Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

22.02.2024

Geschäftszahl

W177 2220633-3

Spruch


W177 2220633-3/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion römisch 40 , vom 23.03.2023, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.01.2024, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), Staatsangehöriger von Afghanistan, gelangte unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet und stellte erstmals am 15.02.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.1. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 22.07.2013 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 22.07.2014 erteilt (Spruchpunkt römisch III.).

1.2. Mit Urteil des römisch 40 vom 13.10.2014, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraphen 15,, 269 Absatz eins, 1.Fall StGB und Paragraph 105, Absatz eins, StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, als junger Erwachsener, verurteilt.

1.3. Mit Bescheid vom 30.09.2016 erteilte die belangte Behörde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 bis zum 22.07.2018.

1.4. Mit Urteil des römisch 40 vom 19.05.2017, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 83, Absatz 12, StGB, zu einer Geldstrafe von 80 Tagsätzen zu je € 4,-, im Nichteinbringungsfall 40 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.

1.5. Mit Urteil des römisch 40 vom 13.08.2018, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 107, Absatz eins, StGB und Paragraph 105, Absatz eins, StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt.

1.6. Mit Bescheid vom 19.07.2018 erteilte die belangte Behörde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 bis zum 22.07.2020.

1.7. Mit Urteil des römisch 40 vom 18.01.2019, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 125, StGB, Paragraph 15, StGB und Paragraph 269, Absatz eins, StGB, Paragraph 109, Absatz 3, Ziffer eins, StGB, Paragraph 84, Absatz 2, StGB, Paragraphen 107, Absatz eins,, 107 Absatz 2, StGB, Paragraph 270, StGB zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt.

1.8. Mit Bescheid des BFA vom 13.06.2019 wurde der dem BF mit Bescheid vom 22.07.2013 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 9, Absatz eins, AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt römisch eins.), die ihm mit Bescheid vom 19.07.2019 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß Paragraph 9, Absatz 4, AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt römisch II.). Weiters wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.); gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 4, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) sowie gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG die Feststellung getroffen, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gem. Paragraph 46, FPG zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt römisch VI.). Weiters wurde gegen den BF gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG ein auf die Dauer von 6 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VII.) Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Becshwerde. Diese wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 09.11.2020, Zlen. römisch 40 und römisch 40 als unbegründet abgewiesen.

1.9. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 30.06.2020 wurde der am 25.05.2020 gestellte Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 abgewiesen.

1.10. Nachdem sich der BF von Jänner 2021 bis August 2021 in Frankreich aufgehalten hat, wurde er am 06.08.2021 rücküberstellt und stelle den verfahrensgegenständlichen zweiten Asylantrag. In der am selben Tag stattgefundenen Einvernahme gab der BF, dass er seine Fluchtgründe aufrecht erhalte und keine neuen Fluchtgründe habe. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor dem Krieg, den Taliban und seinen Familienfeinden.

1.11. Am 24.05.2022 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme vordem BFA. Nach eingehender Belehrung gab der BF an, gesund zu sein und den Dolmetscher zu verstehen. Seine Dokumente habe er in Frankreich verloren. Dorthin sei er gegangen, als ihm hier seine Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter aberkannt worden sei. Nach seiner Rücküberstellung nach Österreich habe er erneut um Asyl angesucht. Jetzt suche er Arbeit, aber er finde keine, weil er die rechtlichen Voraussetzungen nicht habe. Er vermeinte, dass er bloß Probleme mit der Polizei habe, weil er Alkohol getrunken habe. Auf Vorhalt seiner Straftaten, blieb der BF bei dieser Begründung.

Zu seinen in Afghanistan lebenden Verwandten habe er keinen Kontakt mehr. Seine Fluchtgründe wären nach wie vor unverändert. Er habe dort persönliche Feindschaften, sei aber schon seit 16 oder 17 Jahren nicht mehr in Afghanistan gewesen. Auch wären die Taliban gegen seine Familie. Er selbst würde von den Taliban rekrutiert werden und diese würden ihn als Ungläubigen ansehen, weil er vom Glauben abgefallen sei und Alkohol trinke. Wenn er in Österreich kein Asyl bekomme, müsse er in anderes Land weiterziehen. Hier werde er wie ein Tier behandelt. Er bekomme keine Dokumente und könne nicht einmal zum Arzt gehen.

Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst um sein Leben. Nach Vorhalt und Erörterung der Länderfeststellungen zu Afghanistan verzichtete der BF auf die Abgabe einer Stellungnahme. Er gab an, alles gesagt zu haben. Nach der Rückübersetzung hätten auch keine Korrekturen oder Ergänzungen vorgenommen werden müssen.

1.12. Mit undatierter Verfahrensanordnung des BF wurde dem BF bekanntgemacht, dass dieser aufgrund seiner mehrmaligen Verurteilungen gem. Paragraph 13, Absatz 2, AsylG das Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet seit 06.08.2022 verloren habe.

1.13. Mit Urteil des römisch 40 vom 09.09.2022, Zl. römisch 40 , wurde der BF gemäß Paragraph 107, Absatz eins, StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt.

1.14. Mit Bescheid des BFA vom 23.03.2023 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch II.) Weiters wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.); gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) sowie gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 und Paragraph 52, Absatz 9, FPG die Feststellung getroffen, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan unzulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Sein Aufenthalt im Bundesgebiet werde gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer 2, FPG geduldet (Spruchpunkt römisch VI.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt römisch VII.). Weiters wurde gegen den BF gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG ein auf die Dauer von 6 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VIII.).

Das BFA traf zunächst herkunftsstaatsbezogene Feststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan und begründete im angefochtenen Bescheid die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der BF sein altes Vorbringen aufrecht erhalten hat und diesem bereits keine Asylrelevanz zugekommen sei. Auch habe dieser nicht darlegen können, dass er durch die Machtübernahme der Taliban im August 2021 konkret und individuell einer Bedrohung ausgesetzt sei. Bezüglich des subsidiären Schutzes wären die Voraussetzungen gegenständlich zwar erfüllt, jedoch habe er auch einen Aberkennungsgrund nach Paragraph 8, abs. 2 Ziffer 2, AsylG verwirklicht. Aufgrund seiner zahlreichen strafrechtlichen Verurteilungen stelle er eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Für den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen, jedoch sei festzustellen gewesen, dass eine Abschiebung nach Afghanistan aufgrund der dort vorherrschenden Sicherheitslage unzulässig sei. Daher werde sein Aufenthalt gem. Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer 3, FPG geduldet. Der Ausspruch des Einreiseverbots sei aufgrund seiner Straffälligkeit und der einhergehenden Gefährdungsprognose auszusprechen gewesen.

1.15. Mit Verfahrensanordnung vom 27.03.2022 wurde dem Beschwerdeführer gemäß Paragraph 52, Absatz eins, BFA-VG für ein etwaiges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

1.16. Gegen die Spruchpunkte römisch eins. bis römisch IV. sowie römisch VII. und römisch VIII. dieses Bescheides wurde vom BF fristgerecht Beschwerde erhoben. Im mit 28.04.2023 datiertem Schreiben wurde festgehalten, dass gegenständlich ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren und in Folge dessen mangelhafte Beweiswürdigung und unrichtige rechtliche Beurteilung vorliegen würden. Als ergänzendes Vorbringen wurde festgehalten, dass Angehörige der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan einer Gruppenverfolgung unterliegen würden. Bezüglich der Ermittlungsmängel wurde geltend gemacht, dass die belangte Behörde es nicht ausreichend gewürdigt hätte, dass in den Länderberichten angeführt sei, dass die Taliban gegen Personen, die von der Religion abgefallen sehen, so wie es der BF vorgebracht habe, vorgehen würden. Daher hätte dem BF der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müssen. Des Weiteren sei ein Ausspruch einer Rückkehrentscheidung unzulässig, wenn die Abschiebung in den Herkunftsstaat nicht möglich sei. Das Einreiseverbot stelle ebenfalls einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privat- und Familienleben des BF dar, weil nicht einmal feststehe, wann und ob der BF das Bundesgebiet überhaupt verlassen könne. Ebenso wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

1.17. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch die belangte Behörde mit Schreiben vom 05.05.2023, eingelangt am 09.05.2023 zur Entscheidung vorgelegt. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge die Beschwerde als unbegründet abweisen.

1.18. Mit Urteil des römisch 40 vom 30.10.2023, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz 2 a, zweiter Fall SMG, unter Anwendung des Paragraph 39, Absatz eins und Absatz eins a, nach dem Strafsatz des Paragraph 27, Absatz 2 a, zweiter Fall SMG, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten verurteilt. Das Oberlandesgericht römisch 40 gab mit Urteil vom 23.01.2024, Zl. römisch 40 der Beschwerde gegen das Urteil vom 30.10.2023 der Berufung nicht Folge.

1.19. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 29.11.2023 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W220 abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.

1.20. Am 23.01.2024 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, zu der der BF aus der Strafhaft vorgeführt wurde, im Beisein der Rechtsvertretung des BF sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt. Das BFA als belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.

Nach der eingehenden Belehrung des BF wurde auf die Verlesung der Aktenteile verzichtet. Der Richter fasste das bisherige Vorbringen und den Akteninhalt für den BF mündlich zusammen und erörterte mit dem BF die vorläufige Beurteilung der politischen und menschen-rechtlichen Situation im Herkunftsstaat.

Danach erfolgte eine ausführliche Erörterung der Sach- und Rechtslage. Dem BF wurde die Möglichkeit eingeräumt, binnen vier Wochen (auf Antrag erstreckbar) einen Schriftsatz einzubringen, der sein Vorbringen noch einmal detailliert darstellt und allfällig vorhanden Informationen zur Situation im Herkunftsland beilegt.

Im Zuge der Befragung gab der BF an, nichts Schlimmes getan zu haben. Er sei manchmal alkoholisiert gewesen und deswegen sei es zu diesen Straftaten gekommen. Er habe sich den Festnahmen nicht widersetzt habe. Seine Taten wären nicht so schlimm gewesen und er bitte trotzdem um Verzeihung, dass er diese Taten begangen habe.

Er habe in Afghanistan keine Schule besucht. Sechs Monate sei er in einer Koranschule in einer Moschee gewesen. Er habe das Alphabet und das Beten gelernt, wie er ca. sieben oder acht Jahre alt gewesen sei. Im Iran habe er ebenfalls keine Schule besucht. In Österreich habe er Deutschkurse absolviert und im Zuge seiner ersten Inhaftierung habe er in der Platinenherstellung für römisch 40 gearbeitet.

Er könne in Deutsch lesen und schreiben, aber in seine eigene Sprache nicht. Dari könne er nur sprechen, aber nicht schreiben. Paschtu könne er auch nicht schreiben und lesen.

Bei den Befragungen bei der Polizei und den Einvernahmen beim Bundesamt (nunmehr: BFA) habe er die Wahrheit gesagt. Dies würde er heute so wiederholen. Seine damaligen Angaben müsse er aus heutiger Sicht nicht erläutern oder korrigieren. Es gebe auch keine Neuigkeiten in seiner Sache.

Gefragt, ob er durch die Straftaten nun geläutert sei, gab der BF an, dass er, bevor ich nach Frankreich gegangen sei, hier gearbeitet habe. Nach der Haftentlassung, hoffe er auf einen Aufenthaltstitel und möchte danach so schnell wie möglich arbeiten gehen. Er sei wegen der Straftaten in Haft gewesen, aber habe, so wie alle anderen Menschen auch, Wünsche. So möchte er ordentlich leben, eine Familie gründen und arbeiten gehen.

Er habe sich mit seinen Straftaten immer wieder gegen das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit gerichtet und vermeinte, dass er Probleme mit dem Alkohol gehabt hätte. Er würde er keinen Alkohol mehr trinken, wenn er eine Familie gründen und arbeiten gehen dürfe. Er habe auch ein bisschen Probleme mit Suchtgift.

Er fühle sich oft einsam. Er hätte gerne eine Frau, eine Familie und Arbeit. Dann hätte er Verantwortung und Beschäftigung.

Ab und zu trinke er Alkohol. Suchtmittel nehme er in der Haft nicht. Er zurzeit nicht in psychologischer Betreuung. Dies wolle er aber in Anspruch nehmen. Seine offensichtlichen Suchtmittelprobleme würden nicht medizinisch betreut werden. Er sei nicht süchtig. Wenn er einmal eine Woche keine Zigaretten rauche, sei dies auch für ihn in Ordnung.

Alkohol habe er bereits im Iran konsumiert in Österreich habe er Drogen konsumiert, aber nicht verkauft. Er bereue die Straftaten, die er in Österreich begangen habe.

In der Zukunft wolle er auf die Baustelle arbeiten gehen. In diesem Bereich habe er Arbeitserfahrung. Er wolle auch einen Deutschkurs besuchen. Gesundheitlich sei er bereit, dass er arbeiten gehen könne.

Es wurden die Vorakten der Erstbehörde und des BVwG zu den Zahlen römisch 40 und römisch 40 sowie sämtliche Strafurteile, die sich darin befinden, verlesen.

Danach folgte der Schluss der Verhandlung. Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß Paragraph 29, Absatz 3, VwGVG.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

1.1.1. Der BF führt den Namen römisch 40 und das Geburtsdatum römisch 40 sowie die im Spruch geführten alias-Daten. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Der BF stammt aus der Provinz Ghazni in Afghanistan, wo er geboren ist und bis zu seiner Ausreise lebte. Der BF hat eine zweijährige Schulbildung in einer Koranschule genossen und etwas Berufserfahrung als Hilfsarbeiter. Seine Muttersprache ist Dari und er spricht auch Paschtu. Er kann bloß auf Deutsch lesen und schreiben. Der BF ist ledig und kinderlos.

Zu seinen in Afghanistan lebenden Verwandten habe er keinen Kontakt mehr. Der BF ist gesund.

1.1.2. Der BF stellte erstmals am 15.02.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 22.07.2013 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 22.07.2014 erteilt (Spruchpunkt römisch III.).

Mit Bescheid des BFA vom 13.06.2019 wurde der dem BF mit Bescheid vom 22.07.2013 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 9, Absatz eins, AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt römisch eins.), die ihm mit Bescheid vom 19.07.2019 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß Paragraph 9, Absatz 4, AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt römisch II.). Weiters wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.); gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 4, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) sowie gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG die Feststellung getroffen, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gem. Paragraph 46, FPG zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt römisch VI.). Weiters wurde gegen den BF gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG ein auf die Dauer von 6 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VII.) Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde. Diese wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 09.11.2020, Zlen. römisch 40 und römisch 40 als unbegründet abgewiesen.

Der BF reiste nach Frankreich aus, wo er ca. sieben Monate verblieb.

Am 06.08.2021 stellte der BF den verfahrensgegenständlichen Folgeantrag. Seine Fluchtgründe wären nach wie vor unverändert. Er habe dort persönliche Feindschaften, sei aber schon seit 16 oder 17 Jahren nicht mehr in Afghanistan gewesen. Außerdem fürchte er im Falle seiner Rückkehr die Taliban.

Mit Bescheid des BFA vom 23.03.2023 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch II.) Weiters wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.); gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) sowie gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 und Paragraph 52, Absatz 9, FPG die Feststellung getroffen, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan unzulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Sein Aufenthalt im Bundesgebiet werde gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer 2, FPG geduldet (Spruchpunkt römisch VI.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt römisch VII.). Weiters wurde gegen den BF gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG ein auf die Dauer von 6 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VIII.).

Der BF ist in Österreich mehrmals strafgerichtlich in Erscheinung getreten und wurde insgesamt sechs Mal rechtskräftig verurteilt (s.u.).

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF brachte im gegenständlichen Verfahren keinen neuen entscheidungsrelevanten Sachverhalt vor. Über die von ihm vorgebrachten Familienstreitigkeiten wurde bereits negativ abgesprochen. Dies ist bereits vom rechtskräftig abgeschlossenen Erstverfahren umfasst bzw. kommt diesen kein glaubhafter Kern zu.

Der BF ist auch abgesehen davon in Afghanistan keiner konkreten, individuellen und asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt (etwa durch die Machtübernahme der Taliban, Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara) und hat eine solche nicht glaubhaft gemacht. Gründe, die eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung des BF im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

Der BF wird für den Fall einer Rückkehr, insbesondere auch unter Berücksichtigung aktuellster Länderberichte und der Lage nach der Machtübernahme durch die Taliban, keiner Verfolgung aufgrund des Trinkens von Alkohol ausgesetzt sein.

Der BF wäre in Afghanistan auch wegen seines Aufenthaltes in einem europäischen Land keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Er hat seit seiner Einreise in Österreich keine Lebensweise angenommen (u.a., weil er etwa Alkohol trinkt), die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Den beigezogenen Länderberichten ist nicht zu entnehmen, dass Rückkehrer aus Europa in besonderer Form von Gewalt und Bedrohung betroffen wären, sodass auch eine generelle (Gruppen-)Verfolgung von Rückkehrern aus Europa nicht gegeben ist.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF nach Afghanistan:

1.3.1. Der BF würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheits- und Versorgungslage in Zusammenschau mit seiner persönlichen Situation in eine existenzbedrohende Notlage geraten.

1.3.2. Der BF wurde in Österreich mehrfach strafgerichtlich verurteilt und ist als gemeingefährlich einzustufen. Es liegt ein Ausschlussgrund gem. Paragraph 8, Absatz 3 a, in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG vor:

1.3.2.1. Mit Urteil des römisch 40 vom 13.10.2014, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraphen 15,, 269 Absatz eins, 1.Fall StGB und Paragraph 105, Absatz eins, StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, als junger Erwachsener, verurteilt.

1.3.2.2. Mit Urteil des römisch 40 vom 19.05.2017, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 83, Absatz 12, StGB, zu einer Geldstrafe von 80 Tagsätzen zu je € 4,-, im Nichteinbringungsfall 40 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.

1.3.2.3. Mit Urteil des römisch 40 vom 13.08.2018, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 107, Absatz eins, StGB und Paragraph 105, Absatz eins, StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt.

1.3.2.4. Mit Urteil des römisch 40 vom 18.01.2019, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 125, StGB, Paragraph 15, StGB und Paragraph 269, Absatz eins, StGB, Paragraph 109, Absatz 3, Ziffer eins, StGB, Paragraph 84, Absatz 2, StGB, Paragraphen 107, Absatz eins,, 107 Absatz 2, StGB, Paragraph 270, StGB zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt.

1.3.2.5. Mit Urteil des römisch 40 vom 09.09.2022, Zl. römisch 40 , wurde der BF gemäß Paragraph 107, Absatz eins, StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt.

1.3.2.6. Mit Urteil des römisch 40 vom 30.10.2023, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz 2 a, zweiter Fall SMG, unter Anwendung des Paragraph 39, Absatz eins und Absatz eins a, nach dem Strafsatz des Paragraph 27, Absatz 2 a, zweiter Fall SMG, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten verurteilt.

Das Oberlandesgericht römisch 40 gab mit Urteil vom 23.01.2024, Zl. römisch 40 der Beschwerde gegen das Urteil vom 30.10.2023 der Berufung nicht Folge.

1.4. Zum (Privat-)Leben des BF in Österreich (Rückkehrentscheidung):

1.4.1. Der BF verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte.

Der BF beherrscht die deutsche Sprache auf elementarem Konversationsniveau und verfügt über Deutschkenntnisse, kann jedoch lesen und schreiben. Er hat bisher keine Deutschprüfung absolviert. Er ist im Bundesgebiet, abgesehen von der Zeit in Haft, niemals einer Beschäftigung nachgegangen und lebte die meiste Zeit im Bundesgebiet von Sozialleistungen, und zwar von der Grundversorgung. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig.

Der BF hat im Bundesgebiet weder Verwandte noch Personen zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Er führt weder eine Beziehung noch hat er schützenswertes Familienleben. Er bewegt sich in Österreich in einem sehr schmalen Freundes- und Bekanntenkreis und geht in seiner Freizeit spazieren. Einen geregelten Tagesablauf hat er nicht.

Der BF verbrachte aufgrund seiner strafgerichtlichen Verurteilungen insgesamt 18 Monate in Haft und wurde zuletzt am römisch 40 aus der zuletzt verbüßten Haft entlassen.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.4.2. Das BFA hat im angefochtenen Bescheid gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 und Paragraph 52, Absatz 9, FPG die Feststellung getroffen, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan unzulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.) (Spruchpunkt römisch VI.) und stellte ebenfalls fest, dass der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer 2, FPG geduldet ist, wovon seine Ausreiseverpflichtung unberührt bleibt. Spruchpunkt römisch fünf. und Spruchpunkt römisch VI. des angefochtenen Bescheides wurde mit Beschwerdeerhebung nicht bekämpft und erwuchs somit in Rechtskraft.

1.5. Länderspezifische Anmerkungen:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 28.09.2023 (Version 10, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

COVID-19:

Informationen zu COVID-19 sind den jeweiligen Kapiteln (z. B. Medizinische Versorgung, Grundversorgung und Wirtschaft etc...) zu entnehmen.

Europäische Partner

Die Staatendokumentation bedankt sich bei ihren europäischen Partnern, deren COI-Berichte für die Erstellung der vorliegenden Länderinformationen sehr hilfreich waren. Da die Methodologie der Staatendokumentation vorgibt, soweit möglich, Primärquellen zu verwenden, werden die Produkte europäischer Partner jedoch nicht immer direkt zitiert. Hervorzuheben sind folgende Partnerorganisationen:

ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation

BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland]

Danish Immigration Service - Dänische Einwanderungsbehörde [Dänemark]]

EUAA - European Union Agency for Asylum

Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen]

Migrationsverket - Schwedisches Migrationsamt [Schweden]

SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz]

Taliban-Regierung

Die Regierung der Taliban, das "Islamische Emirat Afghanistan" wurde mit Stand Februar 2023 von keinem Land der Welt anerkannt. Sie gilt als eine de-facto-Regierung mit de-facto-Ministerien und de-facto-Ministern. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in den Länderinformationen auf die wiederholte Bezeichnung "de-facto" verzichtet.

Politische Lage

Letzte Änderung 2023-09-21 13:02

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023). Sie bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vergleiche VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem "islamischen Recht und den afghanischen Werten" regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweisen bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vergleiche REU 7.9.2021a; VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vergleiche DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023). Innerhalb weniger Wochen kündigten die Taliban "Interims"-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vergleiche HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vergleiche USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vergleiche GD 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023).

Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.6.2023).

Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 8.9.2021; vergleiche REU 7.9.2021b, Afghan Bios 18.7.2023a).

Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 7.9.2021; vergleiche REU 7.9.2021b, Afghan Bios 16.2.2022) der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.2.2021 unterzeichnete (AJ 7.9.2021; vergleiche VOA 29.2.2020) und Abdul Salam Hanafi (REU 7.9.2021b; vergleiche Afghan Bios 7.7.2022b) der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 7.7.2022b; vergleiche UNSC o.D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 18.7.2023b; vergleiche 8am 5.10.2021, UNGA 28.1.2022).

Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vergleiche JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vergleiche Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vergleiche Afghan Bios 1.3.2023) welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 1.3.2023; vergleiche UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vergleiche Afghan Bios 4.5.2023) dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 4.5.2023; vergleiche RFE/RL 29.8.2020). Auch hohe Beamte auf subnationaler Ebene, darunter Provinzgouverneure, Polizeichefs, Abteilungsleiter, Bürgermeister und Distriktgouverneure, wurden in weiterer Folge ernannt (UNGA 28.1.2022; vergleiche 8am 5.10.2021).

Nach ihrer Machtübernahme kündigten hochrangige Taliban-Führer eine weitreichende Generalamnestie an, die Repressalien für Handlungen vor der Machtübernahme durch die Taliban untersagte, auch gegen Beamte und andere Personen, die mit der Regierung vor dem 15.8.2021 in Verbindung standen (USDOS 12.4.2022a; vergleiche UNGA 28.1.2022). Es wird jedoch berichtet, dass diese Amnestie nicht konsequent eingehalten wurde, und es kam zu willkürlichen Verhaftungen, gezielten Tötungen und Angriffen auf ehemalige afghanische Regierungsmitarbeiter (ANI 20.7.2022; vergleiche USDOS 20.3.2023, UNGA 28.1.2022).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vergleiche RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022), was Experten als ein Zeichen für eine Spaltung der Gruppe in Bezug auf die künftige Ausrichtung der Herrschaft in Afghanistan bezeichnen (GD 6.7.2022). Seitdem sind die Mädchenbildung und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von "duellierenden Machtzentren" zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022).

In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet habe, und "die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung" seien dabei, zu Ende zu gehen(AnA 18.4.2023; vergleiche BAMF 30.6.2023).

Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mudschahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vergleiche BAMF 30.6.2023).

Bisher hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 30.10.2022; vergleiche REU 15.6.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder, unter anderem Iran, Türkei, Pakistan, Russland, China und Kazakhstan, entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.3.2023; vergleiche OI 25.3.2023).

Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban, Khan Muttaqi mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (OPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vergleiche VOA 6.5.2023).

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2023-09-15 15:51

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.1.2022, vergleiche UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vergleiche UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023).

UNAMA registrierte zwischen dem 15.08.2021 und dem 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.6.2023; vergleiche AA 26.6.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.6.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)

1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)

22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)

17.8.2022 - 13.11.2022: 1,587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)

14.11.2022 - 31.1.2023: 1,088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)

1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)

Ende 2022 und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vergleiche UNGA 20.6.2023). Die Nationale Widerstandsfront, die Afghanische Freiheitsfront und die Bewegung zur Befreiung Afghanistans (ehemals Afghanische Befreiungsfront) bekannten sich zu Anschlägen in den Provinzen Helmand, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan und Panjsher (UNGA 27.2.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.4.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront im Bezirk Salang in der Provinz Parwan, bei der, Berichten zufolge, acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.6.2023).

Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.7.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlich TTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und ISKP (Islamic State Khorasan Province) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.7.2023).

Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vergleiche UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022) so nahmen die im Lauf des Jahres 2022 (UNGA 7.12.2022; vergleiche UNGA 27.2.2023) und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 wieder ab (UNGA 20.6.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.1.2023). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.6.2023).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7 % bzw. 70,7 % der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).

Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen (AA 20.7.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021a; vergleiche DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vergleiche NYT 29.8.2021) unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vergleiche BBC 20.8.2021a, 8am 14.11.2022). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021).

Regionen Afghanistans

Letzte Änderung 2023-09-21 13:03

Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 23.8.2023) leben ca. 34,3 (NSIA 4.2022) bis 39,2 Millionen Menschen (CIA 23.8.2023). Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (ICG 12.8.2022; vergleiche AA 26.6.2023) und grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 23.8.2023).

Zentral-Afghanistan

Letzte Änderung 2023-09-25 06:56

Das zentrale Hochland Afghanistans ist eine Bergregion zwischen den Koh-i-Baba-Bergen an den westlichen Enden des Hindukusch, die auch Hazarajat genannt wird. Es ist die Heimat der Hazara, die den größten Teil der Bevölkerung ausmachen. Hazarajat bezeichnet eher eine ethnische und religiöse als eine geografische Zone. Die Region umfasst hauptsächlich die Provinzen Bamyan, Daikundi, Ghor und große Teile von Ghazni, Uruzgan, Parwan und Maidan Wardak. Die bevölkerungsreichsten Städte im Hazarajat sind Bamyan, Yakawlang, Nili, Lal wa Sarjangal und Ghazni (DBpedia o.D.).


NSIA 4.2022 *geschätzte Bevölkerungszahl 2022-23

Provinz Provinzhauptstadt Bevölkerungszahl*

Bamyan   Bamyan   531.190

Daikundi Nili       534.680

Ghazni   Ghazni   1,411.380

Ghor       Firuzkoh (Chighcheran) 791.480

(Maidan) Wardak Maidan Shahr 683.540

Parwan   Charikar 764.580

Uruzgan (Urozgan) Tirinkot (Tarinkot) 451.640

Distrikte nach Provinz (NSIA 4.2022)

Bamyan: Bamyan, Kahmard, Panjab, Saighan, Shebar, Waras, Yakawlang sowie der „temporäre“ Distrikt Yakawlang zwei

Daikundi: Ishterlai, Pato, Kejran, Khedir, Kiti, Miramor, Sang-e-Takht (Sang Takht), Shahristan

Ghazni: Ab Band, Ajristan, Andar, Deh Yak, Gelan, Giro, Jaghatu, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur, Nawa, Nawur, Qara Bagh, Rashidan, Waghaz, Wali Muhammad Shahid (Khugyani), Zanakhan

Ghor: Chighcheran (Firuzkoh), Char Sada, Dawlatyar, Duleena, Lal Wa Sarjangal, Pasaband, Saghar, Shahrak, Taywara, Tulak, Murghab

Maidan Wardak: Chak-e-Wardak, Daimir Dad, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu, Jalrez, Markaz-e-Behsud, Maidan Shahr, Nerkh, Sayyid Abad

Parwan: Bagram, Charikar, Syahgird (auch Ghurband/Ghorband), Jabulussaraj, Koh-e-Safi, Salang, Sayyid Khel, Shaykh Ali, Shinwari, Surkhi Parsa

Uruzgan (auch Urozgan): Chora, Dehraoud, Gizab, Khas Urozgan, Shahidhassas, Tirinkot/Tarinkot

Erreichbarkeit

Letzte Änderung 2023-09-25 06:57

Straßen sind die wichtigsten Transportwege in Afghanistan, das über ein Straßennetz von etwa 3.300 km regionalen Fernstraßen, 4.900 km nationalen Fernstraßen, 9.700 km Provinzstraßen, 17.000-23.000 km ländlichen Straßen und etwa 3.000 km städtischen Straßen, darunter 1.060 km in Kabul, verfügt. 7 % der Straßen in Afghanistan sind asphaltiert (TSI 19.6.2022). Die ca. 2.300 km lange sogenannte "Ring Road" verbindet die vier größten Städte Afghanistans, nämlich Kabul, Kandahar, Herat und Mazar-e Sharif (TSI 19.6.2022; vergleiche RTP 6.4.2022). 700 km grenzüberschreitende Straßen verbinden die Ring Road mit den Nachbarländern (TSI 19.6.2022).

Medien berichten weiterhin von Taliban-Kontrollpunkten an den Straßen (NLM 20.8.2022; vergleiche 8am 21.5.2022, VOA 14.8.2022) und in den Grenzregionen Afghanistans (8am 24.7.2022; vergleiche RFE/RL 19.2.2022), beispielsweise zwischen dem Flughafen Kabul und Kabul-Stadt (NPR 9.6.2022; vergleiche VOA 12.5.2022). Diese nahmen Berichten zufolge im Juli 2022 in der Provinz Panjsher zu (8am 12.7.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von "Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger" (HRW 30.3.2022). Dennoch wurden im Vergleich zur Zeit vor der Machtübernahme der Taliban Hunderte Checkpoints an Straßen und Autobahnen abgebaut, weil die Taliban nicht genügend Personal haben, um sie aufrechtzuerhalten, und weil sie in den ländlichen Dörfern, in denen ihre Kämpfer während des jahrzehntelangen Aufstands stationiert waren, keine größere Bedrohung sehen (ICG 12.8.2022).

Nach der Machtübernahme der Taliban sind die Treibstoffpreise zunächst gestiegen (IOM 12.1.2023; vergleiche WEA 17.7.2022). Im Februar 2021 kostete ein Liter Diesel in Kabul ca. 48 AFN, mit Februar 2023 waren es ca. 86 AFN. Mit August 2023 lag der Preis für ein Liter Diesel bei 60 AFN (WFP 27.8.2023).

Transportwesen

Busse und Taxis sind, abgesehen von Flugzeugen, die einzigen öffentlichen Verkehrsmittel, die in Afghanistan zur Verfügung stehen (RA KBL 23.1.2023). Sie sind 24 Stunden am Tag verfügbar (IOM 12.4.2022). Schätzungen zufolge gibt es ca. zehn führende Anbieter (RA KBL 23.1.2023).

Der folgenden Tabelle können Beispiele für Preise entnommen werden. Diese sind infolge des höheren Preises für Treibstoffe deutlich gestiegen (RA KBL 23.1.2023).


RA KBL 23.1.2023, ein Euro entspricht mit Stand August 2023 ca. 92 AFN

Strecke Preis (Stand 23.1.2023)

Kabul - Mazar AFN 850 - 900 (Bus); AFN 8.000 (Taxi alleine); AFN 2.000 (Sammeltaxi)

Kabul - Herat AFN 1.800 (Bus)

Flugverbindungen

Afghanistan verfügt über mehrere internationale und nationale Flughäfen, wie den internationalen Hamid-Karzai-Flughafen in Kabul, der mit Stand 21.8.2023 unter anderem Flüge zwischen Afghanistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi Arabien, der Türkei, Russland, Pakistan und Indien anbietet (Flightradar 24 21.8.2023a), oder der internationale Flughafen in Mazar-e Sharif, der mit Stand 21.8.2023 die Türkei und Pakistan anfliegt (Flightradar 24 21.8.2023b). Weitere Flughäfen in Afghanistan befinden sich unter anderem in Herat, Kandahar, Jalalabad und Farah, wobei nicht alle Flughäfen in Afghanistan regelmäßig angeflogen werden (Flightradar 24 21.8.2023c).

Grenzübergänge

Die Taliban haben die Überquerung der Grenze nach Pakistan und Iran ohne gültige Papiere verboten (RFE/RL 3.6.2022b; vergleiche USDOS 12.4.2022a). Jedoch wird dieses Verbot von Schmugglern durch Bestechung von Grenzbeamten umgangen (RFE/RL 3.6.2022b; vergleiche RFE/RL 27.5.2022). Es gibt Berichte, wonach Afghanen aufgrund medizinischer Probleme auch ohne Dokumente nach Pakistan reisen konnten (USDOS 12.4.2022a).

Im Jahr 2022 kam es zu Zusammenstößen zwischen Taliban und Grenzsoldaten an den Grenzen zwischen Afghanistan und Pakistan (AJ 13.12.2022; vergleiche DAWN 22.11.2022, AA 26.6.2023) sowie Afghanistan und Iran (REU 31.7.2022; vergleiche AJ 31.5.2023, AA 26.6.2023), die sich in der ersten Hälfte des Jahres 2023 fortsetzten (AJ 31.5.2023; vergleiche AN 17.6.2023, VOA 5.6.2023, UNGA 20.6.2023), wobei bis zum Sommer 2023 ein Rückgang der Zwischenfälle an den Grenzen festgestellt wurde (UNGA 20.6.2023). Es kommt zu temporären Schließungen pakistanischer (AJ 13.12.2022; vergleiche VOA 21.2.2023) und iranischer Grenzübergange (TN 23.1.2023; vergleiche AnA 23.1.2023, AJ 31.5.2023).

Zentrale Akteure

Taliban

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe, die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vergleiche VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).

Nach der US-geführten Invasion, mit der das ursprüngliche Regime 2001 gestürzt wurde, gruppierten sich die Taliban jenseits der Grenze in Pakistan neu und begannen weniger als zehn Jahre nach ihrem Sturz mit der Rückeroberung von Gebieten (CFR 17.8.2022). Nachdem die Vereinigten Staaten ihre verbleibenden Truppen im August 2021 aus Afghanistan abzogen, eroberten die Taliban mit einer raschen Offensive die Macht in Afghanistan (CFR 17.8.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022a). Am 15.8.2021 floh der bisherige afghanische Präsident Ashraf Ghani aus Afghanistan und die Taliban nahmen Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (BBC 15.8.2022; vergleiche AI 29.3.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vergleiche Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vergleiche CFR 17.8.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität' in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022a; vergleiche Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 unterstand die militärische Befehlskette der Kommission für militärische Angelegenheiten der Taliban. Diese Einrichtung wurde von Mullah Yaqoob, der 2020 zum Leiter der militärischen Operationen der Taliban ernannt wurde, sowie Sirajuddin Haqqani, dem Anführer des Haqqani-Netzwerks, dominiert (EUAA 8.2022a, RFE/RL 6.8.2021). Die Kommission für militärische Angelegenheiten funktionierte ähnlich wie ein Ministerium, mit "Vertretern auf Zonen-, Provinz- und Distriktebene" (VOA 5.9.2021; vergleiche EUAA 8.2022a).

In der Befehlskette von der untersten Ebene aufwärts untersteht jeder Taliban-Befehlshaber auf Distriktebene einem Provinzkommando. Drei oder mehr Provinzkommandos bilden Berichten zufolge einen von sieben regionalen "Kreisen". Diese "Kreise" werden von zwei stellvertretenden Leitern der Kommission für militärische Angelegenheiten beaufsichtigt, von denen einer für die "westliche Zone" der militärischen Führung der Taliban (die 21 Provinzen umfasst) und der andere für die "östliche Zone" (13 Provinzen) zuständig war (RFE/RL 6.8.2021; vergleiche EUAA 8.2022a). Nach Einschätzung des United States Institute of Peace (USIP) wurde diese Aufteilung der Zuständigkeiten für militärische Angelegenheiten zwischen Yaqoob und Haqqani offenbar durch ihre jeweilige Ernennung zum Innen- und Verteidigungsminister der Taliban im September 2021 gefestigt (USIP 9.9.2021; vergleiche EUAA 8.2022a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von "einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität" zu entwickeln (EUAA 8.2022a; vergleiche NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022a; vergleiche DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022a; vergleiche REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022a; vergleiche DW 11.10.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks, eine Beziehung zum Führer von Al-Qaida, Usama bin Laden (UNSC o.D.c; vergleiche FR24 21.8.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o.D.c; vergleiche ASP 1.9.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o.D.c). Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o.D.c, vergleiche VOA 4.8.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vergleiche UNSC o.D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom, auch wenn es den Taliban angehört (FR24 21.8.2021).

Es befehligt eine Truppe von 3.000 bis 10.000 traditionellen bewaffneten Kämpfern in den Provinzen Khost, Paktika und Paktia (VOA 30.8.2022). Berichten zufolge kontrolliert die Gruppe inzwischen auch mindestens eine Eliteeinheit und überwacht die Sicherheit in Kabul und in weiten Teilen Afghanistans (VOA 30.8.2022; vergleiche UNSC 26.5.2022).

Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu Al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, dem Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.8.2022; vergleiche UNSC 26.5.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.5.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.8.2022; vergleiche DT 7.5.2022) und den Tehreek-e Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.5.2022).

Anti-Taliban-Widerstandsgruppen / Opposition

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 20.7.2022; vergleiche FH 24.2.2022a). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland. Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt. Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 20.7.2022).

Der Informationsfluss in Afghanistan ist insbesondere im Hinblick auf oppositionelle Bewegungen stark eingeschränkt und die Taliban zensieren die Berichterstattung. Dies macht die Einschätzung eines definitiven Bildes der Situation oft sehr schwierig (BAMF 10.2022; vergleiche RFE/RL 13.5.2022a).

In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen, wobei sich deren Führung oft im Ausland aufhält (Migrationsverket 29.4.2022; vergleiche EUAA 8.2022a). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen würden, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (Migrationsverket 29.4.2022; vergleiche SIGA 7.4.2022, VOA 28.4.2022b). Auch gibt es zwischen den Gruppierungen Rivalitäten darüber, welche Gruppierung "am fähigsten ist, den Anti-Taliban-Widerstand anzuführen" (SIGA 7.4.2022). Aktuell gehen Experten nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (FR24 15.8.2022; vergleiche BAMF 10.2022, SIGA 7.4.2022, AA 20.7.2022). Auch wenn die Unterstützung der Taliban innerhalb der Bevölkerung Afghanistans eher gering ist, so wird Stabilität bewaffneten Auseinandersetzungen vorgezogen, womit auch die Unterstützung der bewaffneten Gruppen als mäßig einzuschätzen ist (FR24 15.8.2022; vergleiche BAMF 10.2022).

National Resistance Front (NRF)

Letzte Änderung 2023-09-21 13:02

Im Panjsher-Tal, rund 145 km von Kabul entfernt (DIP 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF) (AA 20.7.2022; vergleiche LWJ 6.9.2021, ANI 6.9.2021), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghanischer Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird (LWJ 6.9.2021; vergleiche ANI 6.9.2021). Die NRF erklärt, dass sie demokratische Wahlen anstreben und das afghanische Volk selbst über die Zukunft des Landes entscheiden soll (REU 30.11.2022; vergleiche Afintl 30.6.2022).

Die NRF besteht Berichten zufolge aus Zivilisten, ehemaligen ANDSF-Mitarbeitern (SIGAR 30.4.2022; vergleiche RFE/RL 13.5.2022b) und ehemaligen Mitgliedern der Regierung sowie politischen Opposition (UNGA 28.1.2022). Die meisten Mitglieder der Gruppe sind ethnische Tadschiken (RFE/RL 19.5.2022; vergleiche AJ 17.10.2022). Auch wenn Berichten zufolge die NRF die bekannteste bzw. die am weitesten entwickelte Anti-Taliban-Widerstandsgruppe ist (VOA 28.4.2022b; vergleiche ISW 13.1.2023), herrscht weiterhin Unklarheit darüber, welche Gruppen mit ihr verbündet sind (Migrationsverket 29.4.2022). Im April 2022 wurde geschätzt, dass die Gruppierung über einige Tausend Kämpfer verfügt (VOA 28.4.2022b), wobei die NRF im August verkündete, über 4.000 Kämpfer unter ihrem Kommando stehen (8am 31.8.2022; vergleiche BAMF 10.2022). Die NRF besteht auch aus mehreren regionalen Einheiten, deren Kommandeure loyal zu Massoud sind (VOA 28.4.2022b; vergleiche REU 30.11.2022). Unter den Kämpfern sind auch Einheiten der ehemaligen afghanischen Armee (BBC 16.5.2022; vergleiche BAMF 10.2022). So soll sich beispielsweise die Spezialeinheit "Afghan National Army Special Operations Command" (ANASOC) der NRF angeschlossen haben (BAMF 10.2022). Eine afghanische NGO und ein Analyst aus Kabul weisen jedoch darauf hin, dass die große öffentliche Aufmerksamkeit, welche die NRF in den Medien und auf anderen Kanälen erfährt, nicht die begrenzte Anzahl von Anhängern widerspiegelt, die die Gruppe in Afghanistan hat (Migrationsverket 29.4.2022; vergleiche EUAA 8.2022a).

Auch wenn der NRF international gut vernetzt ist, vor allem in den USA (BAMF 10.2022; vergleiche . VOA 1.11.2021), beschwert sich Massoud über fehlende internationale Unterstützung (BAMF 10.2022; vergleiche BBC 12.7.2022, AC 11.8.2022). In einer nicht zu bestätigenden Erklärung Ende März 2022 erklärte die NRF, dass sie in mehr als 12 Provinzen aktiv sei, auch im Süden und Osten des Landes (SIGA 7.4.2022; vergleiche NYSUN 16.1.2023, ObRF 17.6.2022), unter anderem in den Provinzen Panjsher, Baghlan, Takhar, Nangarhar, Kapisa, (ObRF 17.6.2022) Parwan und Badakhshan (SE 20.12.2022). Im Juni gab ein Sprecher der NRF an, dass sie hauptsächlich Waffen verwenden, die aus Tadschikistan und Usbekistan über die Grenze geliefert werden würden, jedoch litt die Gruppierung Berichten zufolge unter einen Mangel an Munition (Afintl 31.12.2022; vergleiche EUAA 8.2022a).

Medien berichten von mehreren Angriffen, die vor allem auf Kontrollpunkte und Außenposten der Taliban abzielen und dem NRF zugeschrieben werden (NYT 4.3.2022), wobei von verstärkten Kämpfen im Jänner/Februar (ACLED/APW 4.2022; vergleiche 8am 25.5.2022, 8am 17.1.2022) sowie im Mai 2022 berichtet wurde (RFE/RL 19.5.2022; vergleiche 8am 5.5.2022). Aus dem Panjsher-Tal wurde berichtet, dass Angriffe auf Taliban-Stellungen regelmäßig stattfanden und Dutzende von Menschen, sowohl Taliban-Kämpfer (VOA 14.9.2022; vergleiche Telegraph 12.5.2022) als auch Mitglieder der Widerstandsbewegung, getötet worden waren (VOA 14.9.2022; vergleiche AMU 14.9.2022, AN 18.10.2022).

Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 gehen die Kämpfe zwischen NRF und den Taliban weiter. Zusammenstöße gibt es in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.8.2022; vergleiche AJ 14.9.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022), Takhar (8am 14.8.2022; vergleiche AaNe 21.8.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.8.2022; vergleiche KP 21.8.2022, Afintl 12.12.2022), Khost (8am 13.8.2022), Kapisa (AaNe 24.8.2022; vergleiche 8am 21.11.2022a) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022a; AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).

Im Oktober konnte die NRF laut Medienberichten erstmals einen Distrikt in der Provinz Badakhshan erobern (Afintl 11.10.2022a; vergleiche AaNe 10.10.2022), wobei anderen Berichten zufolge die Taliban die Kontrolle über den Distrikt kurz danach wieder übernehmen konnten (AMU 4.10.2022), bzw. nach Angaben der Taliban sie diesen nie verloren (Afintl 4.10.2022).

Weitere Widerstandsbewegungen

Letzte Änderung 2023-03-01 15:09

Afghanistan Islamic National and Liberation Movement

Das "Afghanistan Islamic National and Liberation Movement" gab seine Gründung Mitte Februar 2022 bekannt. Es wird angenommen, dass es die bislang einzige Anti-Taliban-Bewegung ist, die zum größten Teil aus Paschtunen besteht. Sie wird von Abdul Matin Suleimankhel angeführt, einem Kommandeur der ehemaligen ANA Special Operations Corps (SIGA 7.4.2022; vergleiche VOA 14.9.2022). Mitte März gab die Gruppierung an, dass sie über "Tausende Kämpfer" in mehr als zwei Dutzend Provinzen verfügen würde, wobei sich ihre Aktivitäten offenbar hauptsächlich auf die von Paschtunen bewohnten südlichen und östlichen Teile des Landes konzentrieren (Helmand, Kandahar, Paktika und Nangarhar) (SIGA 7.4.2022). Experten zufolge sind die Kapazitäten und Fertigkeiten der Gruppe begrenzter als von ihr behauptet (SIGA 7.4.2022; vergleiche VOA 28.4.2022b). Eine Explosion, die sich am 27.3.2022 in Helmand ereignete, wird der Gruppierung zugeschrieben (SIGA 7.4.2022).

Afghanistan Freedom Front (AFF)

Die AFF erklärte ihre Gründung am 11.3.2022 (SIGA 7.4.2022; vergleiche VOA 28.4.2022b). Zwar gab die Gruppierung ihre Führungspersönlichkeiten nicht offiziell bekannt, jedoch wird vermutet, dass General Yasin Zia, ein ehemaliger Verteidigungsminister und Generalstabschef, zu den Anführern der Gruppe gehört (VOA 28.4.2022b). Eigenen Angaben zufolge zählt die AFF "Tausende Kämpfer" und ist "in allen 34 Provinzen Afghanistans aktiv", wobei diese Behauptungen nicht durch andere Quellen belegt werden können. Die Gruppe veröffentliche regelmäßig Videos von Anschlägen, die sei für sich reklamiert, unter anderem in den Provinzen Kapisa, Parwan, Takhar, Baghlan, Sar-e Pul, Badakhshan und Kandahar, wobei auch hier eine unabhängige Überprüfung dieser Behauptungen schwierig ist (SIGA 7.4.2022). Die AFF scheint aus einzelnen Milizen zu bestehen, die sich an der Front zusammengeschlossen haben (BAMF 10.2022). So wurden im August 2022 Videos von drei Gruppen in den Provinzen Farah (BAMF 10.2022; vergleiche 8am 20.8.2022), Ghor und Faryab gepostet, die ihren Kampf gegen die Taliban als Teil der AFF ankündigten (BAMF 10.2022). Ein Angriff der AFF auf eine Polizeistation in Takhar am 23.3.2022 wurde von den Taliban bestätigt (SIGA 7.4.2022).

Weitere Gruppierungen

Zu den anderen Widerstandsgruppen, die ihre Präsenz angekündigt haben, gehören die Turkestan Freedom Tigers, die Berichten zufolge am 7.2.2022 einen kleinen Angriff auf einen Kontrollpunkt der Taliban in der Nähe der Stadt Sheberghan (Provinz Jawzjan) verübt haben (ISW 13.1.2023), der National Resistance Council (dem angeblich eine Reihe prominenter Anti-Taliban-Persönlichkeiten aus dem Exil wie Ata Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum angehören), die Liberation Front of Afghanistan, die Unknown Soldiers of Hazaristan, die angeblich auf aus Hazara bestehende Freedom and Democracy Front und eine Gruppe namens Freedom Corps (angeblich in Teilen der Provinz Takhar aktiv) (SIGA 7.4.2022; vergleiche VOA 28.4.2022b). Über die Führung und die Fähigkeiten dieser Gruppen ist wenig bekannt (VOA 28.4.2022b). Andere Gruppen schienen in der Zwischenzeit aktiv zu sein und zu operieren, obwohl von ihnen reklamierte Angriffe und Fähigkeiten zuweilen infrage gestellt wurden (SIGA 7.4.2022).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Letzte Änderung 2023-09-15 15:50

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf die Jahre 2014/2015 zurück (AAN 17.11.2014; vergleiche LWJ 5.3.2015, MEE 27.8.2021). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei "Khorasan" die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst (EB 3.1.2023; vergleiche MEE 27.8.2021). Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.8.2021; vergleiche AAN 1.8.2017).

Die Vereinten Nationen und das United States Institute of Peace bewerten den ISKP aktuell als die schwerwiegendste terroristische Bedrohung in Afghanistan und der gesamten Region (UNSC 25.7.2023; vergleiche USIP 7.6.2023). Der ISKP hat schätzungsweise 4.000 bis 6.000 Mitglieder, einschließlich Familienangehörige. Sanaullah Ghafari (alias Shahab al-Muhajir) wird als der ehrgeizigste Anführer des ISKP angesehen (UNSC 25.7.2023). Im Juni 2023 wurde berichtet, dass Ghafari in Afghanistan getötet wurde (VOA 9.6.2023; vergleiche UNSC 25.7.2023). Dies muss noch bestätigt werden. Mawlawi Rajab ist der Leiter der externen Operationen des ISKP (UNSC 25.7.2023).

Das "Kerngebiet" des ISKP bleibt Afghanistan und Pakistan. Obwohl der ISKP zunächst als ein von Pakistan dominiertes Netzwerk auftrat, konzentrierte es sich bald auf Afghanistan. Dort hat es seine Strategie von der Kontrolle des Territoriums auf die Führung eines urbanen Krieges umgestellt. Es stellte eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die frühere afghanische Regierung dar und versucht nun, die Regierungsbemühungen der Taliban zu stören (USIP 7.6.2023). Die Kernzellen des ISKP in Afghanistan befinden sich vor allem in den östlichen Provinzen Kunar, Nangarhar und Nuristan in Afghanistan, wobei eine große Zelle in Kabul und Umgebung aktiv ist. Kleinere Gruppen wurden in den nördlichen und nordöstlichen Provinzen Badakhshan, Faryab, Jawzjan, Kunduz, Takhar und Balkh entdeckt. Da Balkh eine der wirtschaftlich am weitesten entwickelten Provinzen im Norden ist, ist sie für den ISKP nach wie vor von vorrangigem Interesse in Hinblick auf die Erzielung von Einnahmen. Es wird berichtet, dass der ISKP mit dem Schmuggel von Rauschgift begonnen hat, was eine neue Entwicklung darstellt (UNSC 13.2.2023).

Auch in anderen Teilen des Landes wurden ISKP-Aktivitäten registriert (UNGA 14.9.2022; vergleiche UNGA 7.12.2022). Einer Quelle zufolge liegt ein Grund für die größere geografische Reichweite des ISKP darin, dass es für den ISKP angesichts der schwachen Taliban-Präsenz entlang des Straßennetzes des Landes nun einfacher sei, auf den Straßen zu reisen, ohne kontrolliert zu werden (Migrationsverket 29.4.2022; vergleiche EUAA 8.2022a). Darüber hinaus war die Gruppe nicht mehr mit Anti-Terror-Operationen unter der Führung externer Kräfte konfrontiert und konnte die begrenzten Ressourcen und die schwache Kontrolle der Taliban in einigen Teilen Afghanistans ausnutzen (CTC Sentinel 1.2022; vergleiche EUAA 8.2022a).

Einem Analysten zufolge hat der ISKP klare Ambitionen, sich weiter in Gebiete im Norden des Landes auszudehnen, um die dort vorherrschenden ethnischen Spannungen auszunutzen (EUAA 8.2022a; vergleiche Migrationsverket 29.4.2022, Landinfo 9.3.2022). Derselbe Analyst erklärte im März 2022 außerdem, dass es keine Anzeichen dafür gäbe, dass der ISKP in der Lage sei, die Taliban kurzfristig herauszufordern (EUAA 8.2022a; vergleiche Landinfo 9.3.2022).

Die Gruppe geht bei ihren Anschlägen gegen die Taliban und internationale Ziele immer raffinierter vor und konzentriert sich auf die Durchführung einer Strategie mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen, um die Fähigkeit der Taliban zur Gewährleistung der Sicherheit zu untergraben. Insgesamt zeigten die Angriffe des ISKP starke operative Fähigkeiten in den Bereichen Aufklärung, Koordination, Kommunikation, Planung und Ausführung. Darüber hinaus haben die Anschläge gegen hochrangige Taliban-Persönlichkeiten in den Provinzen Balkh, Badakhshan und Baghlan die Moral des ISKP gestärkt und die Rekrutierung gefördert (UNSC 25.7.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.8.2021 - 31.12.2021: 152 Angriffe in 16 Provinzen (20 Angriffe in fünf Provinzen im Jahr davor) (UNGA 28.1.2022)

1.1.2022 - 21.5.2022: 82 Angriffe in elf Provinzen (192 Angriffe in sechs Provinzen im Jahr davor) (UNGA 15.6.2022)

22.5.2022 - 16.8.2022: 48 Angriffe in elf Provinzen (113 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 14.9.2022)

17.8.2022 - 13.11.2022: 30 Angriffe in 6 Provinzen (121 Angriffe in 14 Provinzen im Jahr davor (UNGA 7.12.2022)

14.11.2022 - 31.1.2023: 16 Angriffe in 4 Provinzen (53 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 27.2.2023)

1.2.2023 - 20.5.2023: 11 Angriffe in 5 Provinzen (62 Angriffe in 12 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 20.6.2023)

Seit Mitte 2022 gehen die Angriffe des ISKP zurück (UNGA 7.12.2022), ein Trend, der sich auch in der ersten Hälfte des Jahres 2023 fortsetzt (UNGA 27.2.2023; vergleiche UNGA 20.6.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (UNGA 14.9.2022; vergleiche HRW 12.1.2023, UNGA 27.2.2023).

Beispiele für Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban

Der ISKP bekannte sich zu Selbstmordanschlägen auf eine sunnitische Moschee in Kabul am 3.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl, REU 4.10.2021) und auf zwei schiitische Moscheen in den Städten Kunduz am 8.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vergleiche TN 9.10.2021) und Kandahar am 15.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vergleiche KP 16.10.2021) sowie zu einem Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul am 2.11.2021 (UNGA 28.1.2022; vergleiche 8am 3.11.2021).

Im April 2022 führte der ISKP Anschläge in einem Erholungsgebiet in Herat (UNGA 15.6.2022), auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif (UNGA 15.6.2022; vergleiche DW 21.4.2022) sowie auf eine Madrassa in Kunduz durch (UNGA 15.6.2022; vergleiche PAN 23.4.2022). Außerdem gab es Angriffe auf zwei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 15.6.2022; vergleiche AJ 28.4.2022) und auf einen Kleinbus in Kabul (UNGA 15.6.2022; vergleiche FR24 1.5.2022).

Am 22.5.2022 kam zu Anschlägen auf eine Zeremonie zum Jahrestag des Todes von Mullah Akhtar Mohammad Mansour Kabul und am 25.5.2022 auf drei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 14.9.2022; vergleiche AJ 25.5.2022). Am 18.6.2022 griff der ISKP einen Sikh-Tempel in Kabul an (UNGA 14.9.2022; vergleiche TN 18.6.2022) und am 4.7.2022 einen Bus mit Taliban-Sicherheitskräften in Herat (UNGA 14.9.2022; vergleiche Afintl 5.7.2022).

Im August kam es zu einer Reihe von Angriffen durch den ISKP in Kabul. Am 8.8.2022 beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul mindestens acht Menschen getötet (VOA 5.8.2022; vergleiche REU 5.8.2022). In der Vorwoche führten die Sicherheitskräfte der Taliban eine Razzia gegen eine ISKP-Zelle in der afghanischen Hauptstadt durch, bei der sie vier Kämpfer töteten und einen weiteren bei dem anschließenden Feuergefecht gefangen nahmen. Die Taliban sagten in einer Erklärung nach der Razzia, dass der ISKP "Anschläge auf unsere schiitischen Landsleute während der laufenden Muharram-Rituale" geplant hatten (VOA 5.8.2022). Am 11.8.2022 wurde ein prominenter afghanischer Geistlicher bei einem Selbstmordanschlag durch den ISKP getötet (BBC 11.8.2022; vergleiche VOA 11.8.2022). Am 18.8.2022 kam es zu einem weiteren Anschlag auf eine Moschee in Kabul, bei dem mindestens 21 Personen getötet und 33 verletzt wurden. Auch hier war ein prominenter afghanischer Geistlicher unter den Opfern (AP 18.8.2022; vergleiche BBC 18.8.2022).

Des Weiteren beansprucht der ISKP einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul am 5.9.2022 für sich (UNGA 7.12.2022; vergleiche KP 6.9.2022). Zu Angriffen auf Sicherheitskräfte der Taliban, bei denen auch Zivilisten getötet wurden, kam es am 10.10.2022 in Laghman (UNGA 7.12.2022; vergleiche Afintl 11.10.2022b) und am 27.10.2022 in Herat (UNGA 7.12.2022; vergleiche 8am 27.10.2022).

Am 22.10.2022 haben die Taliban eine Zelle des ISKP in Kabul ausgehoben, dabei gab es mehrere Explosionen und Schusswechsel. Sechs Mitglieder des ISKP wurden dabei getötet. Nach Angaben der Taliban waren sie in die Anschläge auf die Wazir Akbar Khan Moschee und die Bildungseinrichtung im September beteiligt (REU 22.10.2022; vergleiche VOA 22.10.2022).

Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 1.1.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 1.1.2023; vergleiche RFE/RL 1.1.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff der ISKP verantwortlich. Am 5.1.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 5.1.2023; vergleiche AJ 5.1.2023).

Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Außenministerium am 27.3.2023 in Kabul mindestens sechs Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt (VOA 27.3.2023; vergleiche AJ 27.3.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (VOA 27.3.2023).

Abgesehen von öffentlichkeitswirksamen Anschlägen verübt der ISKP fast täglich Anschläge auf niedriger Ebene, die in den lokalen Gemeinschaften Angst auslösen, schiitische Minderheiten ins Visier nehmen, um die Autorität der paschtunischen Taliban zu untergraben, und die entstehenden Sicherheitsbehörden herausfordern (UNSC 13.2.2023).

Al-Qaida und weitere bewaffnete Gruppierungen

Letzte Änderung 2023-03-02 16:18

Al-Qaida

Laut einem Bericht der Vereinten Nationen vom Mai 2022 bleiben die Verbindungen zwischen Al-Qaida und den Taliban eng (UNSC 26.5.2022). Am 1.8.2022 gab der US-Präsident bekannt, dass der Anführer von Al-Qaida, Ayman Mohammed Rabie al-Zawahiri, bei einem Drohnenangriff in der Innenstadt von Kabul getötet wurde (BBC 2.8.2022; vergleiche VOA 2.8.2022). Die Taliban-Führung gab an, sie habe keine Informationen darüber, dass al-Zawahiri nach Kabul gezogen sei und sich dort aufgehalten habe, während er sich nach Angaben von US-Beamten in einer Wohnung von Sirajuddin Haqqani [Anm.: dem Innenminister der Taliban-Übergangsregierung] aufhielt (FR24 4.8.2022; vergleiche GD 5.8.2022). Es wird berichtet, dass Al-Qaida Verbindungen zum Haqqani-Netzwerk unterhält (VOA 30.8.2022; vergleiche UNSC 26.5.2022). Experten sind der Ansicht, dass die Verbindungen der Taliban zu Al-Qaida offenbar hauptsächlich auf individuellen Verbindungen beruhen, was jedoch nicht bedeutet, dass es keine Verbindungen auf der Ebene der Taliban-Führung gibt (ODI/Rahmatullah, A./Jackson, A 9.2022).

Nach Angaben der Vereinten Nationen agiert Al-Qaida vor allem in ihren historischen Verbreitungsgebieten im Süden und Osten Afghanistans, wobei sich Berichten zufolge einige Mitglieder in weiter westliche Gebiete (Farah und Herat) verlegt haben. Al-Qaida verfügte über "einige Dutzend" Kämpfer, die ihrer Kernorganisation angehörten, und ihre operativen Fähigkeiten beschränkten sich auf die Beratung und Unterstützung der Taliban (UNSC 26.5.2022).

Berichten zufolge hält sich "Al-Qaeda in the Indian Subcontinent" (AQIS), eine der Kernorganisation von Al-Qaida untergeordnete Organisation, auch innerhalb Afghanistans auf (UNSC 26.5.2022), wobei die Anzahl ihrer Kämpfer auf ca. 180 bis 400 geschätzt wird (UNSC 26.5.2022; vergleiche CRS 19.4.2022), die in Helmand, Kandahar, Ghazni, Nimroz, Paktika und Zabul stationiert sein sollen und Personen aus mehreren süd- und südostasiatischen Ländern umfasst (UNSC 26.5.2022; vergleiche VOA 20.3.2022). Ihr Anführer Osama Mahmood und sein Stellvertreter Atif Yahya Ghouri sollen sich beide in Afghanistan aufhalten (VOA 20.3.2022).

Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP)

Die TTP, auch bekannt als pakistanische Taliban, ist eine militante Gruppe, deren Ziele sich gegen die pakistanische Regierung richten. Sie hat sich jedoch auch in der Vergangenheit mit den afghanischen Taliban an Operationen gegen die afghanische Regierung in Afghanistan beteiligt (CRS 19.4.2022). Die Vereinten Nationen schätzen im Mai 2022, dass die Gruppe über 3.000 bis 4.000 bewaffnete Kämpfer in den afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten verfügt (UNSC 26.5.2022), während ein unabhängiger afghanischer Analyst schätzte, dass die TTP rund 10.000 Mitglieder in Afghanistan hat (EUAA 8.2022a). Die Gruppe operiert von Stützpunkten in Afghanistan aus und ist zunehmend in Pakistan präsent; im Jahr 2021 eskalierte sie ihre Angriffe gegen pakistanische Sicherheitskräfte und chinesische Einrichtungen in Pakistan. Nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan erneuerte der TTP-Führer Noor Wali Mehsud öffentlich sein Treuegelöbnis gegenüber dem obersten Führer der afghanischen Taliban. Darüber hinaus signalisierte Al-Qaida, dass sie weiterhin mit der TTP zusammenarbeitet (CRS 19.4.2022). Nach dem Treuegelöbnis der Gruppe konnte man, nach Angaben eines unabhängigen afghanischen Analysten beobachten, dass sich die TTP-Mitglieder in den afghanischen Großstädten "frei bewegen" konnten, im Gegensatz zur Situation vor der Machtübernahme, als die TTP Zufluchtsorte in abgelegenen Gebieten hatte (EUAA 8.2022a). Auch ein weiterer Experte stellte fest, dass die Rückkehr der afghanischen Taliban die Macht die Gruppierung gestärkt hat. Nachdem die afghanischen Taliban Hunderte von TTP-Mitgliedern aus den Gefängnissen in Kabul freigelassen hatten (CEIP 21.12.2021), startete die TTP zahlreiche Anschläge und Operationen in Pakistan (UNSC 26.5.2022). Mitte Februar 2022 griff das pakistanische Militär mit Artillerie TTP-Stellungen in den Distriken Naray und Sarkano (Provinz Kunar) an, nachdem TTP-Mitglieder pakistanische Grenzposten angegriffen hatten. Nach den pakistanischen Angriffen schickte die Taliban-Regierung Berichten zufolge Verstärkung in das Gebiet (ISW 13.1.2023). Anfang Juni 2022 kündigte die TTP nach geheimen Gesprächen zwischen TTP- und pakistanischen Militärvertretern einen Waffenstillstand mit Pakistan für die Dauer von drei Monaten an. Diese Gespräche waren von den afghanischen Taliban vermittelt worden (USIP 21.6.2022).

Eastern Turkistan Islamic Movement

Das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM), auch bekannt als "Turkistan Islamic Party" (TIP), strebt die Schaffung eines unabhängigen islamischen Staates für die turksprachigen Uiguren an, die im Westen Chinas leben (CRS 19.4.2022). Laut einem Bericht der Vereinten Nationen ist die ETIM weiterhin in Afghanistan aktiv und die Schätzungen zur Größe der Gruppe reichen von einigen Dutzend bis zu 1.000 Mitgliedern (UNSC 26.5.2022). Nach der Machtübernahme durch die Taliban wurden Berichten zufolge einige ETIM-Mitglieder aus der Provinz Badakhshan in Provinzen verlegt, die weiter von der chinesischen Grenze entfernt sind (UNSC 26.5.2022; vergleiche RFE/RL 5.10.2021), unter anderem in die Provinz Nangarhar (RFE/RL 5.10.2021), als Teil der Versuche der Taliban, einerseits die Gruppe zu schützen und andererseits ihre Aktivitäten einzuschränken (UNSC 26.5.2022).

Jamaat Ansarullah

Jamaat Ansarullah ist eine Gruppe, die eng mit Al-Qaida verbunden ist. Im Jahr 2021 kämpfte sie an der Seite der Taliban in der Provinz Badakhshan. Als sich die Beziehungen zwischen Tadschikistan und der Taliban-Regierung im Herbst 2021 verschlechterten, wurden Ansarullah-Kämpfer an der Seite von Taliban-Spezialkräften entlang der tadschikischen Grenze in den Provinzen Badakhshan, Takhar und Kunduz eingesetzt. Nach Angaben der Vereinten Nationen soll die Gruppe aus 300 Kämpfern bestehen, die zumeist tadschikische Staatsangehörige sind. Die Jamaat Ansarullah ist in den Provinzen Badakhshan und Kunduz präsent. Ihr Anführer ist Sajod, der Sohn des ehemaligen Anführers der Gruppe, Damullo Amriddin (UNSC 26.5.2022).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (Hakimi A./Sadat M. 2020). Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren (FH 24.2.2022a).

Nachdem sie die gewählte Regierung im August 2021 abgesetzt hatten, übernahmen die Taliban die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes (FH 24.2.2022a) und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft (UNGA 28.1.2022). Viele Richter wurden aus ihren Ämtern entlassen und Angehörige des Islamischen Emirats Afghanistan (IEA) mit unterschiedlichem Hintergrund praktizieren nun Rechtsstaatlichkeit (IOM 12.1.2023; vergleiche FH 24.2.2022a). Es wurden ein Justizminister und ein Oberster Richter und Leiter des Obersten Gerichtshofs durch die Taliban ernannt. Am 16.12.2021 erließ die Taliban-Führung ein Dekret zur Ernennung von 32 Direktoren, Abteilungsleitern, Richtern und anderen wichtigen Beamten im Zusammenhang mit dem Obersten Gerichtshof. Am 25.12.2021 wurde ein Generalstaatsanwalt ernannt, der sich zur Rechenschaftspflicht und Unabhängigkeit seines Amts nach der Scharia verpflichtet (UNGA 28.1.2022).

Im Jahr 2022 setzt sich die Umstellung des Justizwesens und des Rechtsrahmens der ehemaligen Republik weiter fort, wobei Bedenken hinsichtlich der vorherrschenden Unklarheit über die anwendbaren Gesetze bestehen. Am 21.8.2022 wies der Taliban-Generalstaatsanwalt die Staatsanwälte an, laufende Ermittlungen an Taliban-Gerichte zu übertragen; der stellvertretende Oberste Richter für die Verwaltung des Obersten Gerichtshofs gab an, dass die Richter auch Ermittlungsaufgaben nach dem Scharia-Recht übernehmen würden. Diese Maßnahme führt zu einer höheren Arbeitsbelastung der Gerichte, zu Verzögerungen bei Gerichtsverfahren und zu einer Verlängerung der ohnehin schon langen Untersuchungshaftzeiten. Angesichts der damit einhergehenden Zunahme der Gefangenenpopulation und eines Ersuchens des Büros für Gefängnisverwaltung im Juni 2022 wies Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada Ende September 2022 den Obersten Gerichtshof an, Richtergruppen für jede Provinz zu ernennen, um die Prüfung der Fälle von Untersuchungshäftlingen zu beschleunigen (UNGA 7.12.2022).

Die Zulassung von Strafverteidigern ist noch nicht abgeschlossen, und Frauen sind nach wie vor von diesem Verfahren ausgeschlossen. Das Taliban-Justizministerium teilte mit, dass bis zum 10.11.2022 1.275 von 1.332 geprüften Anwälten die Anforderungen erfüllt hätten und 947 eine neue Zulassung erhalten hätten, während vor August 2021 schätzungsweise 6.000 Strafverteidiger, darunter 1.500 Frauen, praktiziert hatten. Nach Angaben der Taliban-Justizbehörden haben die Gerichte über 13.000 Fälle verhandelt, und bei den Justizministerien im ganzen Land sind 97.700 Zivilklagen eingegangen, von denen seit August 2021 nur 2.339 von Gerichten bearbeitet wurden (UNGA 7.12.2022).

Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung sollen nach Angaben der Taliban-Führung weiterhin gelten, unterliegen aber einem Islamvorbehalt (d. h., sie werden auf die Vereinbarkeit mit dem islamischen Recht überprüft); sie werden in der Praxis nicht oder nur in Teilen angewendet. So wird u. a. in von Taliban veröffentlichten Dekreten darauf Bezug genommen. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften wurden mit den Taliban nahestehenden Rechtsgelehrten besetzt, die weder die Voraussetzungen noch das Ziel haben, die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung anzuwenden. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Taliban-Regierung in Kabul auf die Verwaltungen und Sicherheitskräfte der Provinz- und Distriktebene. Umfang und Qualität des repressiven Verhaltens der Taliban gegen die Bevölkerung hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 20.7.2022). Sowohl das afghanische Zivilgesetzbuch wie auch das schiitische Personenstandsrecht sind nominell weiterhin in Kraft, auch wenn es Änderungen gibt. Während beispielsweise Fälle des schiitischen Personenstandsrechts früher von den Gerichten der Regierung behandelt wurden, verweisen die Taliban diese Fälle an die schiitischen Religionsämter, die unabhängig und nicht von der Regierung geleitet werden (IOM 12.1.2023).

Nach Angaben eines in Afghanistan praktizierenden Rechtsanwaltes stellt sich die Lage der Gesetze in Afghanistan als schwierig und uneinheitlich dar. Auch wenn die Taliban stets behaupteten, dass die afghanischen Gesetze unislamisch wären, so haben sie nicht im Detail erklärt, welche Bestimmungen welcher Gesetze gegen die Grundsätze der Scharia verstoßen würden. Sie haben weder erklärt, dass alle früheren Gesetze nicht mehr gelten, noch dass diese weiterhin in Kraft sind und gelten. Auch in der Praxis gibt es unterschiedliche Standards in den verschiedenen Instanzen. Einige Gerichte wenden die früheren Gesetze, einschließlich des Zivilgesetzbuches an, andere wiederum nicht (RA KBL 4.10.2022).

Aus verschiedenen Provinzen gibt es anhaltende, im Einzelfall nur schwer verifizierbare Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen, die auch Körperstrafen wie Steinigung und Auspeitschung einschließen. Vereinzelt kommt es auch zur Zurschaustellung von Kriminellen sowie Personen, die den moralischen Vorstellungen der Taliban zuwiderhandeln (keine Teilnahme am Gebet, Vorwurf des Ehebruchs). Auf nationaler Ebene wurde im April 2022 erstmals eine Körperstrafe (Peitschenhiebe) wegen Drogen- und Alkohol-Konsums durch den Obersten Gerichtshof verhängt. Das von den Taliban neu-gegründete Ministerium für die Förderung von Tugend und Verhinderung von Laster (sog. Tugendministerium) spielt mit quasi-polizeilichen Befugnissen eine besondere Rolle bei der Einschränkung von zahlreichen Persönlichkeitsrechten im Alltag (AA 20.7.2022). Am 7.12.2022 kam es zur ersten öffentlichen Hinrichtung durch die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan (AI 7.12.2022).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Miliz-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen wollen. Der Geheimdienst (General Directorate for [Anm.: auch "of"] Intelligence, GDI) (AA 20.7.2022; vergleiche CPJ 1.3.2022), ein Nachrichtendienst, der früher als "National Directorate of Security" (NDS) bekannt war (CPJ 1.3.2022), wurde dem Innenministerium der Taliban unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen (AA 20.7.2022).

Die Institutionalisierung des Sicherheitsapparats nahm im Jahr 2022 zu. Ende August berichteten die Vereinten Nationen, dass 150.000 Armeeangehörige und fast 200.000 Polizisten in Afghanistan rekrutiert worden seien (UNGA 7.12.2022). Sprecher des Taliban-Innenministeriums gaben die Größe der Armee im August mit 100.000 bis 150.000 (Afintl 23.8.2022) bzw. im Oktober mit 150.000 Mann an (ATN 28.10.2022), mit weiterem Ausbaupotenzial (ATN 28.10.2022; vergleiche Afintl 23.8.2022).

Im Oktober 2022 wurden mehrere Sicherheitskommissionen eingesetzt, darunter eine Reformkommission des Taliban-Innenministeriums mit neun Unterausschüssen, die Mitarbeiter mit kriminellem Hintergrund ausschließen sollen, sowie eine Kommission für die Einstufung von Militärangehörigen, die den "Dschihad"- und Bildungshintergrund von Armeeangehörigen bewerten soll (UNGA 7.12.2022). Bereits im März gab eine von den Taliban eingerichtete „Säuberungskommission“ bekannt, dass insgesamt ca. 4.000 Taliban-Kämpfer aufgrund krimineller Aktivitäten, Verbindungen zum Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) oder anderen Vergehen entlassen wurden (AA 20.7.2022). Darüber hinaus wurden mindestens 52 Ernennungen in den Taliban-Sicherheitsministerien bekannt gegeben, bei denen es sich größtenteils um Umbesetzungen handelte, darunter vier stellvertretende Minister, ein neuer Luftwaffenkommandeur, sieben Korpskommandeure und 13 Provinzpolizeichefs; 27 Ernennungen im Verteidigungsbereich, die am 26.10.2022 bekannt gegeben wurden, folgten auf den Besuch des Taliban-Verteidigungsministers Yaqoob in Kandahar (UNGA 7.12.2022).

Mitglieder der ehemaligen Streitkräfte

Die Taliban haben offiziell eine "Generalamnestie" für Angehörige der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte angekündigt (AA 20.7.2022; USDOS 12.4.2022a). Hochrangige Taliban, auch das Oberhaupt der Bewegung, Emir Haibatullah Akhundzada, haben die Taliban-Kämpfer wiederholt zur Einhaltung der Amnestie aufgefordert und angeordnet, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen (AA 20.7.2022). Während zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen bislang nicht nachgewiesen werden konnten (AA 20.7.2022), berichten Menschenrechtsorganisationen allerdings über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 20.7.2022; vergleiche HRW 12.1.2023). Diese Fälle lassen sich zumindest teileise eindeutig Taliban-Sicherheitskräften zuordnen. Inwieweit diese Taten politisch angeordnet wurden, ist nicht zu verifizieren. Sie wurden aber durch die Taliban-Regierung trotz gegenteiliger Aussagen mindestens toleriert bzw. nicht juristisch verfolgt (AA 20.7.2022). Die Vereinten Nationen haben bis Mitte Februar 2022 130 Fälle geprüft und die Vorwürfe gegenüber den Taliban für begründet befunden, in denen Angehörige der ehemaligen Sicherheitskräfte und Regierung ermordet wurden. Bei rund 100 dieser Fälle handelt es sich um extralegale Hinrichtungen, die Taliban-Kräften zugeordnet werden konnten (AA 20.7.2022; vergleiche UNHCR 30.3.2022, HRW 30.3.2022). Laut einer im April erschienenen Medienrecherche der New York Times konnten seit August 2021 ca. 500 Fälle verifiziert werden, in denen Angehörige der ehemaligen Regierung verschleppt, gefoltert oder ermordet wurden bzw. weiterhin verschwunden sind (NYT 27.5.2022). UNAMA und Human Rights Watch (HRW) halten diese Untersuchung für glaubwürdig (AA 20.7.2022).

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung 2023-03-09 08:41

Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 20.7.2022, vergleiche HRW 12.1.2023). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von Personen, denen vorgeworfen wird, den ehemaligen Sicherheitskräften bzw. der ehemaligen Regierung, der Nationalen Widerstandsfront (NRF) oder dem Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) anzugehören. Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (UNAMA 7.2022) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten wird berichtet (AA 20.7.2022 vergleiche HRW 12.1.2023). Vier junge Männer (darunter drei Minderjährige), die im Zusammenhang mit der Ermordung von acht Mitgliedern einer Polio-Impfkampagne festgenommen wurden, sollen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen gefoltert worden sein (AA 20.7.2022).

Korruption

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Mit einer Bewertung von 16 Punkten (von 100 möglichen Punkten - 0= highly corrupt und 100 = very clean), belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2021 von Transparency International von 180 untersuchten Ländern den 174. Platz, was eine Verschlechterung um neun Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI o.D.a, TI o.D.b).

Die ehemalige Regierung setzte Maßnahmen gegen Korruption nicht effektiv um, während Beamte häufig ungestraft korrupte Praktiken ausübten. Berichte deuten an, dass Korruption innerhalb der Gesellschaft endemisch ist - Geldflüsse von Militär, internationalen Gebern und aus dem Drogenhandel verstärken das Problem (USDOS 12.4.2022a). Die weitverbreitete Korruption und Misswirtschaft schwächten in weiterer Folge die staatlichen Strukturen. Das gilt für die Sicherheitskräfte ebenso wie für das Parlament und die Gerichte (NZZ 11.8.2021). Im Laufe des Jahres 2021 gab es Berichte über "land grabbing" durch private und öffentliche Akteure, einschließlich der Taliban (USDOS 12.4.2022a).

Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung an, darunter die Einrichtung von Kommissionen in Kabul und auf Provinzebene, die korrupte oder kriminelle Beamte aufspüren, und eine harte Haltung gegen Bestechung zeigen sollen. Die Taliban richteten über das Verteidigungsministerium eine Kommission ein, die Mitglieder ausfindig machen sollte, die sich über die Richtlinien der Bewegung hinwegsetzten. Ein Sprecher des Ministeriums erklärte, dass 2.840 Taliban-Mitglieder wegen Korruption und Drogenkonsums entlassen worden seien. Aus Berichten mehrerer lokaler Geschäftsleute ging hervor, dass der grenzüberschreitende Handel unter der Führung der Taliban viel einfacher geworden war, da die "Geschenke", die normalerweise für Zollbeamte erforderlich sind, abgeschafft wurden. Örtliche Taliban-Führer in Balkh leiteten Ermittlungen wegen Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit Invaliditätsleistungen ein und in Nangarhar richteten sie Sondereinheiten ein, um illegale Landbesetzungen und Abholzungen zu verhindern (USDOS 12.4.2022a).

Internationale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die unter der Bedingung der Anonymität sprachen, weil sie nicht befugt waren, mit den Medien zu sprechen, sagten, die Taliban hätten die Korruption in den letzten sechs Monaten reduziert. Das hat zu höheren Einnahmen in einigen Sektoren geführt, auch wenn die Geschäfte rückläufig sind. So seien beispielsweise die Zolleinnahmen gestiegen, obwohl die neue Taliban-Regierung weniger Geschäfte mache (AP 15.2.2022). Es wird jedoch weiterhin von Korruption und Bestechung berichtet, beispielsweise an den Grenzübergängen nach Pakistan und Iran, wo Schlepper durch Bestechung von Grenzbeamten Personen außer Landes schmuggeln (RFE/RL 3.6.2022b; vergleiche RFE/RL 27.5.2022).

Im Juli 2022 kündigten die Taliban an, dass sie ehemalige afghanische Beamte nicht für die massive Korruption zur Rechenschaft ziehen werden, die in Zusammenhang mit Entwicklungshilfeprojekten stehen. Ehemalige Beamte, die der Korruption verdächtigt werden, müssen sich nur dann vor Gericht verantworten, wenn sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten Privateigentum oder öffentliches Vermögen an sich gerissen haben (VOA 6.7.2022).

NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Die Lage von Menschenrechtsaktivisten in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme durch die Taliban verschlechtert (FH 1.2023; vergleiche USDOS 12.4.2022a, AA 20.7.2022). Sie sind unter den Taliban nicht nur in ihrer Arbeit eingeschränkt, sondern müssen auch aktiv um ihr Überleben im Land kämpfen, da das Taliban-Regime und andere Akteure sie mit Gewalt, Diskriminierung und Propaganda bedrohen. Menschenrechtsverteidiger im ganzen Land sind mehrfachen Risiken und Bedrohungen ausgesetzt, wie z. B. Entführung und Inhaftierung, körperliche und psychische Gewalt, Diffamierung, Hausdurchsuchungen, willkürliche Verhaftung und Folter, Androhung von Einschüchterung und Schikanen sowie Gewalt gegen Aktivisten oder Familienmitglieder durch die Taliban, einschließlich Mord (FH 1.2023; vergleiche FIDH 12.8.2022, AA 20.7.2022). Anfang Februar 2022 führten die Taliban beispielsweise flächendeckend Hausdurchsuchungen zunächst in Kabul, anschließend auch in angrenzenden Provinzen durch. Davon waren auch nationale und internationale NGOs betroffen. Dies finden weiterhin statt, u. a. in den Großstädten Mazar-e Sharif, Herat und Kunduz (AA 20.7.2022).

Einige afghanische Menschenrechtsorganisationen wollen ihre Arbeit aus dem Ausland fortsetzen und bauen zu diesem Zweck ihre oftmals zusammengebrochenen Informationsnetzwerke wieder auf (AA 20.7.2022). Die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC), deren Rolle in der Verfassung aus Zeiten der Republik verankert ist, war seit August 2021 faktisch aufgelöst. Im Mai 2022 ist per Dekret die rückwirkende Auflösung auch formell beschlossen worden, der von der Taliban-Regierung beschlossene Haushalt sieht keine Mittel für die Institution vor. Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Menschenrechtskommission bauen ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut im Exil auf (AA 20.7.2022; vergleiche AIHRC 26.5.2022).

Ab Mitte Jänner 2022 werden Aktivistinnen der seit August 2021 vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen (AA 20.7.2022; vergleiche HRW 12.1.2023) und es gibt Berichte über Haftbedingungen, u. a. zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 20.7.2022). Die Taliban-Behörden reagierten auch vermehrt mit Gewalt auf Demonstranten und setzten scharfe Munition ein, um diese aufzulösen (HRW 12.10.2022; vergleiche GD 2.10.2022). Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen setzten sich über das Jahr 2022 hindurch fort (AI 16.11.2022; vergleiche HRW 20.10.2022, Rukhshana 4.8.2022, VOA 21.1.2022). So wurden beispielsweise Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an Protesten gegen das Universitätsverbot verhaftet (BBC 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022).

Am 24.12.2022 erließen die Taliban-Behörden ein Dekret, das Frauen die Arbeit in NGOs verbietet (OHCHR 27.12.2022; vergleiche GD 26.12.2022). Fünf führende NGOs haben daraufhin ihre Arbeit in Afghanistan eingestellt. Care International, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) und Save the Children erklärten, sie könnten ihre Arbeit "ohne unsere weiblichen Mitarbeiter" nicht fortsetzen. Auch das International Rescue Committee stellte seine Dienste ein, während Islamic Relief erklärte, es stelle den Großteil seiner Arbeit ein (BBC 26.12.2022; vergleiche GD 26.12.2022).

Wehrdienst und Zwangsrekrutierung

Letzte Änderung 2023-03-09 15:07

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Miliz-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen wollen (AA 20.7.2022; vergleiche CPJ 1.3.2022). Ende August 2022 berichteten die Vereinten Nationen, dass 150.000 Armeeangehörige und fast 200.000 Polizisten in Afghanistan rekrutiert worden seien (UNGA 7.12.2022). Sprecher des Taliban-Innenministeriums gaben die Größe der Armee im August mit 100.000 bis 150.000 (Afintl 23.8.2022) bzw. im Oktober mit 150.000 Mann an (ATN 28.10.2022), mit weiterem Ausbaupotenzial (ATN 28.10.2022; vergleiche Afintl 23.8.2022).

Berichten zufolge kam es im Sommer 2022 in der Provinz Badakhshan zu Zwangsrekrutierungen seitens der Taliban (8am 1.6.2022; vergleiche ACLED 9.6.2022). Die Vereinten Nationen gehen mit Sommer 2022 davon aus, dass auch Kinder weiterhin rekrutiert werden (OHCHR 9.9.2022) wobei nach dem Taliban-Layeha (Verhaltenskodex) "Jugendliche (deren Bärte aufgrund ihres Alters nicht sichtbar sind) nicht von Mudschahedin in Wohn- oder Militärzentren gehalten werden" dürfen (EUAA 8.2022b; vergleiche AAN 4.7.2011). Am 27.3.2022 erließ der Oberste Führer der Taliban Berichten zufolge einen Erlass, der Taliban-Militärs anweist, keine Minderjährigen zu rekrutieren (Bakhtar 27.3.2022).

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2023-09-19 08:35

Die Verfassung der afghanischen Republik von 2004 ist zwar formell nicht aufgehoben worden, besteht jedoch nur noch auf dem Papier. Im September 2022 betonte der Taliban-Justizminister, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht. Nach wie vor ist unklar, ob die von Taliban-Außenminister Amir Khan Mottaqi im Februar 2022 angekündigte Reformkommission etabliert wurde. Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.6.2023).

Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 9.8.2022; vergleiche AA 26.6.2023).

Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.6.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 12.1.2023; vergleiche AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023), darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.6.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.6.2023; vergleiche HRW 12.1.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vergleiche FIDH 12.8.2022, AA 26.6.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 12.1.2023; vergleiche AA 26.6.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vergleiche HRW 12.1.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.6.2023).

Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.6.2023; vergleiche HRW 12.10.2022, GD 2.10.2022) und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.2.2022a, AI 15.8.2022).

Meinungs- und Pressefreiheit

Letzte Änderung 2023-09-21 13:02

Die Taliban haben zwar wiederholt Presse- und Meinungsfreiheit in allgemeiner Form zugesichert (AA 20.7.2022), jedoch hat sich die Situation der Medienlandschaft seit dem 15.8.2021 drastisch verschlechtert (AA 20.7.2022; vergleiche RSF 2.12.2022). Berichten zufolge hatten bis Dezember 2021 insgesamt 43 % der afghanischen Medienunternehmen ihren Betrieb eingestellt (AA 20.7.2022; vergleiche ANI 1.5.2022), auch aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. 6.400 Medienschaffende hatten ihre Anstellung verloren (AA 20.7.2022; vergleiche RSF 2.12.2022), was vor allem Frauen betraf (ca. 80 % aller Journalistinnen) (AA 20.7.2022; vergleiche HRW 12.1.2023, RSF 2.12.2022). Etablierte Journalisten sind zu einem großen Teil ins Ausland gegangen (RSF 2.12.2022; vergleiche AA 20.7.2022) oder halten sich versteckt (AA 20.7.2022). Ankündigungen der Taliban-Regierung, das bisherige Mediengesetz umzusetzen und eine Beschwerdekommission einzurichten, ist das Informations- und Kulturministerium nicht nachgekommen. Fernsehsender wurden nach eigenen Angaben wiederholt durch den Taliban-Geheimdienst unter Druck gesetzt, Unterhaltungsprogramme den moralisch-religiösen Vorgaben der Taliban anzupassen (AA 20.7.2022).

Die Taliban haben verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Medien in Afghanistan zu kontrollieren, angefangen von der Aufstellung restriktiver Richtlinien bis hin zur Entsendung von Geheimdienstmitarbeitern, die sich mit Medienmitarbeitern treffen und Medienschaffende zwingen, Straftaten zu gestehen. So kommt es zu umfassender Zensur der afghanischen Medien in ganz Afghanistan (HRW 12.1.2023) und der Zugang zu Informationen ist sehr eingeschränkt (AA 20.7.2022). In vielen Provinzen haben die Taliban Journalisten angewiesen, nicht über bestimmte Themen zu berichten (RSF 2.12.2022; vergleiche HRW 12.1.2023). Die Taliban gehen mit Drohungen, Einschüchterungen und Gewalt gegen Medienvertreter vor (RSF 2.12.2022; vergleiche HRW 12.1.2023), es kam zu Verhaftungen von Medienwirkenden (BBC 22.12.2022; TN 10.3.2022b, RSF 2.12.2022, AIJA 11.10.2022) und der Geheimdienst der Taliban war Berichten zufolge für gezielte Tötungen von Journalisten verantwortlich. Die Behörden untersagten den Sendern in Afghanistan auch die Ausstrahlung internationaler Nachrichtensendungen. Journalisten, die unter anderem über willkürliche Verhaftungen, steigende Lebensmittelpreise und Proteste für die Rechte der Frauen oder gegen die Taliban berichteten, wurden misshandelt. Die Taliban schalteten auch die Websites von zwei Medienunternehmen ab (HRW 12.1.2023). Die Taliban haben auch wiederholt Personen verhaftet, die sie öffentlich kritisiert haben. Beispielsweise wurde ein Kabuler Universitätsprofessor nach kritischen Aussagen in einer politischen Talkshow am 8.2.2022 verhaftet und erst nach internationalem Protest am 11.2.2022 wieder freigelassen (AA 20.7.2022).

Elf am 19.9.2021 vorgestellte Handlungsempfehlungen der Taliban-Regierung für Printmedien, TV und Radio fordern u. a. dazu auf, keine Inhalte zu veröffentlichen, die der Scharia widersprechen. Diese Empfehlungen werden landesweit unterschiedlich umgesetzt. Menschenrechtsorganisationen beobachten insbesondere in den Provinzen eine deutlich stärkere Einschränkung der Pressefreiheit. Medienschaffende berichten über ein aktives Monitoring und werden aufgefordert, ihre Arbeit vorab mit den lokal zuständigen Behörden zu teilen. Mancherorts müssen Medienschaffende vor Beginn ihrer Recherchen eine Erlaubnis bei den lokalen Behörden einholen. In mindestens 14 von 34 Provinzen gibt es keine weiblichen Medienschaffenden mehr, in einigen Provinzen wurde es Journalistinnen verboten, bei ihrer Arbeit in Erscheinung zu treten (AA 20.7.2022).

Internet und Mobiltelefonie

Die Zahl der Internetnutzer in Afghanistan ist in den letzten Jahren zusammen mit der jugendlichen Bevölkerung rapide angestiegen und liegt mit April 2022 bei etwa neun Millionen Nutzern (BBC 22.4.2022b). Im Jahre 2021 wurde die Anzahl der Mobiltelefonnutzer auf ca. 23 Millionen geschätzt (GBL 26.11.2021).

Derzeit bieten mehrere Kommunikations- und Internetunternehmen in Afghanistan Dienstleistungen im ganzen Land an, darunter Afghan Telecom, Afghan Wireless, Etisalat, MTN Group, Roshan, Salaam Network, Wasel Telecom, Fiber Noori und andere (IOM 12.1.2023). Beispielsweise nach Angaben der Afghan Wireless Comunication Company (AWCC), bietet das Unternehmen Kommunikations- und Internetdienste mit August 2022 in mehr als 280 Distrikten an, mit dem Ziel ihre Dienste auch in den ländlichen Gebieten des Landes auszuweiten (TN 5.8.2022). Seit der Machtübernahme durch die Taliban gab es keine Berichte über größere Einschränkungen beim Zugang zu Telekommunikationsdiensten. In den Provinzen, die Widerstand gegen das Taliban-Regime leisteten (z. B.: Provinz Panjsher), kam es jedoch in der Vergangenheit zu Abschaltungen von Telekommunikations- und Internetdiensten (IOM 12.1.2023). Auch in der afghanischen Hauptstadt Kabul kam es im Sommer 2022 zu Unterbrechungen der Telekommunikationsdienste in einigen Gebieten der Stadt (KP 8.8.2022).

Im April 2022 haben die Taliban ein Verbot der Video-Sharing-App TikTok und des Online-Multiplayer-Spiels PUBG verhängt, da sie die afghanische Jugend "in die Irre" führen würden (BBC 22.4.2022b).

Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurde seit der Machtübernahme der Taliban entgegen allgemeiner Zusicherungen deutlich eingeschränkt (AA 20.7.2022 vergleiche USDOS 12.4.2022a, FH 24.2.2022a). Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition und Wasserwerfern (AA 20.7.2022; vergleiche HRW 12.10.2022, GD 2.10.2022) und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (AA 20.7.2022; vergleiche FH 24.2.2022a, AI 15.8.2022). Ab Mitte Jänner 2022 wurden sukzessive Vertreterinnen der vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen und es gibt Berichte zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 20.7.2022). Diese gewalttätigen Zwischenfälle und die Androhung von Verhaftungen (und das Verschwinden in einem undurchsichtigen Gefängnissystem ohne ordnungsgemäße Verfahren) haben zunächst dazu geführt, dass die großen Anti-Taliban-Proteste eingedämmt wurden, obwohl es weiterhin kleinere Versammlungen gab (AI 15.8.2022). Gegen Ende des Jahres 2022 kam es wieder vermehrt zu Protesten, nachdem die Taliban Frauen vom Universitätsbesuch ausgeschlossen hatten (RFE/RL 29.12.2022; vergleiche BBC 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022) und NGO-Mitarbeiterinnen verboten, ihrer Arbeit nachzugehen (FR24 2.1.2023). Den Protesten schlossen sich auch Hunderte männliche Professoren, Studierende und Väter an (RFE/RL 29.12.2022; vergleiche ABC 30.12.2022).

Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivisten und Journalisten setzten sich über das Jahr 2022 hindurch fort (AI 16.11.2022; vergleiche HRW 20.10.2022, Rukhshana 4.8.2022, VOA 21.1.2022). So wurden beispielsweise allein im Mai zwölf Journalisten verhaftet (RSF 10.6.2022) oder Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an den Protesten gegen das Universitätsverbot für Frauen verhaftet (BBC 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022).

Haftbedingungen

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Gefängnisse, Jugendrehabilitationszentren und andere Haftanstalten von unterschiedlichen Organisationen verwaltet: Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), war verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das MoI und das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) waren verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren und Zivilhaftanstalten. Das National Directorate of Security (NDS) war verantwortlich für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Distriktebene, die in der Regel mit den jeweiligen Hauptquartieren zusammenarbeiten. Das Verteidigungsministerium betrieb die Nationalen Haftanstalten Afghanistans in Parwan (USDOS 12.4.2022a). Die Überbelegung der Gefängnisse war auch unter der ehemaligen Regierung ein ernstes und weitverbreitetes Problem. Nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban haben sich viele Gefängnisse geleert, da fast alle Gefangenen entkamen oder freigelassen wurden (USDOS 12.4.2022a; vergleiche UNHRC 8.3.2022).

Seit August 2021 hat der allgemeine Geldmangel die Haftbedingungen jedoch weiter verschlechtert, was zu einer weiteren Verknappung von Lebensmitteln, medizinischer Versorgung, Kleidung und Heizmaterial führte. Das eingeschränkte Funktionieren des Justizsystems, insbesondere in den ersten Monaten nach der Machtübernahme im August, führte zu einer verlängerten Untersuchungshaft. Im Januar 2022 erließen die Taliban-Behörden einen Leitfaden, der vorschreibt, dass die Inhaftierten nach islamischem Recht behandelt werden müssen (UNHRC 8.3.2022). Am 4.1.2022 setzte das Taliban-Kabinett eine hochrangige Kommission unter der Leitung des Obersten Gerichtshofs ein, um "die Gefängnisse und Haftanstalten zu inspizieren und eine dringende Entscheidung über die Freilassung unschuldiger Gefangener zu treffen" (UNHRC 8.3.2022; vergleiche ATN 4.1.2022). Seitdem wurde eine Reihe von Gefangenen an verschiedenen Orten in Afghanistan freigelassen, einige offenbar auf Empfehlung dieser Kommission, andere auf Beschluss der örtlichen Behörden. Es gibt Berichte über Verhaftung, Isolationshaft und angebliche Folter und Misshandlung von Personen, die verdächtigt werden, mit der früheren Regierung, den ANSDF oder dem Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) in Verbindung zu stehen (UNHRC 8.3.2022).

Nach Angaben einer anonymen internationalen Quelle, die von Landinfo befragt wurde, gab es kein Geld für die Verpflegung der Gefangenen, sodass die meisten schnell entlassen wurden. Auch die Familie des Gefangenen konnte aufgefordert werden, für Essen zu sorgen, aber wenn sie nicht über die Mittel verfügte (z. B. aufgrund von Armut), wurde der Gefangene freigelassen. Der Quelle lagen außerdem Berichte über Opfer vor, die aufgefordert wurden, den Täter mit Lebensmitteln zu versorgen, damit er verhaftet werden konnte. Verdächtige ISKP-Mitglieder wurden der Quelle zufolge nicht freigelassen (Landinfo 9.3.2022; vergleiche EUAA 8.2022b).

Im Februar 2022 berichtete Sky News über die Lebensbedingungen im Hauptgefängnis in Herat City. Das Gefängnis wurde als "vollgestopft" beschrieben, mit etwa 40 Männern in jeder Zelle, und viele von ihnen waren noch nicht von einem Taliban-Gericht verurteilt worden. Ein Häftling behauptete, dass viele Insassen ehemalige Regierungsmitarbeiter seien, die ohne Gerichtsverfahren und ohne Beweise inhaftiert wurden. Dem Bericht zufolge wurden auch Kinder ab 12 Jahren inhaftiert (Sky News 7.2.2022).

Der "Verhaltenskodex der Taliban zur Reform des Systems in Bezug auf Gefangene" verbietet Berichten zufolge die Anwendung von Folter "zu jedem Zeitpunkt der Verhaftung, Überstellung oder Inhaftierung" und sieht Strafen für diejenigen vor, die auf Folter zurückgreifen (EUAA 8.2022b; vergleiche UNAMA 7.2022). Dennoch gibt es Berichte über Folter an Gefangenen (UNAMA 7.2022), beispielsweise am Bruder eines ehemaligen Polizeikommandanten (TN 21.2.2022b) oder an einer Familie in der Provinz Kabul (TN 14.3.2022). UNAMA verzeichnete verschiedene Formen der Folter und Misshandlung von Gefangenen durch die Taliban, wobei zu den häufigsten Methoden "Tritte, Schläge und Ohrfeigen, Schläge mit Kabeln und Rohren sowie der Einsatz mobiler Elektroschockgeräte" gehörten (UNAMA 30.9.2022).

Seit der Machtübernahme haben Taliban-Kämpfer in ganz Afghanistan Drogenabhängige zusammengetrieben und sie zur Behandlung in Kliniken oder Gefängnisse gebracht. Sie setzten Gewalt ein, manchmal mit Peitschen und Gewehrläufen, und bei der anschließenden Behandlung fehlte es an Methadon und oft auch an Beratung (RFE/RL 10.4.2022).

Todesstrafe

Letzte Änderung 2023-03-10 07:29

Die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban im August 2021 sehen die Verhängung der Todesstrafe in bestimmten Fällen vor. Diese wurden in den vergangenen Jahren jedoch nicht umgesetzt (AA 20.7.2022).

Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen. Die sowohl während des ersten Taliban-Regimes, als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis auf Grundlage ihrer Auslegung der Scharia, sieht die Todesstrafe vor (AA 20.7.2022). Ende November 2022 ordnete der oberste Führer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, allerdings Richtern an, Strafen zu verhängen, die öffentliche Hinrichtungen, öffentliche Amputationen und Steinigungen umfassen können (BBC 14.11.2022; vergleiche GD 14.11.2022).

Am 7.12.2022 fand die erste öffentliche Hinrichtung der Taliban in Afghanistan seit der Machtübernahme im August 2021 statt. Der Hingerichtete soll gestanden haben, vor fünf Jahren bei einem Raubüberfall einen Mann mit einem Messer getötet und dessen Motorrad und Telefon gestohlen zu haben (RFE/RL 7.12.2022; vergleiche BBC 7.12.2022, REU 7.12.2022).

Religionsfreiheit

Letzte Änderung 2023-09-21 13:02

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 15 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 29.12.2022; vergleiche USDOS 2.6.2022, AA 20.7.2022). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 29.12.2022; vergleiche USDOS 2.6.2022). Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen (AA 20.7.2022; vergleiche USCIRF 8.2022, USDOS 2.6.2022). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte (USDOS 2.6.2022).

Es existieren keine verlässlichen Schätzungen zur Größe der hauptsächlich in Kabul und Kandahar ansässigen Baha'i-Gemeinschaft in Afghanistan. Im Mai 2007 befand der Oberste Gerichtshof, dass der Glaube der Baha'i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha'i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt (USDOS 2.6.2022).

Baha'i gelten (vielen) Muslimen als Ungläubige, nicht (immer) jedoch als Konvertiten und wurden keines dieser beiden Vergehen angeklagt. Baha'i wie auch Christen leben weiterhin in ständiger Angst vor Enttarnung und zögern, ihre religiöse Identität zu offenbaren (USDOS 2.6.2022).

Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 20.7.2022). Nach Angaben der US-Kommission für internationale Religionsfreiheit (USCIRF) sind Angehörige religiöser Gruppen auch weiterhin stark von Verfolgung durch die Taliban bedroht (USCIRF 8.2022). Ende 2021 haben auch Salafisten, die wie die Taliban Sunniten sind, jedoch der wahhabitischen Schule angehören (RFE/RL 22.10.2021), die Taliban beschuldigt, ihre Gotteshäuser zu schließen und ihre Mitglieder zu verhaften bzw. zu töten (FH 24.2.2022a; vergleiche RFE/RL 22.10.2021). Trotz ständiger Versprechungen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, war die Taliban-De-facto-Regierung nicht in der Lage, religiöse Minderheiten vor Angriffen des Islamischen Staates Provinz Khorasan (ISKP) zu schützen und ihnen Sicherheit zu bieten. Während einige religiöse Minderheiten vom Aussterben bedroht sind, müssen andere aus Angst vor Repressalien ihren Glauben im Verborgenen ausüben. Obwohl sich die Taliban öffentlich zu Wandel und Inklusion bekennen, regieren sie Afghanistan weiterhin auf ähnliche Weise wie von 1996 bis 2001 (USCIRF 8.2022).

In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 19.1.2022) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.1.2022; vergleiche RFE/RL 19.1.2022). Laut Meldungen vom 21.11.2022 haben die Taliban angekündigt, sich dem Thema für die Freitagspredigten in den Moscheen verstärkt zu widmen. Kein Vorbeter hat in Zukunft das Recht, eine Rede nach eigenem Ermessen zu halten, der Inhalt der Predigten soll mit der Ideologie der Taliban in Einklang stehen (8am 21.11.2022b).

Schiiten

Letzte Änderung 2023-03-10 07:57

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wurde vor der Machtübernahme durch die Taliban auf 10 bis 15 % geschätzt (CIA 29.12.2022; vergleiche AA 20.7.2022). Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jaafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90 % von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 2.6.2022). Die Diskriminierung von Schiiten ist im Alltag verwurzelt. Im April 2022 kam es zu Einzelfällen, in denen Schiiten wegen angeblicher Nichtbeachtung des Ramadans von Taliban-Kämpfern geschlagen wurden (AA 20.7.2022).

[Anm.: für weitere Information zu Hazara bzw. zu Angriffen auf Schiiten/Hazara sei auf das Kapitel "Hazara" verwiesen]

Apostasie, Blasphemie, Konversion

Letzte Änderung 2023-03-10 08:24

Es liegen keine zuverlässigen Schätzungen zur Anzahl der Christen in Afghanistan vor (USDOS 2.6.2022), jedoch liegen Schätzungen, wonach sich etwa 10.000 bis 12.000 Christen im Land befinden (USCIRF 8.2022; vergleiche ICC 29.9.2021). Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 20.7.2022).

Der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion ist nach der vor Gericht geltenden Hanafi-Rechtsschule Apostasie. Wenn die Person ihren Übertritt vom Islam nicht innerhalb von drei Tagen widerruft, wird sie wegen Abtrünnigkeit bestraft. Proselytenmacherei, also der Versuch Muslime zu einer anderen Religion zu bekehren, ist nach der hanafitischen Rechtsschule, die vor Gericht gilt, ebenfalls illegal. Diejenigen, die der Proselytenmacherei beschuldigt werden, werden mit der gleichen Strafe belegt wie diejenigen, die vom Islam konvertieren (USDOS 2.6.2022).

Vor der Machtübernahme durch die Taliban berichteten christliche Vertreter, dass die öffentliche Meinung, wie sie in den sozialen Medien und anderswo zum Ausdruck kam, Konvertiten zum Christentum und der Idee christlicher Missionierung weiterhin feindselig gegenüberstand. Sie berichteten von Druck und Drohungen, vor allem vonseiten der Familie, dem Christentum abzuschwören und zum Islam zurückzukehren. Sie sagten, dass Christen aus Angst vor gesellschaftlicher Diskriminierung und Verfolgung weiterhin allein oder in kleinen Gemeinden, manchmal mit zehn oder weniger Personen, in Privathäusern beteten. Die Daten, Zeiten und Orte dieser Gottesdienste wurden häufig geändert, um nicht entdeckt zu werden. Öffentliche christliche Kirchen gibt es weiterhin nicht. Nach der Machtübernahme durch die Taliban berichten Christen über Razzien der Taliban in den Häusern christlicher Konvertiten, selbst nachdem diese aus dem Land geflohen oder ausgezogen waren. Christliche Quellen gaben an, dass die Machtübernahme durch die Taliban intolerante Verwandte ermutigt, ihnen Gewalt anzudrohen und die Konvertiten zu verraten, falls sie das Christentum weiter praktizierten (USDOS 2.6.2022). Führende Vertreter der christlichen Bevölkerung Afghanistans haben ihre tiefe Sorge um die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Gemeinschaft geäußert. Organisationen wie International Christian Concern und Open Doors USA berichten, dass die Christen in Afghanistan extrem bedroht sind und die Taliban von Tür zu Tür gehen, um sie aufzuspüren und jeden zu identifizieren, der vom Islam konvertiert ist (USCIRF 8.2022; vergleiche ICC 15.8.2022, OpD 9.9.2021). Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation International Christian Concern hat die Angst vor Bestrafung dazu geführt, dass sich christliche Konvertiten immer mehr verstecken (USDOS 2.6.2022; vgl.ICC o.D.).

Ethnische Gruppen

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.3.2022; vergleiche CIA 29.12.2022). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vergleiche CIA 29.12.2022), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 5.1.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 20.7.2022).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 12.4.2022a).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 20.7.2022).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind (AA 20.7.2022). So waren zum Beispiel am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure überwiegend Paschtunen, während andere ethnische Gruppen kaum vertreten waren (UNGA 28.1.2022). Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 20.7.2022).

Hazara

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 15 % der afghanischen Bevölkerung aus (AA 20.7.2022; vergleiche BAMF 5.2022). Die Mehrheit der Hazara lebt im Hazarajat (oder "Land der Hazara") (MRG 5.1.2022; vergleiche EB o.D., BAMF 5.2022), das im zerklüfteten zentralen Bergland Afghanistans liegt und eine Fläche von etwa 50.000 Quadratkilometern umfasst. Die Region erstreckt sich auf die Provinzen Bamyan und Daikundi sowie mehrere angrenzende Distrikte in den Provinzen Ghazni, Uruzgan, (Maidan) Wardak, Parwan, Baghlan, Samangan und Sar-e Pul. Es gibt auch sunnitische Hazara-Gemeinschaften in den Provinzen Badghis, Ghor, Kunduz, Baghlan, Panjsher und anderen Gebieten im Nordosten Afghanistans (MRG 5.1.2022). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (JP o.D.; vergleiche BAMF 5.2022), auch bekannt als Jaafari Schiiten (USDOS 2.6.2022). Eine Minderheit der Hazara ist ismailitisch (USDOS 2.6.2022; vergleiche MRG 5.1.2022). Ismailitische Hazara leben in den Provinzen Parwan, Baghlan und Bamyan. Darüber hinaus sind sowohl schiitische als auch sunnitische Hazara in erheblicher Zahl in mehreren städtischen Zentren Afghanistans vertreten, darunter Kabul, Mazar-e Sharif und Herat (MRG 5.1.2022).

Nach ihrer Machtübernahme im August 2021 haben die Taliban insbesondere den Hazara, die während des ersten Taliban-Regimes benachteiligt und teilweise verfolgt wurden, Zusicherungen gemacht (AA 20.7.2022). Dennoch berichtete AI (Amnesty International) im Juli 2021 über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.8.2021; vergleiche BBC 20.8.2021b) und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen, von den Taliban getötet worden sein (AI 5.10.2021; vergleiche BBC 5.10.2021).

Es gibt weiters Berichte, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen, um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. Die Quellen verweisen auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh (HRW 22.10.2021). In der Provinz Daikundi sollen im September 2021 ca. 400 Hazara-Familien gewaltsam von ihrem Land vertrieben worden sein. Laut Erkenntnissen der UN konnten die meisten mittlerweile wieder zurückkehren (AA 20.7.2022). In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober "Hunderte von Hazara-Familien", und in 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (HRW 22.10.2021; vergleiche USDOS 12.4.2022a). Nach Einschätzung von HRW beruht die Diskriminierung von Hazara bei illegaler Landnahme v. a. auf lokalen Konflikten, wird aber von der Taliban-Führung toleriert (AA 20.7.2022). So kam es auch im Frühjahr 2022 dazu, dass Hazara ihre Häuser nach Streitigkeiten mit Nomaden verlassen mussten (AAN 11.1.2023).

Auch sind Hazara weiterhin besonders gefährdet, Opfer von Anschlägen des Islamischen Staats Khorasan Provinz (ISKP) zu werden (AA 20.7.2022: vergleiche HRW 25.10.2021). So kam es auch im Jahr 2022 zu Angriffen des ISKP, welche auf Hazara abgezielt haben (AA 20.7.2022; vergleiche UNGA 14.9.2022, HRW 12.1.2023). Beispielsweise wurden bei einem Anschlag auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif im April 2022 mindestens 31 Menschen getötet (UNGA 15.6.2022; vergleiche PAN 23.4.2022). Am 24.1.2022 wurden bei einem ISKP-Anschlag im Hazara-Viertel Haji Abbas in Herat sieben Menschen getötet und zehn weitere verletzt (8am 24.1.2022; vergleiche REU 23.1.2022). Ebenso in Herat kam es am 1.4.2022 im Hazara-Viertel Jebrail zu einem Bombenanschlag, bei dem 12 junge Männer getötet und 25 weitere verletzt wurden (8am 6.4.2022; vergleiche TN 24.1.2023). Mindestens 26 junge Hazara wurden bei zwei Angriffen auf Bildungseinrichtungen in Kabul am 19.4.2022 getötet (8am 20.10.2022; vergleiche AN 19.4.2022). Acht Menschen wurden im August in Kabul getötet, als eine Bombe in der Nähe einer schiitischen Moschee explodierte (VOA 5.8.2022; vergleiche REU 5.8.2022).

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung 2023-09-21 13:02

Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen "Ausweichmöglichkeiten" im Land zu unterbinden (AA 26.6.2023).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 20.3.2023). Die Taliban setzen jedoch Kontrollpunkte ein, um den Verkehr innerhalb des Landes zu regeln, und es wird berichtet, dass sie Reisende durchsuchen und nach bekannten oder vermeintlichen Regimegegnern fahnden. Außerdem werden Mobiltelefone und Social-Media-Aktivitäten der Reisenden überprüft (FH 9.3.2023). So wird berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.5.2022; vergleiche NPR 9.6.2022). Seit Dezember 2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einem Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 20.3.2023). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.1.2022; vergleiche DW 26.12.2021).

Anmerkung, Mahram kommt von dem Wort "Haram" und bedeutet "etwas, das heilig oder verboten ist". Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vergleiche GIWPS 8.2022).

IDPs und Flüchtlinge

Letzte Änderung 2023-03-21 08:01

Die Zahl der Binnenvertriebenen stieg im Jahr 2021 aufgrund der Kampfhandlungen zwischen afghanischen Sicherheitskräften Taliban auf insgesamt mehr als 3,5 Millionen Menschen. Nach dem Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen in weiten Teilen des Landes kehrten im September und Oktober 2021 vor allem kürzlich Binnenvertriebene in ihre Heimatprovinzen zurück (AA 20.7.2022). Zwischen 2021 und 2022 sind über 1,2 Millionen Binnenvertriebene an ihre Herkunftsorte zurückgekehrt - über 1 Million Binnenvertriebene im Jahr 2021 und 211.807 im Jahr 2022 (UNHCR 22.12.2022). Binnenvertriebene wie auch Rückkehrende aus dem Ausland befinden sich laut UNHCR in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an (Einsparung von Lebensmitteln, Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit oder -verkauf) (AA 20.7.2022). Mit Stand Juni 2022 gibt es in Afghanistan weiterhin 3,4 Millionen Binnenvertriebe (UNHCR 22.12.2022).

Konflikte waren lange Zeit der Hauptauslöser für Vertreibungen in Afghanistan. Dies änderte sich mit der Machtübernahme der Taliban, da die Konfliktvorfälle und die damit verbundenen Vertreibungen landesweit stark zurückgingen (IDMC 15.8.2022). Unsicherheit ist jedoch nicht der einzige Faktor, der die Menschen zwingt, ihre Häuser zu verlassen (UNHCR 15.10.2021). Die Wirtschafts- und Liquiditätskrise seit der Machtübernahme durch die Taliban, die geringeren landwirtschaftlichen Erträge aufgrund der Dürre, die unzuverlässige Stromversorgung und die sich verschlechternde Infrastruktur sowie die anhaltende COVID-19-Pandemie haben die humanitäre Krise verschärft (USDOS 12.4.2022a).

Gesundheitswesen

Medizinische Grundversorgung ist für alle Menschen in Iran gratis zugänglich, nicht registrierte Flüchtlinge haben jedoch oft Angst, abgeschoben zu werden, und nehmen diese nicht in Anspruch (ÖB Teheran 11.2021). Der Zugang zur staatlichen Krankenversicherung ist hingegen abhängig vom konkreten Aufenthaltsstatus (SEM 30.3.2022). Seit 2016 können sich alle registrierten Flüchtlinge [Anm.: Inhaber einer Amayesh-Karte] in der staatlichen Krankenversicherung registrieren, müssen allerdings eine Gebühr zahlen, die sich viele nicht leisten können. UNHCR zahlt diese Gebühr für die vulnerabelsten Flüchtlinge (ÖB Teheran 11.2021). Inhaber der Amayesh-Karte sind über das von UNHCR unterstützte Versicherungssystem krankenversichert, Visuminhaber meist über eine Beschäftigung bei einer iranischen Organisation oder einem Unternehmen. Migranten ohne Papiere haben keinen Zugang zu einer Krankenversicherung, und wenn sie eine Gesundheitseinrichtung aufsuchen wollen, müssen sie alle Kosten selbst tragen. Es gibt keine ausreichenden Kapazitäten von NGOs, um Migranten ohne Aufenthaltstitel bei der Deckung medizinischer Kosten zu unterstützen. Lediglich bei den Grundkosten kann der UNHCR teilweise helfen (IOM 4.5.2022). Die Krankenversicherungsleistungen für registrierte Flüchtlinge sollen erweitert und möglichst alle Flüchtlinge in medizinische Betreuungsmaßnahmen aufgenommen werden. Dazu bedient sich die Flüchtlingsbehörde BAFIA zunehmend eines Überweisungssystems von besonders schwierigen Fällen an internationale NGOs oder UNHCR. UNHCR ist mit Gesundheitsstationen in vielen Provinzen tätig und leistet mit einem zusätzlichen Versicherungsangebot innerhalb des bestehenden Krankenversicherungssystems für Geflüchtete (UPHI Universal Public Health Insurance) im aktuellen 8. Zyklus, der am 24.2.2023 abläuft, Hilfe in bis zu 120.000 Härtefällen. Zudem sind Flüchtlinge Teil der staatlichen COVID-19-Impfkampagne (AA 30.11.2022).

Arbeitsmöglichkeiten

Amayesh-registrierte Afghanen im Alter von 18 bis 60 Jahren können mit der Amayesh-Verlängerung eine Arbeitsgenehmigung erhalten (Diaran 25.7.2022). Männer in diesem Alter sind dazu verpflichtet, dies in Zusammenhang mit der Amayesh-Registrierung zu tun. Amayesh-registrierte Frauen können keine offizielle Arbeitserlaubnis in Iran beantragen, aber in der Praxis arbeiten auch einige afghanische Frauen – oft zu Hause. Der Arbeitsmarkt für Afghanen in Iran ist reguliert, und Afghanen haben das Recht, in 87 verschiedenen Berufen zu arbeiten. Ein Problem für Amayesh-registrierte, ausgebildete Personen ist, dass die Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt bedeuten können, dass sie nicht in dem Bereich arbeiten können, für den sie ausgebildet sind. In einzelnen Fällen, wo eine Amayesh-registrierte Person eine gewisse Berufskompetenz besitzt, die nicht unter die 87 erlaubten Berufe fällt, kann eine Ausnahme gestattet werden (Migra 10.4.2018). Die meisten Flüchtlinge gehen eher minderwertigen und schlecht bezahlten Arbeiten v.a. im informellen Sektor (Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder Landwirtschaft) nach, die offiziell versicherungspflichtig sind (AA 30.11.2022). Afghanen, die keine Amayesh-Karte und kein bestehendes Arbeitsvisum besitzen, müssen das folgende Verfahren durchlaufen: Rückkehr nach Afghanistan, um sich bei der iranischen Botschaft in Afghanistan ein Arbeitsvisum ausstellen zu lassen, dann können sie auf der Grundlage des Arbeitsvisums wieder nach Iran einreisen. Dieses Verfahren ist für viele Migranten aufgrund von Sicherheitsbedenken und der Tatsache, dass nicht garantiert ist, dass sie nach der Ausreise aus Iran ein Arbeitsvisum für die Wiedereinreise erhalten können, schwierig anzuwenden. Daher verbleiben viele afghanische Migranten in ihrer derzeitigen Situation und arbeiten illegal im informellen Sektor (IOM 4.5.2022).

Zugang zu Wohnraum

Nach iranischem Recht ist es Ausländern nicht gestattet, unbewegliches Eigentum wie Grundstücke und Gebäude zu besitzen, es sei denn, es gelten ganz besondere Bedingungen und Vereinbarungen zwischen Iran und anderen Ländern. Legale Migranten und Flüchtlinge (Inhaber einer Amayesh-Karte) können Geschäftsräume und Wohnungen zu Wohnzwecken mieten. Es ist verboten, Immobilien an Migranten ohne Papiere zu vermieten (IOM 4.5.2022). Die Wohnungskosten stellen einen der größten Ausgabenposten für Afghanen in Iran dar. Bei der Anmietung eines Hauses wird eine Kaution an den Besitzer bezahlt, und je größer die Kaution, die hinterlegt werden kann, desto billiger werden die Mietkosten (Migra 10.4.2018). Nach Angaben des UNHCR leben trotzdem nur etwa 6 % der Afghanen in Iran in Lagern, während die überwiegende Mehrheit unter der iranischen Bevölkerung lebt (AJ 12.6.2022).

Zugang zu afghanischen Dokumenten, Hochzeit und Staatsbürgerschaft von Kindern

Afghanen, die eine Tazkira beantragen wollen, müssen manchmal zwei Monate oder länger auf den ersten Termin bei der afghanischen Botschaft in Iran warten. Da die Tazkira in Afghanistan ausgestellt wird, müssen die Antragsteller eine Person in Afghanistan benennen, die ihren Antrag in ihrem Namen weiterverfolgt und die notwendigen Formalitäten in Afghanistan erledigt. Das Fehlen einer vertrauenswürdigen oder erreichbaren Person (z. B. schlechte Telefon- oder Internetverbindung) in Afghanistan, die die nötige Papierarbeit erledigt, ist eine der größten Herausforderungen für die Antragsteller, insbesondere für diejenigen, die ihre familiären Bindungen in Afghanistan verloren haben. Der Besitz einer Tazkira ist eine Voraussetzung für die Ausstellung eines Reisepasses und für die Beantragung einer Amayesh-Karte (IOM 4.5.2022).

Afghanische Staatsangehörige können unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in Iran heiraten, sofern sie ein gültiges Ausweisdokument besitzen. Ihre Ehe unterliegt den afghanischen Gesetzen und wird bei der afghanischen Botschaft registriert (IOM 4.5.2022). Hochzeiten zwischen Iranern und afghanischen Flüchtlingen sind, obwohl keine Seltenheit, schwierig, da die iranischen Behörden dafür Dokumente der Botschaft oder der afghanischen Behörden benötigen (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche IOM 4.5.2022). Staatenlosen wird von einigen Provinzverwaltungen Zugang zur öffentlichen Grundversorgung und das Ausstellen von Reisedokumenten und sonstigen Papieren verwehrt; eine einheitliche Praxis fehlt (ÖB Teheran 11.2021).

Mittlerweile ist es möglich, dass iranische Frauen ihre Staatsbürgerschaft an Kinder mit einem ausländischen Vater weitergeben können (USDOS 12.4.2022b; vergleiche FH 24.2.2022b). Iran wendet sowohl den Grundsatz des jus soli als auch den des jus sanguinis an. So erhält ein Kind, das von einem iranischen Vater und einer afghanischen Mutter im Rahmen einer offiziellen Ehe geboren wird, automatisch die iranische Staatsangehörigkeit (IOM 4.5.2022).

Weitere Aspekte

Kulturell, sprachlich, religiös und in den Grenzbereichen auch ethnisch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Iranern und Afghanen. Iranische Behörden fürchten jedoch einen noch größeren Zustrom von Afghanen und verweisen auf die bereits große afghanische Gemeinde in Iran, die schlechte Wirtschaftslage angesichts der US-Sanktionen und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Es werden Spannungen zwischen ansässiger Bevölkerung und Neuankömmlingen befürchtet. Bereits bisher werden Afghanen teilweise diskriminiert, und es kommt zu Protesten, z.B. gegen die Aufnahme afghanischer Kinder in Schulen (ÖB Teheran 11.2021). Die meisten Flüchtlinge gehen gering qualifizierten und schlecht bezahlten Arbeiten v.a. im informellen Sektor (Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder Landwirtschaft) nach. Sie sind im Großen und Ganzen - auch wenn sie zum Teil bereits in der zweiten Generation in Iran leben - wenig integriert (AA 30.11.2022). Die Tötung zweier schiitischer Geistlicher in Maschhad Anfang April 2022 hat reflexartige anti-afghanische und anti-sunnitische Vorurteile offenbart (AA 30.11.2022; vergleiche AJ 12.6.2022). Es wurde von Rassismus gegen Afghanen berichtet (Inkstick 6.1.2023) und im Jahr 2022 kam es in Afghanistan zu anti-iranischen Protesten, nachdem im Internet mehrere Videos veröffentlicht wurden, die angeblich zeigen, wie Flüchtlinge von iranischen Grenzsoldaten geschlagen werden (AJ 12.6.2022; vergleiche Inkstick 6.1.2023).

Die Revolutionsgarden sollen Tausende von in Iran lebenden afghanischen Migranten mithilfe von Zwangsmaßnahmen für den Kampf in Syrien rekrutiert haben. Human Rights Watch berichtete, dass sich unter den Rekrutierten auch Kinder im Alter von 14 Jahren befinden (FH 24.2.2022b; vergleiche USDOS 12.4.2022b).

Rückkehr

Die freiwillige Rückkehr registrierter afghanischer Flüchtlinge sank bis Ende August 2022 mit 246 Personen erneut deutlich (2021: 800 Personen) (AA 30.11.2022), insgesamt kehrten im Jahr 2022 376 Afghanen mit Unterstützung von UNHCR freiwillig von Iran nach Afghanistan zurück (UNHCR 31.12.2022). Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2021 sind laut IOM (Stand August 2022) mit 982.680 Personen weniger nicht-registrierte Afghanen aus Iran nach Afghanistan zurückgekehrt als zuvor. Trotz Stellungnahme von UNHCR zur Einhaltung des völkerrechtlichen Prinzips des non-refoulement führt Iran nach Angaben von UNHCR weiter Abschiebungen durch. UNHCR schätzt, dass 65 % der neu ankommenden afghanischen Flüchtlinge abgeschoben werden (AA 30.11.2022). Die iranischen Behörden haben bereits vor dem Fall Afghanistans an die Taliban jährlich hunderttausende Afghanen nach Afghanistan zurückgeschickt. Die vom IOM verzeichneten Rückreisen nach Afghanistan waren seit Jahren ansteigend. Viele kehrten dabei auch freiwillig zurück – oft, um später wieder nach Iran einzureisen (zirkuläre Migration). Iran hat in den Grenzregionen verschiedene Transitzentren eingerichtet, von wo aus die afghanischen Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgeschickt werden. UNHCR zeigt solche Zentren auf einer Karte von März 2022 in den Provinzen Razavi Khorasan, in Süd-Khorasan und in Sistan und Belutschistan. Die Einrichtungen werden als überfüllt und schmutzig beschrieben, mit mangelnder Ernährung und medizinischer Versorgung. Sicherheitskräfte haben demnach die Flüchtlinge – besonders diejenigen, die kein Geld für den Rücktransport vorweisen konnten – wiederholt geschlagen und angegriffen sowie ihres Geldes oder des Mobiltelefons beraubt. Internationale Organisationen, inkl. UNHCR, haben nur beschränkten Zugang zu diesen Lagern bzw. zur Grenzregion insgesamt (SEM 30.3.2022).

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung 2023-09-19 10:47

Obwohl die letzten 20 Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 einem afghanischen Wirtschaftsexperten zufolge "eine goldene Zeit" für das Wirtschaftswachstum in Afghanistan waren, konnten die Milliarden an US-Dollar, die Afghanistan aus dem Ausland erhielt, nicht nachhaltig eingesetzt werden. Gründe dafür waren vor allem Unsicherheit, Dürren und die weitverbreitete Korruption, die auch weitere Investitionen in Afghanistan verhinderten (WEA 17.7.2022).

Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv (AA 26.6.2023; vergleiche HRW 12.1.2023, UNDP 18.4.2023), was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt (WEA 17.7.2022; vergleiche UNDP 18.4.2023). Die humanitäre Lage bleibt aufgrund der Wirtschaftskrise, der Folgen der COVID-19-Pandemie und der Dürren der vergangenen Jahre extrem angespannt (AA 26.6.2023; vergleiche WEA 17.7.2022). Die Weltbank rechnete für 2022 mit einem Einbruch des Bruttosozialprodukts um ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Im Zuge der Wirtschaftskrise droht eine Verarmung der urbanen Mittelschicht. Viele Angestellte des öffentlichen Dienstes haben ihre Arbeit verloren. Tätigkeiten, die mit der internationalen Präsenz im Land verbunden waren, sind weggefallen (AA 26.6.2023; vergleiche WEA 17.7.2022). Während die Gesamtinflation von ihrem Höchststand im Juli 2022 bis Februar 2023 gesunken ist, bleibt das Preisniveau weiterhin hoch. Die extremen Winter führen zu einem Rückgang der Landwirtschaft, des Baugewerbes und der damit verbundenen Tätigkeiten. Infolgedessen ist die Beschäftigung von qualifizierten und ungelernten Arbeitskräften im Winter zurückgegangen, was darauf hinweist, dass afghanische Familien angesichts des Verlusts von Arbeitsplätzen und Geschäftsmöglichkeiten weiterhin unter erheblichem Druck stehen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (WB 4.4.2023). Aus einer Studie des United Nations Development Programme (UNDP) geht hervor, dass mehr als drei Viertel der afghanischen Bevölkerung im Jahr 2022 Lebensmittel oder Geld für den Kauf von Lebensmitteln liehen und den Rest, wenn überhaupt, für die grundlegende Gesundheitsversorgung und tertiäre Grundbedürfnisse ausgaben. Während im Jahr 2020 41 % der Haushalte keine Bewältigungsmechanismen anwenden mussten, um die sozioökonomischen Härten zu bewältigen, benötigten im Jahr 2022 nur 8 % der afghanischen Haushalte keine Bewältigungsstrategien. Da nur begrenzte Bewältigungsmechanismen zur Verfügung stehen, sehen sich viele Afghanen gezwungen, ihren Konsum (einschließlich der Nahrungsmittel) einzuschränken, hohe Kredite aufzunehmen, zu betteln oder extreme Maßnahmen ergreifen, um zu überleben. Während einige ihre Häuser, ihr Land oder Vermögenswerte verkaufen, sehen sich andere gezwungen, ihre Kinder arbeiten zu schicken oder junge Töchter zu verheiraten (UNDP 18.4.2023). Laut einem Bericht von Save the Children aus dem Jahr 2022 sind bis zu einem Fünftel der Familien in Afghanistan dazu gezwungen, ihre Kinder zur Arbeit zu schicken (STC 14.2.2023; vergleiche RFE/RL 17.5.2023), was bedeuten würde, dass, wenn jede dieser betroffenen Familien auch nur ein Kind zur Arbeit schickt, mehr als eine Million Kinder im Land von Kinderarbeit betroffen wären (STC 14.2.2023). Es wird vermutet, dass die Zahl der Kinderarbeiter mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan noch steigen wird (RFE/RL 17.5.2023).

Auch im Jahr 2022 hielten die meisten Geberländer die Kürzungen der Einkommenshilfen und der Löhne für Beschäftigte aufrecht, die für die Gesundheitsversorgung, das Bildungswesen und andere wichtige Dienstleistungen zuständig sind. Die daraus resultierenden weitverbreiteten Lohneinbußen fielen mit steigenden Preisen für Lebensmittel, Treibstoff und andere wichtige Güter zusammen. Auch die landwirtschaftliche Produktion ging im Jahr 2022 aufgrund der anhaltenden Dürre und des fehlenden Zugangs zu Düngemitteln, Treibstoff und anderen landwirtschaftlichen Betriebsmitteln zurück (HRW 12.1.2023).

Frauen und Mädchen sind unverhältnismäßig stark von der Krise betroffen und sehen sich größeren Hindernissen bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und finanziellen Mitteln gegenüber (HRW 12.1.2023). Die Politik der Taliban, Frauen von den meisten bezahlten Tätigkeiten auszuschließen, hat die Situation noch verschlimmert (HRW 12.1.2023; vergleiche UNDP 18.4.2023), vor allem für Haushalte, in denen Frauen die einzigen oder wichtigsten Lohnempfängerinnen waren. In den Fällen, in denen die Taliban Frauen die Arbeit erlaubten, wurde dies durch repressive Auflagen fast unmöglich gemacht, wie z. B., dass Frauen von einem männlichen Familienmitglied zur Arbeit begleitet werden und dort während des gesamten Arbeitstages beaufsichtigt werden müssen (HRW 12.1.2023).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90 % der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben (ATR/STDOK 3.2.2023).

Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison (ACAPS 16.6.2023).

Naturkatastrophen

Afghanischen Haushalte sind nach wie vor stark von Naturkatastrophen betroffen und anfällig für Klimaschocks. Afghanistan hat unter den Ländern mit niedrigem Einkommen in den letzten 40 Jahren die meisten Todesopfer durch Naturkatastrophen zu beklagen und steht weltweit auf Platz 5 der klimatisch am stärksten gefährdeten Länder (UNDP 18.4.2023).

Afghanistan erlebte im Jahr 2022 Naturkatastrophen (UNOCHA 1.2023) von denen allein zwischen Jänner 2022 und Jänner 2023 mehr als 241.052 Menschen in 33 von 34 Provinzen betroffen waren. Afghanistan ist anfällig für Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, Erdrutsche und Lawinen. Mehr als drei Jahrzehnte Konflikt, gepaart mit Umweltzerstörung und unzureichenden Investitionen in Strategien zur Verringerung des Katastrophenrisikos, haben dazu beigetragen, dass die afghanische Bevölkerung immer schwerer mit Naturkatastrophen fertig wird. Im Durchschnitt sind jedes Jahr 200.000 Menschen von solchen Katastrophen betroffen (UNOCHA 2.2.2023).

Im Jahr 2022 gab es drei schwere Erdbeben, die Menschenleben forderten und Schäden an Häusern und Eigentum verursachten (UNOCHA 1.2023): in der Provinz Badghis im Jänner (AJ 22.6.2022; vergleiche AnA 22.6.2022), im Juni in den Provinzen Paktika und Khost (AJ 22.6.2022; vergleiche WHO 3.7.2022b) und in der Provinz Kunar im September (Bakhtar 5.9.2022; vergleiche Afintl 5.9.2022). Außerdem kam es zwischen Juli und September in vielen Provinzen zu Überschwemmungen (UNOCHA 1.2023; vergleiche AJ 30.8.2022), die die landwirtschaftlichen Existenzen erheblich beeinträchtigten. Insgesamt wird erwartet, dass schwere und unvorhersehbare Wetterereignisse, wie die Sommerüberschwemmungen von 2022, im Jahr 2023 und darüber hinaus aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels zunehmen werden, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Infrastruktur und die Landwirtschaft hat und zu Vertreibungen beitragen wird (UNOCHA 1.2023).

Die durch die Dürren von 2018 und 2021/22 verursachten akuten Bedürfnisse haben sich verschärft und erreichen nun einen Krisenpunkt. Mit Dezember 2022 erlebte Afghanistan zum ersten Mal seit 1998-2001, eine Periode mit mehrjähriger Dürre (UNOCHA 1.2023: vergleiche IFRC 3.2.2023). Eine mit dem Joint Intersectoral Analysis Framework (JIAF) durchgeführte Analyse zeigt, dass 25 von 34 Provinzen entweder schwere oder katastrophale Dürrebedingungen melden, von denen mehr als 50 % der Bevölkerung betroffen sind. Es handelt sich überwiegend um ein ländliches Phänomen: 73 % der ländlichen Haushalte gegenüber 24 % der städtischen Haushalte sind davon betroffen, insbesondere das zentrale Hochland war Berichten zufolge eine der am stärksten von der Dürre betroffenen Regionen, gefolgt vom Süden und Norden Afghanistans. Die anhaltende Dürre führt zum Austrocknen von Oberflächenwasserquellen und zu einem erheblichen Rückgang des Grundwasserspiegels in handgegrabenen und flachen Brunnen. Die Grundwasserressourcen Afghanistans sind stark erschöpft (UNOCHA 1.2023).

Im März 2023 kam es zu einem schweren Erdbeben im Norden Afghanistans (REU 22.3.2023; vergleiche FR24 22.3.2023). Bis zu 35 Menschen wurden bei Überflutungen in den Provinzen Kabul und Maidan Wardak im Juli 2023 getötet. Die durch heftige saisonale Regenfälle verursachten Sturzfluten haben Häuser sowie Hunderte von Quadratkilometern landwirtschaftlicher Nutzfläche teilweise oder vollständig zerstört (UNHCR 1.8.2023; vergleiche AJ 24.7.2023).

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung 2023-09-28 13:04

Nach Angaben der World Health Organisation (WHO) und des International Committee of the Red Cross (ICRC) steht das afghanische Gesundheitssystem nach der Machtübernahme der Taliban und dem Rückzug der Hilfe der westlichen Staaten am Rande des Zusammenbruchs (ICRC 13.8.2022; vergleiche WHO 24.1.2022). Die allgemeine humanitäre Krise schränkt die Kapazität des Gesundheitswesens und der Gesundheitsdienste erheblich ein (UNOCHA 1.2023). Wegen unzureichender Finanzierung und Infrastruktur sowie hohen Kosten, unterbesetzten medizinischen Einrichtungen und einem Mangel an Medikamenten und Vorräten, haben derzeit rund 13 Millionen Menschen in Afghanistan keinen Zugang zu medizinischer Versorgung (ACAPS 26.6.2023; vergleiche UNICEF 7.8.2023, UNOCHA 1.2023), wodurch sie einem hohen Risiko von Unterernährung und Krankheitsausbrüchen ausgesetzt sind. Die Gefährdung von Frauen und Mädchen hat sich weiter verschärft, da sie aufgrund des Verbots der Bildung und der Teilnahme am Erwerbsleben mit größeren Hindernissen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung konfrontiert sind (WHO 18.8.2023).

In den öffentlichen Krankenhäusern, die unter direkter Aufsicht der afghanischen Regierung stehen, sind seit dem Regimewechsel sowohl die Qualität der Versorgung als auch die Zahl der Mitarbeiter erheblich zurückgegangen (IOM 12.1.2023). Ärzte und Krankenschwestern arbeiten länger und Gehälter werden häufig nicht gezahlt (IOM 12.1.2023; vergleiche NH 17.1.2023), weshalb viele Mitarbeiter das Land verlassen haben (IOM 12.1.2023, vergleiche UNOCHA 1.2023). Die Kapazität des Gesundheitspersonals im öffentlichen Sektor ist gering (HC 31.12.2022; vergleiche UNOCHA 1.2023), auch aufgrund der Einschränkungen von Frauen im Hinblick auf Beschäftigung und Bewegungsfreiheit (UNOCHA 1.2023). Die südlichen, östlichen und westlichen Regionen Afghanistans verfügen noch über eine ausreichende medizinische Versorgung, da die Krankenhäuser in diesen Regionen von IOM (südliche und westliche Regionen) und der Transkulturellen Psychosozialen Organisation Health Net (TPO) (östliche Regionen) unterstützt werden. In den zentralen und nördlichen Provinzen fehlt es an finanziellen Mitteln und die Leistungen sind unzureichend. Die größten Engpässe in der medizinischen Versorgung bestehen derzeit bei PSA (Persönliche Schutzausrüstung), Sauerstoff, anderen medizinischen Dienstleistungen (IOM 12.1.2023) sowie Blutkonserven (ACAPS 26.6.2023; vergleiche TN 4.4.2023). Ebenso konzentrieren sich die am besten qualifizierten Gesundheitsfachkräfte in den Städten und den gut ausgestatteten Provinzen. Gleichzeitig können Bevölkerungsverschiebungen und die Abwanderung in städtische Zentren die bestehenden Gesundheitsdienste in städtischen Gebieten überlasten. Obwohl es in den städtischen Zentren zahlreiche Gesundheitseinrichtungen gibt, gab die städtische Bevölkerung häufig an, dass Medikamente oder Behandlungen für sie zu teuer seien (UNOCHA 1.2023).

Am 25.12.2022 erließ das Wirtschaftsministerium der Taliban einen Erlass, der Mitarbeiterinnen von internationalen NGOs die Arbeit verbot (OHCHR 27.12.2022; vergleiche GD 26.12.2022), was jedoch nicht für den Gesundheitssektor gilt, und das Gesundheitsministerium der Taliban hat den NGOs im Gesundheitssektor geraten, ihre Dienste wieder aufzunehmen (WHO 16.1.2023). In weiterer Folge haben mit dem 28.12.2022 14 Organisationen die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten vorübergehend eingestellt (HC 31.12.2022). Aufgrund der Aussetzung des Betriebs der Gesundheitspartner werden rund 1,5 Millionen Menschen keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu lebenswichtigen Gesundheitsdiensten haben (WHO 16.1.2023; vergleiche HC 31.12.2022). Davon betroffen sind auch gemeindenahe Aktivitäten z. B. MHTs, Gesundheitserziehung/-sensibilisierung, MHPSS, MCH, während die von weiblichem Personal durchgeführten Schulungs- und Aufsichtsmaßnahmen eingestellt wurden (HC 31.12.2022).

In Afghanistan gibt es Ausbrüche von Infektionskrankheiten wie Masern, akute wässrige Diarrhöe (AWD), Dengue-Fieber (IOM 12.1.2023; vergleiche WHO 16.1.2023), Cholera, Malaria, Polio (IOM 12.1.2023) und Keuchhusten (WHO 16.1.2023), die das ohnehin fragile Gesundheitssystem zusätzlich belasten (HC 31.12.2022). Infektionskrankheiten wie AWD und Cholera sind die Folge von und ein Katalysator für schlechte humanitäre Bedingungen, einschließlich schlechter sanitärer Einrichtungen, Wasserqualität und -menge, Unterernährung, geringerer Schulbesuch, schlechter Gesundheitszustand und geringeres Einkommen. Besonders betroffen sind Kinder in ländlichen Haushalten, was teilweise auf Unterschiede in der sanitären Infrastruktur zurückgeführt werden kann (UNOCHA 1.2023).

Aufgrund der zunehmenden Ernährungsunsicherheit hat die Mangelernährung in Afghanistan im Jahr 2022 stark zugenommen, auch die Fälle von Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren. In diesem Jahr wurden mehr als 46.000 Kinder mit Komplikationen eingeliefert, das ist die höchste Zahl der letzten drei Jahre und ein Anstieg um 46 % gegenüber 2021. Allein im Dezember 2022 wurden 3.010 unterernährte Kinder mit medizinischen Komplikationen in von der WHO unterstützten Zentren aufgenommen und behandelt (WHO 16.1.2023). UNICEF schätzte, dass im Jahr 2023 voraussichtlich rund 2,3 Millionen Kinder von akuter Unterernährung betroffen sein und 875.000 von ihnen wegen schwerer akuter Unterernährung behandlungsbedürftig sein werden (UNICEF 7.8.2023).

Auch die in Afghanistan häufig vorkommenden Stromausfälle stellen eine Gefahr für die medizinische Versorgung dar. Afghanistan importiert nach wie vor 80 % seines Stroms aus den zentralasiatischen Nachbarländern und Iran, was das Land insbesondere in den kalten Wintermonaten anfällig für weitreichende Stromengpässe macht. Für Krankenhäuser und Kliniken kann die Stromversorgung den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Die Mitarbeiter des Gesundheitswesens bemühen sich, die Stromversorgung aufrechtzuerhalten, angefangen bei den Kühlschränken für lebensrettende Medikamente bis hin zu den Brutkästen für Frühgeborene, bei denen ein Temperaturabfall drastische Auswirkungen auf die Gesundheit der Neugeborenen haben kann. Privatkliniken mussten Tausende von Dollar in Generatoren und Sonnenkollektoren investieren, um zu gewährleisten, dass die Patientenversorgung nicht durch die Stromausfälle beeinträchtigt wird. Sie sind im Vorteil, da sie die Kosten für die zusätzliche Ausrüstung auf die Gebühren für wohlhabendere Patienten aufschlagen können. Staatliche Krankenhäuser, die allen Patienten eine kostenlose Behandlung anbieten, haben kaum einen solchen Spielraum (NH 17.1.2023).

COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf, folgende Website der WHO: https://covid19.who.int/region/emro/country/af mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Bis 31.8.2023 gab es laut WHO 225.082 bestätigte Fälle von COVID-19 in Afghanistan (WHO 31.8.2023). Seit Beginn der Pandemie hat sich COVID-19 über das ganze Land ausgebreitet. Die erste Welle erstreckte sich Berichten zufolge von Ende April bis Juni 2020; die zweite Welle begann im Oktober 2020 und dauerte bis Ende Dezember 2020; die dritte Welle begann Berichten zufolge im April 2021 und dauerte bis Mitte August 2021. Die vierte Welle endete im März 2022 (Asady/Sediqi/Habibi 28.6.2022). Im Sommer 2022 sah sich Afghanistan einem weiteren Anstieg der COVID-19-Fälle ausgesetzt und innerhalb von zwei Monaten wurden mehr als 11.700 Fälle registriert. Es wurde berichtet, dass die Menschen trotz der Zunahme an Erkrankungen keine Angst mehr haben würden und keine Präventivmaßnahmen ergreifen (PAN 8.9.2022).

Bis zur Machtübernahme der Taliban waren landesweit insgesamt 38 COVID-19-Krankenhäuser in Betrieb, die alle von internationalen Gebern finanziert wurden. Daneben wurden im Rahmen der COVID-19-Notfallmaßnahmen auch Krisenreaktionsteams (Rapid Response Teams, RRTs) und Distriktzentren (District Centers, DCs) eingerichtet, um Risikokommunikationsveranstaltungen durchzuführen, Proben von Verdachtsfällen zu sammeln, Kontaktpersonen ausfindig zu machen und Ratschläge für leichte und mittelschwere Fälle zu geben, die zu Hause behandelt werden sollten. Diese Maßnahmen trugen entscheidend dazu bei, die Belastung der für COVID-19 zuständigen Krankenhäuser zu verringern, sodass sie sich auf die Behandlung schwerer und kritischer Fälle konzentrieren konnten. Nach dem Zusammenbruch der vorherigen Regierung wurden alle Finanzmittel und Unterstützungen für die COVID-19-Notfallmaßnahmen gekürzt, und die meisten Krankenhäuser mussten ihren Betrieb einstellen, weil es an Mitteln, Ärzten, Medikamenten und sogar Heizmaterial mangelte. Der Mangel an Gesundheitspersonal für die Entnahme von Proben verdächtiger Personen und der Mangel an Kits für labordiagnostische Tests waren in den meisten Distrikten Afghanistans auch 2022 nach wie vor die größten Herausforderungen. Das hohe Maß an finanzieller Unsicherheit in mehreren Teilen des Landes hat große und direkte negative Auswirkungen auf die Bereitstellung und Abdeckung von Gesundheitsdiensten für die breite Öffentlichkeit. Viele Menschen, die ihre erste Impfung mit dem COVID-19-Impfstoff erhalten haben, konnten die nächste Dosis nicht erhalten, weil der Impfstoff knapp oder nicht verfügbar war (Asady/Sediqi/Habibi 28.6.2022).

Rückkehr

Letzte Änderung 2023-09-19 10:58

[Anmerkung: Zur Situation rückkehrender Geflüchteter aus Österreich liegen nur vereinzelt Erkenntnisse vor, da Rückführungen aus Österreich und anderen EU-Mitgliedstaaten gegenwärtig ausgesetzt sind.]

Nach Angaben von UNHCR sind zwischen Jänner und August 2023 8.029 afghanische Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt (95 % aus Pakistan, 4% aus Iran und 1 % aus anderen Ländern). Die Zahl der Rückkehrer in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 ist fünfmal so hoch wie die Zahl der Rückkehrer im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 und die Gesamtzahl der Rückkehrer im Jahr 2022 (6.424) (UNHCR 1.8.2023). Als Hauptgründe für die Rückkehr aus Iran und Pakistan nannten die Rückkehrer die Lebenshaltungskosten und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern, die verbesserte Sicherheitslage in Afghanistan und die Wiedervereinigung mit der Familie. Im Jahr 2023 kehrten 57 % der Flüchtlinge in fünf Provinzen zurück: Kabul (21 %), Kunduz (13 %), Kandahar (10 %), Nangarhar (7 %) und Jawzjan (6 %). Außerdem hielten sich 72 % der Rückkehrer seit mehr als zehn Jahren im Asylland auf und 25 % wurden im Asylland geboren (UNHCR 24.7.2023).

Eine Studie von IOM, bei der Afghanen interviewt wurden, die zwischen Jänner 2018 und Juli 2021 aus der Türkei oder der EU nach Afghanistan zurückkehrten, berichtet, dass die Rückkehrer weiterhin mit erheblichen wirtschaftlichen und ernährungsbedingten Herausforderungen konfrontiert sind. Der größte Anteil der Befragten (45 %) gab an, arbeitslos zu sein, während 40 % sagten, sie arbeiteten für einen Tageslohn und fast 90 % der Befragten gaben an, dass sich ihre wirtschaftliche Situation im ersten Halbjahr 2022 verschlechtert habe (IOM 5.9.2022).

Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaft ist in Folge der Machtübernahme der Taliban kollabiert. Rückkehrende dürften nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (AA 26.6.2023).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART römisch III unterstützt werden (IOM 12.1.2023). Das Reintegrations- und Entwicklungshilfeprojekt (RADA), welches 2017 ins Leben gerufen wurde, hat das Ziel, "eine geordnete, sichere, regelmäßige und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen zu erleichtern, unter anderem durch die Umsetzung geplanter und gut verwalteter Maßnahmen". Es unterstützt Gemeinden mit einer hohen Anzahl an Rückkehrern durch Projekte wie den Bau von Bewässerungskanälen. Die Beratungstätigkeit des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) durch IOM wurde mit der Machtübernahme der Taliban eingestellt. Auch ist die Bereitstellung von sofortiger Aufnahmeunterstützung am Flughafen Kabul derzeit ausgesetzt (IOM 12.1.2023).

Am 30.8.2021 gab Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid in einem Interview an, dass viele aus Angst aufgrund von Propaganda aus Afghanistan ausgereist wären und die Taliban nicht glücklich darüber seien, dass Menschen Afghanistan verlassen, obwohl jeder, der über Dokumente verfüge, zur Ausreise berechtigt sein sollte. Auf die Frage, ob afghanische Asylwerber in Deutschland oder Österreich mit abgelehnten Asylanträgen, die möglicherweise auch Straftaten begangen haben, wieder aufgenommen würden, antwortete Mujahid, dass sie aufgenommen würden, wenn sie abgeschoben und einem Gericht zur Entscheidung über das weitere Vorgehen vorgeführt würden (KrZ 30.8.2021). Es war nicht klar, ob sich Mujahid mit dieser Aussage auf Rückkehrer im Allgemeinen oder nur auf Rückkehrer bezog, die Straftaten begangen haben (EASO 1.1.2022). Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 26.6.2023).

Die Taliban haben am 16.3.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.6.2023).

Einem afghanischen Menschenrechtsexperten zufolge gab es unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten ein negatives Bild von Afghanen, die Afghanistan verlassen hatten. Menschen, die Afghanistan verlassen hatten, würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertraten oder auf der Flucht vor Dingen seien, die sie getan haben. Auf der anderen Seite haben die Taliban den Pässen für afghanische Arbeiter, die im Ausland arbeiten, Vorrang eingeräumt, da dies ein Einkommen für das Land bedeuten würde. Auf einer Ebene mögen die Taliban also den wirtschaftlichen Aspekt verstehen, aber sie wissen auch, dass viele derjenigen Afghanen, die ins Ausland gehen, nicht mit ihnen einverstanden sind. Ein afghanischer Rechtsprofessor beschrieb zwei Darstellungen der Taliban über Personen, die Afghanistan verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die Afghanistan aufgrund von Armut, nicht aus Angst vor den Taliban, verlassen und auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen. Die andere Darstellung bezog sich auf die "Eliten" die das Land verließen. Sie würden nicht als "Afghanen", sondern als korrupte "Marionetten" der "Besatzung" angesehen, die sich gegen die Bevölkerung stellten. Dieses Narrativ könnte beispielsweise auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle einschließen und nicht nur ehemalige Regierungsbeamte. Der Quelle zufolge sagten die Taliban oft, dass ein "guter Muslim" nicht gehen würde und dass viele, die in den Westen gingen, nicht "gut genug als Muslime" seien. Zwei Anthropologen an der Zayed-Universität [Anm.: öffentliche Universität mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten], beschrieben ein ähnliches Narrativ, nämlich, dass Menschen, die das Land verlassen wollen, nicht als "die richtige Art von Mensch" bzw. nicht als "gute Muslime" wahrgenommen werden. Sie unterschieden jedoch die seit Langem bestehende Tradition der paschtunischen Männer, ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten, von anderen Afghanen, die weggehen und sich in nicht-muslimischen Ländern aufhalten - was nicht "der richtige Weg" sei. Sie erklärten ferner, dass in ländlichen paschtunischen Gebieten eine Person, die nach Europa oder in die USA gehen will, im Allgemeinen mit Misstrauen betrachtet wird, ebenso wie Personen mit westlichen Kontakten (EASO 1.1.2022).

Dokumente

Letzte Änderung 2023-09-28 14:18

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.7.2020; vergleiche SEM 12.4.2023). Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Personenregister lückenhaft und nicht ausreichend miteinander vernetzt sind. Zudem sind viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden nicht ausreichend geschult im Umgang mit den Registern und der Ausstellung von Dokumenten. Aus diesen Gründen ist es den Behörden oft nicht möglich, die Angaben der Personen, die Dokumente beantragen, zuverlässig zu verifizieren. Stattdessen müssen sie sich auf die mündlichen Angaben der Antragsteller und der Zeugen verlassen. Außerdem besteht je nach Dokument eine unterschiedliche Praxis, Geburtsdatum, Geburtsort und Nachnamen einzutragen. Deshalb kommt es vor, dass die Personalien derselben Person in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich eingetragen sind (SEM 12.4.2023).

Besonders fälschungsanfällig sind Papier-Tazkira [Anm.: Tazkira ist ein nationales Personaldokument] (SEM 12.4.2023; vergleiche MBZ 3.2022). In Pakistan sind zahlreiche gefälschte Tazkira im Umlauf. Bei der schwarz-weißen Papier-Tazkira sind weder Layout noch Drucktechnik standardisiert. Die verwendeten Stempel sind aufgrund der großen Anzahl zuständiger Behörden nicht überprüfbar. Die Dokumente sind deshalb leicht fälschbar. In der Regel ist es unmöglich, die Authentizität solcher Dokumente zu prüfen. Reisepass und e-Tazkira haben ein einheitliches Layout mit zahlreichen Sicherheitsmerkmalen. Deshalb lässt sich die Authentizität dieser Dokumente am besten überprüfen. Es besteht aber auch hier die Möglichkeit, dass Inhalte manipuliert sind oder dass sie an nicht berechtigte Personen ausgestellt sind (SEM 12.4.2023).

Mit Stand August 2023 kann eine Tazkira in Papierform in allen Provinzen beantragt werden. Auch eine e-Tazkira ist in den meisten Provinzen zu erhalten, wobei in einigen, sehr dünn besiedelten Provinzen dies nicht möglich ist und Bewohner dieser Regionen in Nachbarprovinzen reisen müssen, um eine e-Tazkira zu bekommen (RA KBL 20.8.2023).

Seit der Machtübernahme der Taliban gab es immer wieder Probleme, wenn es um die Ausstellung von Reisepässen ging und die Ausstellung von Reisepässen wurde für einige Monate ausgesetzt, da es, nach Angaben der Passdirektion, technische Schwierigkeiten gab (RA KBL 26.1.2023; vergleiche KP 8.10.2022, SEM 12.4.2023). Im Dezember 2022 riefen Bürger Kabuls die Taliban dazu auf, die Erstellung von Reisepässen wieder aufzunehmen, da es Kranken ohne Reisepässe nicht möglich war, ins Ausland zu reisen und sich behandeln zu lassen (TN 11.12.2022; vergleiche PAN 9.1.2023). Auch mit August 2023 gibt es Beschwerden über die langsame Bearbeitung von Passanträgen (TN 1.8.2023). Mit Stand August 2023 können Personen, die bereits früher einen Reisepass beantragt haben, diesen in allen Provinzen erhalten. Allerdings nimmt das Online-Passportal mit diesem Zeitpunkt nur neue Passanträge aus den Provinzen Kabul, Paktika, Uruzgan, Zabul und Nuristan entgegen (RA KBL 20.8.2023). Der Sprecher der Generaldirektion für Pässe gab im August 2023 an, dass es geplant ist, in den nächsten drei Monaten drei Passverteilungszentren in Kabul einzurichten (TNI 9.8.2023).

Laut einer Erklärung des Sprechers der Generaldirektion für Pässe werden keine Pässe an Personen mit Ausreiseverboten wegen beispielsweise unbezahlter Schulden oder laufenden Straf-, Zivil- oder Handelsverfahren oder an Kinder, die keinen gesetzlichen Vormund haben, ausgestellt (TN 1.8.2023). Laut Angaben eines lokalen Rechtsanwalts in Kabul, ist es für Frauen möglich, in Afghanistan auch ohne Begleitung eines Mahram [Anm.: männl. Begleitperson] einen Reisepass zu erhalten, auch wenn die sich Behandlung der Antragsstellerinnen von Ort zu Ort unterscheiden kann. In Kabul ist es derzeit nicht vorgeschrieben. Der Erhalt eines Reisepasses für Frauen ist auch möglich, wenn sich der Ehemann der Frau zum Antragszeitpunkt im Ausland befindet (RA KBL 29.8.2023).

Um eine e-Tazkira zu erhalten, muss der Antragsteller das Online-Antragsformular ausfüllen. Benötigt wird dafür eine Tazkira in Papierform (falls der Antragsteller keine Tazkira in Papierform besitzt, ist eine Geburtsurkunde für Antragsteller unter 18 Jahren erforderlich. Für Personen über 18 Jahren ist die Tazkira (entweder elektronisch oder in Papierform) eines der Hauptverwandten des Antragstellers (Vater, Bruder, Schwester, Onkel, Cousin, Großvater) erforderlich. In diesem Fall müssen zwei andere Personen als die Hauptverwandten des Antragstellers die Identität des Antragstellers bescheinigen). Zusätzlich ist ein Lichtbild des Antragsstellers notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller zu einem bestimmten Termin im e-Tazkira-Ausstellungszentrum erscheinen, um die biometrischen Daten erfassen zu lassen und die Gebühr zu entrichten (RA KBL 26.1.2023; vergleiche RA KBL 20.8.2023). Die Gebühr für den Erhalt einer e-Tazkira ist vor Kurzem von 300 AFN auf 500 AFN angestiegen (RA KBL 20.8.2023; vergleiche BAMF 30.6.2023).

Für den Erhalt eines Reisepasses gelten dieselben Voraussetzungen wie für eine e-Tazkira. Es muss ein Formular online ausgefüllt werden und nach Vorlage eines Identitätsdokumentes (e-Tazkira, Tazkira in Papierform oder Geburtsurkunde), sowie eines Lichtbildes und der Unterschrift, werden die Fingerabdrücke des Antragsstellers biometrisch erfasst. Falls der Antragssteller bereits einen Reisepass besessen hat, so ist dieser ebenso vorzulegen bzw. sind Informationen zu diesem notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller die Gebühr entrichten und zu einem bestimmten Termin zur biometrischen Untersuchung in der Passabteilung erscheinen. Die Gebühr für einen Reisepass liegt bei 10.000 AFN (RA KBL 26.1.2023; vergleiche RA KBL 20.8.2023).

Die Beantragung sowohl von e-Tazkira als auch von Reisepässen ist derzeit in allen Provinzen über Online-Portale möglich. Einzelpersonen können eine e-Tazkira bei der Beantragung erhalten, aber die Ausstellung von Reisepässen ist im Moment ausgesetzt, außer in den oben genannten Ausnahmefällen. Wenn Einzelpersonen einen Reisepass beantragen, wird der Antrag im System registriert und zu einem bestimmten Zeitpunkt bearbeitet, wenn die Ausstellung des Reisepasses wieder aufgenommen wird. Generell sind die Bearbeitung von Passanträgen und die Ausstellung von Pässen jedoch sehr begrenzt (RA KBL 26.1.2023; vergleiche RA KBL 20.8.2023).

Die Reisepässe sehen immer noch genauso aus wie früher. Beamte haben jedoch erklärt, dass neue e-Tazkira mit einigen Änderungen im Layout ausgestellt werden. Auf der Titelseite von e-Tazkira steht nicht mehr "Innenministerium", sondern "Nationale Behörde für Statistik und Information" in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Rückseite von e-Tazkira das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, das vorher nicht vorhanden war (RA KBL 26.1.2023; vergleiche RA KBL 20.8.2023).

Reisepässe außerhalb Afghanistans

Die Ausstellung von Reisepässen in Iran und Pakistan war Experten zufolge mit Stand Juli 2023 nicht möglich. Eine Expertin verwies jedoch darauf, dass Verlängerungen afghanischer Pässe in Peschawar und Islamabad "weitgehend problemlos" möglich sind. Im Juli kündigte der Generalkonsul der afghanischen Botschaft in Maschhad einem Medienbericht zufolge die Ausstellung afghanischer Reisepässe und elektronischer Identitätsdokumente an (ACCORD 20.7.2023). Laut dem Außenministerium der Taliban hat die Ausstellung von Reisepässen für afghanische Staatsbürger in Iran gegen Ende August 2023 begonnen (Afintl 21.8.2023). Auch nach Angaben eines Rechtsanwalts in Kabul ist es mit Ende August 2023 möglich, afghanische Reisepässe in Iran, der Türkei und Pakistan zu erhalten, wobei darauf hingewiesen wird, dass dieser Service nicht für alle zugänglich sein könnte. Neben den Standardanforderungen für die Ausstellung eines Reisepasses kann es zusätzliche Anforderungen geben, wie z. B. Wohnsitz oder physische Anwesenheit in den betreffenden Ländern (RA KBL 29.8.2023). Außerdem kann es einen Vorrang für bestimmte Kategorien von Antragstellern geben (RA KBL 29.8.2023), wie z. B. Neugeborene (Afintl 21.8.2023).

Für weitere Informationen zu afghanischen Dokumenten wird auf den Bericht Identitäts- und Zivilstandsdokumente des Staatssekretariats für Migration [Schweiz] verwiesen (SEM 12.4.2023)

Anmerkung, Mahram kommt von dem Wort "Haram" und bedeutet "etwas, das heilig oder verboten ist". Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vergleiche GIWPS 8.2022).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Religion, Volksgruppenzugehörigkeit und zu den familiären Verhältnissen des Beschwerdeführers stützen sich auf die diesbezüglich glaubhaften und unstrittig gebliebenen Angaben des Beschwerdeführers in den Vorakten, im Verfahren vor dem BFA und dem Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts.

Die Feststellungen zur Zugehörigkeit der Volksgruppe der Hazara und Zugehörigkeit zur schiitischen Religionsgemeinschaft stützen sich auf die diesbezüglich glaubhaften und unstrittig gebliebenen Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren vor dem BFA und dem Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts.

Der Familienstand und die Kinderlosigkeit des BF ergeben sich aus den glaubwürdigen und gleichlautenden Angaben im Verfahren. Die zahlreichen strafrechtlichen Verurteilungen ergeben sich aus den Auszügen des Zentralen Melderegisters, dem Strafregister, den vorgelegten Strafurteile und der Einsicht in das Grundversorgungssystem sowie durch die durchgeführte mündliche Verhandlung am 23.01.2024.

2.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

2.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan stützen sich auf objektives, in das Verfahren eingebrachtes Berichtsmaterial. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Diese Berichte sind aktuell und setzen sich aus Informationen aus regierungsoffiziellen und nichtregierungsoffiziellen Quellen zusammen.

2.2. Zu den Fluchtgründen:

Der BF vermochte weder vor der belangten Behörde noch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG eine individuelle Verfolgung oder Bedrohung seiner Person im Sinne der GFK in Afghanistan glaubhaft darzulegen.

Als Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen brachte der BF im Rahmen seiner Einvernahme vor dem BFA vor, dass er – jetzt wo die Taliban das Land beherrschen – nicht mehr zurückkönne, da er durch seinen Aufenthalt in Österreich verwestlich sei und er nun Alkohol trinke, was in Afghanistan nicht möglich wäre bzw. von den Taliban nicht toleriert werden würde. Er könne in Afghanistan sein Leben nicht selbstständig bestimmen. Abgesehen von den Gründen, wegen denen er den gegenständlichen Folgeantrag gestellt habe, führte er aus, dass sein bisherigen Fluchtvorbringen, nämlich eine private Familienfehde, nach wie vor aufrecht sei. Dieses Vorbringen wiederholte er im Wesentlichen im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.

Die Feststellung, dass ein Teil seines Vorbringens betreffend die Probleme mit einer anderen Familie bereits im ersten Verfahren auf internationalen Schutz ausführlich geprüft worden ist, stützt sich auf den unzweifelhaften und unbestrittenen Inhalt des Verwaltungs- und Gerichtsaktes. Mit Bescheid des Bundesasylamts vom 22.07.2013 wurde das diesbezügliche Vorbringen bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen. Dieser Spruchteil erwuchs in Rechtskraft, weshalb nur die Fluchtgründe betreffend die geänderte Situation in Afghanistan gegenständlichem Verfahren zugänglich waren.

Das erkennende Gericht kommt – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und unter Zugrundelegung und Erörterung der aktuellsten Länderinformationen bezüglich des Herkunftsstaates Afghanistan – auf Grund des in dieser vom BF erhaltenen persönlichen Eindrucks sowie der im erstinstanzlichen Verwaltungsakt einliegenden niederschriftlichen Erstbefragung und der Einvernahme des BF zur Überzeugung, dass auch die weiteren
(Nach-)Fluchtgründe des BF nicht glaubhaft sind:

Im gesamten Verfahren sind keine Umstände hervorgekommen, dass der BF in Österreich bereits in einem solchen Maße eine („westliche“) Lebensweise führt, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Er würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan seinen Lebensstil nicht derart ausgestalten, dass er ablehnend und provokativ wahrgenommen würde und er deswegen in den Fokus anderer Afghanen geraten könnte. Es ist dem BF als Mann nicht verwehrt, in Afghanistan ein im Wesentlichen selbstbestimmtes Leben zu führen oder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Es droht ihm auch keine Gefahr aus sonstigen Gründen, wie etwa aufgrund eines liberalen Verständnisses der Rolle der Frau, zumal er selbst eben keine Frau ist. Abgesehen davon wurde dies auch gar nicht behauptet wurde, dass er sich öffentlich für diese Angelegenheiten einsetzen würde. Insoweit er vorbrachte, er könne sich in Afghanistan nicht zurückkönne, weil er in Österreich Alkohol getrunken habe, ist darauf zu verweisen, dass nach dem Länderberichtsmaterial derzeit keine Gefahr für Männer besteht, einer Verfolgung ausgesetzt zu sein, weil sie im Ausland Alkohol getrunken hätten.

Zum langjährigen Aufenthalt des BF in Österreich ist generell festzuhalten, dass auch nach der Machtergreifung der Taliban für einen männlichen BF aus den oben zitierten Länderberichten eine Gefährdung oder Verfolgung alleine aus dem Umstand eines mehrjährigen Aufenthaltes in Europa nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit abzuleiten ist.

Zu dem in der Beschwerde vorgebrachten Fluchtgrund der Gruppenverfolgung von Angehörigen der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan ist festzuhalten, dass unter Berücksichtigung der aktuellen Lage in Afghanistan, trotz der nach wie vor bestehenden Spannungen unter den einzelnen Volksgruppen, derzeit nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Umstände als Angehöriger der Hazara und schiitischen Glaubens mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bloß aus ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt werden würde. Der Beschwerdeführer hat nicht dargelegt, warum konkret er aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner Glaubensrichtung einer über das allgemeine Maß hinausgehenden Bedrohung ausgesetzt sein sollte.

Das Bundesverwaltungsgericht kommt deshalb zum Ergebnis, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt droht. Diskriminierungen und einzelne lokale Vertreibungen mögen zwar vorkommen, eine Gruppenverfolgung der Hazara in Afghanistan ist jedoch nicht anzunehmen.

Die Taliban kontrollieren das gesamte afghanische Staatsgebiet und die dortige Sicherheits- und Versorgungslage ist prekär, aber nicht derart ausgestaltet, dass jedem afghanischen Staatsbürger alleine wegen dieser Asyl zu gewähren wäre.

2.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF

2.3.1. Die Feststellung, dass der BF einer realen Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention ausgesetzt wäre oder er als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, somit eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den Herkunftsstaat unzulässig ist, ergibt sich insbesondere aus den aktuellen Länderberichten zur Lage in Afghanistan (siehe IDPs und Flüchtlinge, Grundversorgung und Wirtschaft und Rückkehrer).

Im August 2021 kam es in Afghanistan zu einer Machtübernahme durch die Taliban. Während die Sicherheitslage nach wie vor prekär ist, kann die Versorgungslage nur als katastrophal bezeichnet werden.

Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Folgen der Covid-19 Krise, der derzeitigen erheblichen Nahrungsmittelunsicherheit, dem Ausbleiben internationaler Gelder und dem Steigen der Nahrungsmittelpreise ist nicht davon auszugehen, dass der BF in der Lage wäre, sich ausreichend zu versorgen und die notwendigsten Lebensbedürfnisse sicherzustellen, zumal für den Herkunftsort des BF in Afghanistan (Kapisa) IPC-Stufe drei (Crisis) gilt.

Da auch die urbanen Zentren in Afghanistan von der Nahrungsmittelunsicherheit erheblich betroffen sind (IPC-Stufe drei), ist es dem BF nicht möglich und auch nicht zumutbar sich in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif niederzulassen.

2.3.2. Betreffend die strafrechtlichen Verurteilungen des BF wurde in die Strafregisterauskunft Einsicht genommen. Der BF wurde in Österreich mehrfach strafgerichtlich verurteilt:

1. Mit Urteil des römisch 40 vom 13.10.2014, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraphen 15,, 269 Absatz eins, 1.Fall StGB und Paragraph 105, Absatz eins, StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, als junger Erwachsener, verurteilt.

2. Mit Urteil des römisch 40 vom 19.05.2017, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 83, Absatz 12, StGB, zu einer Geldstrafe von 80 Tagsätzen zu je € 4,-, im Nichteinbringungsfall 40 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.

3. Mit Urteil des römisch 40 vom 13.08.2018, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 107, Absatz eins, StGB und Paragraph 105, Absatz eins, StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt.

4. Mit Urteil des römisch 40 vom 18.01.2019, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 125, StGB, Paragraph 15, StGB und Paragraph 269, Absatz eins, StGB, Paragraph 109, Absatz 3, Ziffer eins, StGB, Paragraph 84, Absatz 2, StGB, Paragraphen 107, Absatz eins,, 107 Absatz 2, StGB, Paragraph 270, StGB zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt.

5. Mit Urteil des römisch 40 vom 09.09.2022, Zl. römisch 40 , wurde der BF gemäß Paragraph 107, Absatz eins, StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt.

6. Mit Urteil des römisch 40 vom 30.10.2023, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz 2 a, zweiter Fall SMG, unter Anwendung des Paragraph 39, Absatz eins und Absatz eins a, nach dem Strafsatz des Paragraph 27, Absatz 2 a, zweiter Fall SMG, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten verurteilt.

Das Oberlandesgericht römisch 40 gab mit Urteil vom 23.01.2024, Zl. römisch 40 der Beschwerde gegen das Urteil vom 30.10.2023 der Berufung nicht Folge.

In diesem Zusammenhang ist auf die rechtliche Beurteilung des gegenständlichen Erkenntnisses unter Punkt 3.1. zu verweisen, wonach der BF als gemeingefährlich gilt und einen Ausschlussgrund gem. Paragraph 8, Absatz 3 a, in Verbindung mit §9 Absatz 2, Ziffer 2, AsylG gesetzt hat.

2.4. Zu den Feststellungen zum (Privat-)Leben des BF in Österreich

Dass der BF keine Verwandten oder Familienangehörigen in Österreich hat, gab er selber im Verfahren an.

Die Feststellung zu den Haftzeiten ergeben sich aus einem Auszug aus dem ZMR. Zum Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung wurde Einsicht in das Grundversorgungsregister genommen.

Die Feststellungen zu den einigermaßen vorhandenen Deutschkenntnissen konnten lediglich im Rahmen der mündlichen Verhandlung erhoben werden, da der BF in den Jahren seines Aufenthaltes keinen Deutschkurs positiv abgeschlossen hat. Er durchaus in der Lage ist, sich auf einfachem Niveau auf Deutsch zu unterhalten, zu lesen und zu schreiben. Mangels Vorlage geeigneter Unterlagen konnte auch nicht festgestellt werden, dass er in Österreich eine Bildung abgeschlossen hätte oder jemals einer Beschäftigung – außerhalb der Haft - nachgegangen wäre. Aus dem Akt ergibt sich weiters, dass er in der Vergangenheit lediglich „Versuche“ unternommen habe, um eine Arbeitsstelle zu finden, die aber offenkundig erfolglos geblieben sind, weshalb insgesamt betrachtet eine soziale oder gar berufliche Verfestigung des BF im Bundesgebiet nicht festgestellt werden konnte. Der BF ist nach wie vor als nicht selbsterhaltungsfähig anzusehen.

Der BF hat auch sonst keine privaten oder familiären Anknüpfungspunkte in Österreich. Er bezieht auch mit keiner Person einen gemeinsamen Haushalt oder ist von einer im Bundesgebiet rechtmäßig aufhältigen Person in irgendeiner Weise abhängig. beziehen soll.

Dass der BF über keine starken sozialen Bindungen in Österreich verfügt ließ sich ebenso seinen eigenen Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung entnehmen.

Insgesamt betrachtet ist auch die im Bundesgebiet verbrachte Zeit deutlich zu relativieren und allfällige soziale Bindungen in Österreich als ausgedünnt zu betrachten, zumal der BF insgesamt 18 Monate seines Aufenthaltes in Haft verbracht hat und gegenüber dieser bereits an sich schwachen Integrationsleistung des BF insgesamt sechs strafrechtliche Verurteilungen wegen Vergehen gegen das Strafgesetzbuch bzw. das Suchtmittelgesetz stehen.

2.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aus der von Amts wegen vorgenommenen Einsicht in die zitierten aktuellen Länderberichte vergleiche Pkt. 1.5.) sowie der EUAA Country Guidance, Afghanistan (Januar 2023) und den UNHCR Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen (Update 1, Februar 2023).

Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das BVwG kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem BVwG von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

3.1. Zu Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:

3.1.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist und glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).

Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG 2005) gesetzt hat.

Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist vergleiche z.B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031 u.a.). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031 u.a.). Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse vergleiche VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vergleiche auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.

Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein vergleiche dazu VwGH 09.03.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; VwGH 18.02.1999, 98/20/0468).

Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird vergleiche VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).

Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände im Sinne des Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, 98/20/0399; VwGH 03.05.2000, 99/01/0359).

Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation stellt nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar vergleiche etwa VwGH 14.03.1995, 94/20/0789; 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen vergleiche etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; 30.04.1997, 95/01/0529 u.a.). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gewinnung – zusammenhängt (siehe auch BVwG 15.12.2014, W225 1434681-1/31E). Derartiges hat der BF jedoch nicht glaubhaft behauptet.

„Glaubhaftmachung" im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2 der GFK ist die Beurteilung des Vorgetragenen daraufhin, inwieweit einer vernunftbegabten Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen wohlbegründete Furcht vor Verfolgung zuzugestehen ist oder nicht. Erachtet die Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung die Angaben des Asylwerbers grundsätzlich als unwahr, können die von ihm behaupteten Fluchtgründe gar nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Zudem ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung gar nicht näher zu beurteilen vergleiche VwGH 09.05.1996, Zl. 95/20/0380). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema vergleiche VwGH 30.09.2004, Zl. 2001/20/0006, betreffend Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten vergleiche VwGH 28.05.2009, Zl. 2007/19/1248; 23.01.1997, Zl. 95/20/0303) reichen für sich alleine nicht aus, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten vergleiche VwGH 26.11.2003, Zl. 2001/20/0457).

3.1.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist. Daraus folgt rechtlich, dass seine Flüchtlingseigenschaft nicht festgestellt werden konnte und die Asylgewährung daher nicht statthaft ist.

Das Vorbringen des BF betreffend eine asylrelevante Verfolgung hat sich – wie bereits unter Punkt römisch II.2.2. dargelegt – als nicht glaubhaft erwiesen. Der BF vermochte keine individuell konkrete, schlüssige und nachvollziehbare Verfolgung darzutun, die ursprünglichen Ausreisegründe wurden bereits im ersten Asylverfahren als nicht glaubhaft angesehen, woran sich, wie in der Beweiswürdigung und unter Berücksichtigung der aktuellen Lage nach der Machtübernahme der Taliban ausgeführt, nichts Wesentliches geändert hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar wiederholt festgehalten, dass afghanische Frauen, von denen angenommen wird, dass sie soziale Normen verletzten oder dies tatsächlich tun, bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch aktuell als gefährdet anzusehen sind. Es besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen einer behaupteten „westlichen Orientierung“ afghanischer Männer und einer solchen afghanischer Frauen, weil Männer in Afghanistan grundsätzlich ein selbständiges und eigenständiges Leben mit Schulbildung und außerhäuslicher Erwerbstätigkeit sowie freier Lebensgestaltung (im Rahmen der islamischen Religion) führen können. Daher ist die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu westlich orientierten Frauen nicht ohne Weiteres auf Männer übertragbar.

Zur behaupteten Verfolgungsgefahr aufgrund einer „Verwestlichung“ des BF ist festzuhalten, dass der BF nicht darzulegen vermochte, dass er eine „westliche“ Lebenseinstellung in einer solchen Weise übernommen hat, sodass sie zu einem solch wesentlichen Bestandteil seiner Identität geworden wäre, dass es für ihn eine Verfolgung bedeuten würde, sie zu unterdrücken vergleiche VwGH 15.12.2016, Ra 2016/18/0329). Aus den Länderberichten ergibt sich nicht, dass das Trinken von Alkohol in Österreich zu einer asylrechtlich relevanten Verfolgung führt. Dass die Taliban das Trinken von Alkohol notorisch als unislamisch betrachten, wird nicht in Frage gestellt, jedoch ist es dem BF angesichts der Lage zuzumuten, in Afghanistan auf Alkohol im öffentlichen Leben zu verzichten.

Im Hinblick auf den mehrjährigen Aufenthalt des BF in Europa ist außerdem festzuhalten, dass aus den zugrunde gelegten Länderberichten sowie dem notorischen Amtswissen nicht ableitbar ist, dass alleine ein mehrjähriger Aufenthalt in Europa und eine sich daraus abgeleitete bzw. unterstellte westliche Geisteshaltung bei Männern bereits mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung asylrelevanter Intensität auslösen würde; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt dafür nicht.

Hinsichtlich einer Gruppenverfolgung von Rückkehrern ist auszuführen, dass im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Rückkehrern in Afghanistan sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben haben, dass alle Rückkehrer gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals als Rückkehrer und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-) Verfolgung ausgesetzt zu sein. Allfällige Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichen nicht jenes Ausmaß, das erforderlich wäre, um eine spezifische Verfolgung aller afghanischen Staatsangehörigen, die mehrere Jahre in Europa verbracht haben, für gegeben zu erachten. Es haben sich auch keine Anhaltspunkte dahin ergeben, dass dem BF, aufgrund seines Merkmals als Rückkehrer, individuell eine Verfolgung drohen würde.

Zu einer möglichen Gruppenverfolgung von Angehörigen der Volksgruppe der Hazara:

Zunächst ist erneut anzumerken, dass der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt eine persönliche Bedrohung aufgrund seiner Religions- oder Volkszugehörigkeit vorbrachte. Sein Vorbringen erschöpft sich in allgemeinen Ausführungen zur Gefahrensituation für Angehörige der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslems. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt dabei nicht, dass es sich bei den Hazara um eine ethnische Minderheit handelt und aus den Länderfeststellungen hervorgeht, dass ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen weiterhin in Konflikten und Tötungen resultieren. Jedoch unterliegen nach den Länderfeststellungen ethnische Minderheiten - soweit bislang erkennbar -, keiner grundsätzlichen Verfolgung durch die Taliban, solange sie deren Machtanspruch akzeptieren. Grundsätzlich ist die Informationslage bezüglich Ethnien in Afghanistan sehr spärlich, es ist jedoch allgemein bekannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine absolute Mehrheit bildet. Die Hazara bilden nach derzeitigem Informationsstand die drittgrößte Bevölkerungsgruppe. In der Taliban-Regierung gibt es jedoch lediglich einen Vertreter der Hazara. Insbesondere ist den aktuellen Länderberichten nunmehr auch zu entnehmen, dass Schiiten – speziell jene, die der Volksgruppe der Hazara angehören – Diskriminierungen durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt sind. Weiters werden Angriffe auf schiitische Kultstätten und Gläubige verzeichnet und Angehörige der Taliban beschuldigt, Zwangsumsiedlungen vorzunehmen. Darauf wies der Beschwerdeführer wiederholt in seinem Schreiben vom 20.06.2023 hin. Daraus lässt sich aber noch nicht ableiten, dass diese Gefährdung derzeit ein Ausmaß erreicht, das die Annahme rechtfertigen würde, dass in Afghanistan lebende Schiiten bzw. Hazara wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnisch-religiösen Minderheit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind. In einer Gesamtschau der vorliegenden Länderberichte erreicht diese Gefährdung nicht jenes Ausmaß, welches notwendig wäre, um eine spezifische Gruppenverfolgung von Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Schiiten in Afghanistan für gegeben zu erachten. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind die sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan sogar insgesamt ruckgängig.

In seiner Beschwerde vom 28.04.2023 verwies der Beschwerdeführer Fußnote 41 der UNHCR Leitlinien Februar 2023, dass „Hazaras als religiöse und ethnische Minderheit in Afghanistan dem ernsthaften Risiko des Völkermordes durch die Taliban und ISIS-K ausgesetzt seien“ und laut Unabhängiger Afghanischer Menschenrechtskonvention „schiitische Bevölkerungsteile einem deutlichen, ernsthaften und schrecklichen Genozid ausgesetzt gewesen seien.“. Ebenso verwies er auf den USDOS Bericht „2022 Report On International Relgious Freedom:Afghanistan“, wonach Drohungen und oft tödliche Attacken gegen schiitische Hazara stattgefunden hätten. Von einer möglichen „Auslöschung“ der Hazara, wie in der Beschwerde vorgebracht, in ganz Afghanistan kann nicht ausgegangen werden. Auch die vorgebrachten Auszüge sprechen von „schiitischen Bevölkerungsteilen“, daher nicht die gesamte Hazarabevölkerung. Sie sprechen auch von der Gefahr der Gruppenverfolgung, jedoch nicht von einer eingetreten, tatsächlichen Gruppenverfolgung. Eine tatsächliche landesweite Verfolgung der Hazara ist, wie bereits festgestellt, nicht gegeben und lässt sich nicht den Länderberichten entnehmen, auch wenn die Entwicklung weiter genau zu beobachten ist.

Unter Berücksichtigung der aktuellen Lage in Afghanistan kann trotz der nach wie vor bestehenden Spannungen unter den einzelnen Volksgruppen derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Umstände als Angehöriger der Hazara schiitischen Glaubens mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bloß aus ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt werden würde. Der Beschwerdeführer hat nicht dargelegt, warum konkret er aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner Glaubensrichtung einer über das allgemeine Maß hinausgehenden Bedrohung ausgesetzt sein sollte.

Das Bundesverwaltungsgericht kommt deshalb zum Ergebnis, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt droht. Diskriminierungen und einzelne lokale Vertreibungen mögen zwar vorkommen, eine Gruppenverfolgung der Hazara in Afghanistan ist jedoch nicht anzunehmen.

Es ist daher eine individuelle Verfolgungsgefahr den BF betreffend weder hinsichtlich seiner Lebenseinstellung noch als Rückkehrer noch aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara erkennbar.

Insgesamt liegen sohin keine Umstände vor, wonach es ausreichend wahrscheinlich wäre, dass der BF in seiner Heimat in asylrelevanter Weise bedroht wäre.

Zusammengefasst, konnte der BF – auch in einer Gesamtschau – keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen, weshalb die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. abzuweisen ist.

3.2. Zu Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten:

3.2.1. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Ziffer eins,), oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Ziffer 2,), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß Paragraph 8, Absatz 3, AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des Paragraph 11, AsylG 2005 offen steht. Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative muss dem Fremden – im Sinne eines zusätzlichen Kriteriums – auch zumutbar sein (Prüfung der konkreten Lebensumstände am Zielort).

Das BVwG hat somit vorerst zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Artikel 2, EMRK (Recht auf Leben), Artikel 3, EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde. Der VwGH hat in ständiger, noch zum Refoulementschutz nach der vorigen Rechtslage ergangenen, aber weiterhin gültigen Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist vergleiche u.a. VwGH 23.02.1995, 95/18/0049; 05.04.1995, 95/18/0530; 04.04.1997, 95/18/1127; 26.06.1997, 95/18/1291; 02.08.2000, 98/21/0461). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann vergleiche u.a. VwGH 30.09.1993, 93/18/0214).

Die Außerlandesbeschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Artikel 3, EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Artikel 3, EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Artikel 3, EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen vergleiche VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).

Der BF stammt aus der Provinz Ghazni, wo er geboren und aufgewachsen ist. Sie ist folglich als Herkunftsregion des BF anzusehen. Das BVwG geht davon aus, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr einer Verletzung des Artikel 3, EMRK drohen würde. Dabei ist gegenständlich zu berücksichtigen, dass – wie aus den vielen aktuellen Berichten ersichtlich wird – die generelle Lage in Afghanistan äußerst unübersichtlich ist und eine genaue Einschätzung der Gefahren nicht möglich ist.

Nach den Feststellungen ist die afghanische Zivilbevölkerung schwerwiegend von den Entwicklungen innerhalb des Landes betroffen, die dem Sturz der bisherigen Regierung durch die Taliban am 15.08.2021 vorangegangen bzw. diesem gefolgt sind. Während der Grad willkürlicher Gewalt abnimmt und sich der Zugang für humanitäre Hilfe zu vielen Landesteilen verbessert hat, bleiben die Bedingungen in Afghanistan hochgradig unvorhersehbar bei weitverbreiteter Besorgnis über gezielte Gewalt und Menschenrechtsverletzungen.

Diese Erwägungen stehen auch im Einklang mit jüngster Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (VfGH), wonach spätestens ab 20.07.2021 von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass eine Situation vorliegt, die bei einer Rückkehr die Gefahr einer Verletzung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Artikel 2 und 3 EMRK nach sich zieht vergleiche VfGH 24.09.2021, E 3047/2021-11; VfGH jeweils vom 16.12.2021, E 4227/2021-9, E 4280/2021-5 und E 4382/2021-5; VfGH 18.03.2022, E 139/2022-11; VfGH 29.06.2022, E 4621/2021-10).

Hinzu kommt die durch die COVID-19-Pandemie verursachte verschärfte Versorgungslage in Afghanistan.

Es ist dem BF daher derzeit nicht möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in Afghanistan in der Provinz Ghazni Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen.

Auch die anderen Gebiete in Afghanistan sind erheblich von der Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, sodass derzeit keine innerstaatliche Fluchtalternative möglich und zumutbar ist. Das gilt auch für die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif. Der BF kann sich daher nicht in einem urbanen Zentrum niederlassen, da diese ebenfalls von der erheblichen Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind.

Unter Berücksichtigung der ins Verfahren eingeführten Länderberichte sowie der aktuellen Berichterstattung und der persönlichen Situation des BF, der in Afghanistan zudem weder über eine Ausbildung, noch eine Unterkunft oder ein tragfähiges soziales Netz verfügt, ist in einer Gesamtbetrachtung somit zu erkennen, dass er im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan in eine ausweglose Lebenssituation geraten bzw. real Gefahr laufen würde, eine Verletzung seiner durch Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden.

3.2.2. Zum Vorliegen von Ausschlussgründen:

Nach Paragraph 8, Absatz 3 a, AsylG 2005 hat eine Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten allerdings zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 vorliegt. Gemäß Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, wenn einer der in Artikel eins, Abschnitt F der GFK genannten Gründe vorliegt (Ziffer eins,), der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt (Ziffer 2,) oder der Fremde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist (Ziffer 3,).

Anhaltspunkte dafür, dass der Ausschlusstatbestand der Ziffer eins, vorliegen würde, sind im Laufe des Verfahrens nicht hervorgekommen.

Das BFA stützt sich in Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides auf den Aberkennungstatbestand des Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 und im Rahmen der rechtlichen Beurteilung konkret auf die Ziffer 3 leg. cit.

Liegt eine der beiden alternativ genannten Voraussetzungen des Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG für eine Entscheidung in der Sache selbst vor, steht also der Sachverhalt fest oder kann er rascher oder kostengünstiger durch das Verwaltungsgericht selbst ermittelt werden, kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid in jede Richtung abändern (reformatorische Entscheidung; vergleiche Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren2 (2018), Paragraph 28, VwGVG, Anmerkung 9).

Nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 hat eine Aberkennung stattzufinden, wenn der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 eine entsprechende Gefährdungsprognose voraus (VwGH 17.10.2019, Ro 2019/18/0005). Bei der im Einzelfall vorzunehmenden Beurteilung ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die Annahme gerechtfertigt ist, der Fremde stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich dar. Strafgerichtliche Verurteilungen des Fremden sind daraufhin zu überprüfen, inwieweit sich daraus nach der Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und der Tatumstände der Schluss auf die Gefährlichkeit des Fremden für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Republik Österreich ziehen lässt vergleiche VwGH 06.05.2022, Ra 2021/01/0377, mwN).

Ein Fremder stellt jedenfalls dann eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG dar, wenn sich diese aufgrund besonders qualifizierter strafrechtlicher Verstöße prognostizieren lässt. Als derartige Verstöße kommen insbesondere qualifizierte Formen der Suchtgiftdelinquenz (wie sie beispielsweise in Paragraph 28 a, SMG unter Strafe gestellt werden) in Betracht vergleiche VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0155 mit Verweis auf VfGH 13.12.2011, U 1907/10 und EuGH 24.06.2015, C-373/13, H.T. gegen Land Baden-Württemberg).

Der Verwaltungsgerichtshof hat in Bezug auf Suchtgiftdelinquenz wiederholt festgehalten, dass diese ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstellt, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben ist und an dessen Verhinderung ein besonders großes öffentliches Interesse besteht. Dabei hat der Verwaltungsgerichtshof auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) hingewiesen, der Drogenhandel als Plage [„scourge“] bezeichnet und daher ein hartes Vorgehen nationaler Behörden dagegen billigt vergleiche zuletzt VwGH 06.05.2022, Ra 2021/01/0377; VwGH 26.05.2021, Ra 2021/01/0159, mit Verweis auf EGMR 15.10.2020, Akbay u.a./Deutschland, 40495/15, Ziffer 110,).

Fallbezogen wurde der BF mit Urteil des römisch 40 vom 13.10.2014, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraphen 15,, 269 Absatz eins, 1.Fall StGB und Paragraph 105, Absatz eins, StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, als junger Erwachsener, erstmals verurteilt. Danach folgte das Urteil des römisch 40 vom 19.05.2017, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 83, Absatz 12, StGB, zu einer Geldstrafe von 80 Tagsätzen zu je € 4,-, im Nichteinbringungsfall 40 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt. Mit Urteil des römisch 40 vom 13.08.2018, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 107, Absatz eins, StGB und Paragraph 105, Absatz eins, StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt. Mit Urteil des römisch 40 vom 18.01.2019, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen Paragraph 125, StGB, Paragraph 15, StGB und Paragraph 269, Absatz eins, StGB, Paragraph 109, Absatz 3, Ziffer eins, StGB, Paragraph 84, Absatz 2, StGB, Paragraphen 107, Absatz eins,, 107 Absatz 2, StGB, Paragraph 270, StGB zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt.

Aufgrund dieser Straffälligkeit des BF leitete das BFA ein Aberkennungsverfahren ein, und zwar mit der Folge, dass ihm mit Bescheid vom 13.06.2019 der einst am 22.07.2013 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wieder aberkannt wurde. Die Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 09.11.2020, Zlen. römisch 40 und römisch 40 als unbegründet abgewiesen.

Obwohl dem BF der Status des Subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wurde und der BF daraufhin nach Frankreich ging, hielt ihn dies nicht davon ab, nach seiner Rückkehr ins Bundesgebiet zwei weitere Male strafrechtlich in Erscheinung zu treten.

Mit Urteil des römisch 40 vom 09.09.2022, Zl. römisch 40 , wurde der BF gemäß Paragraph 107, Absatz eins, StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt und mit Urteil des römisch 40 vom 30.10.2023, Zl. römisch 40 , wurde der BF wegen des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz 2 a, zweiter Fall SMG, unter Anwendung des Paragraph 39, Absatz eins und Absatz eins a, nach dem Strafsatz des Paragraph 27, Absatz 2 a, zweiter Fall SMG, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten verurteilt.

Der BF zeigte sich in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nur teilweise geständig und zeigte auch keine ernsthafte Reue für die Begehung dieser Straftaten. Dass der BF Verantwortung für seine Strafteten übernommen hat, ist ausgeschlossen. Vielmehr bagatellisierte er diese und verwies lediglich darauf, dass er eigentlich nichts gemacht habe, außer Alkohol getrunken. Dies ist als reine Schutzbehauptung zu bewerten. Der BF zeigt keine Einsicht in Bezug auf seine Straftaten. Dieser verübte zumeist Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit und gegen fremdes Vermögen, aber auch gegen das Suchtmittelgesetz, womit er grundlegende Grundsätze der österreichischen Rechtsordnung missachtete.

Schon unter Berücksichtigung der Rückfälligkeit und der immer wiederkehrenden gleichen schädlichen Neigung des BF fällt die seitens des BVwG vorzunehmende Gefährdungsprognose zu Lasten des BF aus.

Dem BF ist im Rahmen der Gefährdungsprognose anzulasten, dass er nicht nur Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit, sondern auch Vermögensdelikte und Delikte in Zusammenhang mit dem Suchtmittelgesetz beging. Die gegen ihn ergangenen Urteile sowie die offenen Probezeiten hielten den BF nicht davon ab, auch weiterhin, trotz einschlägiger Vorstrafen, erneut wegen der Begehung strafbarer Handlung verurteilt zu werden. Dem BF war bewusst, dass die österreichische Rechtsordnung strafrechtliche Tatbestände mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe sanktioniert und hielt er sich trotz erfolgter Verurteilungen nicht an die österreichischen Gesetze.

Der BF war nicht gezwungen oder in einer Notsituation, um sich sein Leben mit Straftaten zu finanzieren. Er erhielt unter anderem staatliche Leistungen und war nicht sorgepflichtig. Sein Alkoholproblem und sein Drogenkonsum können nicht als mildernd gewertet werden. Auch hätte er in Österreich jederzeit die Möglichkeit gehabt, sich an verschiedene Hilfsorganisationen zu wenden, um Hilfe bei der Bekämpfung seiner Alkoholprobleme bzw. Drogensucht zu erhalten.

Obzwar der BF im Zeitpunkt der Begehung der ersten Straftaten, die seiner ersten Verurteilungen zugrunde lagen, noch ein junger Erwachsener war, kann eine Zukunftsprognose zurzeit nicht zugunsten des BF ausfallen und die solcherart vom BF ausgehende Gefahr nicht entscheidend relativiert werden. Der verstrichene Zeitraum seit der letzten Verurteilung im Oktober 2023 ist jedenfalls noch zu kurz, um nunmehr ein nachhaltiges Wohlverhalten seit der letzten Tatbegehung festzustellen und auf einen Wegfall oder eine erhebliche Minderung der vom BF ausgehenden Gefährdung schließen zu können.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug der Haftstrafe – in Freiheit wohlverhalten hat vergleiche VwGH 31.5.2022, Ra 2020/21/0176, Rn. 13, mwN). Mit Blick auf seine erst vor kurzem erfolgte Entlassung aus der Haft unter Anordnung der Bewährungshilfe, weil ihm nicht zugemutet werden kann, selbstständig klar zu kommen, ist zu konstatieren, dass die Zeit des Wohlverhaltens jedenfalls zu kurz ist, um eine Gefahr für die Allgemeinheit ausschließen zu können. Dabei gewichtet das BVwG insbesondere jene Umstände, wonach der BF in den letzten Jahren sein Gewaltpotential trotz seines Wissens über seinen Aufenthaltsstatus nicht in der Lage war, sein Aggressionspotenzial zu bändigen, weshalb er als gefährlich im Sinne des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 einzustufen ist vergleiche VwGH 16.08.2022, Ra 2021/21/0123, wonach sogar ein durch ein Gutachten festgestellter Gesinnungswandel, der nicht in einem - einen relevanten Zeitraum umfassenden - Wohlverhalten seine Entsprechung gefunden hat, für den Wegfall der Gefährdungsprognose nicht ausreicht).

Wie bereits ausgeführt, hat der BF im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nach Vorhalt seines Gesamtverhaltens nur relativierend die Verantwortung für seine Straftaten übernommen und seine behauptete Reue nicht überzeugend vorgebracht. Vielmehr zeigte er sich wenig einsichtig, indem er die Schuld auf die äußeren Gegebenheiten schob, etwa, dass er Alkohol getrunken hätte oder sogar, dass darauf, dass er hier in Österreich „wie ein Tier“ behandelt werde. Probleme mit Alkohol oder Drogen verneinte er, sodass eine Reumütigkeit des BF nicht erkannt werden kann, sondern dieser vielmehr weiterhin versucht, seine Schuld kleinzureden. Das erkennende Gericht übersieht dabei nicht, dass der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung gelobt hat, sich zu bessern, arbeiten zu wollen und sich eine Partnerin suchen wolle, um eine Familie zu gründen, die ihm im Leben halt geben würde, jedoch konnte das Gericht vom BF aufgrund der bisherigen Umstände nicht überzeugt werden, dass er sich fern von strafrechtlichen Handlungen halten wird, da er es auch bisher nicht getan hat. Schließlich lässt auch die Anzahl der Verurteilungen erkennen, dass der BF eine offensichtlich gleichgültige Einstellung gegenüber den Bestimmungen der österreichischen Rechtsordnung an den Tag legt.

Bei einer Gesamtbetrachtung aller aufgezeigten Umstände, des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes und in Ansehung der aufgrund des persönlichen Fehlverhaltens getroffenen Gefährdungsprognose ist anzunehmen, dass der BF eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und eine Gefährlichkeit des BF für die Allgemeinheit im Sinne des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 zu bejahen ist.

Eine lange Zeit des Wohlverhaltens, die gegen das Vorliegen einer schweren Straftat sprechen würde, liegt gegenständlich nicht vor. Erst ein längeres Wohlverhalten und ein echtes Einsehen in seine Schuld könnte zu einer (maßgeblichen) Minderung bzw. zu einem Wegfall der Gefährdung führen. Ein Gesinnungswandel eines Straftäters ist grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich – nach dem Vollzug einer Haftstrafe – in Freiheit wohlverhalten hat vergleiche VwGH 26.01.2021, Ra 2020/14/0491). Das gilt auch im Fall einer (erfolgreich) absolvierten Therapie vergleiche VwGH 22.09.2011, 2009/18/0147; VwGH 22.05.2014, Ro 2014/21/0007; VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0262; VwGH 05.12.2017, Ra 2016/01/0166). Wie bereits oben ausgeführt, ist das bisherige Wohlverhalten des BF seit seiner letzten Haftentlassung vom 17.03.2023 viel zu kurz, um davon ausgehen zu können, dass ein (ursprünglich rechtmäßiger) Ausschluss nicht länger gerechtfertigt ist.

Es war daher die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides abzuweisen, sodass dem BF gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.

3.3. Zu Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides (Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen):

Gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz , Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt (Ziffer eins,), zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel (Ziffer 2,) oder wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Ziffer 3,).

Für das Vorliegen der in Paragraph 57, Absatz eins, Ziffer 2 und Ziffer 3, AsylG 2005 angeführten Voraussetzungen finden sich keine Anhaltspunkte. Paragraph 57, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 ist nicht anwendbar, weil der BF eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich darstellt.

Es war daher die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.

3.4. Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides):

Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt, so ist diese Entscheidung gemäß Paragraph 10, Absatz 2, AsylG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden. Gemäß Paragraph 52, Absatz eins, Ziffer eins, FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.

Würde durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung gemäß Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG (nur) zulässig, wenn sie zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Der Begriff „Familienleben“ iSd Artikel 8, EMRK umfasst dabei Beziehungen zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern. Liegt eine gewisse Beziehungsintensität vor, umfasst er auch andere Bindungen, wie Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR vom 14.03.1980, B 8986/80; EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (EKMR vom 06.10.1981, B 9202/80; EuGRZ 1983, 215; VfGH vom 12.03.2014, U 1904/2013).

Der Begriff „Privatleben“ iSd Artikel 8, EMRK umfasst die persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen eines Menschen vergleiche EGMR 15.01.2007, Sisojeva ua gegen Lettland, Appl 60654/00).

Gemäß Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben eines Fremden zulässig ist, ist eine einzelfallbezogene Interessensabwägung zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits vorzunehmen. Dabei sind alle relevanten Umstände zu berücksichtigen. Das sind gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG insbesondere: die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Im vorliegenden Fall muss der BF einen Eingriff in sein in Österreich bestehendes Privatleben (Familienangehörige hat er im Bundesgebiet nicht) hinnehmen, zumal er mehrfache Verstöße gegen die öffentliche Ordnung begangen hat und bereits sechs Mal strafrechtlich verurteilt wurde.

Der BF hält sich seit Februar 2013, abgesehen von einem wenige Monate anhaltenden Aufenthalt in Frankreich im Jahr 2021, somit seit über zehn Jahren im Bundesgebiet auf und ist sein Aufenthalt als eher lang zu bezeichnen, wobei dem entgegengehalten werden muss, dass er zunächst lediglich auf einem Antrag auf internationalen Schutz beruhte und der BF zwar mit Bescheid des BFA vom 22.07.2013 den Status des subsidiär Schutzberechtigten erhielt, dieser jedoch mit Bescheid des BFA vom 13.06.2019 wegen Straffälligkeit wieder aberkannt wurde. Nach Rechtskraft dieser Entscheidung mit Erkenntnis des BVwG vom 09.11.2020 bis zur Stellung des gegenständlichen Folgeantrages am 06.08.2021 verfügte der BF über gar kein Aufenthaltsrecht bzw. war er in Frankreich aufhältig und danach nur über jenes eines Asylwerbers. Aktuell wird der BF im Bundesgebiet lediglich geduldet. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist vergleiche VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).

Zu Gunsten des BF sind seine Deutschkenntnisse zu bewerten, da er in der Lage ist auf elementarer Ebene und in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens zu kommunizieren. Er legte jedoch während seines gesamten Aufenthaltes von über zehn Jahren keine Deutschprüfung vor. Zudem lebte er stets von staatlichen Leistungen und es ist ihm trotz seines jahrelangen Aufenthaltes nicht gelungen, sich auch nur ansatzweise am Arbeitsmarkt zu integrieren. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass er sich zusätzliche Einkünfte aus illegalen Quellen zu verschaffen versuchte, weshalb er auch letztlich deshalb verurteilt wurde. Eine tatsächliche Selbsterhaltungsfähigkeit hat er nie unter Beweis gestellt. Zudem ist seine Zusage, arbeiten zu wollen, im Hinblick auf das kriminelle Verhalten des BF ebenso wenig geeignet, dem Privatleben des BF außerordentliches Gewicht zu verleihen.

Weiters brachte der BF weder vor, Mitglied in einem Verein oder ehrenamtlich tätig zu sein, noch verfügt er über ein ausgeprägtes soziales Umfeld in Österreich. Anderweitige Integrationsaspekte liegen nicht vor. Er wurde sohin keine außerordentliche Integration dargestellt, die einem geordneten Fremdenwesen und den Interessen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit entgegensteht.

Der BF hat weder Freundschaften zu Österreichern dargetan, noch verfügt er hier über ein starkes soziales Netz. Eine Beziehung oder ein sonstiges Abhängigkeitsverhältnis zu einer in Österreich aufenthaltsberechtigten Person liegt – wie beweiswürdigend ausgeführt – auch nicht vor. Es konnte keine außerordentliche Bindung festgestellt werden, die einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen könnte.

Insbesondere fiel der BF insgesamt sechs Mal strafrechtlich auf und ist mit der österreichischen Strafrechtsordnung in Konflikt geraten, weshalb sich ein negativ zu bewertendes Persönlichkeitsbild des BF zeichnete und lässt die Anzahl der Verurteilungen weiters erkennen, dass der BF eine offensichtlich gleichgültige Einstellung gegenüber den Bestimmungen der österreichischen Rechtsordnung an den Tag legt.

Darüber hinaus ist aber insbesondere festzuhalten, dass den BF auch die Bindungen im Bundesgebiet von der Begehung von Straftaten nicht abhalten konnten. Auch die Tatsache, dass er bereits mehrmals verurteilt wurde und ihm der subsidiäre Schutz deswegen aberkannt wurde, konnten den BF auch nicht von Körperverletzungen und Suchtmitteldelikten abhalten. Der Zeitpunkt der Taten zeugt von einer gewissen Regelmäßigkeit seiner strafrechtlich relevanten Handlungen.

Es ist aus jetziger Sicht des Gerichtes nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass der BF in einem ungünstigen Moment nicht wieder eine solche Entscheidung treffen würde, weshalb aktuell – insbesondere nach Einvernahme durch den erkennenden Richter und Verschaffung eines persönlichen Eindrucks – keine für den BF günstige (positive) Zukunftsprognose erstellt werden konnte.

Aufgrund der Straffälligkeit des BF sind integrative Aspekte als ausgedünnt anzusehen und seine sozialen Bindungen in Österreich entsprechend geringer einzustufen. Der BF wurde in Österreich wiederholt straffällig, anstatt sich hier zu integrieren und sich in der österreichischen Gesellschaft konstruktiv einzubringen. Der BF verbrachte eineinhalb Jahre seiner im Bundesgebiet insgesamt über zehn Jahren verbrachten Jahre in Haft. Wie beweiswürdigend dargelegt, ist zudem die soziale Verfestigung aufgrund der Verurteilungen und dem Haftaufenthalt des BF insgesamt deutlich zu relativieren und weist insgesamt die Integration in Österreich Beziehung auch mit Blick darauf eine geminderte Intensität auf.

Schließlich sind die Bindungen zum Heimatstaat des BF trotz seines Aufenthaltes im Bundesgebiet auch weiterhin gegeben. Er hat dort seine Sozialisation erfahren. Er spricht Pashtu und Dari; ihm sind die Gepflogenheiten des Herkunftsstaates vertraut. Es ist daher nicht erkennbar, inwiefern sich der BF im Falle seiner Rückkehr bei der Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft unüberwindbaren Hürden gegenübersehen könnte, mag er anfangs Schwierigkeiten haben. Demnach wäre seine Situation in Afghanistan auch keine, die sich von seiner derzeitigen Situation im Bundesgebiet unterscheiden würde. Es ist daher nicht von einer völligen Entwurzelung des BF, sondern von einer auch weiterhin bestehenden, wenn auch über die Jahre abgenommenen Bindung des BF zu Afghanistan auszugehen.

Die öffentlichen Interessen an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme sind auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens als deutlich gewichtiger einzustufen, als das Interesse des BF an der Fortführung seiner Beziehung und seinem Aufenthalt in Österreich.

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung iSd Paragraph 9, BFA-VG ist das Bundesamt somit zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes des BF im Bundesgebiet sein persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Artikel 8, EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, wonach im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG stellt zusammengefasst keine Verletzung des Rechts des BF auf Privat- und Familienleben gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG in Verbindung mit Artikel 8, EMRK dar.

Mit der Rückkehrentscheidung ist gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Im vorliegenden Fall hat bereits die Behörde die Unzulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan ausgesprochen und dies mangels Beschwerdeerhebung in Rechtskraft erwachsen.

Lediglich der Vollständigkeit halber sei weiters angeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht keineswegs die beim EuGH anhängige Rechtssache C-663/21 verkennt. Der Verwaltungsgerichtshof sieht zwar gem. Paragraph 17, VwGVG in Verbindung mit Paragraph 38, AVG die Verwaltungsgerichte als berechtigt an, ein Verfahren auszusetzen, wenn die betreffende Frage auf Grund eines Vorabentscheidungsersuchens in einem gleich gelagerten Fall bereits beim EuGH anhängig ist, hält jedoch zugleich fest, dass es sich bei der Aussetzung um eine Ermessensentscheidung handelt vergleiche VwGH 20.05.2015, Ra 2015/10/0023). Das Verwaltungsgericht ist somit nicht zur Aussetzung des Verfahrens verpflichtet, um das Ergebnis eines für die Beurteilung seiner Entscheidung relevanten Vorabentscheidungsverfahrens abzuwarten.

Mit Beschluss vom 20.10.2021, Ra 2021/20/0246, legte der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Artikel 267, AEUV die folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

„Stehen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, im Besonderen deren Artikel 5,, Artikel 6,, Artikel 8 und Artikel 9,, einer nationalen Rechtslage entgegen, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen, dem sein bisheriges Aufenthaltsrecht als Flüchtling durch Aberkennung des Status des Asylberechtigten entzogen wird, selbst dann eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, wenn bereits im Zeitpunkt der Erlassung der Rückkehrentscheidung feststeht, dass eine Abschiebung wegen des Verbotes des Refoulement auf unbestimmte Dauer nicht zulässig ist und dies auch in einer der Rechtskraft fähigen Weise festgestellt wird?“

Das Bundesverwaltungsgericht geht jedenfalls davon aus, dass im konkreten Fall die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig sein muss, selbst wenn die Unzulässigkeit der Abschiebung ausgesprochen wird. Denn aus Artikel 6, Absatz eins, der Richtlinie 2008/115/EG ergibt sich eine allgemeine Verpflichtung zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung im Falle eines illegalen Aufenthalts eines Fremden und zwar unabhängig davon, ob der konkrete Vollzug der Rückkehrentscheidung im nächsten Prüfungsschritt als unzulässig erachtet wird oder nicht. Wie der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache C-546/19, Westerwaldkreis festgehalten hat, würde ein Fremder, der sich nicht oder nicht mehr rechtmäßig im Mitgliedstaat aufhält, infolge der Nichterlassung einer Rückkehrentscheidung in einen (unerwünschten) „Zwischenstatus“ gedrängt werden. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang explizit klargestellt, dass diese Erwägungen auch für Drittstaatsangehörige gelten, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, jedoch aufgrund des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nicht abgeschoben werden können. Die Tatsache, dass die Rückkehrverpflichtung einer Rückkehrentscheidung nicht mit einer Abschiebung vollstreckt werden kann vergleiche Artikel 3, Ziffer 5, der Richtlinie 2008/115/EG), steht der Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher nicht entgegen.

Ändert sich die relevante Sachlage bezüglich der (Un-)Zulässigkeit einer Abschiebung, so hat die Behörde einen neuen Bescheid – in Form einer neuen Rückkehrentscheidung samt Ausspruch gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG – zu erlassen und festzustellen, dass die Abschiebung gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG nunmehr zulässig ist. Mit der Rechtskraft einer solchen neuen Feststellung erlischt das Verbot der Abschiebung. Durch diese Vorgehensweise wird auch dem Ziel der Richtlinie 2008/115/EG, eine wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zu gewährleisten, Rechnung getragen.

Obzwar am 16.02.2023 der Schlussantrag des Generalanwaltes des EuGH ergangen ist, in welchem die Frage, ob eine Rückkehrentscheidung erlassen werden muss, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige nicht in sein Herkunftsland zurückgeschoben werden kann, solange das Risiko fortbesteht bei der Rückkehr in ein Drittland dem tatsächlichen Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Artikel 4, der Charta in Verbindung mit deren Artikel eins und Artikel 19, Absatz 2, ausgesetzt zu sein, verneint wurde, steht dieser rechtlich nicht verbindlicher Schlussantrag einer hg. Entscheidung dennoch nicht entgegen (Schlussanträge des Generalanwalts Jean Richard de la Tour vom 16.02.2023 zur Rechtssache C‑663/21).

Die Beschwerde hinsichtlich der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides war daher im Ergebnis ebenfalls als unbegründet abzuweisen.

3.5. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch VII. des angefochtenen Bescheides (Frist zur freiwilligen Ausreise):

Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach Paragraph 55, Absatz 2, FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen. Gemäß Paragraph 55, Absatz 3, FPG kann die Frist bei Überwiegen besonderer Umstände für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben.

Dass ein Ausspruch einer Frist zur freiwilligen Ausreise trotz festgestellter Unzulässigkeit der Abschiebung des BF zu erfolgen hat, ergibt sich aus Paragraph 55, Absatz eins, FPG, wonach die Frist zur freiwilligen Ausreise mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, festgelegt wird. Sie knüpft damit an das Bestehen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme einer Rückkehrentscheidung an.

Auch Spruchpunkt römisch VII. des angefochtenen Bescheides war daher zu bestätigen.

3.5. Zum Einreiseverbot (Spruchpunkt römisch VIII. der Beschwerde):

3.5.1.   Der mit „Einreiseverbot“ betitelte Paragraph 53, FPG i.d.g.F. lautet auszugsweise:

„§ 53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.

(2) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist, vorbehaltlich des Absatz 3,, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige

1. wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß Paragraph 20, Absatz 2, der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, in Verbindung mit Paragraph 26, Absatz 3, des Führerscheingesetzes (FSG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 120 aus 1997,, gemäß Paragraph 99, Absatz eins,, 1a, 1b oder 2 StVO, gemäß Paragraph 37, Absatz 3, oder 4 FSG, gemäß Paragraph 366, Absatz eins, Ziffer eins, der Gewerbeordnung 1994 (GewO), Bundesgesetzblatt Nr. 194, in Bezug auf ein bewilligungspflichtiges, gebundenes Gewerbe, gemäß den Paragraphen 81, oder 82 des SPG, gemäß den Paragraphen 9, oder 14 in Verbindung mit Paragraph 19, des Versammlungsgesetzes 1953, Bundesgesetzblatt Nr. 98, oder wegen einer Übertretung des Grenzkontrollgesetzes, des Meldegesetzes, des Gefahrengutbeförderungsgesetzes oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist;

2. wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1.000 Euro oder primären Freiheitsstrafe rechtskräftig bestraft wurde;

3. wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist, sofern es sich dabei nicht um eine in Absatz 3, genannte Übertretung handelt;

4. wegen vorsätzlich begangener Finanzvergehen oder wegen vorsätzlich begangener Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden ist;

5. wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften, mit denen die Prostitution geregelt ist, rechtskräftig bestraft worden ist;

Anmerkung, aufgehoben durch VfGH, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 202 aus 2022,)

7. bei einer Beschäftigung betreten wird, die er nach dem AuslBG nicht ausüben hätte dürfen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige hätte nach den Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes für denselben Dienstgeber eine andere Beschäftigung ausüben dürfen und für die Beschäftigung, bei der der Drittstaatsangehörige betreten wurde, wäre keine Zweckänderung erforderlich oder eine Zweckänderung zulässig gewesen;

8. eine Ehe geschlossen oder eine eingetragene Partnerschaft begründet hat und sich für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, zwecks Zugangs zum heimischen Arbeitsmarkt oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen, aber mit dem Ehegatten oder eingetragenen Partner ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK nicht geführt hat oder

9. an Kindes statt angenommen wurde und die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, der Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt oder die Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausschließlicher oder vorwiegender Grund für die Annahme an Kindes statt war, er jedoch das Gericht über die wahren Verhältnisse zu den Wahleltern getäuscht hat.

(3) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Ziffer 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn

1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;

2. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;

3. ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist;

4. ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;

5.ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;

6. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (Paragraph 278 a, StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (Paragraph 278 b, StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (Paragraph 278 c, StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (Paragraph 278 d, StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (Paragraph 278 e, StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (Paragraph 278 f, StGB);auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (Paragraph 278 a, StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (Paragraph 278 b, StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (Paragraph 278 c, StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (Paragraph 278 d, StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (Paragraph 278 e, StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (Paragraph 278 f, StGB);

7. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet;

8. ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt oder

9. der Drittstaatsangehörige ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt.

[…]“

3.5.2.   Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 15. Dezember 2011, 2011/21/0237, zur Rechtslage nach dem FrÄG 2011 ausgeführt, dass unter Beachtung der Gesetzesmaterialien zu dieser Novelle (ErlRV 1078 BlgNR 24. GP, 29 ff) bei Bemessung eines Einreiseverbotes nach Paragraph 53, FPG eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, bei der die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen hat, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchem zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Ziffer eins bis 9 des Paragraph 53, Absatz 2, FPG anzunehmen. In den Fällen des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FPG ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinn der Ziffer 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht vergleiche zum Erfordernis einer Einzelfallprüfung aus der ständigen Rechtsprechung auch etwa VwGH 10.4.2014, 2013/22/0310, 30.7.2014, 2013/22/0281; VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009).

Bei der Erstellung der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose – gleiches gilt auch für ein Aufenthaltsverbot – ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in Paragraph 53, Absatz 2, FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist. Bei dieser Beurteilung kommt es demnach nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf das diesem zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild an vergleiche etwa VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0116, mwN).

Solche Gesichtspunkte, wie sie in einem Verfahren betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot zu prüfen sind, insbesondere die Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich, können nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden vergleiche VwGH 07.11.2012, 2012/18/0057).

3.5.3.   Die belangte erließ mit dem im Spruch angefochtenen Bescheid eine Rückkehrentscheidung, die bereits in Rechtskraft erwuchs und verband diese mit einem auf die Dauer von fünf Jahren befristeten Einreiseverbot nach Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG. Sie begründete dies damit, dass gegen den BF mit Urteilen der zuständigen Landesgerichte zuletzt eine unbedingte Freiheitsstrafe von über drei Monaten verhängt worden wären, weshalb der Tatbestand des Absatz 3, Ziffer eins, leg. cit. erfüllt sei. Dies indiziere das Vorliegen einer schweren Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit und falle die Erstellung einer Gefährdungsprognose zulasten des BF aus. So weise dieser im Bundesgebiet bereits einschlägige Vorstrafen auf, zumal er in Bezug auf Körperverletzungsdelikte wiederholt straffällig geworden sei und könne nicht ausgeschlossen werden, dass er auch zukünftig Straftaten begehen werde. In Hinblick darauf, dass der BF auch nach dem Suchtmittelgesetz verurteilt wurde und der Tatsache, dass der BF in Österreich keine hinreichenden familiären und privaten Anknüpfungspunkte habe, sei die Erlassung eines fünfjährigen Einreiseverbotes dringend geboten.

3.5.4.   Der BF wurde im Bundesgebiet bereits sechs Mal strafgerichtlich verurteilt, und zwar wegen der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins, zweiter Fall, Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins, zweiter Fall, Absatz 2 und Paragraph 27, Absatz 2 a, SMG sowie des Verbrechens des Suchtgifthandels nach Paragraph 28 a, Absatz eins, fünfter Fall SMG. Bei seiner zweiten Verurteilung wurde er zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, bei seiner dritten Verurteilung wurde er wegen einer auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden Straftat zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, weshalb der Tatbestand des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins, FPG zweifellos erfüllt ist.

Erstmalig wurde er im Bundesgebiet am 02.09.2019 wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins, zweiter Fall SMG wegen des vorschriftswidrigen Besitzes von Suchtgift zu einer zur Gänze bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Der Verurteilung vom 11.12.2019, im Zuge derer er zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von zwölf Monaten, wovon ein Teil von neun Monaten bedingt nachgesehen wurde, verurteilt wurde, lag wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt, im Wesentlichen zugrunde, dass er im Zeitraum von Dezember 2018 bis Juli 2019 vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge überschreitenden Menge größtenteils gewinnbringend anderen verkauft hat, nämlich insgesamt 764 Gramm Cannabiskraut mit einem Reinheitsgehalt von mindestens 10%. Er beging dadurch das Verbrechen des Suchtgifthandels nach Paragraph 28 a, Absatz eins, fünfter Fall SMG. Die Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins,, Absatz 2 und Absatz 2 a, SMG verwirklichte er, in dem er vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich Cannabiskraut, mit dem Vorsatz, es in der Folge durch gewinnbringende Verkäufe in Verkehr zu setzen und zum persönlichen Gebrauch besessen hat. Zuletzt wurde er mit Urteil vom 22.11.2022 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, weil er Suchtgift, nämlich rund 22,11 Gramm Delta-9-THC-haltiges Cannabiskraut an einem allgemein zugänglichen Ort öffentlich und unter Umständen, unter denen sein Verhalten geeignet war, berechtigtes Ärgernis zu erregen, gegen Entgelt einem anderen verkauft hat.

Die vom BF begangenen Suchtmitteldelikte stellen ohne Zweifel eine die öffentliche Sicherheit auf dem Gebiet des Fremdenwesens besonders schwer gefährdende und beeinträchtigende Form von Fehlverhalten dar vergleiche VwGH 23.03.1992, 92/18/0044; 22.02.2011, 2010/18/0417). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass die Verhinderung strafbarer Handlungen, insbesondere von Suchtgiftdelikten, jedenfalls schon vor dem Hintergrund der verheerenden Schäden und Folgen in der Gesellschaft, zu denen der Konsum von Suchtgiften führt, ein Grundinteresse der Gesellschaft (Schutz und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit) darstellt. Der VwGH hat in Bezug auf Suchtgiftdelinquenz zudem mehrmals festgehalten, dass diese ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstellt, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben ist und an dessen Verhinderung ein besonders großes öffentliches Interesse besteht vergleiche zuletzt VwGH 26.05.2021, Ra 2021/01/0159; 08.07.2020, Ra 2019/14/0272, mwN; vergleiche auch die Rechtsprechung des EGMR, der Drogenhandel als Plage ["scourge"] bezeichnet und daher hartes Vorgehen nationaler Behörden dagegen billigt, jüngst EGMR 15.10.2020, Akbay u.a./Deutschland, 40495/15, Ziffer 110,).

Hinsichtlich der Suchtmitteldelinquenz des BF ist zu berücksichtigen, dass bereits bei der zweiten Verurteilung vom 11.12.2019, bei der unter Bedachtnahme auf seine erste Verurteilung gemäß Paragraphen 31,, 40 StGB eine Zusatzstrafe verhängt wurde und der bisher ordentliche Lebenswandel als strafmildernd gewertet wurde, zumindest ein Teil der Strafe, nämlich drei Monate, vollzogen wurden. Da er gleich drei strafbare Handlungen nach dem SMG begangen hat und nur teilweise Schuldeinsicht zeigte, hielt es das Strafgericht nicht für möglich, die Strafe zur Gänze bedingt nachzusehen. Dabei wurde insbesondere auch der lange Tatbegehungszeitraum berücksichtigt. Obwohl er also bereits im Jahr 2019 erstmalig das Haftübel verspürte, konnte er nicht davon abgehalten werden, weitere strafbare Handlungen nach dem SMG zu begehen, zumal er im Oktober 2022 erneut straffällig wurde. Bemerkenswert ist dabei, dass, obwohl seine dritte Verurteilung „nur“ wegen eines Vergehens erfolgte, bei dieser eine gänzlich unbedingte Freiheitsstrafe verhängt wurde. Dabei wurde der in Paragraph 27, Absatz 2 a, SMG vorgesehene Strafrahmen von zwei Jahren mit acht Monaten immerhin zu einem Drittel ausgenutzt. Während bei den ersten beiden Verurteilungen vom Strafgericht berücksichtigt wurde, dass der BF die strafbaren Handlungen als junger Erwachsener beging, war er zum Zeitpunkt seiner dritten Straftat bereits zweiundzwanzig Jahre alt. Somit setzte er seine Delinquenz auch als Erwachsener fort, weshalb sein strafrechtliches Fehlverhalten nicht als bloße Begleiterscheinung der zeitlich begrenzten Adoleszenzkrise mit bloßem Episodencharakter zu werten ist vergleiche Schroll in Höpfel/Ratz, WK2 JGG Paragraph 5,, Rz 7).

Ein Gesinnungswandel eines Straftäters ist grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat. Dieser Zeitraum ist nach den Grundsätzen der Judikatur umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden - etwa in Hinblick auf das der strafgerichtlichen Verurteilung zu Grunde liegende Verhalten oder einen raschen Rückfall - manifestiert hat vergleiche zum Ganzen VwGH 26.01.2021, Ra 2020/14/0491, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang festgehalten, dass (grenzüberschreitender) Suchtgiftschmuggel ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstellt, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr besteht und bei dem auch ein längeres Wohlverhalten in Freiheit noch nicht für die Annahme eines Wegfalls der daraus ableitbaren Gefährdung ausreicht vergleiche VwGH 22.02.2021, Ra 2020/21/0537, mwN).

Ein Wohlverhalten des BF in Freiheit liegt gegenständlich nicht vor, zumal er erst am 30.06.2023 aus dem Strafvollzug entlassen wurde und somit seit der Entlassung noch nicht einmal ein Monat vergangen ist. Der BF hat durch sein die strafrechtlichen Rechtsnormen negierendes Verhalten massiv seinen Unwillen unter Beweis gestellt, in Österreich geltende Grundinteressen der Gesellschaft zu achten, weshalb in Zusammenschau des Verhaltens des BF von einer für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehenden schwerwiegenden Gefährdung auszugehen ist. Er zeigte sich zwar in der Beschwerdeverhandlung reumütig, zumal er angab, dass es ihm leidtue und er sein strafrechtliches Verhalten bereue, es kann jedoch aufgrund der oben dargestellten Gefährdungsprognose zum Entscheidungszeitpunkt nicht davon ausgegangen werden, dass er sich zukünftig wohlverhalten werde. So wurde er bereits wiederholt wegen Delikt gegen die körperliche Unversehrtheit und nach dem SMG straffällig und bereits einmal wegen einer auf derselben schädlichen Neigung beruhenden Straftat verurteilt. Eine Rückfälligkeit in strafrechtwidriges Verhalten ist auch in Hinblick auf seine ungünstige finanzielle Lage, zumal er, bis auf seine Tätigkeit während des Strafvollzugs, bisher in Österreich nicht erwerbstätig war und aufgrund der Tatsache, dass er im Bundesgebiet nicht hinreichend sozial verankert ist, naheliegend. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der BF neuerlich versuchen werde, sich durch die Begehung von Suchtgiftdelikten eine illegale Einnahmequelle zu schaffen. Er gab in der Beschwerdeverhandlung auch, dass er Probleme mit Drogen habe und er nach wie vor Alkohol trinke.

3.5.5.   Wie bereits festgestellt hat der BF keine hinreichenden familiären oder privaten Interessen an einem Aufenthalt in Österreich vorgebracht. Er spricht zwar gut Deutsch und besuchte in Österreich ein Jahr die Schule, absolvierte jedoch bisher keine Deutschprüfungen und ging bisher keiner regelmäßigen legalen Erwerbstätigkeit nach. Es sind auch sonst keine engen sozialen Bindungen hervorgekommen. Insgesamt ist eine hinreichende Integration des BF im Verfahren nicht hervorgekommen, was bereits vom BFA in der rechtkräftigen Rückkehrentscheidung festgestellt und vom BF nicht substantiiert bestritten wurde.

Insofern stehen auch die privaten und familiären Interessen des BF an einem Verbleib bzw. neuerlichen Aufenthalt im Gebiet der Mitgliedstaaten der Erlassung eines Einreiseverbotes vor dem Hintergrund des Artikel 8, EMRK nicht entgegen. Unter Berücksichtigung der ohnehin schwach vorhandenen privaten Anknüpfungspunkte iSd. Artikel 8, EMRK in Österreich, müssen diese Umstände aufgrund der Straffälligkeit des BF eine Relativierung hinnehmen.

Den insoweit geminderten persönlichen Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet steht sohin die aufgrund seines in schwerwiegenden Straftaten gipfelnden Verhaltens resultierende Gefährdung öffentlicher Interessen gegenüber, wobei dem BF ein, im Lichte des großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung von Suchtgiftkriminalität vergleiche nochmals VwGH 01.04.2019, Ra 2018/19/0643 mwN), den Interessen der österreichischen Gesellschaft zuwiderlaufendes, schwer verwerfliches Fehlverhalten zur Last liegt. Die Abwägung der genannten gegenläufigen Interessen führt sohin zur Auffassung, dass die Erlassung des Einreiseverbotes zur Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen, somit zur Erreichung von im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Zielen, dringend geboten ist und somit die Interessen des BF überwiegt.

3.5.6.   Der Rahmen für das verhängte Einreiseverbot beträgt bis zu zehn Jahre, sodass das verhängte Einreiseverbot in der Dauer von fünf Jahren die Hälfte des zur Verfügung stehenden Zeitraumes erreicht, was unter Berücksichtigung der dargestellten Umstände auch als angemessen zu bezeichnen ist. Da der BF keine familiären Interessen im Bundesgebiet hat und keine hinreichende Integration vorweist, scheint aufgrund der dargestellten Umstände ein Einreiseverbot in der Dauer von sechs Jahren als verhältnismäßig. Aufgrund des konkreten Unrechtsgehalts der vom BF begangenen Straftaten und unter Berücksichtigung aller Milderungs- und Erschwerungsgründe kann ein Wegfall der von seiner Person ausgehenden Gefährdung vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er sich noch weniger als ein Jahr wieder in Freiheit befindet, vor einem Ablauf von sechs Jahren nicht prognostiziert werden. Es wurden auch keine Sachverhalte vorgebracht, die zur Annahme führen könnten, dass dieser künftig von einer Mittelbeschaffung aus illegalen Quellen absehen würde oder die körperliche Unversehrtheit anderen Personen respektieren würde respektive, dass die entsprechende Gefährdung in absehbarer Zeit wegfallen würde. Auch die Beschwerde hat derartige Aspekte nicht genannt. Eine Herabsetzung der Dauer des im angefochtenen Bescheid verhängten Einreiseverbotes kam demnach nicht in Betracht und erscheint die vom BFA festgelegte Dauer unter Gesamtbetrachtung aller Umstände verhältnismäßig. Nach sechs Jahren scheint eine weitere Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Falle einer eventuellen Rückkehr ins Bundesgebiet nicht mehr gegeben.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch VIII. des angefochtenen Bescheides war somit als unbegründet abzuweisen.

Zu Spruchteil B)

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), Bundesgesetzblatt Nr. 10 aus 1985, in der geltenden Fassung, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Eine Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere, weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Der Verwaltungsgerichthof hat dem Gerichthof der Europäischen Union (EuGH) mit Beschluss vom 20.10.2021, Ra 2021/20/0246, die unter Pkt. 3.4. dieses Erkenntnisses wiedergegebene Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt. Insoweit fehlt es an einer aktuellen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dieser Frage, weshalb sich die Revision als zulässig erweist.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2024:W177.2220633.3.00