Bundesverwaltungsgericht
22.04.2024
L532 2283449-1
L532 2283449-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Georg WILD-NAHODIL als Einzelrichter über die Beschwerde des römisch 40 , geb. römisch 40 , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch RAST & MUSLIU Rechtsanwälte, etabliert in 1080 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.11.2023, Zl. römisch 40 , in einer Angelegenheit nach dem AsylG und dem FPG nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 27.03.2024 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (i.d.F. „BF“), ein türkischer Staatsbürger, wurde am römisch 40 geboren und verfügt seit dem 20.11.2013 im österreichischen Bundesgebiet über behördliche Meldungen.
2. Der BF brachte erstmalig am 21.01.2014 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für Schlüsselkräfte (Rot-Weiß-Rot-Karte – plus) bei der zuständigen Niederlassungsbehörde ein.
3. Dieser Antrag wurde mit Bescheid der zuständigen Behörde rechtskräftig abgewiesen.
4. Am 24.04.2014 brachte der BF einen weiteren Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ein, welchen er am 23.01.2015 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als „sonstige Schlüsselkraft“ modifizierte.
5. Dieser Antrag wurde mit Bescheid der zuständigen Behörde vom 27.02.2015 rechtskräftig abgewiesen.
6. Am 27.02.2015 ehelichte der BF die österreichische Staatsangehörige römisch 40 (ehem. römisch 40 ) und brachte am 28.05.2015 beim Amt der Wiener Landesregierung unter Hinweis auf die erfolgte Eheschließung und Bekanntgabe des gemeinsamen Wohnsitzes einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ ein. Dem Antrag wurde stattgegeben, ebenso dem am 31.05.2016 eingebrachten Verlängerungsantrag.
7. Die geschlossene Ehe zwischen dem BF und seiner Ehegattin wurde am 23.09.2016 rechtskräftig geschieden. Er brachte unter Hinweis auf die einvernehmliche Ehescheidung am 21.11.2016 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot-Karte – plus“ ein. Dem Antrag, sowie dem am 12.12.2017 eingebrachten Verlängerungsantrag wurde seitens des Amtes der Wiener Landesregierung stattgegeben.
8. Am 16.01.2018 langte beim Amt der Wiener Landesregierung ein Bericht der Landespolizeidirektion Wien ein, welcher darüber informierte, dass römisch 40 (ehem. römisch 40 ) nach erfolgter Scheidung eine Aufenthaltsehe zu einem anderen türkischen Staatsbürger eingegangen ist, weshalb auch der Verdacht entstand, bei der Ehe zwischen dem BF und der Genannten könnte es sich um eine solche gehandelt haben.
9. Mit Bericht vom 01.02.2019 hielt die Landespolizeidirektion Wien fest, dass der BF die Aussage verweigerte und römisch 40 (ehem. römisch 40 ) auf behördliche Vorladungen nicht reagierte.
10. Mit Bescheid des Amtes der Wiener Landesregierung vom 14.08.2019 (GZ: römisch 40 ) wurden – im Rahmen einer amtswegigen Wiederaufnahme der Verfahren - sämtliche vom BF eingebrachten Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, nach der Eheschließung am 27.02.2015, in den Stand vor Erteilung der Aufenthaltstitel zurückgetreten und aufgrund des Eingehens einer Aufenthaltsehe abgewiesen, sodass ihm kein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zukam. Er brachte hierzu fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde ein.
11. Mit Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts (i.d.F. „LVwG“) Wien vom 24.06.2020 (GZ: römisch 40 ) konnte nach erfolgten Erhebungen festgestellt werden, dass es sich im Falle des BF und der römisch 40 (ehem. römisch 40 ) zweifelsfrei um eine Aufenthaltsehe handelte, sodass seine Beschwerde gem. Paragraph 28, Absatz eins, VwGVG mit der Maßgabe, dass Spruchpunkte 2a) sowie 2b) auf andere Rechtsgrundlagen gestützt werden, abgewiesen wurde.
12. Gegen das Erkenntnis des LVwG Wien brachte der BF fristgerecht das Rechtsmittel der außerordentlichen Revision ein. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs (i.d.F. „VwGH“) vom 19.10.2022 ( römisch 40 ) wurde die Revision zurückgewiesen.
13. Am 14.04.2023 langte seitens der rechtsfreundlichen Vertretung des BF der gegenständliche Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8, EMRK gem. Paragraph 55, Absatz eins, AsylG beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (i.d.F. „bB“ oder „Bundesamt“) ein und wurde dies mit dem langjährigen Aufenthalt des BF im Bundesgebiet begründet. Die persönliche Antragsstellung erfolgte am 27.04.2023.
14. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 22.09.2023 wurde der BF über die beabsichtigte Abweisung seines Antrages sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot in Kenntnis gesetzt. Eine Frist zur Stellungnahme von 14 Tagen ab Zustellung wurde gewährt. Die Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme konnte seiner rechtlichen Vertretung am 02.10.2023 nachweislich zugestellt werden.
15. Am 12.10.2023 langte bei der bB eine Stellungnahme der rechtsfreundlichen Vertretung ein. Begründend wurde über den langjährigen Aufenthalt des BF auch der Aufenthalt dessen Neffen ins Treffen geführt.
16. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 17.11.2023, Zl. römisch 40 , wurde der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus den Gründen des Artikel 8, EMRK vom 14.04.2023 gem. Paragraph 55, AsylG abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.), gem. Paragraphen 10, Absatz 3,, 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gem. Paragraph 52, Absatz 3, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch II.), gem. Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass die Abschiebung gem. Paragraph 46, FPG des BF in die Türkei zulässig ist (Spruchpunkt römisch III.), gem. Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt römisch IV.) und gem. Paragraph 53, Absatz eins,, Absatz 2, Ziffer 8, FPG ein Einreiseverbot in der Dauer von fünf Jahren verhängt (Spruchpunkt römisch fünf.). Mit Informationsblatt vom selben Tag wurde der BF über die Beistellung eines Rechtsberaters in Kenntnis gesetzt (Paragraph 52, Absatz eins, BFA-VG).
17. Mit 20.12.2023 erhob der BF durch seine rechtsfreundliche Vertretung das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (i.d.F. „BVwG“). Der Beschwerde beigeschlossen wurde ein Konvolut an Referenzschreiben.
18. Am 27.03.2024 wurde vor dem BVwG die vom BF begehrte mündliche Beschwerdeverhandlung durchgeführt, wobei neben dem BF auch eine geeignete Dolmetscherin für die türkische Sprache und die rechtsfreundliche Vertretung des BF teilnahmen. Die fünf beantragten Zeugen wurden vom erkennenden Richter angehört. Die mündiche Verhandlung gestaltete sich wie folgt:
„[…]
RI: Wollen Sie ergänzende Beweismittel vorlegen?
Regierungsvorlage, Nein.
Regierungsvorlage, Anmerkung: Ich möchte festhalten, dass der BF ziemlich gut Deutsch versteht. Das Problem ist, dass er aufgrund seiner Arbeitstätigkeit als Friseur das Reden nicht so viel praktiziert hat wie das Zuhören und es an sprachlichen Äußerungsmitteln fehlt und er auch ein eher zurückhaltender und schüchterner Mensch ist. Es wird ersucht, darauf Rücksicht zu nehmen, er wird sich selbstverständlich bemühen, sämtliche Fragen vollständig zu beantworten.
BF: Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer so ein zurückhaltender Mensch. Aber im Lernen, wenn ich das unbedingt schaffen will, bin ich sehr aktiv.
RI: Kürzlich wurde Ihnen das aktuelle Länderinformationsblatt übermittelt. Haben Sie eine diesbezügliche schriftliche Stellungnahme vorbereitet oder möchten Sie am Ende der Verhandlung mündlich zum Länderinformationsblatt Stellung beziehen?
Regierungsvorlage, keine Stellungnahme.
RI: Seit wann halten Sie sich durchgehend in Österreich auf?
BF: Von 2015 weg bis jetzt.
RI: Aus welchem Grund erfolgte Ihre Einreise nach Österreich ursprünglich?
BF: Ich hatte im Jahr 2013 ein ungarisches Visum, womit ich immer wieder einreiste und ausreiste. Mein Bruder arbeitete hier. Er hat ein Geschäft. Ich besuchte ihn in dieser Zeit.
Frage wird wiederholt.
BF: Ich habe eine Frau kennengelernt und wir haben geheiratet.
RI: Wann und wo haben Sie die Frau kennengelernt?
BF: In einer Shishabar. Sie rauchte eine Shisha. Unsere Bekanntschaft dauerte ca. 5-6 Monate. Später haben wir geheiratet. Das war unser Schicksaal. Nachgefragt gebe ich an, dass ich mich nicht genau an das Datum des Kennenlernens erinnern kann. Das dürfte Ende 2013 gewesen sein. Es war winterlich. Anfangs war nur eine Begrüßung zwischen uns. Später kamen wir uns näher, ca. 1 Jahr lang.
RI: Können Sie mir kurz darlegen, von wann bis wann Sie über welchen Aufenthaltstitel verfügten?
BF: Im Jahr 2015, Aufenthaltstitel für 1 Jahr, und dann wieder 1 Jahr, und dann 3 Jahre. Unsere Ehe dauerte nur kurz. Nach der Eheschließung bemerkte ich bei der Frau eine Süchtigkeit. Sie war so, dass ich das nicht bemerkte, aber später bemerkte ich das. Später haben wir uns scheiden lassen. Anfangs wurden Scheidungsanträge gestellt und wieder zurückgezogen und später haben wir uns einvernehmlich scheiden lassen.
RI: Haben sich seit der letzten Eingabe beim Bundesamt neue Umstände in Bezug auf Ihre Integration in Österreich (z. B. Deutschkenntnisse, Fortbildung, Erwerbstätigkeit) ergeben?
BF: Wegen des Erdbebens in meiner Heimat habe ich wegen des eingestürzten Hauses und der Kinder einen Stress, 1 Jahr lang. Deshalb konnte ich mich der Integration nicht widmen, aber ich kenne Wien in- und auswendig.
RI: Haben Sie einen Deutschkurs abgeschlossen? Wenn ja, welches Zertifikat haben Sie zuletzt erworben?
BF: A2, im Jahr 2016 absolviert. Ich wollte dann einen zweiten Kurs, und zwar für B1, machen. Aber da war die Scheidung, noch dazu mein Verfahren. Ich habe erfahren, dass die Frau römisch 40 einen anderen Mann geheiratet hat, nach mir. Sie hat ihre Telefonnummer geändert, ich habe versucht, sie zu erreichen. Das war nicht möglich bis zur letzten Verhandlung.
RI: Ich bitte darum, Ihre Antworten an meinen Fragen zu orientieren.
RI: Haben Sie in Österreich allgemeine oder berufliche Fortbildungen absolviert?
BF: Nein.
RI: Gehen Sie derzeit einer legalen Erwerbstätigkeit nach?
BF: Ja.
RI: Können Sie mir Ihre berufliche Tätigkeit beschreiben?
BF: Als Friseur.
RI: Wieviel verdienen Sie monatlich netto?
BF: 1.570 Euro.
RI: Sind Sie selbstständig tätig oder angestellt?
BF: Ich bin angestellt.
RI: Ist Ihr Arbeitsvertrag befristet oder unbefristet?
BF: Unbefristet.
RI: Seit wann gehen Sie durchgehend einer Arbeit nach?
BF: Seit 2015. Ab 25.06.2015.
RI: Haben Sie noch andere Berufe in Österreich ausgeübt?
BF: Ich bin seit 35 Jahren Friseur.
RI: Haben Sie in Österreich Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Ich habe einen älteren Bruder, er ist selbstständig, und ich habe einen Neffen.
RI: Bestehen finanzielle Abhängigkeiten oder ein anderer Nahebezug zwischen Ihnen und diesen Personen?
BF: Nein. Jeder macht seine Arbeit. Nachgefragt gebe ich an, dass ich mit dem Neffen zusammenwohne.
RI: Haben Sie Angehörige in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union?
BF: Keine nahen Verwandten, aber ich habe Verwandte väterlicherseits.
RI: Wie verbringen Sie Ihr Leben und Ihre Freizeit in Österreich?
BF: Ich gehe mit Freunden fort. Am Wochenenden gehe ich mit meinem Neffen fort, manchmal an die Donau, manchmal in den Prater, manchmal nach Schönbrunn. Ich habe in der Woche 2 Mal frei und das mache ich. Aufgrund der Arbeit habe ich wenig Freizeit.
RI: Verfügen Sie in Österreich über einen Freundeskreis?
BF: Ja.
RI: Was können Sie mir über Ihre Freunde in Österreich erzählen?
BF: Normale Freunde, was soll ich über sie erzählen?
RI: Besteht Ihr Freundeskreis aus Österreichern oder aus zum Aufenthalt berechtigten Fremden?
BF: Es gibt österreichische Freunde, arabische Freunde, wir treffen uns am Geburtstagen, wo man sich trifft.
RI: In welcher Sprache unterhalten Sie sich mit Ihren Freunden?
BF: Wenn es ein Österreicher ist, dann Deutsch. Sie helfen mir auch, wenn ich beim Sprechen steckenbleibe. Im Allgemeinen können wir uns verständigen. Mit den Arabern sprechen wir Arabisch. Ich spreche sehr gut Arabisch. Im Geschäft arbeite ich alleine. Wir haben 2 Abteilungen und da spreche ich mit den Kunden ganz alleine. Ich begrüße sie, ich frage, ob sie etwas zu trinken haben wollen oder wie es ihnen geht. Ich spreche laufend am Telefon mit den Kindern. In diesem letzten einem Jahr verspüre ich, dass ich in der deutschen Sprache rückständig bin. Meine Freunde erzählen mir auch seit einem Jahr, dass ich nicht mehr so gesprächig bin wie früher.
RI: Führen Sie in Österreich eine Beziehung?
BF: Ja, es gibt eine Beziehung, die so ist, als ob es die Beziehung nicht gäbe.
RI: Bitte erklären Sie mir das näher.
BF: Wir sind Freunde. Wir können uns nicht dauernd treffen, deshalb habe ich das so gesagt.
RI: Aber sind Sie jetzt offiziell in einer Beziehung mit der Dame oder nicht?
BF: Ja, ich habe eine Beziehung.
RI: Wie heißt die Dame, wann wurde sie geboren?
BF: Sie heißt römisch 40 , anfangs war es eine Freundschaft und das hat sich fortgebildet. Nachgefragt gebe ich an, dass wir darüber nicht gesprochen haben, wann sie geboren wurde. Nachgefragt gebe ich an, dass römisch 40 die österreichische Staatsbürgerschaft hat. Nachgefragt gebe ich an, dass ich mit ihr seit viereinhalb Jahren zusammen bin. In der Zwischenzeit haben wir uns 1 Jahr lang getrennt. Wir haben uns vor viereinhalb Jahren kennengelernt, dann waren wir eine Zeitlang Freunde. 1 Jahr standen wir uns fern. Dann haben wir uns wieder befreundet und es geht jetzt so weiter. Nachgefragt, sie ist nicht schwanger.
RI: Sind Sie in Österreich in Vereinen oder ehrenamtlich aktiv?
BF: Ich helfe bei der römisch 40 . Im Zoo von römisch 40 , wofür ich Entgelt bekomme.
Regierungsvorlage, Das war ein Missverständnis. Gemeint war, dass er an diese Organisationen Geld spendet. Er bekommt kein Geld von denen.
BF: Ich spende diesen Vereinen und erhalte kein Geld.
RI: Was würden Sie in Österreich machen, wenn Sie hier bleiben könnten?
BF: Es gibt sehr vieles zu tun. Außerdem arbeiten, fällt mir ein, fortzufahren. Nachdem ich meine Arbeit sehr liebe, gehe ich wenig fort. Ich liebe meine Arbeit, sonst würde ich nicht so lange meine Arbeit ausführen. Die Kunden sind zufrieden. Ich habe einen guten Kundenstock. Es kann sich ergeben, dass ich einen eigenen Arbeitsplatz eröffne, wenn möglich. Das ist alles.
RI: Sind Sie gesund und arbeitsfähig?
BF: Ich bin gesund und ich kann arbeiten. Ich bin arbeitsfähig. Außer Zahnprobleme habe ich nicht mit Arzt zu tun. Sonst gibt es nichts. Nachgefragt gebe ich an, keine Medikamente zu nehmen.
RI: Sind Sie in Österreich bisher straffällig geworden (Verwaltungsübertretung, gerichtliche Verurteilung oder derzeitig anhängiges Verfahren)?
BF: Nein.
RI: Am 27.02.2015 heirateten Sie die österreichische Staatsbürgerin römisch 40 (ehem. römisch 40 ) römisch 40 , die Ehe wurde am 23.09.2016 rechtskräftig geschieden. Ist das richtig?
BF: Das ist richtig.
RI: Entsprechend der Feststellungen der zuständigen Verwaltungsbehörden bzw. des zuständigen Verwaltungsgerichts ist Ihre geschiedene Ehe als Aufenthaltsehe zu qualifizieren. Was sagen Sie dazu?
BF: Es wurde so entschieden aus der Sicht des Gerichtes. Aber aus meiner Sicht ist das nicht so.
RI: Die folgende Frage wird (ohne Dolmetscher) auf Deutsch gestellt und die Antwort wortwörtlich protokolliert:
RI: „Sprechen Sie Deutsch?“
BF: Bisschen.
RI: „Mit wem unterhalten Sie sich auf Deutsch?“
BF: Mit wem?
RI: Frage wird wiederholt.
BF: Auf Türkisch: Das habe ich nicht verstanden.
RI: „Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?“
BF: Freizeit...in der Woche 2 Tage.
RI: „Bitte stellen Sie sich in deutscher Sprache selbst vor.“
BF: Auf Türkisch: Hier fällt es mir schwer, zu sprechen, wobei ich draußen mir leichter tue.
Die weitere Befragung erfolgt wieder mit Dolmetscher.
RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (Integration, Leben in Österreich) Fragen des RV?
Regierungsvorlage, Wenn Sie weiterhin hier in Österreich leben würden, würden Sie versuchen Ihr Deutsch zu verbessern? Würden Sie einen Deutschkurs besuchen? Wie würden Sie Ihr Deutsch verbessern?
BF: Ich will den Kurs, den ich bereits absolviert habe, wieder lernen, damit ich einen noch höheren Kurs besuchen kann. Ich habe mich zum Kurs angemeldet, es gibt keinen laufenden Kurs. Erst im Juni beginnt der Kurs wieder.
Regierungsvorlage, Wer sind die Ihnen am nähesten stehenden Personen?
BF: Als Freund?
Regierungsvorlage, Als Familienmitglieder oder Freunde.
BF: Mein Neffe, weil wir im selben Haus wohnen. Mein älterer Bruder, er wohnt zwar weiter weg, aber wir treffen uns am Arbeitsplatz. Ich habe eine Freundin, welche auch Kinder hat. Wir sprechen meistens am Telefon. Sie arbeitet, ich auch. Am Wochenende treffen wir uns. Im Allgemeinen. Ihre Kinder kommen zum Haarschnitt, sie kommt auch mit, da sprechen wir miteinander, aber im Allgemeinen am Telefon. Das sind die Personen, die mir am meisten nahestehen. Mit den Freunden treffe ich mich ab und zu, wenn sie ins Geschäft kommen. römisch 40 , mein Freund, wir sprechen miteinander Arabisch, auch wenn er nicht zum Haarschnitt kommt, kommt er ins Geschäft, um gemeinsam Kaffee zu trinken. Manchmal treffen wir uns auch draußen. Das sind meine nähesten Freunde.
Regierungsvorlage, keine weiteren Fragen.
RI: Wann waren Sie zuletzt in der Türkei?
BF: Zuletzt vor viereinhalb Jahren.
RI: Wie regelmäßig sind Sie in der Türkei?
BF: Seit meinem hiesigen Aufenthalt war ich ca. 4 bis 5 Mal in der Türkei.
RI: Welche Ausbildung haben Sie im Herkunftsstaat genossen?
BF: 5 Jahre Grundschule, später arbeiten. Nachgefragt gebe ich an, dass es damals keine Berufsausbildungen gegeben hat. Ich bin mit 17 Jahren nach Saudi-Arabien gereist. Damals deshalb, weil ich keinen Militärdienst machen wollte. Dort habe ich ca. 5 bis 6 Jahre gearbeitet und habe mich von meinem Militärdienst freigekauft.
RI: Welche Berufserfahrung haben Sie im Herkunftsstaat gesammelt?
BF: Nur Friseur, sonst nichts. Ich habe die Lehre gemacht und auch die Gesellenzeit, insgesamt 6 Jahre. Dann bin ich ins Ausland gereist. Saudi-Arabien. Dann zurück in die Türkei. Dann habe ich ein paar Jahre in der Landwirtschaft gearbeitet, dann wieder zurück in meinem Beruf. Später nach Ungarn. Ich bin als Landwirt nach Ungarn gekommen. Diese Firma war am Schließen, und dann bin ich hierhergekommen.
RI: Wie würden Sie Ihre eigene wirtschaftliche Lage in der Türkei einschätzen?
BF: Es war gut. Aber jetzt gibt es nichts mehr.
RI: Wer von Ihrer Familie bzw. Ihrer Verwandtschaft lebt noch im Herkunftsstaat und wo?
BF: Sie leben alle in der Türkei. 3 ältere Brüder in Saudi-Arabien, zwei davon waren gezwungen zurückzukehren. Einer wegen des Erdbebens und der andere wegen des Alters. Die Eltern leben in einem Container, wobei der Vater bereits 80 Jahre alt ist. Die Brüder sind gekommen, um ihnen behilflich zu sein. Sie sind alle dort in der Türkei.
RI: Welche Familienangehörige haben Sie noch genau in der Türkei?
BF: Ich habe 4 ältere Brüder und 3 ältere Schwestern. Ich bin der jüngste. Sie sind alle dort. Einer lebt noch in Saudi-Arabien. Meine ganze Familie ist dort, auch die Kinder.
RI wiederholt Frage.
BF: Meine Mutter, mein Vater, 3 Schwestern, 3 Brüder. Ich habe 2 Töchter. Meine Neffen, Cousins, sie leben alle dort.
RI: Laut Stellungnahme Ihres Anwalts (AS 247) halten sich in der Türkei Ihre Frau und Ihre Kinder auf. Ist das richtig?
BF: Meine Ex-Frau.
Regierungsvorlage, Das war ein Fehler, ich ersuche diesen gedanklich zu korrigieren.
RI: Haben Sie seit der Ausreise Kontakt mit Familienangehörigen oder Verwandten in Ihrem Herkunftsstaat? Wann zuletzt und mit wem?
BF: Ich spreche im Allgemeinen mit den Kindern, mit den Eltern, ich frage, wie es ihnen geht. Mit den Schwestern und Brüdern nur gelegentlich, wir haben nicht immer Kontakt. Aber im Allgemeinen mit den Kindern.
RI: Wie geht es Ihren Angehörigen im Herkunftsstaat?
BF: Sie können derzeit überhaupt nichts tun. Sie arbeiten nicht. Der Vater ist in Pension und sein Geld reicht nur für ihn aus. Nach dem Erdbeben jammern die Leute, dass es früher so war, und jetzt nur so. Es gibt keine Beschäftigung. Das Haus ist eingestürzt und es jammern alle.
RI: Wie alt sind Ihre Eltern und Geschwister?
BF: Mein Vater ist 80 Jahre alt. 1944 geboren. Die Mutter ist 78 Jahre alt. Die älteste Schwester ist 66 Jahre alt. Die nächste 65. Der älteste Bruder ist 68 Jahre alt, 1970 geboren. Der nächste ist 1972 geboren. Der nächste ist 1973 geboren. Die Schwester, die älter ist als ich, ist so wie ich, mit dem Geburtsjahr 1978 eingetragen. Das war’s.
RI: Wie finanzieren Ihre Eltern und Geschwister im Herkunftsstaat deren Leben?
BF: Sie haben Ersparnisse. Der älteste Bruder ist Pensionist. Der nächstkleinere ist immer noch in Saudi-Arabien. Er unterstütze sie ein bisschen. Mein älterer Bruder in Österreich und ich unterstützen sie auch soweit es möglich ist.
RI: Wie würden Sie die wirtschaftliche Lage Ihrer Familie einschätzen?
BF: Genaueres weiß ich darüber nicht Bescheid. Es wird mir nur gesagt, dass sie keine Arbeit und kein Einkommen haben. Das ist alles aufgrund des Erdbebens passiert. Seit einem Jahr kommen keine Beihilfen. Sie versuchen selber, etwas zu tun.
RI: Verfügen Ihre Angehörigen im Herkunftsstaat über eigene Wohnungen oder Häuser? Wie kann ich mir die Wohnsituation Ihrer Angehörigen im Herkunftsstaat vorstellen?
BF: Sie sind alle eingestürzt. Meine Angehörigen wohnen derzeit in Containern.
RI: Werden Sie in der Türkei verfolgt oder gibt es gegen Sie anhängige Verfahren?
BF: Gegen mich, da weiß ich nichts davon, weil ich seit viereinhalb Jahren nicht dort war. Sollten Verfahren gegen mich sein, weiß ich nichts darüber. Es passierte mir einmal an der Grenze, dass ein Verfahren gegen mich gelaufen ist, ich nicht erschienen bin und ich bin dann sofort zur Einvernahme gegangen. Es muss jemand in meiner Abwesenheit eine Klage gegen mich erhoben haben. Es war ein Gutachten da, ärztliche Atteste. Von der derzeitigen Situation weiß ich nichts. Nachgefragt gebe ich an, das dürfte im Jahr 2016 oder 2017 gewesen sein.
RI: Verstehe ich es richtig, dass Sie danach noch einmal in der Türkei waren?
BF: Zuletzt war ich von viereinhalb Jahren dort. Genauer gesagt vor 4 Jahren und 2 Monaten.
RI: Sind Sie Zeuge oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitender Prostitution oder Opfer von Gewalt und wurde deshalb eine einstweilige Verfügung erlassen oder hätte erlassen werden können?
BF: In allen Punkten nein.
RI: Gibt es zu diesem Fragenkomplex (persönlicher und familiärer Hintergrund, Lage in der Türkei) Fragen des RV?
Regierungsvorlage, Falls Sie in die Türkei zurückkehren, gibt es eine Wohnmöglichkeit für Sie?
BF: Nein.
Regierungsvorlage, Gibt es eine Arbeitsmöglichkeit für Sie im Falle einer Rückkehr?
BF: Nein, außer wenn ich in einer anderen Stadt verreise und die Leute dort überzeuge.
Regierungsvorlage, Sehen Sie die Türkei als Ihre Heimat an, können Sie sich ein Leben in der Türkei vorstellen?
BF: Nein, ich kann mir ein Leben dort nicht vorstellen.
Regierungsvorlage, Warum?
BF: Ich habe immer Kontakt mit den Kindern. Sie sagen...wenn ich Kontakt habe, jammert jeder über die wirtschaftliche Lage. Ich habe derzeit eine Arbeit und lebe hier ordnungsgemäß. Ich kann mir die Schulbildung meiner Kinder leisten. Meine ältere Tochter hatte dieses Jahr eine Universitätsprüfung. Sie wissen, in der Türkei kostet das Studium Geld. Wenn ich zurückreise, wäre es sowohl für mich als auch für die Kinder schlecht.
Regierungsvorlage, Wie würden Sie den kulturellen Unterschied zwischen den Leben in Österreich und den Leben in der Türkei bezeichnen, und welches der beiden ist Ihnen im jetzigen Zustand näher bzw. geläufiger?
BF: Die Kultur in Österreich ist mir näher als die türkische.
Regierungsvorlage, Worauf führen Sie das zurück?
BF: Es gibt keine Diskriminierung wie in der Türkei. Ich werde hier wie ein Mensch betrachtet. Deshalb ist mir Österreich kulturell näher.
Regierungsvorlage, keine weiteren Fragen.
Verständigung mit Dolmetscher:
RI: Haben Sie den Dolmetscher gut verstanden?
BF: Ja.
RI: Gab es in der Verhandlung sonst irgendwelche Probleme mit dem Dolmetscher?
BF: Nein.
[…]
RI: In welchem Verhältnis stehen Sie zum BF?
Ziffer eins :, Er ist mein Bruder, er arbeitet mit mir.
RI: Was können Sie mir über den BF sagen?
Ziffer eins :, Das, was ich weiß und das, was ich gefragt werde.
RI: Was können Sie mir selbstständig über den BF sagen?
Ziffer eins :, Ich komme gut mit ihm aus, er ist ein guter Mitarbeiter. Aber nicht nur in der Arbeit, sondern sonst komme ich auch gut aus mit ihm. Er ist ein Bruder, mit dem man nach der Arbeit irgendwo sitzen und sprechen kann. Er ist Mitarbeiter und Bruder, mit dem man alles teilen kann.
RI: Wie würde es sich auf die Familie auswirken, wenn er aus Österreich ausreisen müsste?
Ziffer eins :, Das würde die Familie beeinflussen. Bis vor einem Jahr war die Lage gut, es sind schon bereits 1 Jahr und 2 Monate her, war die Lage gut. Durch das Erdbeben sind die Häuser eingestürzt, man hat keine Arbeit. Die Familien kann sich der Unterhalt der Kinder nicht mehr leisten. Derzeit ist das Leben dort nicht möglich.
RI: Was spricht aus Ihrer Sicht für, was gegen den weiteren Verbleib des BF im österreichischen Bundesgebiet?
Ziffer eins :, Zuerst einmal brauche ich ihn in meinem Geschäft. Ich habe sonst niemanden außer ihm von der Familie. Ich habe noch einen Neffen hier. Ich kann ein soziales Leben führen mit ihm als Bruder und als Mitarbeiter. Insbesondere in römisch 40 ist es besonders schwer, eine Arbeit zu finden, die Leute dort reisen in andere Städte, um dort 1 bis 2 Wochen lang zu arbeiten. So kann man keine Kinder großziehen. Meine Eltern und auch die Schwestern und Brüdern leben derzeit in Containern, und auf diese Art muss er sein Leben dort fortführen.
RI: Laut Feststellung der MA 35 und des LVwG Wien ging der BF eine Aufenthaltsehe ein, d.h. er hat seine Ehe in Österreich geschlossen, um einen Aufenthaltstitel zu erschleichen. Was sagen Sie dazu?
Ziffer eins :, Ich denke nicht so. Er war in dieser Zeit lustig, erfreulich, glücklich, also in meinen Augen war er im Allgemeinen ein glücklicher Mensch. Nach einer gewissen Anzahl von Monaten ist er zur Arbeit gekommen und hatte keine Lust, worauf ich ihn gefragt habe, was los sei. Er erzählte mir, dass sie ein paar Mal mit Freunden gesessen ist und alkoholisiert nach Hause gekommen ist. Er hat mir das 1 bis 2 Mal erzählt. Die Ehe hat fortbestanden auf diese Art. Aber die Ehe ist weitergegangen, wie lange genau kann ich jetzt nicht sagen.
RI: Würden Sie den BF nach einer Ausreise aus Österreich emotional oder finanziell unterstützen?
Ziffer eins :, Soweit es mir möglich ist. Ich weiß nicht, wie viel ich ihm behilflich sein kann.
RI: Gibt es Fragen des Regierungsvorlage an den Zeugen?
Regierungsvorlage, Haben Sie das Gefühl, dass sich Ihr Bruder in Österreich integriert hat?
Ziffer eins :, Aus meiner Sicht natürlich.
Regierungsvorlage, Was bringt Sie zu dieser Sichtweise?
Ziffer eins :, Er geht mit seinen Freunden nach der Arbeit fort, er beteiligt sich am Abendessen. Sein Leben besteht nicht nur aus der Arbeit.
Regierungsvorlage, Wie sind die freundschaftlichen Beziehungen in Österreich?
Ziffer eins :, Gut. Wir haben Kunden mit verschiedener Staatsbürgerschaft, zum Beispiel Araber oder Österreich, an Samstagen gehen sie gemeinsam Fußballspielen.
Regierungsvorlage, Haben Sie das Gefühl, dass sich Ihr Bruder seit seinem Aufenthalt in Österreich von seinem Herkunftsstaat distanziert hat?
Ziffer eins :, Ja natürlich hat er sich distanziert.
Regierungsvorlage, Ich meine jetzt aber nicht nur eine räumliche Distanzierung, sondern auch eine gedankliche und kulturelle.
Ziffer eins :, Ja, er hat sich hier integriert, was die Kultur anbelangt. Ich habe die Frage nicht genau verstanden.
Regierungsvorlage, Wie nahe steht Ihnen Ihr Bruder? Wer sind Ihre wichtigsten Bezugspersonen in Österreich?
Ziffer eins :, Mein Bruder ist mir am meisten nahe. Dann die Kunden und die Freunde, aber die Person, mit der ich sprechen kann, ist mein Bruder.
Regierungsvorlage, keine weiteren Fragen.
[…]
RI: In welchem Verhältnis stehen Sie zum BF?
Ziffer 2 :, Ich bin sein Neffe.
RI: Was können Sie mir über den BF sagen?
Ziffer 2 :, Er ist ein guter Mensch, ich kenne ihn mein ganzes Leben, zum Beispiel er war auch mein Berufslehrer, ich habe alles von ihm gelernt, er ist mein Meister. Wir wohnen seit fast 6 Jahren zusammen, seit 2018. Wir arbeiten zusammen, wir wohnen zusammen. Wenn wir Zeit haben, gehen wir am Wochenende - manchmal zum Beispiel auch mit Kunden oder meinen Freunden - Fußballspielen. Wir sind Fußballfans, wir schauen uns auch Fußballspiele im Stadion live an, wenn wir Zeit haben. Am Samstag gehen wir spazieren, einkaufen, putzen die Wohnung. Wir führen ein normales Leben, nicht mehr und nicht weniger. Seine Sprache ist leider ein bisschen schwach, aber sein Charakter ist so, er redet nicht gerne. Das liegt nicht nur an der deutschen Sprache, aber er versteht alles. Er redet zum Beispiel auch mit Kunden, beruflich ist es überhaupt kein Problem. Er arbeitet in seinem eigenen Geschäft alleine. Wir unterstützen ihn dabei auch nicht. Ich finde, er ist ein guter Mensch, er hat ein normales Leben. Ich kann auch sagen, wenn er nach Türkei zurückkehrt, Sie wissen auch, vor einem Jahr ist in unserer Heimatstadt ein großes Erdbeben gewesen, die Stadt ist zu 90% zerstört, die Familie ist in Containern und Zelten untergebracht, es gibt keine Häuser mehr. Mit der Arbeit ist es auch ein großes Problem. Es wird sicher noch 10 bis 15 Jahre dauern, es schaut noch immer so aus. Das Leben dort ist fast unmöglich. Auch in den Nachbarstädten ist es so. Das ist alles.
RI: Wie würde es sich auf die Familie auswirken, wenn er aus Österreich ausreisen müsste?
Ziffer 2 :, Die werden sicher alle traurig sein. Wenn er dort hingeht, dann hat er keine Arbeit und es wird sicher schlecht sein für ihn und auch für die Familie, auch für seine Kinder. Sie gehen zur Schule und er kann ihnen dann nicht so viele Möglichkeiten geben. Die Mutter wird sowieso traurig sein.
RI: Was spricht aus Ihrer Sicht für, was gegen den weiteren Verbleib des BF im österreichischen Bundesgebiet?
Ziffer 2 :, Zum Beispiel, wenn er hier bleibt, ich glaube er ist da seit ca. 2015, er hat keine Strafen begangen, er war nur einmal beim AMS und das war im Lockdown. Sonst hat er immer gearbeitet. Er hat schon die Regeln und die Gesetze in Österreich akzeptiert, auch die Ordnung, weil er seit langer Zeit da ist. Es wäre nicht so schlecht für ihn und das Land sein, wenn er in Österreich lebt. Er ist ein guter Mensch, er macht keine Probleme, er stört niemanden.
RI: Laut Feststellung der MA 35 und des LVwG Wien ging der BF eine Aufenthaltsehe ein, d.h. er hat seine Ehe in Österreich geschlossen, um einen Aufenthaltstitel zu erschleichen. Was sagen Sie dazu?
Ziffer 2 :, Am Anfang wusste ich das nicht. Ich habe erst vom Magistrat erfahren, dass ihm das vorgeworfen wird.
RI: Würden Sie den BF nach einer Ausreise aus Österreich emotional oder finanziell unterstützen?
Ziffer 2 :, Ja, aber es ist die Frage, wie viel ich kann. Wir haben das Haus und das Auto verloren, sehr viele Freunde sind gestorben. Ich musste auch anderen Menschen helfen. Ich würde gerne auch meinem Onkel helfen, es wird aber nicht genug sein. Die Preise in Österreich sind auch gestiegen, man kann daher nicht so viel helfen leider.
RI: Gibt es Fragen des Regierungsvorlage an den Zeugen?
Regierungsvorlage, Ist der BF für Sie eine wichtige Bezugsperson und wie äußert sich das?
Ziffer 2 :, Er ist eine wichtige Bezugsperson, ich mag ihn, er ist ein guter Mensch, wir verstehen uns gut. Er ist kein schwieriger Mensch.
Regierungsvorlage, Wie schaut es aus mit der Finanzierung der Miete?
Ziffer 2 :, Wir teilen alles, sowohl die Miete als auch die Betriebskosten, ebenso den laufenden Unterhalt für Essen etc. Auch die Hausarbeit teilen wir uns.
Regierungsvorlage, Sie haben vorhin gesagt, Ihr Onkel ist eher ruhig. Haben Sie das Gefühl, dass er sich dennoch erfolgreich in Österreich integriert?
Ziffer 2 :, Ja, er hat sich erfolgreich integriert. Das Problem ist lediglich die Sprache, das liegt aber an seinem zurückhaltenden Charakter.
Regierungsvorlage, keine weiteren Fragen.
[…]
RI: In welchem Verhältnis stehen Sie zum BF?
Ziffer 3 :, Ich bin eigentlich Kunde bei ihm.
RI: Was können Sie mir über den BF sagen?
Ziffer 3 :, Ich kenne ihn schon seit 2015. Und dadurch, dass ich Kunde bei ihm bin, haben wir ein ganz normales Verhältnis, wir sind nicht enge Freunde, aber wir verbringen manchmal Zeit miteinander, auch privat, wir trinken zum Bsp. Kaffee. Wie gesagt, wir verbringen ab und zu Zeit zusammen, nach der Arbeit trinken wir einen Kaffee oder ein Glas Wein, manchmal werden auch Sachen übersetzt.
RI: Wie würde es sich auf Sie auswirken, wenn er aus Österreich ausreisen müsste?
Ziffer 3 :, Für mich persönlich wird es sehr schwierig sein.
RI: Warum wäre es für Sie persönlich sehr schwierig?
Ziffer 3 :, Er ist mein persönlicher Friseur und ich kann mir nicht vorstellen, zu einem anderen zu gehen.
RI: Was spricht aus Ihrer Sicht für, was gegen den weiteren Verbleib des BF im österreichischen Bundesgebiet?
Ziffer 3 :, Ich habe von ihm gar nichts Schlechtes bekommen. Ich sehe ihn als ganz normale Person, er hat sich integriert, er fragt sehr viel über die österreichische Kultur. Dadurch, dass ich seit 11 Jahre in Österreich lebe und auch seit 2018 die Staatsbürgerschaft habe, fragt er mich, wie ich das geschafft habe und wie ich mich in Österreich integriert habe.
RI: Laut Feststellung der MA 35 und des LVwG Wien ging der BF eine Aufenthaltsehe ein, d.h. er hat seine Ehe in Österreich geschlossen, um einen Aufenthaltstitel zu erschleichen. Was sagen Sie dazu?
Ziffer 3 :, Meiner persönlichen Meinung nach ist es ungerecht, weil er verhält sich ganz normal, er arbeitet, er leistet seinen Beitrag für das Sozialsystem.
RI: Würden Sie den BF nach einer Ausreise aus Österreich emotional oder finanziell unterstützen?
Ziffer 3 :, Natürlich.
RI: Gibt es Fragen des Regierungsvorlage an den Zeugen?
Regierungsvorlage, keine Fragen.
[…]
RI: In welchem Verhältnis stehen Sie zum BF?
Ziffer 4 :, Ich bin ein Freund und Kunde. Begonnen hat es als Kunde und es ist jetzt eine Freundschaft geworden.
RI: Was können Sie mir über den BF sagen?
Ziffer 4 :, Ich kann nur sagen, dass er ein sehr feiner Mensch ist, der seit Jahren in Österreich in seinem Barberstudio arbeitet, quasi Tag und Nacht. Ich kann jederzeit dort anrufen und einen Termin ausmachen. Es sind ganz angenehme Stunden, auch eine gewisse Auszeit von meiner relativ stressigen Arbeit. Ich habe ihn als sehr fleißiger Mensch kennengelernt, der über die Jahre zu einem sehr angenehmen Gesprächspartner geworden ist. Wenn ich ergänzen darf, ich bin zu ihm über einem anderen türkischen Freund, der inzwischen die Staatsbürgerschaft erlangt hat, gekommen. Er hatte einen sehr schönen Bart, meine Frau empfahl mir, meinen Bart entsprechend herzurichten. Ich fragte diesen Freund. Und er sagte, ich solle unbedingt zur römisch 40 gehen.
RI: Wie würde es sich auf Sie auswirken, wenn er aus Österreich ausreisen müsste?
Ziffer 4 :, Ich würde es überhaupt nicht verstehen, weil aufgrund der langen Zeit, die er in Österreich schon verbracht hat, für mich ist der römisch 40 ein Sinnbild für gute Integration, die er auch jeden Tag unter Beweis stellt, dass er auch etwas für die Gesellschaft tut. Deshalb würde das eine große Enttäuschung nach sich ziehen. Ich bin kein Rechtsanwalt, aber ich bin sehr gerechtigkeitsfanatisch, aber kein Jurist, bin ein politischer Mensch, aber kein Politiker, insofern würde ich es überhaupt nicht verstehen. Es heißt ja immer „Recht zu haben und Recht bekommen sind 2 Paar Schuhe“, ich sehe es anders, entweder hat man hat Recht oder nicht. Er ist ein ganz fleißiger Mensch, er stellt für mich eine Bereicherung dar. Ich bin ja als Zeuge hier, das ist mein Eindruck.
RI: Was spricht aus Ihrer Sicht für, was gegen den weiteren Verbleib des BF im österreichischen Bundesgebiet?
Ziffer 4 :, Für den Verbleib spricht natürlich die gesamte Historie und eben das, was ich bereits zu Protokoll gab. Dagegen spricht genau gar nichts.
RI: Laut Feststellung der MA 35 und des LVwG Wien ging der BF eine Aufenthaltsehe ein, d.h. er hat seine Ehe in Österreich geschlossen, um einen Aufenthaltstitel zu erschleichen. Was sagen Sie dazu?
Ziffer 4 :, Da sage ich, wer hat das Recht dazu, das so zu entscheiden. Kann man in einen Menschen reinschauen, ob das eine sog. „Scheinehe“ war oder nicht. Wer kann das entscheiden. Wer sagt da.. das ist ja eine ganz persönliche Sache. Da kann einer sagen „ich glaub dir das“, der andere kann sagen „ich glaub dir das nicht“. Gefühlt ist das ewig her. Und dass man nach Jahren dann sagt „du übrigens, was vor 7-8 Jahren war, das war nicht korrekt, weil ihr habt euch nicht wirklich geliebt und eigentlich war das nur am Papier“, wem steht das zu? Meiner Meinung nach steht das niemandem zu, wenn nicht das Gegenteil bewiesen ist.
RI: Würden Sie den BF nach einer Ausreise aus Österreich emotional oder finanziell unterstützen?
Ziffer 4 :, Emotional jedenfalls. Finanziell ist die Frage, ich habe nach diesem Erdbeben in römisch 40 Familien in der Region finanziell unterstützt. Ich habe einen Fund gemacht, wo wir von Freunden Geld gesammelt haben, einem Kollegen gegeben habe, der ist runtergeflogen und hat das Notwendigste, was er tun konnte, gemacht mit dem Geld. Und ja, wahrscheinlich würde ich ihn auch finanziell unterstützen.
RI: Gibt es Fragen des Regierungsvorlage an den Zeugen?
Regierungsvorlage, Herr Mag. römisch 40 , Sie haben gesagt, er wurde zu einem angenehmen Gesprächspartner. In welcher Sprache finden die Gespräche statt?
Ziffer 4 :, Auf Deutsch natürlich. Ich kann kein Türkisch.
Regierungsvorlage, Der BF tat sich heute in der Verhandlung etwas schwer. Spricht er mit Ihnen über Alltagsthemen, kann er sich ausdrücken, kann er die grundlegendsten Dinge mit Ihnen teilen?
Ziffer 4 :, Natürlich. Nur dann ist ja ein Gespräch möglich.
Regierungsvorlage, Kommunizieren Sie mit oder ohne Hilfe?
Ziffer 4 :, Mit manueller Hilfe?
Regierungsvorlage, Ich meine eine dritte Person?
Ziffer 4 :, Nein, meistens sind wir alleine im Barbershop. Ich kann nicht einmal mit Händen gestikulieren, es wird wirklich nur gesprochen, weil ich ja unter dem Mantel bin. Ergänzend dazu um ein Beispiel zu geben, worüber wir sprechen: Wir sprachen grundsätzlich über die türkische Community in Österreich. Nach dem tragischen Erdbeben in der Südtürkei haben wir uns sehr intensiv darüber unterhalten, weil er ja auch direkt Betroffener ist bzw. seine Freunde und Verwandten.
Regierungsvorlage, Sie haben vorhin klar und deutlich angesprochen, dass Sie ihn als beruflich integriert sehen. Jetzt wäre meine Frage: sehen Sie beim BF eine gedankliche, kulturelle und persönliche Integration, die über das Arbeitsleben hinausgeht?
Ziffer 4 :, Das kann ich insoweit nicht so beantworten, weil wir außerhalb des Barbershops, der für mich ja ein Ort der Ruhe und Unterhaltung ist, keine intensivere persönliche Beziehung haben, sodass römisch 40 bei uns aus- und einginge oder wir zu ihm kommen. Das ist nicht der Fall.
Regierungsvorlage, Aber aus Ihren Wahrnehmungen heraus, meinen Sie, dass er auch über das Arbeitsleben hinaus eine Bereicherung darstellt, oder?
Ziffer 4 :, Mit Sicherheit. Ich weiß, dass er viele Freunde hat. Es sind zwei Geschäfte nebeneinander. Auch, wenn ich öfters komme, findet da ein intensiver Austausch statt. Ich habe schon das Gefühl, man geht gerne zu römisch 40 , trinkt Kaffee und redet. Worüber weiß ich aber nicht, weil ich kein Türkisch spreche. Aber ja, den Eindruck habe ich schon.
Regierungsvorlage, keine weiteren Fragen.
[…]
RI: In welchem Verhältnis stehen Sie zum BF?
Ziffer 5 :, Ich bin eine gute Freundin und ich übersetze für ihn und unterstütze ihn auch, wenn er irgendetwas braucht. Wir haben eine gute Beziehung.
RI: Was können Sie mir über den BF sagen?
Ziffer 5 :, Ich kenne ihn sehr gut, schon seit viereinhalb Jahren kenne ich ihn. Ich habe ihn kennengelernt, ich habe früher als Dolmetscherin für Fr. römisch 40 , das ist ein Übersetzungsbüro in Wien, geringfügig gearbeitet. Ich habe den Auftrag gehabt, für ihn zu übersetzen bei einem Rechtsanwalt. Ich bin dort hingegangen und habe ihn so kennengelernt. Es ergab sich, dass ich dann immer wieder für ihn übersetzt habe oder ihn auch beraten habe, wie er Dinge machen kann. Das war ca. vor viereinhalb bis 5 Jahren. Es wurde immer mehr. Desto mehr ich ihn kennengelernt habe, habe ich gesehen, er ist ein sehr guter Mensch. Er hat mich immer wieder ausgeführt, das hat mir sehr gut gefallen. Dann habe ich ihm meine Kinder vorgestellt, mein älterer Sohn geht regelmäßig zu ihm Haare schneiden, er ist 17. Er lässt sich leider Gottes von keinem anderen Friseur die Haare schneiden, sondern nur von ihm. Er hat eine gute Beziehung mit meinen Kindern, er kennt alle drei. Wir treffen uns öfters, manchmal sind wir nach Schönbrunn gefahren, er hat mich manchmal zum Essen ausgeführt. Er kennt sich mit Essen sehr gut aus. Meistens sind wir im 1. Bezirk, Einkaufsstraße, er fragt mich immer wieder, was ihm gut stehe, ich sage ihm dann meine Meinung. Aber wie gesagt, wir haben eine sehr gute, enge Beziehung. Dieses Jahr hat er meine Tochter kennengelernt, sie ist 24 Jahre alt. Wir haben vor ca. 2 Monaten darüber geredet, dass meine Tochter und wir als Familie ihn unterstützen werden, damit er besser Deutsch redet. Er ist so schüchtern, dass er wenig Deutsch redet. Ich habe einen Familienfreund, ein älterer Mann, ein Österreicher, er geht auch zu ihm Haare schneiden. Er ist quasi der Opa meiner Kinder. Er geht sehr gerne zu ihm, sie unterhalten sich sehr gern, er kennt eigentlich meine ganze Familie.
RI: Wie würde es sich auf Sie auswirken, wenn er aus Österreich ausreisen müsste?
Ziffer 5 :, Gott...ich wäre schon traurig, auch meine Kinder. Überhaupt mein älterer Sohn hängt sehr an ihm, er versteht sich mit ihm. Mein älterer Sohn hat eine Sozialphobie, das ist leider durch Corona eingetreten. Wenn er aber zu ihm geht und die Haare schneidet und er sich mit ihm unterhält, merke ich immer, es geht ein Schritt weiter. Er ist ein sehr guter Zuhörer, auch, wenn ich Sorgen habe, kann ich mit ihm reden. Er ist der Einzige, mit dem ich reden kann.
RI: Was spricht aus Ihrer Sicht für, was gegen den weiteren Verbleib des BF im österreichischen Bundesgebiet?
Ziffer 5 :, Für mich spricht, dass er hier bleibt, ich würde mich freuen und wir haben eigentlich auch was ausgemacht: Wenn er hier bleibt, er hat sich auch angemeldet für den Deutschkurs. Er wird den Deutschkurs regelmäßig besuchen und mit meinen Kindern regelmäßig Deutsch sprechen. Vielleicht ergibt sich was mit ihm, weil ich habe ihn sehr gern.
RI: Laut Feststellung der MA 35 und des LVwG Wien ging der BF eine Aufenthaltsehe ein, d.h. er hat seine Ehe in Österreich geschlossen, um einen Aufenthaltstitel zu erschleichen. Was sagen Sie dazu?
Ziffer 5 :, Ich habe diesen Fall von Anfang an sozusagen mitbegleitet, auch übersetzt, ich habe auch die ganzen Protokolle und alles durchgeschaut. Meine Meinung ist, sie haben zusammengelebt und nach der Erzählung, ich habe die Frau auch kennengelernt und persönlich angetroffen mit meiner Meinung, die haben schon zusammengelebt. Ich habe sie kennengelernt und auch in der Wohnung besucht. Ich habe gesehen, sie hat einfach alles durcheinandergebracht und ihn immer wieder beschuldigt. Er hat für sie keinen Kredit aufgenommen. Darum haben sie sich immer wieder gestritten. Genau in der Zeit ist die Polizei eingetroffen, weil sie eine Strafe offen hatte. Ich habe gesehen, dass sie total verwirrt war, sie konnte mit den Beamten auch nicht normal reden. Ich habe damals auch eine Stellungnahme abgegeben, alles geschildert und es dem Rechtsanwalt gegeben. Meine Meinung: Es ist passiert, ich respektiere, was das Gericht entschieden hat.
RI: Würden Sie den BF nach einer Ausreise aus Österreich emotional oder finanziell unterstützen?
Ziffer 5 :, Ja, natürlich würde ich ihn unterstützen, weil er hat mich auch unterstützt.
RI: Gibt es Fragen des Regierungsvorlage an den Zeugen?
Regierungsvorlage, Nutzt Ihrer Meinung nach der BF seine Freizeit, um sich in Österreich zu integrieren und auch außerhalb der Arbeit Fuß zu fassen? Wenn ja, wie?
BF: Er ist öfter mit mir fortgegangen, wir sind Cocktails trinken gegangen, wenn wir wo waren, hat er mir die Geschichte von dem Ort erzählt, wie zum Beispiel bei der Lugner City haben wir Cocktails getrunken und er hat mir erzählt wie die Lugner City aufgebaut worden ist. Oder wenn wir zum Beispiel in die Kärntnerstraße fahren hat er mir erzählt das ist so ein Geschäft und das ist so ein Geschäft. Was ich besonderes bewundere ist, er ist mit mir in die Kirche am Stephansplatz gegangen. Was ich bei ihm gemerkt habe, er gibt sehr gerne was her. Wenn zum Beispiel jemand auf der Straße ist, dann gibt er etwas her. Ebenso, wenn er um Spenden gebeten wird, gibt er es auch vom Herzen her.
Regierungsvorlage, Haben Sie das Gefühl, dass er in Österreich einen breiten Freundeskreis hat?
Ziffer 5 :, Ja. Ich kenne schon ein paar Freunde von ihm, die er mir vorgestellt hat.
Regierungsvorlage, Sind das nur Türken oder sind das Menschen aus verschiedenen Kulturen?
Ziffer 5 :, Verschiedene, Türkei, Arabien, Österreich.
Regierungsvorlage, Sie haben gesagt sie führen oftmals längere und tiefere Gespräche mit ihm?
Ziffer 5 :, Ja, wir telefonieren auch am Abend. Wir besuchen uns auch wechselseitig.
Regierungsvorlage, Haben Sie das Gefühl, dass er gedanklich noch an seine Heimat gebunden bzw. kulturell an seine Heimat gebunden ist?
Ziffer 5 :, Ja, ich glaube schon, aber er möchte hier in Österreich ein Leben aufbauen. Mir kommt es so vor, dass er hier sich integrieren möchte und hier leben möchte. Die Kultur in Österreich interessiert ihn sehr. Aber hin und wieder reden wir natürlich auch über die Türkei.
Regierungsvorlage, keine weiteren Fragen.
[…]“
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der BF führt den Namen römisch 40 , wurde am römisch 40 in römisch 40 geboren und ist türkischer Staatsbürger.
Der BF ist physisch und psychisch gesund.
1.2. Der BF verfügt seit dem 20.11.2013 über eine Meldeadresse im Bundesgebiet.
Der BF war im Zeitraum von 27.02.2015 bis zur einvernehmlichen Scheidung am 21.11.2016 mit der österreichischen Staatsangehörigen römisch 40 (ehem. römisch 40 ) verheiratet. Die Ehe wurde vom Amt der Wiener Landesregierung als Aufenthaltsehe qualifiziert. Dagegen erhobene Rechtsmittel ans LVwG Wien sowie in weiterer Folge an den VwGH blieben erfolglos.
In familiärer Hinsicht halten sich ein älterer Bruder und ein Neffe des BF im österreichischen Bundesgebiet auf, wobei er mit seinem Bruder zusammenarbeitet und mit seinem Neffen eine Wohngemeinschaft bildet. In anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union leben entfernte Angehörige väterlicherseits des BF.
Der BF verfügt über einen österreichischen Bekanntenkreis.
Der BF befindet sich nicht in aufrechter Beziehung.
Der BF ist nicht in Vereinen oder ehrenamtlich aktiv.
Seit dem 25.06.2015 ist der BF (zunächst als geringfügig beschäftigter Arbeiter, seit 01.10.2016 als Arbeiter) im Wesentlichen lückenlos bei seinem Bruder römisch 40 beschäftigt und finanziert so seinen Lebensunterhalt. Der BF geht seiner Erwerbstätigkeit unrechtmäßig nach.
Der BF verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2. Gegenüber dem BVwG erwies er sich in deutscher Sprache als nicht kommunikationsfähig.
Eine relevante Integration des BF in Österreich liegt nicht vor.
1.3. Der BF besuchte im Herkunftsstaat die Schule und erwarb mehrjährige Berufserfahrung. Die Eltern des BF, seine Geschwister (drei Schwestern und drei Brüder), seine zwei Töchter und Angehörige entfernteren Grades halten sich in der Türkei auf und gestalten dort ihr Leben.
Der BF sieht sich im Falle seiner Rückkehr in die Türkei mit keinerlei nachteiligen Konsequenzen konfrontiert, die das Maß des Zumutbaren überschreiten würden. Insbesondere wird er weder Verfolgungshandlungen ausgesetzt sein oder aus anderen Gründen Eingriffe in seine persönlich geschützte Sphäre zu vergegenwärtigen haben noch in eine (wirtschaftlich) auswegslose Lage geraten.
Dem BF ist eine Rückkehr in die Türkei möglich und zumutbar.
1.4. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfügt der BF über kein Aufenthaltsrecht.
Straf- und verwaltungsstrafrechtlich trat der BF bislang nicht negativ in Erscheinung.
Seine Ehe mit römisch 40 (ehem. römisch 40 ) wurde – wie unter Punkt 1.2. festgehalten – von der zuständigen Behörde und dem LVwG Wien als Aufenthaltsehe qualifiziert.
Er verfügt über keine Berechtigung zur Erwerbstätigkeit, geht jedoch dennoch einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nach.
Sein weiterer Aufenthalt ist als Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit zu qualifizieren. Dieser Gefahr ist mit der Verhängung eines (befristeten) Einreiseverbots zu begegnen.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen getroffen:
Politische Lage
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert. Ursache sind v. a. der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, welcher durch Lohnzuwächse und von der Regierung im Vorfeld der Wahlen 2023 beschlossene Wahlgeschenke nicht nachhaltig kompensiert werden konnte, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie möchten fast 82 % das Land verlassen und im Ausland leben. Während die vorhergehende Regierung keinerlei Schritte unternahm, die Unabhängigkeit der Justizbehörden und eine objektive Ausgabenkontrolle wiederherzustellen, versucht die neue Regierung zumindest im wirtschaftlichen Bereich Reformen durchzuführen, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Die Gesellschaft ist – maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdoğan verfolgten spaltenden Identitätspolitik – stark polarisiert. Insbesondere die Endphase des Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 war von gegenseitigen Anschuldigungen und Verbalangriffen und nicht von der Diskussion drängender Probleme geprägt. Selbst die wichtigste gegenwärtige Herausforderung der Türkei, die Bewältigung der Folgen der Erdbebenkatastrophe, trat in den Hintergrund (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 4f.).
Die Opposition versucht, die Regierung durch Kritik am teilweise verspäteten Erdbeben-Krisenmanagement und in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen und förderte die in breiten Bevölkerungsschichten zunehmend migrantenfeindliche Stimmung. Die Gesellschaft bleibt auch, was die irreguläre Migration betrifft, stark polarisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 5; vergleiche EC 8.11.2023, Sitzung 12, 54, WZ 7.5.2023), zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022a, Sitzung 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor und die Künstler in der Türkei, der sich in letzter Zeit darin zeigt, dass immer mehr Konzerte, Festivals und andere kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, weil sie als kritisch oder "unmoralisch" eingestuft wurden, um eine ultrakonservative Agenda durchzusetzen, die mit den Werten der EU unvereinbar ist" (EP 13.9.2023, Pt. 17).
Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 8.11.2023, Sitzung 4, 12; vergleiche EP 13.9.2023, Pt.9, WZ 7.5.2023).
Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, Sitzung 6; vergleiche DE/Aydas 31.12.2022, Güney 1.10.2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, Sitzung 6; vgl.Esen/Gumuscu 19.2.2016).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser implizit negativ auf Demokratie und Grundrechte aus, denn einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumten, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert. Einige dieser Bestimmungen wurden um weitere zwei Jahre verlängert, aber die meisten jener sind im Juli 2022 ausgelaufen (EC 8.11.2023, Sitzung 12). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022a). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR. Der türkische Rechtsrahmen enthält beispielsweise allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 8.11.2023, Sitzung 6).
Das Europäische Parlament kam im September 2023 in Hinblick auf die Beitrittsbemühungen der Türkei zum Schluss, "dass die türkische Regierung kein Interesse daran hat, die anhaltende und wachsende Kluft zwischen der Türkei und der EU in Bezug auf Werte und Standards zu schließen, da die Türkei in den letzten Jahren klar gezeigt hat, dass ihr der politische Wille fehlt, um die notwendigen Reformen durchzuführen, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte und den Schutz und die Inklusion aller ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten" (EP 13.9.2023, Pt. 21).
Das Präsidialsystem
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, Sitzung 5; vergleiche DFAT 10.9.2020, Sitzung 14).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vergleiche HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 1.4.2021, Sitzung 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022a, Sitzung 36). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, Sitzung 20/Pt. 55). In einer weiteren Entschließung vom September 2023 erklärte sich das Europäische Parlament "tief besorgt über die fortwährende übermäßige Machtkonzentration beim türkischen Präsidenten ohne wirksames System von Kontrollen und Gegenkontrollen, durch die die demokratischen Institutionen des Landes erheblich geschwächt wurden; [und] betont, dass die fehlende Eigenständigkeit auf mehreren Verwaltungsebenen aufgrund der extremen Abhängigkeit vom Präsidenten bei allen Arten von Entscheidungen und der Alleinherrschaft eines einzigen Mannes ein dysfunktionales System zur Folge haben kann" (EP 13.9.2023, Pt.20).
Machtfülle des Staatspräsidenten
Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 7). Die gesetzgebende Funktion des Parlaments wird durch die häufige Anwendung von Präsidialdekreten und Präsidialentscheidungen eingeschränkt. Das Fehlen einer wirksamen gegenseitigen Kontrolle und die Unfähigkeit des Parlaments, das Amt des Präsidenten wirksam zu überwachen, führen dazu, dass dessen politische Rechenschaft auf die Zeit der Wahlen beschränkt ist. Die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und die Sicherheitskräfte stehen unter dem starken Einfluss der Exekutive. Die Präsidentschaft übt direkte Autorität über alle wichtigen Institutionen und Regulierungsbehörden aus (EC 8.11.2023, Sitzung 13-15; vgl.EP 19.5.2021, Sitzung 20/ Pt. 55).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Artikel 8,). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 1.4.2021, Sitzung 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, Sitzung 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab der Armee, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, Sitzung 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck und es mangelt ihr an Unabhängigkeit (EC 8.11.2023, Sitzung 10f., 65).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen. - Von Jänner bis Dezember 2022 nahm das Parlament 80 von 749 vorgeschlagenen Gesetzen an. Demgegenüber wurden im selben Zeitraum 273 Präsidialdekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands zu einer Vielzahl von politischen Themen (einschließlich sozioökonomischer Fragen) erlassen wurden, den Parlamentsausschüssen vorgelegt (EC 8.11.2023, Sitzung 13). Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 7) und zwar nur durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 1.4.2021, Sitzung 9). Das Parlament verfügt nicht über die erforderlichen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Ordentliche Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle. Die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Dekrete des Präsidenten jedoch müssen dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt werden (EC 8.11.2023, Sitzung 14).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, Sitzung 14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, Sitzung 20, Pt. 57).
Monitoring des Europarates
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (CoE-PACE 22.4.2021, Sitzung 1; vergleiche EP 19.5.2021, Sitzung 7-14).
Präsidentschaftswahlen
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, Sitzung 7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, Sitzung 4; vgl.PRT 10.3.2023).
Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, Sitzung 1). In der ersten Runde verfehlte Amtsinhaber Erdoğan mit 49,5 % knapp die notwendige absolute Stimmenmehrheit, gefolgt von Kılıçdaroğlu mit 44,9 % und dem Ultranationalist Sinan Oğan mit 5,2 %, der kurz vor der Stichwahl eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgab (Zeit online 22.5.2023).
Die am 28.5.2023 abgehaltene Stichwahl bot laut der internationalen Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Beteiligung von Wahlbeobachtern der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, zwischen echten politischen Alternativen zu wählen. Die Wahlbeteiligung war wie im ersten Wahlgang hoch, doch wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber einen ungerechtfertigten Vorteil. Die Wahlverwaltung hat die Wahl technisch effizient durchgeführt, aber es mangelte ihr weitgehend an Transparenz und Kommunikation. In dem gedämpften, aber dennoch kompetitiven Wahlkampf konnten die Kandidaten ihren Wahlkampf frei gestalten. Die härtere Rhetorik, hetzerische und diskriminierende Äußerungen beider Kandidaten sowie die anhaltende Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien untergruben jedoch den Prozess (OSCE/ODIHR 29.5.2023, Sitzung 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" waren Fake News von Erdoğan. - Dieser zeigte während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; DW 23.5.2023) und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" ARD 28.5.2023; vergleiche DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vergleiche DS 24.5.2023), obgleich er in einem Fernsehinterview sagte, dass es ihm gewissermaßen egal sei, ob das Video manipuliert wurde oder nicht (DW 23.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).
In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, Sitzung 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann. Während Kılıçdaroğlu in den großen Städten, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana, im Südosten (mit seiner mehrheitlich kurdischen Bevölkerung) und den Mittelmeer-Provinzen gewann, dominierte Erdoğan den Rest des Landes, vor allem Zentralanatolien, die Schwarzmeerküste, aber auch vom Erdbeben betroffene Provinzen wie Hatay, Gaziantep, Adıyaman oder Şanlıurfa (AnA 29.5.2023; vergleiche Politico 29.5.2023,taz 10.4.2023).
Das Parlament
Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 Sitzung 6f.).
Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksalliance" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentsitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische İYİ-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vergleiche BBC 22.5.2023). Das Ergebnis wurde am 30.5.2023 mit dem Entscheid des Obersten Wahlrates amtlich (YSK 30.5.2023).
Duvar 18.5.2023
In der neu gewählten Nationalversammlung sitzen zusätzlich Vertreter und Vertreterinnen mehrer Kleinparteien, welche auf den Listen der AKP, der CHP und er YSP standen. So entfallen von den 268 Sitzen der AKP vier auf die kurdisch-islamistische Partei der Freien Sache, Hür Dava Partisi - HÜDA-PAR und ein Sitz auf die Demokratische Linkspartei, Demokratik Sol Parti - DSP. Von den 149 Mandaten der CHP gehören 14 der Partei für Demokratie und Fortschritt, Demokrasi ve Atılım Partisi - DEVA [des ehemaligen Wirtschaftsministers Ali Babacan], zehn der Zukunftspartei, Gelecek Partisi - Gesetzgebungsperiode [des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu] und weitere zehn der islamisch-konservativen Partei der Glückseligkeit, Saadet Partisi -SP und drei der Demokratischen Partie, Demokrat Parti - DP. Über die CHP-Liste bekam die ansonsten eigenständig kandidierende İYİ-Partei zu ihren 43 Sitzen noch einen Sitz dazu. Über die LIsten der Links-Grünen Partei erhielten die Partei der Arbeit, Emek Partisi - EMEP zwei sowie die Partei der Sozialen Freiheit, Toplumsal Özgürlük Partisi - TÖP eines der YSP-Mandate [Anm.: die Zahl der YSP von 63 in der Grafik entspricht nicht jener des amtlichen Wahlresultats von 61 Mandataren] (Duvar 18.5.2023, vergleiche BIRN 19.5.2023), was mit den übrigen 58 YSP die offiziellen 61 Parlamentarier ergibt (BIRN 19.5.2023).
Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei YSP zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vergleiche AJ 11.5.2023).
Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Kampagnenveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, Sitzung 1, 13).
Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt. - Der politische Pluralismus wurde weiterhin dadurch untergraben, dass die Justiz Oppositionsparteien und einzelne Parlamentsabgeordnete, insbesondere der HDP, wegen angeblicher Terrorismusdelikte ins Visier nahm. Das System der parlamentarischen Immunität bietet den Oppositionsabgeordneten keinen ausreichenden Rechtsschutz, um ihre Ansichten innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit zu äußern. Bis zum Ende der 27. Legislaturperiode (2018-2023) belief sich die Gesamtzahl der Abgeordneten, gegen die ein Beschluss über die parlamentarische Immunität und ein Antrag auf Aufhebung ihrer Immunität vorlag, auf 206 (180 von ihnen gehörten der parlamentarischen Opposition an). Allerdings wurde während des Berichtszeitraums der Europäischen Kommission (Juni 2022 - Juni 2023) weder einem bzw. einer Abgeordneten die Immunität entzogen noch wurde er bzw. sie wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Zwei ehemalige HDP-Ko-Vorsitzende und mehrere ehemalige HDP-Abgeordnete befinden sich trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu ihren Gunsten immer noch im Gefängnis [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, Sitzung 13-14); vgl.CoE-PACE 22.4.2021, Sitzung 2f). Drei Abgeordnete der HDP hatten ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus verloren (CoE-PACE 22.4.2021, Sitzung 2f). - Der EGMR hatte am 1.2.2022 entschieden, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der HDP, unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität aufgehoben hatte (BIRN 1.2.2022). - Das Europäische Parlament "missbilligt[e] das gezielte Vorgehen gegen politische Parteien und Mitglieder der Opposition, die zunehmend unter Druck geraten" und "erklärt[e] sich besorgt darüber, dass die Unterdrückung und die Verfolgung der politischen Opposition nach den jüngsten Wahlen aufgrund der schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage des Landes zunehmen werden" (EP 13.9.2023, Pt. 13). Das Verfahren zum Verbot der HDP wegen Terrorismusvorwürfen, einschließlich des Ausschlusses von 451 HDP-Mitglieder von politischer Betätigung sind weiterhin vor dem Verfassungsgericht anhängig [Stand: Februar 2024] (EC 8.11.2023, Sitzung 14).
Die Demokratische Partei der Völker - HDP, die aufgrund des laufenden Schließungsverfahrens vor dem Verfassungsgericht von der Schließung bedroht war, nahm an den Parlamentswahlen vom 14.5.2023 unter den Listen der Links-Grünen Partei - YSP teil. Am 27.8.2023 stellte die HDP auf ihrem vierten außerordentlichen Kongress ihre Aktivitäten ein und beschloss, den politischen Kampf unter dem Dach der YSP fortzusetzen. Die YSP wiederum hielt ihren vierten großen Kongress am 15.10.2023 ab und änderte ihren Namen in Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker - Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi - HEDEP (Bianet 16.10.2023; vergleiche FES 7.12.2023, Sitzung 6). Der Kassationsgerichtshof entschied, die Abkürzung HEDEP nicht zuzulassen, weil sie eine zu große Ähnlichkeit mit der verbotenen Vorgängerpartei HADEP aufwies (FES 7.12.2023; vergleiche Bianet 24.11.2023). Am 11.12.2023 änderte HEDEP ihre Abkürzung in DEM-Partei, nachdem der Kassationsgerichtshof eine Änderung aufgrund der Ähnlichkeit mit der geschlossenen Partei für Volksdemokratie (HADEP) gefordert hatte. Der vollständige neue Name der Partei wurde nicht geändert. Das Wort "Demokratie" im Parteinamen wurde verwendet, um die Abkürzung zu bilden (Duvar 11.12.2023; vergleiche TM 11.12.2023).
Eingriffe in die lokale Demokratie
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, Sitzung 15).
Bis Juni 2023 wurden auf der Basis dieses Dekrets in 65 Gemeinden, die die HDP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hatte, 48 gewählte Bürgermeister durch staatlich bestellte Treuhänder ersetzt, und weitere sechs gewählte Bürgermeister durch Bürgermeister der AK-Partei ersetzt. Seit der ersten Ernennung von Treuhändern im Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister verhaftet und 39 Bürgermeister inhaftiert [arrested]. Sechs HDP-Bürgermeister sitzen weiterhin im Gefängnis [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-Bürgermeister bzw Ko-Bürgermeisterin. - Das gilt ebenso für Führungspositionen in der Partei.] (EC 8.11.2023, Sitzung 19). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, Sitzung 13).
Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt, ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister/ Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Artikel 45,) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).
Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, Sitzung 13). Derzeit befinden sich 5.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 8.11.2023, Sitzung 14).
[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen
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Sicherheitslage
Letzte Änderung 2024-03-07 13:56
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, Sitzung 18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten vornehmlich der Kurden in Nordost-Syrien) in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, Sitzung 4; vgl.USDOS 30.11.2023) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, Sitzung 16; vergleiche USDOS 30.11.2023) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, Sitzung 4). Eine Gesetzesänderung vom Juli 2018 verleiht den Gouverneuren die Befugnis, bestimmte Rechte und Freiheiten für einen Zeitraum von bis zu 15 Tagen zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einzuschränken, eine Befugnis, die zuvor nur im Falle eines ausgerufenen Notstands bestand (OSCE/ODIHR 15.5.2023, Sitzung 5).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vergleiche AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2023, Sitzung 34). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, Sitzung 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, Sitzung 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022a). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage.
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder (MBZ 18.3.2021, Sitzung 12). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 8.11.2023, Sitzung 50). Obschon die Zusammenstöße zwischen dem Militär und der PKK in den ländlichen Gebieten im Osten und Südosten der Türkei ebenfalls stark zurückgegangen sind (HRW 12.1.2023a), kommt es dennoch mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Bergregionen im Südosten des Landes (MBZ 2.3.2022, Sitzung 13). Die Lage im Südosten gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zur Sorge und ist in der Grenzregion präker, insbesondere nach den Erdbeben im Februar 2023. Die türkische Regierung hat zudem grenzüberschreitende Sicherheits- und Militäroperationen im Irak und Syrien durchgeführt, und in den Grenzgebieten besteht ein Sicherheitsrisiko durch terroristische Angriffe der PKK (EC 8.11.2023, Sitzung 4, 18). Allerdings wurde die Fähigkeit der PKK (und der Kurdistan Freiheitsfalken - TAK), in der Türkei zu operieren, durch laufende groß angelegte Anti-Terror-Operationen im kurdischen Südosten sowie durch die allgemein verstärkte Präsenz von Militäreinheiten der Regierung erheblich beeinträchtigt (Crisis 24 24.11.2022). Die Berichte der türkischen Behörden deuten zudem darauf hin, dass die Zahl der PKK-Kämpfer auf türkischem Boden zurückgegangen ist (MBZ 31.8.2023, Sitzung 16).
Gelegentliche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften einerseits und der PKK und mit ihr verbündeten Organisationen andererseits führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 20.3.2023a, Sitzung 3, 29). Die Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vor militärischen Operationen weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet (EDA 2.10.2023), denn die Türkei konzentriert ihre militärische Kampagne gegen die PKK unter anderem mit Drohnenangriffen in der irakischen Region Kurdistan, wo sich PKK-Stützpunkte befinden, und zunehmend im Nordosten Syriens gegen die kurdisch geführten, von den USA und Großbritannien unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (HRW 12.1.2023a). Die türkischen Luftangriffe, die angeblich auf die Bekämpfung der PKK in Syrien und im Irak abzielen, haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert (USDOS 20.3.2023a, Sitzung 29). Umgekehrt sind wiederholt Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 2.10.2023).
NZZ 18.1.2024 (Karte von Ende November 2021)
Zuletzt kam es im Dezember 2023 und Jänner 2024 zu einer Eskalation. - Am 12.1.2024 wurden bei einem Angriff der PKK auf eine türkische Militärbasis im Nordirak neun Soldaten getötet. Ende Dezember 2023 waren bei einer ähnlichen Aktion zwölf Armeeangehörige ums Leben gekommen. Die türkische Regierung berief umgehend einen Krisenstab ein und holte, wie stets in solchen Fällen, zu massiven Vergeltungsschlägen aus. Bis zum 17.1.2024 waren laut Verteidigungsministerium mehr als siebzig Ziele durch Luftangriffe zerstört worden. Die Türkei beschränkte ihre Vergeltungsaktionen nicht auf den kurdischen Nordirak, sondern griff auch Positionen der SDF sowie Infrastruktureinrichtungen im Nordosten Syriens an. Ankara betrachtet die SDF und vor allem deren wichtigste Einheit, die kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten (YPG), als Arm der PKK und somit als Staatsfeind (NZZ 18.1.2024; vergleiche RND 14.1.2024).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2022 407 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten (İHD/HRA 27.9.2023a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum Dezember 18.12.2023 6.875 Tote (4.573 PKK-Kämpfer, 1.454 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.020], aber auch 304 Polizisten und 130 sog. Dorfschützer - 622 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen (ICG 8.1.2024).
Quelle: ICG 8.1.2024
Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 8.11.2023, Sitzung 18). Hierzu bekräftigte das Europäische Parlament im September 2023 neuerlich (nach Juni 2022), "dass die Wiederaufnahme eines verlässlichen politischen Prozesses, bei dem alle relevanten Parteien und demokratischen Kräfte an einen Tisch gebracht werden, dringend erforderlich ist, um sie friedlich beizulegen; [und] fordert die neue türkische Regierung auf, sich durch die Förderung von Dialog und Aussöhnung in diese Richtung zu bewegen" (EP 13.9.2023, Pt. 16).
Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und dem Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak und Hakkâri, besteht erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 10.1.2024; vergleiche EDA 2.10.2023). Zu den türkischen Provinzen mit dem höchsten Potenzial für PKK/TAK-Aktivitäten gehören nebst den genannten auch Bingöl, Diyarbakir, Siirt und Tunceli/Dersim (Crisis 24 24.11.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkâri und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2022) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 20.3.2023a, Sitzung 29).
2022 kam es wieder zu vereinzelten Anschlägen, vermeintlich der PKK, auch in urbanen Zonen. - Bei einem Bombenanschlag in Bursa auf einen Gefängnisbus im April 2022 wurde ein Justizmitarbeiter getötet (SZ 20.4.2022). Dieser tödliche Bombenanschlag, ohne dass sich die PKK unmittelbar dazu bekannte, hatte die Furcht vor einer erneuten Terrorkampagne der PKK aufkommen lassen. Die Anschläge erfolgten zwei Tage, nachdem das türkische Militär seine Offensive gegen PKK-Stützpunkte im Nordirak gestartet hatte (AlMon 20.4.2022). Der damalige Innenminister Soylu sah allerdings die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP), die er als mit der PKK verbunden betrachtet, hinter dem Anschlag von Bursa (HDN 22.4.2022). In der südlichen Provinz Mersin eröffneten zwei PKK-Kämpfer am 26.9.2022 das Feuer auf ein Polizeigebäude, wobei ein Polizist ums Leben kam, und töteten sich anschließend selbst, indem sie Bomben zündeten (YR 30.9.2022; vergleiche ICG 9.2022, AN 28.9.2022). Experten sahen hinter dem Anschlag von Mersin einen wohldurchdachten Plan von ortskundigen PKK-Kämpfern (AN 28.9.2022). Der wohl schwerwiegendste Anschlag ereignete sich am 13.11.2022, als mitten auf der Istiklal-Straße, einer belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, eine Bombe mindestens sechs Menschen tötete und 81 verletzte. Eine mutmaßliche Attentäterin sowie 40 weitere Personen wurden unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen. Die mutmaßliche Attentäterin soll aus der syrischen Stadt Afrin in die Türkei auf illegalem Wege eingereist sein und den Anschlag im Auftrag der syrischen Volksverteidigungseinheiten - YPG verübt haben, die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert. Die Frau soll den türkischen Behörden gestanden haben, dass sie von der PKK trainiert wurde. Die PKK erklärte, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun hätte (DW 14.11.2022; vergleiche HDN 14.11.2022). Die PKK erklärte, dass sie weder direkt auf Zivilisten ziele noch derartige Aktionen billige (AlMon 14.11.2022). Die YPG wies eine Verantwortung für den Anschlag ebenfalls zurück (ANHA 14.11.2022; vergleiche AlMon 14.11.2022). 17 Verdächtige, darunter die mutmaßliche Attentäterin, wurden am 18.11.2022 per Gerichtsbeschluss in Arrest genommen. Den Verdächtigen wurde "Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates", "vorsätzliche Tötung", "vorsätzlicher Mordversuch" und "vorsätzliche Beihilfe zum Mord" vorgeworfen (AnA 18.11.2022). Anfang Oktober 2023 kam es zu einem Bombenanschlag in Ankara. Ein Selbstmordattentäter hatte sich im Zentrum der Hauptstadt in die Luft gesprengt. Ein zweiter Täter wurde nach Angaben des Innenministeriums erschossen. Der Angriff richtete sich gegen den Sitz der Polizei und gegen das Innenministerium, die sich in einem Gebäudekomplex in der Nähe des Parlaments befinden. Bei einem Schusswechsel im Anschluss an die Explosion wurden zwei Polizisten leicht verletzt. Die PKK bekannte sich zu dem Anschlag (DW 1.10.2023a; vergleiche Presse 4.10.2023). Nach dem Anschlag kam es zu landesweiten Polizei-Razzien in 64 Provinzen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 928 Personen wegen illegalen Waffenbesitzes und 90 Personen wegen mutmaßlicher PKK-Mitgliederschaft verhaftet (AJ 3.10.2023). Die Zahl erhöhte sich hernach auf 145 (Alaraby 3.10.2023).
Das türkische Parlament stimmte im Oktober einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP) (die kurzzeitige Nachfolgerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei und inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt wurde) waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vergleiche AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Am 9.2.2023 trat der zwei Tage zuvor von Staatspräsident Erdoğan verkündete Ausnahmezustand nach Bewilligung durch die Regierung zur Beschleunigung der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei für drei Monate in Kraft (BAMF 13.2.2023, Sitzung 12; vergleiche UNHCR 9.2.2023). - Dieser endete im Mai 2023 (JICA 23.8.2023). - Von den Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 sowie Nachbeben, deren Zentrum in der Provinz Kahramanmaras lag, waren 13 Mio. Menschen in zehn Provinzen, darunter Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Hatay, Kilis, Malatya, Osmaniye und Sanliurfa, betroffen (BAMF 13.2.2023, Sitzung 12; vergleiche UNHCR 9.2.2023). Die Behörden hatten auf zentraler und provinzieller Ebene den Katastrophenschutzplan (TAMP) aktiviert. Für das Land wurde der Notstand der Stufe 4 ausgerufen, was einen Aufruf zur internationalen Hilfe nach sich zog, die sich zunächst auf Unterstützung bei der Suche und Rettung konzentrierte (UNHCR 9.2.2023).
Ebenfalls am 9.2.2023 verkündete der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK [Anm.: Die Union der Gemeinschaften Kurdistans - Koma Civakên Kurdistan ist die kurdische Dachorganisation unter Führung der PKK.], Cemil Bayık, angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syriens via der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF News einen einseitigen Waffenstillstand: "Wir rufen alle unsere Streitkräfte, die Militäraktionen durchführen, auf, alle Militäraktionen in der Türkei, in Großstädten und Städten einzustellen. Darüber hinaus haben wir beschlossen, keine Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, der türkische Staat greift uns an. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind" (ANF 9.2.2023; vergleiche FR24 10.2.2023). Nachdem die PKK im Februar 2023 angesichts des Erdbebens zugesagt hatte, "militärische Aktionen in der Türkei einzustellen", behaupteten türkische Sicherheitskräfte, im März in den Provinzen Mardin, Tunceli, Şırnak, Şanlıurfa und Konya zahlreiche PKK-Kämpfer getötet und gefangen genommen zu haben (ICG 3.2023). Obschon sich die PKK Ende März 2023 erneut zu einem einseitigen Waffenstillstand bis zu den Wahlen am 14. Mai verpflichtet hatte, führte das Militär Operationen in den Provinzen Van, Iğdır, Şırnak und Diyarbakır sowie in Nordsyrien und Irak durch (ICG 4.2023). - Die PKK verkündete, die neuen Angriffswellen der türkischen Sicherheitskräfte beklagend, Mitte Juni 2023 das Ende ihres einseitigen Waffenstillstands (SBN 14.6.2023; vergleiche ANF 14.6.2023).
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Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2024-03-07 13:55
Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 38; vergleiche EC 8.11.2023, Sitzung 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 38). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkte die Regierung unter Beeinträchtigung Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023a, Sitzung 1, 21; vergleiche ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 38).
Die bestehenden türkischen Rechtsvorschriften für die Achtung der Menschen- und Grundrechte und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden. Es wurden keine Gesetzesänderungen verabschiedet, um die verbleibenden Elemente der Notstandsgesetze von 2016 aufzuheben (Stand Nov. 2023). Die Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile des EGMR umzusetzen, gibt der Europäischen Kommission Anlass zur Sorge hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Türkei hat das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2022, das im Rahmen des vom Ministerkomitee gegen die Türkei eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens erging, nicht umgesetzt, was darauf hindeutet, dass die Türkei sich von den Standards für Menschenrechte und Grundfreiheiten, die sie als Mitglied des Europarats unterzeichnet hat, entfernt hat. Die Umsetzung des im Jahr 2021 angenommenen Aktionsplans für Menschenrechte wurde zwar fortgesetzt, kritische Punkte wurden jedoch nicht angegangen. - Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, Sitzung 6, 28). Obgleich die EMRK aufgrund Artikel 90, der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, Sitzung 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, Sitzung 10).
Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören: willkürliche Tötungen; verdächtige Todesfälle von Personen im Gewahrsam der Behörden; erzwungenes Verschwinden; Folter; willkürliche Verhaftung und fortgesetzte Inhaftierung von Zehntausenden von Personen, einschließlich Oppositionspolitikern und ehemaligen Parlamentariern, Rechtsanwälten, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher Verbindungen zu "terroristischen" Gruppen oder aufgrund legitimer Meinungsäußerung; politische Gefangene, einschließlich gewählter Amtsträger; grenzüberschreitende Repressalien gegen Personen außerhalb des Landes, einschließlich Entführungen und Überstellungen mutmaßlicher Mitglieder der Gülen-Bewegung ohne angemessene Garantien für ein faires Verfahren; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, einschließlich Gewalt und Gewaltandrohung gegen Journalisten, Schließung von Medien und Verhaftung oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Personen wegen Kritik an der Regierungspolitik oder an Amtsträgern; Zensur; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze bezüglich der staatlichen Aufsicht über nicht-staatliche Organisationen (NGOs); Restriktionen der Bewegungsfreiheit; Zurückweisung von Flüchtlingen; schwerwiegende Schikanen der Regierung gegenüber inländischen Menschenrechtsorganisationen; fehlende Ermittlungen und Rechenschaftspflicht bei geschlechtsspezifischer Gewalt; Gewaltverbrechen gegen Mitglieder ethnischer, religiöser und sexueller [LGBTQI+] Minderheiten (USDOS 20.3.2023a, Sitzung 1f., 96; vergleiche AI 28.3.2023, EEAS 30.3.2022, Sitzung 16f.). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 20.3.2023a, Sitzung 1f., 96; vergleiche ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 39).
Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (Rat der EU 14.12.2021b, Sitzung 16, Pt. 34). Zuletzt zeigte sich (nach Mai 2022) das Europäische Parlament im September 2023 "nach wie vor besorgt über die schwerwiegenden Einschränkungen der Grundfreiheiten – insbesondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, für die das Gezi-Verfahren symbolhaft ist – und die anhaltenden Angriffe auf die Grundrechte von Mitgliedern der Opposition, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Gewerkschaftern, Angehörigen von Minderheiten, Journalisten, Wissenschaftlern und Aktivisten der Zivilgesellschaft, unter anderem durch juristische und administrative Schikanen, willkürliche Anwendung von Antiterrorgesetzen, Stigmatisierung und Auflösung von Vereinigungen" (EP 13.9.2023, Pt. 10).
Mit Stand 30.11.2023 waren 23.750 (30.11.2022: 20.300) Verfahren aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 33,2 % (2022: 26,8 %) aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 12.2023; ECHR 12.2022), was neuerlich eine Steigerung bedeutet. Im Jahr 2024 stellte der EGMR für das Jahr 2023 in 72 Fällen (von 78) Verletzungen der EMRK fest. Die meisten Fälle, nämlich 17, betrafen das Recht auf ein faires Verfahren, gefolgt vom Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), dem Versammlung- und Vereinigungsrecht (16), dem Recht auf Familien- und Privatleben (15) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (10) (ECHR 1.2024).
Das Recht auf Leben
Die auf Gewalt basierende Politik der Staatsmacht sowohl im Inland als auch im Ausland ist die Hauptursache für die Verletzung des Rechts auf Leben im Jahr 2021. Die Verletzungen des Rechts auf Leben beschränken sich jedoch nicht auf diejenigen, die von den Sicherheitskräften des Staates begangen werden. Dazu gehören auch Verletzungen, die dadurch entstehen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, von Dritten begangene Verletzungen zu "verhindern" und seine Bürger vor solchen Vorfällen zu "schützen" (İHD/HRA 6.11.2022b, Sitzung 9).
Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, Sitzung 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, Sitzung 33).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022b).
Siehe hierzu insbesondere die Kapitel bzw. Subkapitel: Sicherheitslage, Folter und unmenschliche Behandlung sowie Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland.
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Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung 2024-03-07 13:54
Artikel 23, der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 13; vergleiche USDOS 20.3.2023a, Sitzung 57). So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 10.3.2023, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 7; vergleiche USDOS 20.3.2023a, Sitzung 57).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, Sitzung 23, 26).
Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, Sitzung 27f.; vgl.ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 13). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, Sitzung 27). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Und Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vergleiche Duvar 26.12.2022). Und vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023).
Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 13). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit online 16.11.2023).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, Sitzung 27f).
Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 20.3.2023a, Sitzung 57f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vergleiche USDOS 13.3.2019). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vergleiche USDOS 30.3.2021, Sitzung 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, Sitzung 45).
Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Quellen
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Duvar - Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256, Zugriff 18.1.2024;
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Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung 2024-03-07 13:56
Das Wirtschaftswachstum könnte sich 2024 infolge der strafferen Geldpolitik laut Internationalem Währungsfonds auf 3 % abschwächen, verglichen mit rund 4 % im Jahr 2023 und 5,5 % im Jahr 2022 (GTAI 12.12.2023a). Getragen von privatem Verbrauch und Staatsausgaben haben Wahlkampfgeschenke, Lohn- und Pensionssteigerungen, Frühpensionierungen und günstige Kredite das Wachstum angetrieben. Die türkische Wirtschaft profitiert zudem davon, dass viele Unternehmen aus der EU in die Türkei ausweichen, um das verlorene Geschäft mit Russland bzw. der Ukraine auszugleichen (WKO 10.2023, Sitzung 4).
Bis zu den Mai-Wahlen 2023 verfolgte Staatspräsident Erdoğan trotz horrender Inflation eine Niedrigzinspolitik, die kurzfristig die Exporte und den Konsum anregte. Dies befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira, die in der Folge staatlich gestützt wurde. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen sind hoch. Instabile Rahmenbedingungen haben das Vertrauen der Investoren erschüttert. Nach den Wahlen im Frühjahr 2023 vollzog das Land einen Kurswechsel hin zu einer restriktiveren Geldpolitik. Der Leitzins wurde bis Ende November 2023 schrittweise von 8,5 auf 40 % erhöht. Infolgedessen wird für 2024 ein Abschwächen des Wirtschaftswachstums erwartet. Weitere Herausforderungen sind eine hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende geo- und innenpolitische Spannungen, aber auch hausgemachte Probleme (GTAI 12.12.2023b).
Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Die Leitzinserhöhungen könnten mittelfristig den Konsum dämpfen. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung, Grundstücke oder Immobilien (GTAI 12.12.2023b). Zu den größten Preistreibern zählen derzeit die Sektoren Hotellerie und Gastronomie, Gesundheit, Lebensmittel, nicht-alkoholische Getränke und Transport (WKO 10.2023, Sitzung 5). Die seit Juli 2023 wieder steigende offizielle Inflationsrate betrug für das gesamte Jahr 2023 offiziell 64,77 %. Laut Berechnungen der Forschungsgruppe für Inflation (ENAGrup) stieg der Verbraucherpreisindex für denselben Zeitraum jedoch um 127,21 % (Duvar 3.1.2024a, vergleiche ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 4, 52). Die offizielle saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist nach einem Höchststand von 14,2 % im Juli 2020 rückläufig und erreichte im August 2023 mit 9,2 % einen Tiefststand. Neben der hohen Jugendarbeitslosigkeit von 17,2 % bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit von 20,8 % ein Problem (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 4, 52). Die offizielle saisonbereinigte Erwerbsquote lag im November 2023 bei 52,9 %. Die Erwerbsquote lag bei den Männern mit 70,7 % fast doppelt so hoch wie bei den Frauen mit lediglich 35,5 % (TUIK 10.1.2024b).
Eine immer größere Abwanderung junger, desillusionierter Türken, die sagen, dass sie ihr Land vorerst aufgegeben haben, zeichnet sich ab (FP 27.1.2023). Eine Umfrage der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung unter 2.140 Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren (Erhebungszeitraum: Dezember 2022 - Jänner 2023) ergab, dass angesichts der wirtschaftlichen Stagnation 63 % der Befragten bereit sind die Türkei zu verlassen, sofern es die Möglichkeit dazu gebe. 2021 waren es sogar 72,9 % (KAS 1.6.2023). Und auch im Oktober 2023 gaben 39,1 % aller Türken und Türkinnen laut einer Umfrage von MetroPOLL Research an, dass sie gerne in einem anderen Land leben würden. Merklich höher lagen die Werte bei Anhängern der Opposition (Duvar 29.10.2023).
Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme-WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vergleiche Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).
Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 %, gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch. Im Jahr 2022 beliefen sich die Sozialhilfezahlungen auf 151,9 Milliarden Lira oder 1,01 % des BIP (EC 8.11.2023, Sitzung 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) betrug nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers offiziell 0,415 im Jahr 2022, der höchste Wert der letzten zehn Jahre (TUIK 4.5.2023) [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].
Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2023 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 47.000 Lira (rund 1.400 Euro). - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende Dezember 2023 bei 14.431 Lira (rund 440 Euro) (Duvar 3.1.2024b). Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KAMU-AR gab gegen Ende 2024 bereits eine weitere Steigerung an. - Demnach lag die Hungergrenze bei 17.442 und die Armutsgrenze bereits bei 48.559 Lira (TM 25.1.2024).
Nach einer Erhöhung des Mindestlohns um 55 % im Jänner 2023 wurde dieser mit Juli 2023 auf 11.400 Lira netto (rund 440 Euro) erhöht, eine Steigerung von 34 %. Die Steigerung lag jedoch immer noch unter der offiziellen Inflationsrate, welche im Mai 2023 fast 40 % betrug. Laut unabhängigen Experten belief sich die Preissteigerung bei Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs bei mehr als 100 %. 40 % beträgt der Anteil der Bevölkerung, der vom Mindestlohn lebt. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die oben erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 23.6.2023). Ende Dezember 2023 kündigte die Regierung eine weitere Erhöhung des Netto-Mindestlohns um 49 % auf rund 17.000 Lira (rund 520 Euro) an, denn seit Juni 2023 bzw. der letzten Erhöhung hatte der Mindestlohn circa 88 Euro an Wert eingebüßt (Duvar 27.12.2023; vergleiche WKO 29.12.2023). Anders als für 2023 schloss Staatspräsident Erdoğan eine zweite Anpassung im Jahr 2024 aus (Duvar 27.12.2023).
Laut dem türkischen Arbeitnehmerbund betragen aber die durchschnittlichen Lebenserhaltungskosten einer Familie mit zwei Kindern im Mittel 25.365 Lira, und die Lebenserhaltungskosten für eine einzelne Person machen 10.170 Lira aus. Diese Zahlen variieren jedoch auch stark nach dem Standort. In Metropolen wie Istanbul, Ankara oder Izmir sind die erwähnten Zahlen weniger realistisch, da hier die Lebenshaltungskosten noch höher geschätzt werden (WKO 10.3.2023).
Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befindet sich mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023).
Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2021 lediglich 10,8 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 52). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 52).
Quellen
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Duvar - Duvar (3.1.2024b): Turkey’s poverty threshold hits nearly three times of new minimum wage, https://www.duvarenglish.com/turkeys-poverty-threshold-hits-nearly-three-times-of-new-minimum-wage-news-63595, Zugriff 31.1.2024;
Duvar - Duvar (27.12.2023): Turkey increases minimum wage by 49 percent to $578, https://www.duvarenglish.com/turkey-increases-minimum-wage-by-49-percent-to-578-news-63558, Zugriff 9.1.2024;
Duvar - Duvar (29.10.2023): Four out of ten people in Turkey want to live abroad: Survey, https://www.duvarenglish.com/four-out-of-ten-people-in-turkey-want-to-live-abroad-survey-news-63229, Zugriff 8.11.2023;
Duvar - Duvar (7.6.2022): 14.8 million people in Turkey suffer from undernourishment: UN report, https://www.duvarenglish.com/148-million-people-in-turkey-suffer-from-undernourishment-un-report-news-60908, Zugriff 8.11.2023;
EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696%20T%C3%BCrkiye%20report.pdf, Zugriff 9.11.2023;
FP - Foreign Policy (27.1.2023): Erdogan’s Turkey Faces a Growing Exodus Ahead of Elections, https://foreignpolicy.com/2023/01/27/turkey-elections-erdogan-exodus-population-migration/, Zugriff 8.11.2023;
GCT - Greek City Times (8.6.2022): Malnutrition in Turkey explodes as Erdoğan escalates war rhetoric against Greece, https://greekcitytimes.com/2022/06/08/malnutrition-in-turkey-erdogan/, Zugriff 8.11.2023;
GTAI - Germany Trade and Invest (12.12.2023a): Türkei kämpft mit neuer Geldpolitik gegen die Krise, https://www.gtai.de/de/trade/tuerkei/wirtschaftsumfeld/tuerkei-kaempft-mit-neuer-geldpolitik-gegen-die-krise-247908#toc-anchor--3, Zugriff 24.1.2024;
GTAI - Germany Trade and Invest (12.12.2023b): Türkei kämpft mit neuer Geldpolitik gegen die Krise, https://www.gtai.de/de/trade/tuerkei/wirtschaftsumfeld/tuerkei-kaempft-mit-neuer-geldpolitik-gegen-die-krise-247908#toc-anchor--3, Zugriff 10.1.2024;
KAS - Konrad-Adenauer-Stiftung (1.6.2023): Jugendstudie Türkei 2023, https://www.kas.de/de/web/tuerkei/publikationen/einzeltitel/-/content/tuerkische-jugendstudie-2023, Zugriff 8.11.2023;
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TM - Turkish Minute (25.1.2024): Hunger line surpasses Turkey’s 2024 minimum wage in January: union - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/01/25/hunger-line-surpass-turkey-2024-minimum-wage-in-january-union, Zugriff 31.1.2024;
TM - Turkish Minute (8.6.2022): 90 percent of Turks struggling to make ends meet amid economic crisis: poll, https://www.turkishminute.com/2022/06/08/rcent-of-turks-struggling-to-make-ends-meet-amid-economic-crisis-poll/, Zugriff 7.11.2023;
TM - Turkish Minute (7.6.2022): 14.8 million Turks suffer from insufficient food consumption, UN data show, https://www.turkishminute.com/2022/06/07/illion-turks-suffer-from-insufficient-food-consumption-un-data-show/, Zugriff 8.11.2023;
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (10.1.2024b): TÜIK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Labour-Force-Statistics-November-2023-49378, Zugriff 10.1.2024;
TUIK - Turkish Statistical Institute [Türkei] (4.5.2023): TÜIK Kurumsal, https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Income-Distribution-Statistics-2022-49745, Zugriff 10.1.2024;
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (29.12.2023): Türkei: Mindestlohnerhöhung um 49 % ab 1.1.2024, https://www.wko.at/aussenwirtschaft/tuerkei-mindestlohnerhoehung, Zugriff 10.1.2024;
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.2023): Außenwirtschaft Wirtschaftsbericht Türkei, https://www.wko.at/oe/aussenwirtschaft/tuerkei-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 8.11.2023;
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (23.6.2023): Mindestlohn ab 1.7.2023 um 34 % höher, https://www.wko.at/aussenwirtschaft/mindestlohn-tuerkei, Zugriff 8.11.2023;
WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.3.2023): Mindestlohn ab 1.1.2023 um 55 % höher - Lebenshaltungskosten steigen weiter, http://web.archive.org/web/20230401112003/https:/www.wko.at/service/aussenwirtschaft/mindestlohn-ab-2023-55-prozent-hoeher.html, Zugriff 8.11.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
Sozialbeihilfen / -versicherung
Letzte Änderung 2024-03-07 12:08
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, Sitzung 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, Sitzung 21).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle Stand: Nov. 2023): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 türkische Lira (TL) für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 350 TL, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 3.800 TL nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 520 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 1.200 TL und 1.800 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 5.089 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hatte 2023 monatlich Anspruch auf 2.250 TL aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt 23.308 TL, ansonsten 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 53).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_B3richt_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 6.11.2022 [Login erforderlich];
[SGK 2016]
SSA - Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html, Zugriff 7.11.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung 2024-03-07 13:55
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D..; vergleiche ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 51).
Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 8.2022; vergleiche ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 53., İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 53).
Für das Jahr 2024 gab das türkische Arbeitsamt an, dass das Mindest-Arbeitslosengeld 7.940 TL (ca. 242 Euro, berechnet am 10.1.2024) und das Maximum an Arbeitslosenunterstützung 15.880 TL (ca. 484 Euro) betragen wird. Hierbei gilt generell die Bestimmung, wonach das maximale Arbeitslosengeld 80 % des Brutto-Mindestlohns nicht überschreiten darf, welcher für 2024 mit 20.002 TL (ca. 610 Euro) festgesetzt wurde (İŞKUR o.D.).
Quellen
IOM - International Organization for Migration (8.2022): Länderinformationsblatt Türkei 2022, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202022%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf, Zugriff 6.11.2023;
IOM - International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf, Zugriff 7.11.2023;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
İŞKUR - Turkish Employment Agency (Türkiye İş Kurumu) [Turkey] (o.D.): Unemployment Benefit, https://www.iskur.gov.tr/en/job-seeker/unemployment-insurance/unemployment-benefit/, Zugriff 10.1.2024;
Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-07 13:53
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, Sitzung 49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, Sitzung 27).
Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 40). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 24.2.2023).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, Sitzung 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 10.1.2024). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, Sitzung 52; vergleiche AA 10.1.2024). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z.B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 10.1.2024). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vergleiche Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 10.1.2024).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 13f.).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 50). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50; vergleiche ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 40). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraph 3, des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem, u. a. mit Syrien und der Ukraine, ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 57). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50; vergleiche MBZ 18.3.2021, Sitzung 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, Sitzung 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2023; vergleiche USDOS 20.3.2023a, Sitzung 25). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2023).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
● Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
● Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/
● TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 52).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Artikel 4, des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50).
Gemäß Artikel 8, des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Artikel 9,). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Artikel 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Artikel 9,). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Artikel 11 /, eins,). Artikel 13, des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 51). Artikel 16, sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Artikel 19, des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).
Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, Sitzung 88).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (10.1.2024): Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962, Zugriff 11.1.2024;
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff 31.10.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 8.9.2023 [Login erforderlich];
CoE-VC - Council of Europe - Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf, Zugriff 11.1.2024;
DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 6.12.2023;
EU - Europäische Union (24.2.2023): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 24. Februar 2023, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2022/1241, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32023D0422&qid=1680857637258&from=DE, Zugriff 11.1.2024;
Independent - Independent, The (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1, Zugriff 10.1.2024;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august-2023/General+COI+report+Turkiye+%28August+2023%29.pdf, Zugriff 13.11.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich];
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf, Zugriff 29.11.2023 [Login erforderlich];
SCF - Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/, Zugriff 11.1.2024;
TRMFA - Republic of Turkey - Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (2022): PKK, https://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa, Zugriff 11.1.2024 [Login erforderlich];
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023a): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU%CC%88RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 29.9.2023;
VB - Verbindungsbeamte des BMI in Ankara/Istanbul [Österreich] (1.3.2023): Auskunft des Büros des ÖB Militärattachés, Antwort per E-Mail;
ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Türkei] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Türkei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_%C3%96B+Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich];
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt der bB, den Beschwerdeschriftsatz sowie die damit vorgelegten Beweismittel, die Berücksichtigung der beschwerdeführerseitigen Stellungnahme vom 07.03.2024, die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks des BF im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 27.03.2024, die Anhörung diverser namaft gemachter Zeugen im Rahmen obgenannter Beschwerdeverhandlung, nämlich römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , Mag. römisch 40 sowie römisch 40 , die Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister, dem Sozialversicherungsauszug und dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister und im Wege der Einsichtnahme in die vom BVwG in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquelle betreffend die Lage im Herkunftsstaat des BF, nämlich das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei vom 07.03.2024.
Der BF stellte im Verfahren vor dem BVwG keine über die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die Einvernahme diverser Zeugen hinausgehenden Beweisanträge. Auf die Anhörung der namhaft gemachten Zeugin römisch 40 wurde zu Ende der mündlichen Beschwerdeverhandlung ausdrücklich verzichtet, den anderen Beweisanträge wurde vollinhaltlich entsprochen.
2.2. Die Personendaten des BF sowie sein Gesundheitszustand sind zweifelsohne aus seinen persönlichen Angaben abzuleiten. Zweifel daran bestehen nicht und konnten diese sohin den gerichtlichen Feststellungen zugrundegelegt werden.
Das Bestehen einer Meldeadresse seit dem 20.11.2013 ergibt sich aus einer Einsichtnahme ins ZMR. Den dem widersprechenden Angaben des BF, welcher angab, seit 2015 durchgehend in Österreich aufhältig zu sein, war demgegenüber weniger Gewicht einzuräumen, sodass die diesbezügliche Feststellung entgegen seiner eigenen Ausführungen zu treffen war.
Die Feststellungen zum Zeitraum der Ehe des BF mit römisch 40 (ehem. römisch 40 ) sowie der Qualifikation als Aufenthaltsehe beruhen auf dem diesbezüglich prinzipiell unwidersprochenen Verfahrensakt, insbesondere den im Akt aufliegenden Entscheidungen des Amts der Wiener Landesregierung vom 14.08.2019, Zl. römisch 40 , des LVwG Wien vom 24.06.2020, Zl. römisch 40 , sowie des VwGH vom 19.10.2022, römisch 40 . Zwar traten sowohl der BF als auch die einvernommenen Zeugen – insoweit sie eigene Wahrnehmungen geltend machen konnten – diesen Entscheidungen entgegen, jedoch fühlt sich der erkennende Richter einerseits an diese rechtskräftigen behördlichen bzw. verwaltungs(höchst)gerichtlichen Entscheidungen gebunden (siehe hiezu Näheres unter Punkt 2.4.), andererseits sticht bei Inaugenscheinnahme der – vollständig im Akt aufliegenden – schriftlichen Ausfertigungen ins Auge, dass die Entscheidungen überaus ausführlich und schlüssig begründet sind und diesen ein erheblicher Ermittlungsaufwand, insbesondere im Hinblick auf die Anhörung diverser Zeugen, zugrundelag, sohin keinesfalls leichtfertig gegen die Interessen des BF entschieden wurde (was aber auch nichts an der gegebenen Bindungswirkung ändern würde); nach Studium der detaillierten Beweiswürdigung des Erkenntnisses des LVwG Wien kommt das BVwG zum Schluss, dass das Verwaltungsgericht schlichtweg zu keinem anderen Ergebnis als zum Vorliegen einer Aufenthaltsehe hat kommen können. Das erkennende Gericht hat sohin einerseits von einer Aufenthaltsehe auszugehen, andererseits ist der Richter aber auch von der Richtigkeit der vom BF und von den Zeugen in Zweifel gezogenen Entscheidungen überzeugt.
Dass der BF über einen Bruder, mit welchem er in beruflicher Hinsicht zusammenarbeitet, und einen Neffen, mit welchem er eine Wohngemeinschaft bildet, in Österreich verfügt, war zweifelsfrei aus den Angaben des BF, der damit in Einklang stehenden Zeugenaussagen der beiden Bezugspersonen sowie der im Akt aufliegenden Beweismittel, konkret dem ZMR-Auszug und dem Sozialversicherungsdatenauszug, in welchen die genannten Angehörigen als Unterkunft- bzw. Dienstgeber angeführt werden, abzuleiten. Ebenso entspricht es den Angaben des BF, dass in anderen Mitgliedsstatten der Europäischen Union lediglich entfernte Verwandte seiner Person niedergelassen sind.
Das Vorhandensein eines Bekanntenkreises im Inland war angesichts der Anhörung diverser Zeugen, die – zumindest teilweise - in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis zum BF stehen, sowie der Vorlage von insgesamt 19 Referenzschreiben prinzipiell nachvollziehbar. Einzuschränken ist dies dahingehend, dass der als Zeuge einvernommene römisch 40 (glaubhaft und nachvollziehbar) angab, Kunde des BF zu sein und ein Bekanntschaftsverhältnis zu diesem zu pflegen, welches sich dadurch auszeichnet, dass man sich fallweise privat, beispielsweise zum gemeinsamen Kaffeetrinken, trifft, eine enge Freundschaft aber nicht besteht. Die Ausreise des BF wäre für den Zeugen sehr schwierig, was er damit begründete, der BF sei sein persönlicher Friseur und er könne sich nicht vorstellen, die Dienste eines anderen Friseurs in Anspruch zu nehmen. Auch Mag. römisch 40 führte als Zeuge unter Wahrheitspflicht vom Rechtsvertreter befragt, ob der BF sich gedanklich, kulturell und persönlich in Österreich integriert habe, an, er könne dies nicht beantworten, da er zum BF außerhalb des Barbershops keine intensivere persönliche Beziehung pflege. Damit korreliert, dass von 19 Referenzschreiben 16 offensichtlich von (zufriedenen) Kunden des BF stammen, die jedoch - abzuleiten aus den Formulierungen, welche primär (und teils weitwendig) berufliche Eigenschaften des BF hervorheben, aber bloß (wenn überhaupt) in wenigen Worten floskel- und schemenhaft allgemeine positive persönliche Charakterzüge wie „freundlich“, „sympathisch“ und „höflich“ benennen - keinen über das Verhältnis zwischen Dienstleister und Kunde hinausgehenden persönlichen Nahebezug zum BF erkennen lassen. Auch die drei anderen Schreiben - eines davon von einem Arbeitskollegen stammend, die beiden anderen nicht mit absoluter Sicherheit dem Kundenstock des BF zuordenbar – sind außerordentlich allgemein gehalten. Sohin kann weder aus den Zeugenaussagen noch aus den Referenzschreiben geschlossen werden, dass der BF sich einen maßgeblichen Freundeskreis außerhalb des familiären Umfelds in Österreich geschaffen hätte, zweifelsohne hat er aber einen gewissen Bekanntenkreis aufgebaut. Dass die Zeugen sowie die Verfasser der Referenzschreiben sich im Allgemeinen für eine Fortsetzung des Aufenthalts des BF im österreichischen Bundesgebiet ausgesprochen haben, wird dabei nicht außer Acht gelassen, dies vermag jedoch weder an der Einschätzung des erkennenden Richters im konkreten Einzelfall noch am Ergebnis etwas zu Gunsten des BF zu ändern.
Zur Festststellung, der BF befinde sich nicht in einer Beziehung, gelangte der erkennde Richter bei Berücksichtigung der eigenen Ausführungen des BF in Verbindung mit der Aussage der Zeugin römisch 40 . So führte der BF zunächst, in diese Richtung befragt, aus, „Ja, es gibt eine Beziehung, die so ist, als ob es die Beziehung nicht gäbe.“, um dann, um konkrete Beantwortung ersucht, anzugeben, er führe offiziell eine Beziehung. Befragt nach den Personendaten seiner Freundin legte er Folgendes dar:
„Sie heißt römisch 40 , anfangs war es eine Freundschaft und das hat sich fortgebildet. Nachgefragt gebe ich an, dass wir darüber nicht gesprochen haben, wann sie geboren wurde. Nachgefragt gebe ich an, dass römisch 40 die österreichische Staatsbürgerschaft hat. Nachgefragt gebe ich an, dass ich mit ihr seit viereinhalb Jahren zusammen bin. In der Zwischenzeit haben wir uns 1 Jahr lang getrennt. Wir haben uns vor viereinhalb Jahren kennengelernt, dann waren wir eine Zeitlang Freunde. 1 Jahr standen wir uns fern. Dann haben wir uns wieder befreundet und es geht jetzt so weiter. Nachgefragt, sie ist nicht schwanger.“
Bezug nahm der BF dabei offensichtlich auf die als Zeugin einvernommene römisch 40 , welche ihre Beziehung zum BF jedoch grob abweichend schilderte, indem sie sinngemäß angab, sie kenne den BF seit viereinhalb Jahren und treffe ihn regelmäßig, und weiters zu erkennen gab, dass sie den BF sehr schätzen würde und einer künftigen Beziehung nicht abgeneigt wäre (arg. „[…] Vielleicht ergibt sich was mit ihm, weil ich habe ihn sehr gerne.“); von einer – wie vom BF dargestellten – aufrechten Beziehung zwischen ihm und der Zeugin kann jedoch ganz offensichtlich keine Rede sein, was – insbesondere in Zusammenschau mit der rechtskräftigen Feststellung einer zuvor eingegangenen Aufenthaltsehe - nachteilige Schlüsse auf die Wahrheitsliebe des BF, der offenkundig versuchte, das erkennende Gericht durch fehlerhafte Darstellung seines Beziehungslebens zu einer für ihn günstigeren Entscheidung zu veranlassen, zulässt.
Eine Vereinsmitgliedschaft oder ehrenamtliche Betätigung ergab sich im Verfahren nicht.
Die Feststellungen zur Berufstätigkeit des BF waren seinen Angaben und insbesondere dem aktuellen Sozialversicherungsdatenauszug zu entnehmen. Anzumerken ist diesbezüglich, dass der erkennende Richter – übereinstimmend mit den Ausführungen des bekämpften Bescheides – nicht davon ausgeht, dass der BF tatsächlich legal in Österreich arbeiten darf. Dies deshalb, weil ihm sämtliche Aufenthaltstitel rückwirkend im Rahmen einer Wiederaufnahme des Verfahrens durch das Amt der Wiener Landesregierung entzogen wurden, eine Beschäftigungsbewilligung weder aktenkundig ist noch nach hg. Rechtsansicht die Voraussetzungen (Paragraphen 4, Absatz eins,, 4c AuslBG) für eine solche vorliegen und der BF sich darüberhinaus unrechtmäßig im österreichischen Bundesgebiet aufhält. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang, dass im Beschwerdeschriftsatz zwar zahlreiche Feststellungen der bB aufgegriffen und kritisiert werden, der expliziten behördlichen Feststellung, der BF gehe einer illegalen Erwerbstätigkeit nach, jedoch nicht entgegengetreten wurde, sondern vielmehr wiederholt darauf hingewiesen wurde, der BF arbeite, ohne jedoch die Legalität oder Illegalität der Beschäftigung zu thematisieren.
Dass der BF über ein Deutschzertifikat auf dem Niveau A2 verfügt, entspricht seinen eigenen Angaben und erschließt sich dies auch aus dem Verfahrensakt der bB, in welchem ein Prüfungszeugnis Deutsch-Test für Österreich des ÖIF vom 22.02.2016 aufliegt. Von der mangelnden Kommunikationsfähigkeit des BF konnte sich der erkennende Richter selbst überzeugen:
„RI: Die folgende Frage wird (ohne Dolmetscher) auf Deutsch gestellt und die Antwort wortwörtlich protokolliert:
RI: „Sprechen Sie Deutsch?“
BF: Bisschen.
RI: „Mit wem unterhalten Sie sich auf Deutsch?“
BF: Mit wem?
RI: Frage wird wiederholt.
BF: Auf Türkisch: Das habe ich nicht verstanden.
RI: „Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?“
BF: Freizeit...in der Woche 2 Tage.
RI: „Bitte stellen Sie sich in deutscher Sprache selbst vor.“
BF: Auf Türkisch: Hier fällt es mir schwer, zu sprechen, wobei ich draußen mir leichter tue.
Die weitere Befragung erfolgt wieder mit Dolmetscher.“
Dem einvernommenen Zeugen Mag. römisch 40 soll, insbesondere angesichts seines glaubwürdigen und authentischen Auftretens, nicht unterstellt werden, im Bezug auf die Deutschkenntnisse des BF bewusst falsch ausgesagt zu haben, jedoch erschließt sich dem erkennenden Richter nicht, inwiefern ein substantielles Gespräch mit dem BF in deutscher Sprache möglich sein sollte. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass der BF in der Verhandlungssituation unsicher war. Dass daraus der vollständige Verlust einer prinzipiell beherrschten Sprache resultiert, erscheint dem erkennenden Richter bei Berücksichtigung seiner bisherigen Erfahrungen jedoch nicht lebensnah und waren folglich – entgegen der entsprechenden zeugenschaftlichen Ausführungen sowie des Vorbringens des BF bzw. seines Rechtsvertreters - die entsprechenden Feststellungen zu treffen. Darauf, dass sich der BF nunmehr seit über zehn Jahren in Österreich aufhält und sich eine nennenswerte Eigenmotivation im Hinblick auf den Spracherwerb angesichts der Faktenlage nicht aufdrängt, wird hingewiesen.
Insgesamt gewann der erkennende Richter den Eindruck, der BF verfüge in Österreich über Angehörige und einige Bekannte, welche sich insbesondere aus seinem Kundenstock rekrutieren, jedoch über keine darüberhinausgehenden nennenswerten privaten Anknüpfungspunkte, er gehe – wenn auch die rechtlichen Voraussetzungen hiefür nach hg. Ansicht nicht gegeben sind (siehe hiezu oben) - einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach und verfüge über keine maßgeblichen Kenntnisse der deutschen Sprache. Dass die persönlichen Interessen des BF im Übrigen dadurch erheblich getrübt werden, dass er – nach ex tunc Wegfall seiner Aufenthaltstitel – niemals ein Aufenthaltsrecht in Österreich besaß und er die vorrübergehende (und rückwirkend behobene) Aufenthaltslegalisierung ausschließlich einer Aufenthaltsehe zu verdanken hatte, ist nachdrücklich hervorzuheben. Angesichts der Aufenthaltsdauer von über zehn Jahren erweist sich die Aufenthaltsverfestigung, mithin die Integration des BF in die österreichische Gesellschaft, sohin nicht als hervorzuheben, sondern in Relation zu vergleichbaren Fällen gesetzt als bloß geringfügig.
2.3. Eine allfällige Rückkehrgefährdung wurde seitens des BF nicht substantiiert behauptet. Er brachte lediglich im Rahmen der Befragung durch die rechtsfreundliche Vertretung vor, er hätte keine Wohn- und Arbeitsmöglichkeit im Falle seiner Rückkehr, dies untermauerte er jedoch nicht und ist darauf zu verweisen, dass der 45-jährige BF in der Türkei sowohl familiär als auch sozial vernetzt ist (was sich aus seinen eigenen Angaben und der unbestrittenen Faktenlage ergibt), er erst vor etwas mehr als zehn Jahren nach Österreich migrierte, er sohin nicht nur die türkische Sprache beherrscht, sondern auch mit den sozialen und kulturellen Normen der Türkei bestens vertraut ist, und angesichts seines Lebenslaufs, konkret des Schulbesuchs in der Türkei und der erworbenen Berufserfahrung in der Türkei, in Saudi-Arabien, in Ungarn und in Österreich bei Heranziehung eines lebensnahen Maßstabs nicht davon ausgegangen werden kann, dass er keine Möglichkeit hätte, sich in die türkische Gesellschaft und vor allem in den türkischen Arbeitsmarkt zu reintegrieren. Auch gibt es in der Türkei ein grundlegendes Sozialsystem, das bei der Deckung des notwendigen Unterhalts Unterstützung bietet, und ließen sämtliche Zeugen die Bereitschaft erkennen, den BF im Falle seiner Rückkehr emotional, allenfalls auch finanziell zu unterstützen, sodass für den erkennenden Richter nicht nachvollziehar ist, warum ihm der Wiederaufbau einer – gegebenenfalls bescheidenen – wirtschaftlichen Existenz nicht möglich sein sollte.
Im Übrigen steht es dem BF frei, sich im gesamten türkischen Hoheitsgebiet niederzulassen, sollte eine Rückkehr in seine Herkunftsregion aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich sein.
Hätte der (anwaltlich vertretene) BF seine Rückkehr in die Türkei aus schutzrelevanten Gründen für nicht zumutbar erachtet (was bislang nicht moniert wurde), so wäre davon auszugehen gewesen, dass er einen entsprechenden Antrag eingebracht hätte.
2.4. Dass der BF über kein Aufenthaltsrecht verfügt, ergibt sich daraus, dass seine vormaligen Aufenthaltsberechtigungen mit rechtskräftiger Entscheidung des LVwG Wien vom 24.06.2020, Zl. römisch 40 , rückwirkend aberkannt wurden, eine dagegen erhobene Revision erfolglos blieb und die bloße Beantragung eines Aufenthaltstitels nach Paragraph 55, AsylG kein Aufenthaltsrecht während des anhängigen Verfahrens vermittelt. Gegenteiliges wurde vom BF auch nicht behauptet.
Der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass der VwGH mit Beschluss vom 19.10.2022, römisch 40 , explizit im Revisionsverfahren des BF im niederlassungsrechtlichen Administrativverfahren feststellte, dass der BF keine Rechte aus dem Assoziierungsabkommen EWG – Türkei (ARB 1/80) geltend machen kann: „Ausgehend vom Vorliegen einer Aufenthaltsehe und der so erschlichenen Bewilligung zum Aufenthalts kommt ein vom Revisionswerber ins Treffen geführtes unmittelbares Aufenthaltsrecht nach Artikel 6, ARB 1/80 (Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über Entwicklung der Assoziation) von vornherein nicht in Betracht (VwGH 9.7.2021, Ra 2021/22/0120, Rn. 22, mwN).“
Gerichtliche Verurteilungen oder verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen sind nicht aktenkundig.
Zum Faktum des Eingehens einer Aufenthaltsehe und der begründeten Annahme der illegalen Beschäftigung wird prinzipiell auf die Ausführungen unter Punkt 2.2. verwiesen; von einer Wiederholung an dieser Stelle wird im Sinne der Lesbarkeit der Entscheidung Abstand genommen.
Zutreffend ist zwar, wie die rechtsfreundliche Vertretung moniert, dass ein gegen den BF eingeleitetes Strafverfahren eingestellt wurde (siehe Benachrichtung von der Einstellung des Verfahrens der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt, Zl. römisch 40 ), einerseits sind die Verwaltungsgerichte jedoch laut ständiger höchstgerichtlicher Judikatur nicht an strafrechtliche Freisprüche (geschweige denn Einstellungen) gebunden, sondern haben sie den inkriminierten Lebenssachverhalt selbst einer Würdigung zu unterziehen vergleiche VwGH vom 26.06.2014, 2012/03/0021; VwGH vom 28.11.2013, 2013/03/0070; VwGH vom 03.09.2020, Ra 2020/22/0123; VwGH vom 23.01.2020, Ra 2019/21/0384; jeweils mwN), andererseits stellte die zuständige Spezialbehörde, nämlich das Amt der Wiener Landesregierung, das Bestehen einer Aufenthaltsehe zwischen dem BF und römisch 40 (ehem. römisch 40 ) als Hauptfrage im do. Verfahren fest und hatte der entsprechende Bescheid im Instanzenzug Bestand, sodass weder die Berücksichtigung der Einstellung des Strafverfahrens noch die anderslautenden Aussagen des BF und der einvernommenen Zeugen im Hinblick auf diesen Themenkomplex eine anderslautende Einschätzung des Bundesamtes oder des BVwG, wo dies allenfalls als Vorfrage zu beurteilen gewesen wäre, zur Folge haben kann vergleiche Hengstschläger/Leeb, AVG Paragraph 38, [Stand 1.4.2021, rdb.at], insb. Rz 21 ff. mwN).
Bezugnehmend auf die wiederholt ins Treffen geführte lange Aufenthaltsdauer des BF ist Folgendes auszuführen:
Der BF beantragte zunächst die Erteilung zweier verschiedener Aufenthaltstitel bevor er letztlich eine Aufenthaltsehe mit einer österreichsichen Staatsbürgerin türkischen Hintergrundes einging, um sich ein Aufenthaltsrecht zu erschleichen. Ihm selbst war also zu jedem Zeitpunkt, selbst während aufrechter Ehe, die Unsicherheit seines Aufenthalts kraft Erschleichung bewusst bzw. musste ihm diese bewusst sein. Aus der langen Aufenthaltsdauer ist in diesem Sinne ebensowenig für den BF zu gewinnen, wie aus seiner fortgesetzten Erwerbstätigkeit, zumal ihm spätestens mit Rechtskraft des Erkenntnisses des LVwG Wien vom 24.06.2020, Zl. römisch 40 , allenfalls nach Ergehen der eine Parteienrevision zurückweisenden Entscheidung des VwGH vom 19.10.2022, römisch 40 , bekannt sein hätte müssen, dass er sich weder weiterhin in Österreich aufhalten noch arbeiten darf, er sohin, wäre ihm an der Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands gelegen, einem fremdenpolizeilichen Verfahren zuvorkommend ausgereist und keiner Beschäftigung in Österreich mehr nachgegangen wäre. Die lange Aufenthaltsdauer spricht im gegenständlichen Fall sohin nicht für den BF, sondern ist geradezu zu seinem Nachteil zu berücksichtigen, da er diese lediglich durch gravierendes Fehlverhalten in fremdenrechtlicher Hinsicht seinerseits sowie Gleichgültigkeit gegenüber der Absenz jeglichen Aufenthaltsrechts erwirken konnte, und ist diesen Faktoren gegenständlich erhebliches Gewicht zuzumessen.
Aus dem vom BF gewählten Vorgehen ist jedoch friktionsfrei abzuleiten, dass dieser, wenn er sich auch ansonsten in straf- und verwaltungsstrafrechtlicher Hinsicht wohlverhalten hat, einen mangelnden Respekt gegenüber der hiesigen Rechtsordnung im Hinblick auf fremden- und ausländerbeschäftigungsrechtliche Normen an den Tag legt und bereit ist, Bestimmungen zu umgehen und Rechte zu erschleichen, wenn er sich daraus Vorteile für seine Person erhofft.
2.5. Die zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vom BVwG herangezogenen Erkenntnisquellen (aktuelles Länderinformationsblatt zur Türkei), die dem BF im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung unter gleichzeitiger Angaben der herangezogenen Quellen zur Erstattung einer Stellungnahme übermittelt wurden. Der BF ist den ihm übermittelten Berichten nicht entgegengetreten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß Paragraph 6, BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer eins, BFA-VG idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes.
Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, Bundesgesetzblatt Nr. 194 aus 1961,, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, Bundesgesetzblatt Nr. 173 aus 1950,, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, Bundesgesetzblatt Nr. 29 aus 1984,, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Vorauszuschicken ist im gegenständlichen Fall, dass in der in der Rechtsmittelbelehrung des gegenständlichen Bescheides Folgendes festgehalten wird: „Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung, das heißt, der Bescheid kann trotz Erhebung einer Beschwerde vollstreckt werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat unter bestimmten Umständen von Amts wegen innerhalb von 7 Tagen nach Einlangen der Beschwerde bei ihm die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen (Paragraph 18, Absatz 5, BFA-VG).“
Da dem gesamten restlichen Bescheid eine Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde nicht entnommen werden kann, insbesondere mangelt es an einem entsprechenden Spruchpunkt und wurde mit Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides auch eine Frist für die freiwillige Ausreise in der Dauer von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt, was andernfalls contra legem wäre (siehe Paragraph 55, Absatz eins a, FPG), ist davon auszugehen, dass im Zuge der elektronischen Datenverarbeitung irrtümlich eine falsche Rechtsmittelbelehrung ausgewählt wurde. Eine weitere Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des Paragraph 18, BFA-VG (bzw. eine Bestätigung oder Behebung eines entsprechenden Spruchpunkts) war daher nicht erforderlich.
Zu A)
3.1. Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8, EMRK gem. Paragraph 55, AsylG (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides):
3.1.1. Artikel 8, EMRK lautet:
„(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK geboten ist und er gemäß Ziffer 2 Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 9, IntG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (Paragraph 5, Absatz 2, ASVG) erreicht wird. Liegt nur die Voraussetzung der Ziffer 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.
Gemäß Paragraph 60, Absatz eins, AsylG dürfen einem Drittstaatsangehörigen Aufenthaltstitel nicht erteilt werden, wenn gegen ihn eine aufrechte Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, in Verbindung mit Paragraph 53, Absatz 2, oder 3 FPG oder eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR Staates oder der Schweiz besteht. Gemäß Absatz 3, dürfen Aufenthaltstitel einem Drittstaatsangehörigen nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen nicht öffentlichen Interessen widerstreitet. Der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen widerstreitet dann dem öffentlichen Interesse, wenn dieser ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens iS des Artikel 8, EMRK sind gem. Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl- Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
3.1.1.1. Der Begriff der Familie iSd Artikel 8, EMRK umfasst grundsätzlich auch Beziehungen zumindest zwischen nahen Verwandten, zB die Beziehung von Erwachsenen zu ihren Eltern oder den Geschwistern, Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln oder Onkeln und Neffen. Hier kann es allerdings erforderlich sein, die tatsächlich bestehenden Bindungen daraufhin zu untersuchen, ob sie hinreichend intensiv für die Annahme einer familiären Beziehung iSv Artikel 8, EMRK sind. So verlangt der EGMR diesbezüglich das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht. In seinem Urteil vom 18.10.2006, Üner gg. Niederlande, hielt der EGMR darüber hinaus fest, dass nicht alle Einwanderer ein Familienleben genießen würden, jedoch muss anerkannt werden, dass die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Fremden und der Gemeinschaft in der sie leben, Teil des Konzepts des Privatlebens iSv Artikel 8, EMRK sind (VwGH 18.6.2009, 2008/22/0135).
Der Begriff des „Familienlebens“ in Artikel 8, EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entfernter verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Artikel 8, EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.6.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 7.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 5.7.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt vergleiche Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). vergleiche AsylGH 3.5.2010, D13 264047-0/2008/19E).
Das Vorliegen eines „Familienlebens“ iSd Artikel 8, EMRK laut ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ipso iure wird nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit letzterer angenommen. Danach wird die Beziehung des Kindes zu den Eltern nur dann als „Familienleben“ iSd Artikel 8, EMRK zu qualifizieren sein, wenn eine „hinreichend stark ausgeprägte“ Nahebeziehung besteht, wofür nach Ansicht der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung ist (VfSlg 17.340/2004; VwGH 8.6.2006, 2003/01/0600; VwGH 26.1.2006, 2002/20/0423; jeweils unter Berufung auf die Rsp des EGMR).
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt – auch nach der Rechtsprechung des EGMR – nur dann unter den Schutz des Artikel 8, Absatz eins, EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen vergleiche dazu VfGH 9.6.2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch VwGH 26.1.2006, 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse VwGH 26.1.2006, 2002/20/0235; VwGH 8.6.2006, 2003/01/0600; VwGH 22.8.2006, 2004/01/0220; VwGH 29.3.2007, 2005/20/0040 und VwGH 25.4.2008, 2007/20/0720).
Beruft sich der Asylwerber auf eine besonders intensive Beziehung zu seinen Familienangehörigen, etwa Geschwistern, so ist darauf hinzuweisen, dass im Verfahren zumindest eine finanzielle Abhängigkeit des Berufungswerbers von seinen Geschwistern erkennbar sein müsste vergleiche dazu etwa WKMR 14.3.1980, 8986/80 EuGRZ 1982, 311). Lebt der Berufungswerber zwar in Österreich mit seinen Verwandten zusammen, ist von diesen jedoch unabhängig, da er in Österreich selbst einer Beschäftigung nachgeht, so sind familiäre Beziehungen von ausreichender Nähe im Sinne des Artikel 8, EMRK mit den in Österreich lebenden Verwandten zu verneinen. Der Umstand, dass man sich mit seinen Familienangehörigen gut versteht, reicht für die Bejahung eines ausreichend intensiven „Familienlebens“ iSd Artikel 8, EMRK allein noch nicht aus (UBAS 28.3.2002, 226.589/0-X/30/02).
Eine den Schutz des Privatlebens auslösende Verbindung kann insbesondere für solche Ausländer in Betracht kommen, deren Bindung an Österreich aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung vom Heimatland quasi Österreichern gleichzustellen ist. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass Österreich faktisch das Land ist, zu dem sie gehören, während sie mit ihrem Heimatland nur noch das formale Band der Staatsbürgerschaft verbindet (EGMR 26.3.1993 im Fall Beldjondi und vom 26.9.1997 im Fall Mehemi). Voraussetzung dafür wird sein, dass das Privat- und Familienleben in Österreich fest verankert ist. Der Besuch eines Deutschkurses oder eine Berufsausbildung allein wird somit noch kein schützenswertes Privatleben begründen (AsylGH 23.12.2009, D10 257656-0/2008).
Der EGMR wiederholt in ständiger Rechtsprechung, dass es den Vertragsstaaten zukommt, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, insb. in Ausübung ihres Rechts nach anerkanntem internationalem Recht und vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflichtungen, die Einreise und den Aufenthalt von Fremden zu regeln. Die Entscheidungen in diesem Bereich müssen insoweit, als sie in ein durch Artikel 8, Absatz eins, EMRK geschütztes Recht eingreifen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, dh. durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und va. dem verfolgten legitimen Ziel gegenüber verhältnismäßig sein.
Die Behörden haben zu beurteilen, ob eine aufenthaltsbeendende maßnahme einen Eingriff in die durch Artikel 8, Absatz eins, EMRK garantierten Rechte bedeutet. Bejahendenfalls haben sie das Vorliegen der Eingriffsermächtigung des Artikel 8, Absatz 2, EMRK zu prüfen. Weiterhin haben die Behörden bei vorliegendem Eingriff in ein bestehendes Privat- oder Familienleben letztlich eine individuelle, an den Umständen des Einzelfalls orientierte Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen und den Interessen des Betroffenen vorzunehmen und sich dabei auch an den nunmehr im Gesetz ausdrücklich angeführten Kriterien zu orientieren. Schließlich ist anzumerken, dass im Sinne einer verfassungskonformen Einzelfallprüfung und einer dynamischen Weiterentwicklung des Artikel 8, EMRK durch die Höchstgerichte und den EGMR die angeführten Kriterien nicht abschließend geregelt worden sind und diese je nach Sachverhaltsrelevanz des Einzelfalles anwendbar sind (arg. „insbesondere“) (VwGH 22.12.2009, 2009/21/0348).
Bei der Beendigung des Aufenthaltes muss ein faires Gleichgewicht zwischen den berührten öffentlichen Interessen und den Belangen des Familien- bzw. Privatlebens gewahrt werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer Interessenabwägung zwischen öffentlichem Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Artikel 8, EMRK einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht. Hierfür sind insbesondere folgende Umstände von Bedeutung: die Aufenthaltsdauer; das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität; die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert; die Bindungen zum Heimatstaat; die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung; Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (VfGH 29.9.2007, B 328/07-9 sowie B 1150/07-9).
Neben diesen Kriterien sind aber gleichzeitig auch die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern zu berücksichtigen, „zumal etwa das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist“ (VwGH 26.6.2007, 2007/01/0479).
Aus der Judikatur des VfGH (29.9.2007, B 328/07-9 sowie B 1150/07-9) haben sich zu beachtende maßgebliche Kriterien für die Interessenabwägung nach Artikel 8, Absatz 2, EMRK herausgebildet, die nunmehr in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG gesetzlich verankert sind. Es sind dies:
● die Aufenthaltsdauer, die allerdings an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft ist;
● das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität;
● die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
● den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert;
● die Bindungen zum Heimatstaat;
● die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung;
● die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren.
Bei einer Abwägung hinsichtlich der Zulässigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Hinblick auf Artikel 8, EMRK ist auf die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen und die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen Bedacht zu nehmen (VwGH 18.6.2009, 2008/22/0387; VwGH 27.2.2007, 2006/21/0164).
Demgegenüber stehen die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen. Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt den Normen, die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Artikel 8, Absatz 2, EMRK) ein hoher Stellenwert zu (VwGH 28.8.2008, 2008/22/0532; VwGH 31.8.2006, 2004/21/0140).
Der VwGH hat festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine aufenthaltsbeendende Maßnahme als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, 2002/18/0190).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung des Aufenthaltstitels oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden. Dazu zählen das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung (VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0165, 10.11.2015, Ro 2015/19/0001 mwN), oder etwa die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (31.01.2013, Zl. 2012/23/0006).
3.1.2. Auf den gegenständlichen Fall angewandt bedeutet dies Folgendes:
3.1.2.1. Der BF hält sich etwas mehr als zehn Jahren in Österreich auf, ging nach wiederholter Abweisung von Anträgen nach dem NAG eine Aufenthaltsehe ein, auf welche er sich in weiterer Folge – zunächst erfolgreich – berief, wurden ihm rückwirkend sämtliche Aufenthaltstitel wegen Eingehens einer Aufenthaltsehe aberkannt, geht – mangels Aufenthaltsberechtigung – einer illegalen Beschäftigung nach, verfügt in Österreich über einen älteren Bruder und einen Neffen, mit welchem er im gemeinsamen Haushalt lebt, beherrscht die deutsche Sprache – obschon er ein A2-Zertifikat vorweisen kann - allenfalls rudimentär und kann er sich auf das Vorhandenseins eines Bekannten- nicht aber eines Freundeskreises stützen.
Zu den (demonstrativ aufgezählten) Tatbeständen des Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG ist im Einzelnen aufzuführen, dass der BF zwar seit etwas mehr als zehn Jahren im Bundesgebiet aufhältig ist, er seinen Aufenthalt jedoch durch das Eingehen einer Aufenthaltsehe legalisierte und dieser in der Folge stets rechtswidrig war (Ziffer eins, leg.cit.), er in Österreich lediglich über einen volljährigen Bruder und einen volljährigen Neffen verfügt, wobei er mit Letzerem zwar im gemeinsamen Haushalt lebt, darüber hinausgehende Abhängigkeitsmerkmale aber mangels Krankheit oder wirtschaftlicher Abhängigkeiten aber nicht erkennbar sind, der VwGH jedoch in einem vergleichbaren Fall mit Erkenntnis vom 26.06.2019, Ra 2019/21/0016, ohnedies feststellte, dass es von untergeordneter Bedeutung ist, ob die Beziehung eines Fremden zu seinem Angehörigen als „Familienleben iSd Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, BFA-VG oder als „Privatleben“ iSd Ziffer 3, leg.cit. zu qualifizieren ist (Ziffer 2, leg.cit.), er in Österreich in keinen Vereinen tätig ist oder ehrenamtliches Engagement entfaltet und nach hg. Ansicht lediglich über vereinzelte Bekanntschaften (insbesondere mit Kunden), aber keine Freundschaften verfügt, und zudem der deutschen Sprache nur rudimentär mächtig ist, und auch seine berufliche Integration angesichts dessen, dass er ohne über eine Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigung zu verfügen erwerbstätig ist, nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt werden kann (Ziffer 3 und 4 leg.cit.), er die ersten 35 Jahre seines Lebens überwiegend in der Türkei verbrachte, er dort sohin (in jeglicher Hinsicht) sozialisiert wurde sowie seine Schullaufbahn absolvierte und in der Vergangenheit berufstätig war und wo er nach wie vor familiäre und soziale Anknüpfungspunkte aufweist und fallweise zu Urlaubszwecken aufhältig ist (Ziffer 5, leg.cit.), er zwar strafrechtlich unbescholten ist, dies jedoch laut höchstgerichtlicher Judikatur (VwGH vom 21.01.1999, 98/18/0420) weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen darstellt (Ziffer 6, leg.cit.), sich der Aufenthalt des BF aufgrund des Eingehens einer Aufenthaltsehe in der Retrospektive niemals auf ein Aufenthaltsrecht stützen konnte und diesem Faktum, nämlich dem intentionalen Erschleichen eines Titels, signifikantes Gewicht zukommt sowie er nicht nur dadurch, dass er das Bundesgebiet nach – rückwirkendem – Wegfall seiner Aufenthaltstitel nicht verließ, sondern auch noch weiterhin einer Erwerbstätigkeit nachgeht, er beharrlich gegen die österreichische Rechtsordnung, konkret fremdenrechtliche und ausländerbeschäftigungsrechtliche Normen, verstößt (Ziffer 7, leg.cit.), der BF angesichts obgenannter Fakten selbstverständlich stets um die Unsicherheit bzw. Unrechtmäßigkeit seines Aufenthalts wusste und dies – spätestens nach Einleitung eines niederlassungsrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens – auch seinem Umfeld bewusst sein musste (Ziffer 8, leg.cit.) und die bB das gegenständliche Verfahren ohne schuldhafte Verzögerungen führte und auch keine überlange Verfahrensdauer gegeben ist (Ziffer 9, leg.cit.).
Angesichts des gravierenden – ausgerechnet insbesondere aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen zuwiderlaufenden und jeglichen Vertrauensschutz geradezu aufhebenden – Fehlverhaltens des BF wäre es, um im Sinne der obzitierten Judikatur des VwGH zum über zehn Jahre andauernden Aufenthalt eines Fremden ein Überwiegen persönlicher Interessen feststellen zu können erforderlich gewesen, eine umfassende Aufenthaltsverfestigung des BF unter Beweis zu stellen. Der BF ist jedoch – ganz im Gegenteil – lediglich punktuell integriert und sind zahlreiche üblicherweise positiv zu berücksichtigende Faktoren (z.B. Aufenthaltsdauer und aufrechtes Beschäftigungsverhältnis) im gegenständlichen Fall aus begründeten Erwägungen nicht bzw. sogar zum Nachteil des BF zu beachten.
3.1.2.2. Die bB beurteilte und gewichtete die für und wider die Person des BF sprechenden Faktoren zutreffend und schließt sich der erkennende Richter ihren Ausführungen vollinhaltlich an. Angesichts der oben angeführten Faktoren, insbesondere des Umstandes, dass der BF nicht nur zu keinem Zeitpunkt über ein Aufenthaltsrecht in Österreich verfügte, sondern er auch nachdem die rückwirkende Aberkennung seiner zuvor erteilten Aufenthaltstitel wegen Eingehens einer Aufenthaltsehe (mit welcher der BF stets zu rechnen hatte, zumal ihm selbst das Erschleichen eines Aufenthaltsrechts schließlich bekannt war und die Konsequenzen selbst für einen Laien absehbar sind) in Rechtskraft erwuchs weiterhin im Bundesgebiet verblieb und seine Erwerbstätigkeit ohne entsprechende Berechtigung fortsetzte, kann die wiederholt vom BF für sich geltend gemachte Aufenthaltsdauer keinesfalls positiv berücksichtigt werden, zumal diese im gegenständlichen Fall gerade nicht durch eine schuldhaft zögerliche Verfahrensführung österreichischer Behörden verursacht wurde. Die angeführten Erwägungen mussten selbstverständlich auch dem BF sowie seinem näheren Umfeld, insbesondere seinem Bruder, welcher als sein Arbeitgeber auftritt, vollends bewusst sein und können sich diese bei Zugrundelegung eines lebensnahen Maßstabs nicht auf Unwissenheit berufen. Ein Vertrauensschutz ist angesichts eigenen schuldhaft rechtswidrigen Handelns keiner der betroffenen Personen zuzugestehen. Positiv hat gegenständlich ausschließlich Erwähnung zu finden, dass der BF keine staatlichen Transferleistungen in Anspruch nimmt, dem stehen jedoch gravierende Verfehlungen seinerseits gegenüber, insbesondere ist er nicht befugt, einer Arbeit nachzugehen, seine finanziellen Mittel, sohin die Grundlage seiner Selbsterhaltungsfähigkeit, stammen daher aus unrechtmäßiger Quelle.
Auch die von der bB herangezogene höchstgerichtliche Judikatur zu Abwägungsfragen im Hinblick auf Artikel 8, EMRK - insbesondere VwGH vom 08.07.2009, 2008/21/0533; VwGH vom 22.01.2009, 2008/21/0654; VwGH vom 29.04.2010, 2010/21/0085; VwGH vom 29.06.2010, 2010/18/0209; VwGH vom 13.04.2010, 2010/18/0087; VwGH vom 06.07.2010, 2010/22/0081; VwGH vom 25.03.2010, 2009/21/0216; VwGH vom 25.02.2010, 2008/18/0411; VwGH vom 25.02.2010, 2009/21/0070; 23.03.2010, 2010/18/0038; VwGH vom 25.02.2010, 2010/18/0031; VwGH vom 25.02.2010, 2010/18/0029; VwGH vom 25.02.2010, 2010/18/0026; VwGH vom 25.02.2010, 2009/21/0187; VwGH vom 13.04.2010, 2010/18/0078 – erweist sich als zutreffend sowie einschlägig und stützt die Rechtsansicht, somit auch die Rechtsposition, des Bundesamtes.
Ergänzend hinzuweisen ist auf eine höchstgerichtliche Entscheidung in einem vergleichbaren Fall (VwGH vom 26.06.2019, Ra 2019/21/0016), mit welcher das Bundesamt im Rahmen einer Amtsrevision obsiegte: „Nun kann es im vorliegenden Fall allerdings dahin stehen, ob das nach den Feststellungen des BVwG schon seit mehreren Jahren bestehende Zusammenleben des Mitbeteiligten mit seinem Zwillingsbruder, mit dem ihn auch schon im Heimatland eine besondere Nahebeziehung verbunden hatte, in einer Wohnung gemeinsam mit dessen Familie und die finanzielle Unterstützung des einkommenslosen Mitbeteiligten durch seinen Bruder schon "Merkmale einer Abhängigkeit" im Sinne der zitierten Judikatur begründen könnten. Bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung (siehe oben Rn. 10) kommt es nämlich im Ergebnis auf die tatsächlich bestehenden Verhältnisse an, sodass es fallbezogen nur von untergeordneter Bedeutung ist, ob die Beziehung des Mitbeteiligten zu seinem Bruder als "Familienleben" im Sinne der Ziffer 2, oder als "Privatleben" im Sinne der Ziffer 3, des Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG zu qualifizieren ist. Im Vordergrund steht aber in der Amtsrevision ohnehin die Kritik, das BVwG habe unter dem Gesichtspunkt der Ziffer eins und der Ziffer 8, des Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG nicht ausreichend berücksichtigt, dass sich der Mitbeteiligte seit Ende Februar 2015 nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte und dass die gesamte Integration während unsicheren Aufenthaltsstatus entstanden sei. Überdies habe das BVwG nach den Kriterien der Ziffer 6 und der Ziffer 7, des Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG nicht genügend darauf Bedacht genommen, dass der Mitbeteiligte versucht habe, durch eine Aufenthaltsehe seinen Verbleib im Bundesgebiet zu prolongieren, und dass er hierfür auch strafgerichtlich verurteilt worden sei. Damit ist die Amtsrevision im Recht. Tatsächlich hat das BVwG weder in der zitierten Begründung noch im Rahmen der sonstigen Erwägungen die Bestimmung des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 8, BFA-VG in seine Überlegungen einbezogen. In diesem Zusammenhang wäre aber zu berücksichtigen gewesen, dass dem Mitbeteiligten von Anfang bewusst sein musste, dass ihm die erteilten Aufenthaltsbewilligungen nur ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht vermitteln konnten (siehe dazu schon oben Rn. 13). Das notwendige Bewusstsein eines unsicheren Aufenthalts musste aber umso mehr für die Zeit danach gegeben sein, also während des auf eine bloße Aufenthaltsehe gestützten Verfahrens über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltskarte, in dem ihm nicht das behauptete unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukam, und über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung nach Paragraph 55, AsylG 2005, der gemäß Paragraph 58, Absatz 13, erster Satz AsylG 2005 kein Aufenthalts- oder Bleiberecht begründete. Das relativiert die in diesem Zeitraum erlangte soziale Integration - eine nennenswerte berufliche Verankerung liegt gegenständlich nicht vor - entscheidend; ebenso aber auch die Dauer des Aufenthalts, der seit Ablauf des 25. Februar 2015 nicht mehr rechtmäßig war. Darüber hinaus hat das BVwG dem fremdenrechtlich besonders relevanten missbräuchlichen Verhalten des Mitbeteiligten, mittels einer Aufenthaltsehe zu versuchen, die - mangels ausreichenden Studienerfolges sonst nicht mögliche - Verlängerung des rechtmäßigen Aufenthalts zu erreichen, nicht die gebotene Bedeutung beigemessen. Das BVwG hat zwar insoweit ebenfalls einen Verstoß "gegen die Interessen eines geordneten Fremdenwesens" gesehen, diesen Umstand jedoch als relativiert angesehen, weil vom Mitbeteiligten - entgegen der Meinung des BFA - keine Gefahr für das wirtschaftliche Wohl des Landes ausgehe. Das greift zu kurz, weil im gegebenen Zusammenhang nicht die allfällige zukünftige Gefährdung öffentlicher Interessen im Vordergrund steht, sondern der Umstand, dass der Mitbeteiligte durch sein rechtsmissbräuchliches Verhalten den eigentlich zu beendenden Aufenthalt verlängern wollte, was dessen Gesamtdauer bis zur Erlassung des bekämpften Erkenntnisses von etwa neuneinhalb Jahren und die während dessen erlangte Integration zusätzlich maßgeblich mindert. Dazu kommt, dass der Mitbeteiligte nicht im Sinne der Ziffer 6, des Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG als strafgerichtlich unbescholten anzusehen ist. Vor diesem Hintergrund muss unter dem Gesichtspunkt des Artikel 8, EMRK nicht akzeptiert werden, dass der Mitbeteiligte mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen vergleiche zu diesem Gesichtspunkt VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205 bis 0210, Rn. 11, mwN). Die Auffassung des BVwG, das der Sache nach vom Vorliegen derart außergewöhnlicher Umstände ausging, die zu einem gegenteiligen Ergebnis zu führen hätten, war somit insgesamt nicht vertretbar.“
Übersehen wird nicht, dass im obzitierten Fall eine Geldstrafe wegen des Vergehens des Eingehens einer Aufenthaltsehe verhängt worden war, der (im Revisionsverfahren unterlegene) Mitbeteiligte sohin nicht unbescholten war, jedoch betrifft dies angesichts des unbestreitbaren Faktums der Aufenthaltsehe (auch) im vorliegenden Sachverhalt in Verbindung mit einer Gesamtschau der Umstände lediglich einen geringfügigen Nebenaspekt, dem keine maßgebliche Bedeutung zuzumessen ist.
3.1.2.3. Übersehen wird weiters nicht, dass die gegenständliche Entscheidung in die Rechte des BF nach Artikel 8, EMRK eingreift, dieser Eingriff wird jedoch einerseits durch sein getrübtes Privat- und Familienleben kraft eigenen (erheblichen) Fehlverhaltens in fremdenrechtlicher Hinsicht relativiert, andererseits ist auch auf die unter Punkt 3.5.3.1. zitierte Judikatur des EGMR zu verweisen (EGMR, Joseph Grant gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 08.01.2009, Bsw. Nr. 10.606/07) welche zutreffend darauf hinweist, dass eine Außerlandesbringung nicht automatisch zur Folge hat, dass ein Fremder sämtliche persönliche Anknüpfungspunkte im Gastland verliert, sondern wechselseitige Besuche (ggf. in Drittstaaten) sowie weitere Kontaktmöglichkeiten unbeschadet aufrecht bleiben.
3.1.2.4. Den öffentlichen Interessen am geordneten Zuzug von Fremden war daher der Vorrang einzuräumen, andernfalls die Konsequenz wäre, dass Fremde nach Österreich migrieren, einen Aufenthaltstitel erschleichen und in weiterer Folge, so sie das Glück haben, dass wenige Jahre vergehen bis dies aufgedeckt wird, im Land verbleiben könnten. Nochmals wird darauf hingewiesen, dass dem BF angesichts seines Verhaltens im Niederlassungsverfahren keinesfalls ein Vertrauensschutz eingeräumt werden kann. Die bB führte eine anstandslose Interessensabwägung durch, welche den Anforderungen der österreichischen und europäischen Rechtsordnung entspricht und sich im Einklang mit der einschlägigen höchstgerichtlichen Judikatur befindet, den Ausführungen des Bundesamtes kann sohin nicht entgegengetreten werden.
3.1.3. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des bekämpften Bescheides war folglich als unbegründet abzuweisen.
3.2. Erlassung einer Rückkehrentscheidung gem. Paragraph 52, Absatz 3, FPG (Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides):
3.2.1. Paragraph 52, Absatz 3, FPG lautet:
„(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55,, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.“
3.2.2. Die gesetzlichen Voraussetzungen liegen zweifelsohne vor und war auch der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. daher kein Erfolg einzuräumen.
3.3. Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat gem. Paragraphen 52, Absatz 9,, 46 FPG (Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides):
3.3.1. Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Nach Paragraph 50, Absatz eins, FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach Paragraph 50, Absatz 2, FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Artikel 33, Ziffer eins, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974,), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005).
Nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.3.2. Dass der BF im Fall seiner Rückkehr in die Türkei einer Gefährdung im Sinn des Artikel 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre oder ihm die Todesstrafe dort drohen könnte, ist nicht ersichtlich und auch im erstinstanzlichen Verfahren und der Beschwerde sowie der mündlichen Verhandlung nicht substantiiert behauptet worden. Es bedarf aber nicht bloß der Möglichkeit einer dem Artikel 3, EMRK widersprechenden Behandlung eines Fremden in jenem Staat, in den er abgeschoben werden soll, um eine Abschiebung dorthin aus dem Blickwinkel des Paragraph 57, FrG 1997 (nunmehr Paragraph 50, FPG) als unzulässig erscheinen zu lassen, sondern müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt wäre vergleiche VwGH vom 30.04.1998, 98/18/0120).
Dies ist – wie beweiswürdigend ausgeführt - im gegenständlichen Verfahren im Hinblick auf das persönliche Profil des BF keineswegs gegeben.
3.3.3. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch III. war sohin abzuweisen.
3.4. Einräumung der Frist für eine freiwillige Ausreise gem. Paragraph 55, FPG (Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides):
3.4.1. Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus Paragraph 55, Absatz 2, erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Die eingeräumte Frist ist angemessen.
3.4.2. Der Flughafen Istanbul ist geöffnet und von Wien aus im Luftweg erreichbar, sodass auch keine Hindernisse erkannt werden können, das Bundesgebiet innerhalb der eingeräumten First in den Herkunftsstaat zu verlassen.
3.4.3. Die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt römisch IV. des bekämpften Bescheides war folglich abzuweisen.
3.5. Verhängung eines Einreiseverbots gem. Paragraph 53, Absatz eins,, Absatz 2, Ziffer 8, FPG (Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheides):
3.5.1. Paragraph 53, Absatz eins,, Absatz 2, Ziffer 8, FPG lautet wie folgt:
„(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
(2) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist, vorbehaltlich des Absatz 3,, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige
[…]
8. eine Ehe geschlossen oder eine eingetragene Partnerschaft begründet hat und sich für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, zwecks Zugangs zum heimischen Arbeitsmarkt oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen, aber mit dem Ehegatten oder eingetragenen Partner ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK nicht geführt hat oder
[…]“
3.5.2. Anbei handelt es sich um demonstrativ aufgezählte Tatbestände vergleiche VwGH 26.6.2014, Ro 2014/21/0026). Im Hinblick auf den demonstrativen Charakter dieser Tatbestände kann sich aus einer hinsichtlich des Unrechtsgehaltes ähnlich schwerwiegenden Konstellation ergeben, dass durch den Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet bzw. anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft vergleiche VwGH 24.05.2018, Ra 2017/19/0311).
Das Verhängen eines Einreiseverbotes ist auch bei Nichterfüllung einer bestimmten Ziffer möglich, vorausgesetzt, dass das der Gefährlichkeitsprognose zugrundeliegende Gesamtverhalten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild rechtfertigen die Annahme, dass der weitere Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt vergleiche BVwG 22.09.2017, I406 2171055-1/3E; vergleiche Regierungsvorlage 1078 BlgNR römisch 24 GP, 30).
3.5.2.1 Dass der BF den objektiven und subjektiven Tatbestand des Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer 8, FPG erfüllt hat, ergibt sich zweifelsfrei aus der Aktenlage und wird diesbezüglich auf die Ausführungen insbesondere unter Punkt 2.4. verwiesen; von einer Wiederholung der gerichtlichen Erwägungen an dieser Stelle wird Abstand genommen. Die bB zog somit dem Grunde nach zurecht die obzitierte Rechtsnorm heran und ist ihr diesbezüglich nicht entgegenzutreten.
3.5.3. Der VwGH hat in seinem Erkenntnis vom 15.12.2011, Zahl 2011/21/0237 zur Rechtslage vor dem FPG idgF (in Kraft seit 01.01.2014) erwogen, dass bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbotes nach dem FrÄG 2011 eine Einzelfallprüfung vorzunehmen vergleiche ErläutRV, 1078 BlgNR 24. Gesetzgebungsperiode 29 ff und Artikel 11, Absatz 2, Rückführungs-RL) sei. Dabei hat die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchen zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, MRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Ziffer eins bis 9 des Paragraph 53, Absatz 2, FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 anzunehmen. In den Fällen des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinn der Ziffer 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht. Es ist festzuhalten, dass - wie schon nach bisheriger Rechtslage vergleiche E 20. November 2008, 2008/21/0603) - in Bezug auf strafgerichtliche Verurteilungen auch an dieser Stelle nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern immer auf das zugrunde liegende Verhalten abzustellen ist. Maßgeblich sind Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild; darauf kommt es bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots an.
Bei der Bemessung des Einreiseverbotes, kann sich die Behörde nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen zurückziehen, sondern ist insbesondere auch die Intensität der privaten und familiären Bindungen zu Österreich einzubeziehen (VwgH 7.11.2012, 2012/18/0057).
3.5.3.1. Das Bundesamt war im gegenständlichen Fall ermächtigt, ein Einreiseverbot in der Dauer von bis zu fünf Jahren zu verhängen, und legte die bB jene Erwägungen, die sie veranlassten, das Höchstmaß auszuschöpfen, ausführlich, übersichtlich sowie nachvollziehbar im bekämpften Bescheid dar. Sie berücksichtigte dabei – zutreffenderweise – nicht nur das tatbestandsmäßige Eingehen einer Aufenthaltsehe, sondern auch den durch den BF verschuldeten langjährigen illegalen Aufenthalt in Österreich sowie die Erwerbstätigkeit, welche ausländerbeschäftigungsrechtlich nicht gedeckt ist.
Prima vista erscheint die Ausschöpfung des höchstmöglichen Rahmens außerordentlich empfindlich und möglicherweise außer Verhältnis stehend zu sein.
Angesichts der Schwere des vom BF verwirklichten Fehlverhaltens, welcher schlichtweg versuchte, seinen illegalen Aufenthalt nach Abweisung mehrerer Anträge nach dem NAG durch Heirat, somit durch gravierende Täuschung österreichischer Behörden, zu legalisieren, und in weiterer Folge, obschon ihm die Bestätigung der Unrechtmäßigkeit seines Aufenhalts (welcher ihm, der eine Aufenthaltsehe einging, persönlich ohnedies stets bekannt war) spätestens ab Abweisung seiner gegen den Bescheid des Amtes der Wiener Landesregierung vom 14.08.2019, Zl. römisch 40 , erhobenen Beschwerde durch das LVwG Wien mit Erkenntnis vom 24.06.2020, Zl. römisch 40 , nicht selbstständig den rechtskonformen Zustand herstellte, sondern einen erheblichen Zeitraum und bis dato im Bundesgebiet verblieb, somit seinen illegalen Aufenthalt prolongierte, und ohne entsprechende Berechtigung arbeitet, hat das Bundesamt nach Ansicht des erkennenden Richters sein Ermessen jedoch pflichtgemäß geübt sowie die Verhältnismäßigkeit gewahrt und ist die von der Behörde ausgemessene Dauer des Einreiseverbots folglich nicht zu beanstanden; auch nach hg. Überzeugung ist dem vom BF verwirklichten Unrecht durch die Verhängung eines empfindlichen Einreiseverbots zu begegnen, zumal auch der VwGH mit Erkenntnis vom 26.06.2019, Ra 2019/21/0016, das Eingehen einer Aufenthaltsehe expressis verbis als „fremdenrechtlich besonders relevantes missbräuchliches Verhalten“ bezeichnete, woraus abzuleiten ist, dass das vom BF verwirklichte Fehlverhalten ein im fremdenrechtlichen Kontext besonders sanktionsbedürftiges Unrecht darstellt. Nicht zuletzt ist die fünfjährige Befristung erforderlich, um dem BF die Möglichkeit einzuräumen, im Ausland sein Verhalten zu reflektieren und sich – im Falle einer künftigen Wiedereinreise und der Begründung eines legalen Aufenthalts – insgesamt rechtskonform verhalten zu können und insbesondere fremdenrechtliches Fehlverhalten aufgrund erfolgreicher Spezialprävention zu unterlassen.
Erwägungsgründe, die insoweit für den BF sprechen, als das Einreiseverbot aus in seiner Person gelegenen Gründen, insbesondere zum Schutz seiner Rechte nach Artikel 8, EMRK im Sinne der Verhältnismäßigkeit der fremdenpolizeilichen Maßnahme, geringer zu bemessen ist, traten aus Sicht des BVwG nicht ans Licht. Diesbezüglich wird insbesondere auch auf die ausführlichen Darlegungen unter Punkt 3.1.2. verwiesen, welche zusammengefasst lauten, dass der BF keine nennenswerten Kenntnisse der deutschen Sprache erworben hat und sein langjähriger Aufenthalt sowie seine gegenwärtige Selbsterhaltungsfähigkeit nicht positiv berücksichtigt werden können, da er ersteren durch das Eingehen einer Aufenthaltsehe in Verbindung mit der beharrlichen Nichtausreise trotz titellosen Aufenthalts und zweiteres schlichtweg durch rechtsuntreues Verhalten, nämlich die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit ohne entsprechende Bewilligung, erwirkte. Seine privaten und familiären Anknüpfungspunkte sind nicht so gestaltet, dass die Fortsetzung seines Aufenthalts im Bundesgebiet oder die Ermöglichung einer (zeitnahen) Wiedereinreise erforderlich wären, sondern hat er die Möglichkeit, seine persönlichen Bindungen zu in Österreich wohnhaften und ihm nahestehenden Personen, die im Übrigen weitestgehend türkischen Staatsangehörige sind oder einen türkischen Migrationshintergrund aufweisen, sohin mit der Sprache und der Kultur des künftigen Aufenthaltsstaates des BF vertraut sind, dadurch aufrechtzuerhalten, dass diese ihn in der Türkei oder in Drittstaaten besuchen oder den Kontakt auf anderen Wegen fortführen („Zudem bleibe es der Ehefrau des BF unbenommen, ihn in seinem zukünftigen Aufenthaltsstaat regelmäßig zu besuchen bzw. könnte der Kontakt mittels Telefon und E-Mail (wenn auch in geminderter Form) aufrechterhalten werden bzw. könnte eine anfällige weitere finanzielle Unterstützung dennoch erfolgen.“; vergleiche EGMR, Joseph Grant gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 08.01.2009, Bsw. Nr. 10.606/07, damit korrespondierend Peter Chvosta: „Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, EMRK“, ÖJZ 2007/74 mwN).
3.5.3.2. Auch der negativen Zukunftsprognose liegen nachvollziehbare behördliche Überlegungen – im Wesentlichen argumentiert das Bundesamt mit dem Vorverhalten des BF sowie insbesondere der bewussten Täuschung österreichischer Behörden - zugrunde, denen sich der erkennende Richter, der angesichts des Persönlichkeitsbildes des BF davon ausgeht, dass er auch in Zukunft versuchen wird, seinen Aufenthalt durch tatsachenwidrige Behauptungen zu legalisieren (beispielsweise hat der BF auch im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung eine aufrechte Beziehung mit der Zeugin römisch 40 faktenwidrig behauptet) und der kein Verhalten gesetzt hat, das die Annahme rechtfertigt, er sei an der Herstellung des rechtmäßigen Zustands durch Ausreise und Aufgabe seines Arbeitsplatzes interessiert - anschließt.
3.5.4. Im Sinne des oben Gesagten war auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheides nicht berechtigt und folglich als unbegründet abzuweisen.
Zu B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiter ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
ECLI:AT:BVWG:2024:L532.2283449.1.00