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass Derartiges weder im Verfahren hervorkam noch aus den Länderinformationen abzuleiten ist.

2.2.6. Dass die Beschwerdeführerin in Syrien nie Mitglied einer bewaffneten Gruppierung gewesen ist und keine Strafrechtsdelikte begangen hat, war aufgrund der diesbezüglich unwiderlegt gebliebenen, gleichbleibenden Angaben der Beschwerdeführerin im Verfahren festzustellen. Im gesamten Verfahren haben sich keine Hinweise ergeben, dass die Beschwerdeführerin den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen genießt und ein Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Auch dass die Beschwerdeführerin kein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb von Österreich begangen hat war aufgrund der eigenen Angaben der Beschwerdeführerin festzustellen. Im gesamten Verfahren haben sich überdies keine Hinweise ergeben, dass die Beschwerdeführerin sich eine Handlung zuschulden kommen lassen hätte, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, weshalb die diesbezügliche Feststellung zu treffen war. Dass die Beschwerdeführerin in Österreich unbescholten ist, fußt auf der Einsicht in das Strafregister, ebenso im Hinblick auf das Nichtvorliegen einer inländischen Verurteilung und steht dies mit den eigenen Angaben der Beschwerdeführerin in der Verhandlung im Einklang. Im Hinblick auf das Nichtvorliegen einer Verurteilung durch ein ausländisches Gericht, folgt das Gericht den eigenen Angaben der BF in der Verhandlung und sind keine Hinweise hervorgekommen, an diesen Angaben zu zweifeln (AS 36 f; VP Sitzung 17; Beilage ./I: Strafregister).

2.3. Zu den Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Syrien:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die angeführten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Die aktuellen UNHCR Richtlinien sowie die aktuellen EUAA Country Guidance und EUAA Reports werden der Entscheidung zu Grunde gelegt.

Der Entscheidung wurden zugrundegelegt:

Beilage ./II OZ 12

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Syrien in der aktuellen Version 11. Dazu wird festgehalten, dass es im Hinblick auf die Version 10 (OZ 12) und die Version 11 der Länderinformationen der Staatendokumentation zu Syrien lediglich zu einem – im gegenständlichen Fall nicht relevanten Kapitel, zu einer Aktualisierung gekommen ist, weswegen von der weiteren Einräumung eines Verhandlungstermins Abstand genommen wurde. https://www.ecoi.net/de/dokument/2095119.html
bzw. abrufbar unter: https://www.ecoi.net/de/laender/arabische-republik-syrien/coi-cms

Beilage ./III 

Karte betreffend die Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien abgerufen am Tag der Verhandlung, abrufbar unter: https://syria.liveuamap.com/

Beilage ./IV 

Danish Immigration Service, Syria, treatment upon return, Mai 2022, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/de/dokument/2072754.html

Beilage ./V 

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Syrien, Einreise in das Kurdengebiet, speziell Provinz al-Hassakah vom 23.06.2022, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/de/dokument/2055560.html

Beilage ./VI 

ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak, vom 06.05.2022, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/de/dokument/2073007.html

Beilage ./VII 

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Einreise türkisch-syrische Grenze, Weiterreise in AANES-Gebiete, besonders Tal Rifaat, vom 29.03.2023 bzw. vom 05.04.2023, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/de/dokument/2092031.html

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

3.1. Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status einer Asylberechtigten – Abweisung der Beschwerde

3.1.1. Gesetzliche Grundlagen

Paragraph 3, Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1.              dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2.              der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.

…“

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, mwN).

Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen vergleiche Artikel 9, Absatz eins, der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen vergleiche VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).

Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach Paragraph 15, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen vergleiche VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).

Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht. Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht vergleiche VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).

Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung ist auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden VwG vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom VwG nicht getroffen werden vergleiche VwGH 13.01.2022, Ra 2021/14/0386, mwN).

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. – des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste vergleiche VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).

Artikel 9 Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes) lautet auszugsweise:

„Verfolgungshandlungen

(1) Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder

b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist. 20.12.2011 Amtsblatt der Europäischen Union L 337/15 DE

(2) Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

a) Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,

b) gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,

c) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,

d) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,

e) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen, und

f) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Gemäß Artikel 2 Buchstabe d muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10 genannten Gründen und den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.

3.1.2. Ergebnis

Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellt wurde, ist es der Beschwerdeführerin insgesamt nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Zudem wäre auch bei Wahrunterstellung die behauptete Verfolgungsgefahr aufgrund der Eheschließung der Beschwerdeführerin nicht mehr als aktuell zu bewerten, das diese nunmehr eine auch nach syrischem Recht rechtmäßig verheiratete Frau ist.

Die Beschwerdeführerin ist im Herkunftsstaat keiner Verfolgung aufgrund einer Zugehörigkeit zur Gruppe der alleinstehenden Frauen ausgesetzt, da sie verheiratet ist und über ein männliches Familiennetzwerk im Herkunftsgebiet verfügt.

Was die geschlechterspezifische Gewalt betrifft, der Frauen in Syrien ausgesetzt sind, verkennt das Bundesverwaltungsgericht nicht, dass Frauen nach den Länderfeststellungen dort grundsätzlich zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Die verheiratete Beschwerdeführerin verfügt über ein männliches Familiennetzwerk im Herkunftsgebiet und kann daher auf den Schutz ihrer Familienangehörigen zurückgreifen. Und im Gegensatz zu vom syrischen Staat oder anderen Akteuren beherrschten Gebieten, genießen Frauen in von Kurden besetzten Gebieten größere Freiheiten und sind rechtlich Männern gleichgestellt. Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Frauen in Syrien haben sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle syrischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet von Syrien einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-)Verfolgung ausgesetzt zu sein.

Ebenso war die Beschwerdeführerin niemals und ist auch aktuell und künftig keiner Gefahr einer Zwangsheirat im Herkunftsstaat Syrien ausgesetzt.

Auch sind keine sonstigen Hinweise für eine Verfolgung aus einem GFK-Grund zu Tage getreten.

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides war daher als unbegründet abzuweisen.

Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzlichen Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung. Des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2024:W283.2273015.1.00