Bundesverwaltungsgericht
09.02.2024
I413 2284312-1
I413 2284312-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. Martin ATTLMAYR, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde des römisch 40 , geb. römisch 40 , staatenlos, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland vom 04.12.2023, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.02.2024 zu Recht:
A)
Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch IX. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass die Dauer des Einreiseverbots auf acht Jahre herabgesetzt wird.
Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein staatenloser Palästinenser, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 30.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 16.06.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, im Folgenden als belangte Behörde oder BFA bezeichnet, niederschriftlich einvernommen. Mit Bescheid vom 28.06.2017, Zl. römisch 40 , wurde dem Antrag des Beschwerdeführers vom 30.07.2015 stattgegeben und ihm der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.
3. Nach einer strafgerichtlichen Verurteilung und in einer weiteren Strafsache über den Beschwerdeführer verhängten Untersuchungshaft fand am 24.01.2023 erneut seine niederschriftliche Einvernahme vor dem BFA statt.
4. Mit angefochtenem Bescheid vom 04.12.2023 wurde das zur Zahl römisch 40 geführte Verfahren zum Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des mit 30.06.2017 in Rechtskraft übergegangen Spruchpunktes gemäß Paragraph 69, Absatz eins, Ziffer eins, in Verbindung mit Absatz 3, AVG wiederaufgenommen und für beim Bundesamt anhängig erklärt (Spruchpunkt römisch eins.). Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 30.07.2015 wurde sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch II.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat der Arabischen Republik Syrien abgewiesen (Spruchpunkt römisch III.), ihm ein Aufenthaltstitel aus „berücksichtigungswürdigen Gründen“ nicht erteilt (Spruchpunkt römisch IV.), gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt römisch fünf.) und festgestellt, dass seine Abschiebung in die Arabische Republik Syrien zulässig sei (Spruchpunkt römisch VI.). Ihm wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt römisch VII.), einer Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt römisch VIII.) und gegen ihn ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch IX.).
5. Dagegen richtet sich die vollumfängliche Beschwerde vom 29.12.2023, in der die inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert wurde. Zusammengefasst wurde dargelegt, dass eine Irreführungsabsicht seitens des Beschwerdeführers nicht gegeben gewesen sei, auch unterliege er der realen Gefahr, zur syrischen Armee eingezogen zu werden. Weiters würde dem Beschwerdeführer eine oppositionelle Haltung unterstellt werden und sei er ein desertierter Soldat. Zudem würde eine Rückkehr nach Syrien die reale Gefahr einer Verletzung der Artikel 2 und Artikel 3, EMRK darstellen. Durch die Rückkehrentscheidung sei der Beschwerdeführer auch in seinen Rechten nach Artikel 8, EMRK verletzt. Es könne weiters auch von keinem negativen Gesamtverhalten und von keiner negativen Zukunftsprognose gesprochen werden.
6. Mit 16.01.2024 wurde ausgesprochen, dass die gegenständliche Rechtssache nach erfolgter Unzuständigkeitsanzeige vom 15.01.2023 bei der Gerichtsabteilung I413 verbleibt. Am 19.01.2024 langte der bezughabende Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht in Innsbruck ein.
7. Am 22.09.2024 wurden der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertretung, die belangte Behörde und ein Dolmetscher für die arabische Sprache zur mündlichen Verhandlung am 09.02.2024 geladen. Die Ladung wurde dem Beschwerdeführer und seiner Rechtsvertretung am selben Tag zugestellt.
8. Am 01.02.2024 legte die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers die Vollmacht zurück.
9. Am 09.02.2024 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, zu der der Beschwerdeführer nicht erschien.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der volljährige, ledige und kinderlose Beschwerdeführer ist ein staatenloser Palästinenser. Er spricht muttersprachlich Arabisch und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Seine Identität steht nicht fest.
Mit Ausnahme von Diabetes haben sich beim Beschwerdeführer keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen ergeben. Die hierfür notwendigen Medikamente sind in Syrien verfügbar und in Anbetracht der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers auch finanzierbar. Bereits im Jahr 2007 wurde ihm in Syrien seine Diabetes-Erkrankung diagnostiziert und wurde er ab diesem Zeitpunkt bis zu seiner Ausreise auch mit Insulin versorgt und behandelt.
Der Beschwerdeführer ist in Syrien geboren, aufgewachsen und hat bis zu seiner Ausreise in Syrien, in Yarmouk, Damaskus in einem im Eigentum des Vaters des Beschwerdeführers stehenden, 100m2 großen Haus gelebt. Er besuchte mehrere Jahre lang die Schule und erlernte den Beruf eines Floristen. Als solcher war er schließlich auch in Damaskus tätig. Von Geburt an war der Beschwerdeführer bei UNRWA in Yarmouk, Damaskus registriert. Die Familie des Beschwerdeführers ist seit 1948 in Syrien ansässig. Der Beschwerdeführer ist ein in Syrien anerkannter Flüchtling und syrischen Staatsangehörigen weitgehend gleichgestellt.
In Syrien sind nach wie vor die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers aufhältig. Die Mutter lebt mit der Schwester und dem Bruder des Beschwerdeführers in Qatana, das ca. 40 Autominuten von der Stadt Damaskus entfernt liegt. Der Vater des Beschwerdeführers ist in Jadidet Avtus in der Stadt Damaskus wohnhaft. Der Kontakt zu den Eltern ist nach wie vor aufrecht; die Familienangehörigen des Beschwerdeführers sind wohlauf und geht es ihnen gut.
Der Beschwerdeführer reiste von Syrien in die Türkei aus, wo er bis 2015 verblieb. Über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn erreichte er schließlich Österreich, wo er am 30.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Mit Bescheid des BFA vom 28.06.2017, Zl. römisch 40 , wurde dem Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 30.07.2015 stattgegeben und ihm der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Fluchteigenschaft zukomme. Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage in seinem Heimatland in Verbindung mit seinem Vorbringen die behauptete Furcht vor Verfolgung als glaubhaft gemacht gewertet werden könne.
Der Strafregisterauszug des Beschwerdeführers weist drei strafgerichtliche Verurteilungen aus:
Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 14.03.2019, römisch 40 , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach Paragraph 107, Absatz 2, StGB zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen, im Fall der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 120 Tagen, verurteilt. Das Gericht erachtete es als erwiesen, dass der Beschwerdeführer am 23.10.2018 zwei Personen und deren Familienangehörigen gefährlich mit dem Tod bedroht hatte, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen. Im Rahmen der Strafzumessung wertete das Gericht als mildernd die Unbescholtenheit und das Geständnis zur objektiven Tatseite, als erschwerend das Zusammentreffen von vier Vergehen.
Am 03.02.2023 wurde der Beschwerdeführer vom Landesgericht Eisenstadt zu römisch 40 , für schuldig befunden, vom 09.09.2022 auf 10.09.2022 in Nickelsdorf und an anderen Orten, gemeinsam mit zwei weiteren Personen als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (Paragraph 12, StGB) mit weiteren abgesondert verfolgten unbekannten Tätern insbesondere den Auftraggebern und Organisatoren in Serbien und Österreich, die rechtswidrige Einreise in Bezug auf mindestens drei Fremde, die über keine gültigen Einreise und Aufenthaltsdokumente für den EU- bzw. Schenkenraum verfügten, nach Österreich mit dem Vorsatz, sich bzw. Dritte durch ein dafür geleistetes bzw. in Aussicht gestelltes Entgelt von EUR 1.000,-- pro Person unrechtmäßig zu bereichern, gefördert zu haben, indem sie sich über Auftrag der Schleppervereinigung mit dem Fahrzeug einer vom Beschwerdeführer fremden Person nach Ungarn begaben und in einem Waldstück nach der serbisch-ungarischen Grenze fünf syrische Fremde, welche über keine gültigen Einreise- und Aufenthaltspapiere für den EU-Raum verfügten und in arbeitsteiligen Teilschleppungen zuletzt über Serbien nach Ungarn gebracht worden waren, in das Fahrzeug aufnahmen, sodann mit den Fremden nach Budapest fuhren, wo die Fahrzeugeigentümerin als Lenkerin das Fahrzeug übernahm und sie gemeinsam die Fremden nach Österreich verbrachten, wobei der Beschwerdeführer während der Fahrt in ständigem telefonischen Kontakt mit einem der Auftraggeber stand. Der Beschwerdeführer wusste im Gegensatz zu seiner ebenfalls an der Tat beteiligten Freundin, dass hinter den Schleppungen ein auf längere Zeit, nämlich von zumindest mehreren Wochen, angelegter länderübergreifend agierender Zusammenschluss von mehr als zwei Personen stand, der arbeitsteilig und organisiert auftrat und darauf ausgerichtet war, gegen Entgelt Schleppungen von Fremden nach oder durch Länder der Europäischen Union durchzuführen und dadurch Geld für den Lebensunterhalt seiner Mitglieder zu lukrieren. Der Beschwerdeführer hat damit das Verbrechen der Schlepperei nach Paragraph 114, Absatz eins,, Absatz 3, Ziffer 2,, Absatz 4, erster Fall FPG verwirklicht und wurde hierfür nach dem Strafsatz des Paragraph 114, Absatz 4, FPG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 20 Monaten verurteilt. Mildernd wurde beim Beschwerdeführer das reumütige Geständnis, erschwerend hingegen die mehrfache Deliktsqualifikation gewertet.
Mit Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt vom 19.07.2023, römisch 40 , wurde der Beschwerdeführer des Vergehens der falschen Beweisaussage nach Paragraph 288, Absatz 4, StGB für schuldig befunden und zu einer auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt verhängten Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer hat am 09.02.2023 als Zeuge in einem Ermittlungsverfahren nach der Strafprozessordnung vor der Kriminalpolizei bei seiner förmlichen Vernehmung zur Sache falsch ausgesagt, dass er am 23.12.2022 in der Justizanstalt Eisenstadt von Justizwachebeamten verletzt worden sei. Bei der Strafbemessung wurden weder Milderungs- noch Erschwernisgründe berücksichtigt.
Am 20.10.2023 wurde der Beschwerdeführer aus der Strafhaft entlassen und bis 01.12.2023 in ein Polizeiahaltezentrum überstellt.
Der Beschwerdeführer ging bis dato stets nur über kurze Zeiträume hinweg Erwerbstätigkeiten nach. Sein längstes Arbeitsverhältnis bestand für die Dauer von etwa einem halben Jahr, ansonsten arbeitete er entweder nur tageweise oder weniger als zwei Monate. Die verbleibende Zeit bezog der Beschwerdeführer Arbeitslosengeld bzw. auch Notstands- und Überbrückungshilfe. Auch aktuell bezieht er Arbeitslosengeld. Kenntnisse der deutschen Sprache sind nicht bescheinigt. Hinweise auf eine soziale oder kulturelle Integration haben sich nicht ergeben. In Österreich leben keine nahen Verwandten des Beschwerdeführers und führt er kein schützenswertes Familienleben.
Insgesamt weist der Beschwerdeführer keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf.
1.2. Zu den Fluchtmotiven und zur individuellen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer leistete seinen Militärdienst jedenfalls zwischen 2009 und 2012 in der syrischen Armee ab, dies in der Verwaltung.
Der Beschwerdeführer wurde in Syrien weder aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe noch aufgrund seiner politischen Gesinnung verfolgt.
Bei einer Rückkehr nach Syrien besteht für den Beschwerdeführer nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, eine Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund seiner vermeintlichen Desertion zu erfahren oder zum syrischen Reservedienst eingezogen zu werden, ebenso wenig aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung verfolgt zu werden.
Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr nach Syrien zum entscheidungsrelevanten Zeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht aus Gründen der Rasse, Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.
Es existieren keine Umstände, welche einer Abschiebung des Beschwerdeführers aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich entgegenstünden. Er verfügt über keine sonstige Aufenthaltsberechtigung. Im Falle seiner Rückkehr nach Syrien droht dem Beschwerdeführer weder die reale Gefahr der Folter, noch unmenschliche Bestrafung, unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe. Weder wird ihm seine Lebensgrundlage gänzlich entzogen, noch besteht für ihn in Syrien die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.
1.3. Zu den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Syrien
Die aktuelle Situation im Herkunftsstaat (Stand 17.07.2023) des Beschwerdeführers stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:
1.3.1. Politische Lage
Letzte Änderung 10.07.2023
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 % des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023).
Interne Akteure haben das Kernmerkmal eines Staates - sein Gewaltmonopol - infrage gestellt und ausgehöhlt. Externe Akteure, die Gebiete besetzen, wie die Türkei in den kurdischen Gebieten, oder sich in innere Angelegenheiten einmischen, wie Russland und Iran, sorgen für Unzufriedenheit bei den Bürgern vor Ort (BS 23.2.2022). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik im Allgemeinen den lokal dominierenden bewaffneten Gruppen untergeordnet, darunter die militante islamistische Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) und mit dem türkischen Militär verbündete Kräfte (FH 9.3.2023). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg, der nun in sein zwölftes Jahr geht, hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum November 2022-März 2023] nicht wesentlich verändert (AA 29.3.2023). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in den Gebieten unter seiner Kontrolle nicht grundlegend angefochten, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden substanziellen militärischen Unterstützung Russlands bzw. Irans und Iran-naher Kräfte. Allerdings gelang es dem Regime nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol in diesen Gebieten durchzusetzen. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht (AA 29.3.2023). Der von den Vereinten Nationen geleitete Friedensprozess, einschließlich des Verfassungsausschusses, hat 2022 keine Fortschritte gemacht (HRW 12.1.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert (AA 29.3.2023). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell und sorgen dafür, dass diese nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden (HRW 12.1.2023).
Im Äußeren gewannen die Bemühungen des Regimes und seiner Verbündeten, insbesondere Russlands, zur Beendigung der internationalen Isolation [mit Stand März 2023] unabhängig von der im Raum stehenden Annäherung der Türkei trotz fehlender politischer und humanitärer Fortschritte weiter an Momentum. Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vergleiche SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon - (CMEC 16.5.2023; vergleiche Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen, wenngleich sich die Bewahrung der EU-Einheit in dieser Sache zunehmend herausfordernd gestaltet (AA 29.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/document/2089904.html, Zugriff 23.6.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 23.6.2023
Alaraby - New Arab, the (31.5.2023): Why Syria's Kurds and Hayat Tahrir al-Sham are offering to host refugees, https://www.newarab.com/analysis/why-syrias-kurds-and-hts-are-offering-host-refugees, Zugriff 28.6.2023
Brookings (27.1.2023): Syria’s dissolving line between state and nonstate actors, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2023/01/27/syrias-dissolving-line-between-state-and-nonstate-actors/, Zugriff 27.6.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SYR.pdf Zugriff 23.6.2023
CMEC - Carnegie Middle East Center (16.5.2023): An Inauspicious Return, https://carnegie-mec.org/diwan/89762, Zugriff 23.6.2023
FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2088564.html, Zugriff 23.6.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2085501.html, Zugriff 23.6.2023
IPS - Inter Press Service (20.5.2022): What the Russian Invasion Means for Syria, https://www.ipsnews.net/2022/05/russian-invasion-means-syria/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=russian-invasion-means-syria, Zugriff 27.6.2023
SOHR - The Syrian Observatory For Human Rights (7.5.2023): Assad will demand high price for return of refugees, https://www.syriahr.com/en/298175/, Zugriff 23.6.2023
Spiegel, Der (29.8.2016): Die Fakten zum Krieg in Syrien, https://www.spiegel.de/politik/ausland/krieg-in-syrien-alle-wichtigen-fakten-erklaert-endlich-verstaendlich-a-1057039.html#sponfakt=1, Zugriff 23.6.2023
USIP - United States Institute for Peace (14.3.2023): Syria’s Stalemate Has Only Benefitted Assad and His Backers, https://www.usip.org/publications/2023/03/syrias-stalemate-has-only-benefitted-assad-and-his-backers, Zugriff 27.6.2023
Wilson - Wilson Center (6.6.2023): Syria and the Arab League, https://www.wilsoncenter.org/blog-post/syria-and-arab-league, Zugriff 23.6.2023
Syrische Arabische Republik
Letzte Änderung 10.07.2023
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 2.5.2023). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer der Alawiten und anderer religiöser Minderheiten (FH 9.3.2023) und die alawitische Minderheit hat weiterhin einen im Verhältnis zu ihrer Zahl überproportional großen politischen Status, insbesondere in den Führungspositionen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Nachrichtendienste, obwohl das hochrangige Offizierskorps des Militärs weiterhin auch Angehörige anderer religiöser Minderheitengruppen in seine Reihen aufnimmt (USDOS 15.5.2023). In der Praxis hängt der politische Zugang jedoch nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten. Alawiten, Christen, Drusen und Angehörige anderer kleinerer Religionsgemeinschaften, die nicht zu Assads innerem Kreis gehören, sind politisch entrechtet. Zur politischen Elite gehören auch Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft, doch die sunnitische Mehrheit des Landes stellt den größten Teil der Rebellenbewegung und hat daher die Hauptlast der staatlichen Repressionen zu tragen (FH 9.3.2023).
Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba'ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba'ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige (USDOS 20.3.2023). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft infrage stellen könnten (FH 9.3.2023). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch die Verfassung und den bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v.a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich (AA 29.3.2023).
Dem ehemaligen Berater des US-Außenministeriums Hazem al-Ghabra zufolge unterstützt Syrien beinahe vollständig die Herstellung und Logistik von Drogen, weil es eine Einnahmemöglichkeit für den Staat und für Vertreter des Regimes und dessen Profiteure darstellt (Enab 23.1.2023). Baschar al-Assad mag der unumschränkte Herrscher sein, aber die Loyalität mächtiger Warlords, Geschäftsleute oder auch seiner Verwandten hat ihren Preis. Beispielhaft wird von einer vormals kleinkriminellen Bande berichtet, die Präsident Assad in der Stadt Sednaya gewähren ließ, um die dort ansässigen Christen zu kooptieren, und die inzwischen auf eigene Rechnung in den Drogenhandel involviert ist. Der Machtapparat hat nur bedingt die Kontrolle über die eigenen Drogennetzwerke. Assads Cousins, die Hisbollah und Anführer der lokalen Organisierten Kriminalität haben kleine Imperien errichtet und geraten gelegentlich aneinander, wobei Maher al-Assad, der jüngere Bruder des Präsidenten und Befehlshaber der Vierten Division, eine zentrale Rolle bei der Logistik innehat. Die Vierte Division mutierte in den vergangenen Jahren 'zu einer Art Mafia-Konglomerat mit militärischem Flügel'. Sie bewacht die Transporte und Fabriken, kontrolliert die Häfen und nimmt Geld ein. Maher al-Assads Vertreter, General Ghassan Bilal, gilt als der operative Kopf und Verbindungsmann zur Hisbollah (Spiegel 17.6.2022).
Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).
Institutionen und Wahlen
Syrien ist nach der geltenden Verfassung von 2012 eine semipräsidentielle Volksrepublik. Das politische System Syriens wird de facto jedoch vom autoritär regierenden Präsidenten dominiert. Der Präsident verfügt als oberstes Exekutivorgan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Generalsekretär der Ba'ath-Partei über umfassende Vollmachten. Darüber hinaus darf der Präsident nach Artikel 113, der Verfassung auch legislativ tätig werden, wenn das Parlament nicht tagt, aufgelöst ist oder wenn "absolute Notwendigkeit" dies erfordert. De facto ist die Legislativbefugnis des Parlaments derzeit außer Kraft gesetzt. Gesetze werden weitgehend als Präsidialdekrete verabschiedet (AA 29.3.2023).
Der Präsident wird nach der Verfassung direkt vom Volk gewählt. Seine Amtszeit beträgt sieben Jahre. Seit der letzten Verfassungsänderung 2012 ist maximal eine einmalige Wiederwahl möglich. Da diese Verfassungsbestimmung jedoch erstmals bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zur Anwendung kam, war es dem aktuellen Präsidenten Baschar al-Assad erlaubt, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2021 erneut zu kandidieren. Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt werden nach Artikel 85, vom Obersten Verfassungsgericht überprüft und müssen Voraussetzungen erfüllen, die Angehörige der Opposition faktisch weitgehend ausschließen. So muss ein Kandidat u. a. im Besitz seiner bürgerlichen und politischen Rechte sein (diese werden bei Verurteilungen für politische Delikte in der Regel entzogen), darf nicht für ein "ehrenrühriges" Vergehen vorbestraft sein und muss bis zum Zeitpunkt der Kandidatur ununterbrochen zehn Jahre in Syrien gelebt haben. Damit sind im Exil lebende Politikerinnen und Politiker von einer Kandidatur de facto ausgeschlossen (AA 29.3.2023). Bei den Präsidentschaftswahlen, die im Mai 2021 in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie einigen syrischen Botschaften abgehalten wurden, erhielt Bashar al-Assad 95,1 % der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von rund 77 % und wurde damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 % und 3,3 % der Stimmen (Standard 28.5.2021; vergleiche Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als 'weder frei noch fair' und als 'betrügerisch', und die Opposition nannte sie eine 'Farce' (Standard 28.5.2021).
Das Parlament hat nicht viel Macht. Dekrete werden meist von Ministern und Ministerinnen vorgelegt, um ohne Änderungen vom Parlament genehmigt zu werden. Sitze im Parlament oder im Kabinett dienen nicht dazu, einzelne Machtgruppen in die Entscheidungsfindung einzubinden, sondern dazu, sie durch die Vorteile, die ihnen ihre Positionen verschaffen, zu kooptieren (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden die Wahlen für das "Volksrat" genannte syrische Parlament mit 250 Sitzen statt, allerdings nur in Gebieten, in denen das Regime präsent ist. Auch diese Wahlen wurden durch die weitverbreitete Vertreibung der Bevölkerung beeinträchtigt. Bei den Wahlen gab es keinen nennenswerten Wettbewerb, da die im Exil lebenden Oppositionsgruppen nicht teilnahmen und die Behörden keine unabhängigen politischen Aktivitäten in dem von ihnen kontrollierten Gebiet dulden. Die regierende Ba'ath-Partei und ihre Koalition der Nationalen Progressiven Front erhielten 183 Sitze. Die restlichen 67 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, die jedoch alle als regierungstreu galten (FH 9.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7 % (BS 23.2.2022). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.7.2020).
Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba'ath-Partei (MEI 24.7.2020). Die vom Regime und den Nachrichtendiensten vorgenommene Reihung auf der Liste ist damit wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen. Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien quasi zu managen und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren (BS 23.2.2022). Zudem gilt der Verkauf öffentlicher Ämter an reiche Personen, im Verbund mit entsprechend gefälschten Wahlergebnissen, als zunehmend wichtige Devisenquelle für das syrische Regime (AA 29.3.2023). Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022).
Im September 2022 fanden in allen [unter Kontrolle des syrischen Regimes stehenden] Provinzen Wahlen für die Lokalräte statt. Nichtregierungsorganisationen bezeichneten sie ebenfalls als weder frei noch fair (USDOS 20.3.2023).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/document/2089904.html, Zugriff 23.6.2023
BBC - BBC News (2.5.2023): Why is there a war in Syria?, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-35806229, Zugriff 23.6.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SYR.pdf Zugriff 23.6.2023
Enab - Enab Baladi (23.1.2023): Following 'Captagon Act', Will Washington put al-Assad on Noriega’s track, https://english.enabbaladi.net/archives/2023/01/following-captagon-act-will-washington-put-al-assad-on-noriegas-track/, Zugriff 23.6.2023
FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2088564.html, Zugriff 23.6.2023
MEI - Middle East Institute (24.7.2020): Syria’s 2020 parliamentary elections: The worst joke yet, https://www.mei.edu/publications/syrias-2020-parliamentary-elections-worst-joke-yet, Zugriff 23.6.2023
Reuters (28.5.2021): Syria’s Assad wins 4th term with 95% of vote, in election the West calls fraudulent, https://www.reuters.com/world/middle-east/syrias-president-bashar-al-assad-wins-fourth-term-office-with-951-votes-live-2021-05-27/, Zugriff 23.6.2023
SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 23.6.2023
Spiegel, Der (17.6.2022): "Sie selbst sind das Kartell", https://www.spiegel.de/ausland/syrien-drogenhandel-des-regimes-von-baschar-al-assad-sie-selbst-sind-das-kartell-a-869b875b-5edd-46c5-b2c7-f3074ca91791, Zugriff 23.6.2023
Standard - Standard, der (28.5.2021): Syriens Machthaber Assad erhält bei 'Präsidentenwahl' 95 Prozent, https://www.derstandard.at/story/2000126983065/syriens-machthaber-assad-erhaelt-bei-praesidentenwahl-95-prozent, Zugriff 23.6.2023
USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2021): United States Commission on International Religious Freedom 2021 Annual Report; USCIRF - Recommended for Countries of Particular Concern (CPC): Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052987/Syria+Chapter+AR2021.pdf, Zugriff 23.6.2023
USDOS – United States Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2091896.html, Zugriff 23.6.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 23.6.2023
WP - Washington Post, The (22.7.2020): Syria’s elections have always been fixed. This time, even candidates are complaining., https://www.washingtonpost.com/world/middle_east/syrias-elections-have-always-been-fixed-this-time-even-candidates-are-complaining/2020/07/22/76e0bb12-cb5f-11ea-99b0-8426e26d203b_story.html, Zugriff 23.6.2023
Syrische Interimsregierung und syrische Heilsregierung
Letzte Änderung 11.07.2023
Im März 2013 gab die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte als höchste offizielle Oppositionsbehörde die Bildung der syrischen Interimsregierung (Syrian Interim Government, SIG) bekannt, welche die Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes im ganzen Land verwalten soll. Im Laufe der Zeit schrumpften die der Opposition angehörenden Gebiete jedoch, insbesondere nach den Vereinbarungen von 2018, die dazu führten, dass Damaskus die Kontrolle über den Süden Syriens und die Oppositionsgebiete im Süden von Damaskus und im Umland übernahm. Der Einfluss der SIG ist nun auf die von der Türkei unterstützten Gebiete im Norden Aleppos beschränkt (SD 18.3.2023). Formell erstreckt sich ihr Zuständigkeitsbereich auch auf die von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierte Zone. Dort wurde sie von der HTS jedoch an den Rand gedrängt (Brookings 27.1.2023). Die von der HTS kontrollierten Gebiete in Idlib und Teile der Provinzen Aleppo und Latakia werden inzwischen von der syrischen Heilsregierung (Syrian Salvation Government, SSG), dem zivilen Flügel der HTS, regiert (SD 18.3.2023).
Nicht-staatliche Akteure in Nordsyrien haben systematisch daran gearbeitet, sich selbst mit Attributen der Staatlichkeit auszustatten. Sie haben sich von aufständischen bewaffneten Gruppen in Regierungsbehörden verwandelt. In Gebieten, die von der HTS, einer sunnitischen islamistischen politischen und militärischen Organisation, kontrolliert werden, und in Gebieten, die nominell unter der Kontrolle der SIG stehen, haben bewaffnete Gruppen und die ihnen angeschlossenen politischen Flügel den institutionellen Rahmen eines vollwertigen Staates mit ausgefeilten Regierungsstrukturen wie Präsidenten, Kabinetten, Ministerien, Regulierungsbehörden, Exekutivorganen usw. übernommen (Brookings 27.1.2023).
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die HTS die dominanteste ist (MEI 26.4.2022). Mit der im November 2017 gegründeten (NPA 4.5.2023) syrischen Heilsregierung hat die HTS ihre Möglichkeiten zur Regulierung, Besteuerung und Bereitstellung begrenzter Dienstleistungen für die Zivilbevölkerung erweitert. Doch wie jüngste Studien gezeigt haben, sind diese Institutionen Mechanismen, die hochrangige Persönlichkeiten innerhalb der herrschenden Koalitionen ermächtigen und bereichern (Brookings 27.1.2023). In dem Gebiet werden keine organisierten Wahlen abgehalten und die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen. Die HTS versucht in Idlib, eine autoritäre Ordnung mit einer islamistischen Agenda durchzusetzen. Obwohl die Mehrheit der Menschen in Idlib sunnitische Muslime sind, ist HTS nicht beliebt. Die von der HTS propagierten religiösen Dogmen sind nur ein Aspekt, der den Bürgerinnen und Bürgern missfällt. Zu den anderen Aspekten gehören der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, willkürliche Verhaftungen, Gewalt und Missbrauch (BS 23.2.2022).
In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral-Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vergleiche SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw. 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
[Für mehr Informationen siehe insbesondere das Unterkapitel Nordwest-Syrien im Kapitel Sicherheitslage.]
Quellen:
Brookings (27.1.2023): Syria’s dissolving line between state and nonstate actors, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2023/01/27/syrias-dissolving-line-between-state-and-nonstate-actors/, Zugriff 27.6.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 23.6.2023
MEI - Middle East Institute (26.4.2022): Divided Syria: An examination of stabilization efforts and prospects for state continuity, https://www.mei.edu/publications/divided-syria-examination-stabilization-efforts-and-prospects-state-continuity, Zugriff 27.6.2023
NPA - North Press Agency (4.5.2023): What lies behind the rift between Syrian opposition’s two main governments?, https://npasyria.com/en/97444/, Zugriff 27.6.2023
SD - Syria Direct (18.3.2023): 12 years on, ‘revolution’ service institutions under Turkish authority, https://syriadirect.org/12-years-on-revolution-service-institutions-under-turkish-authority/, Zugriff 27.6.2023
Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien
Letzte Änderung 11.07.2023
2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) gekommen sein, deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine 'zweite Front' in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrîn, 'Ain al-'Arab (Kobanê) und die Jazira/Cizîrê von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017).
Im November 2013 - etwa zeitgleich mit der Bildung der syrischen Interimsregierung (SIG) durch die syrische Opposition - rief die PYD die sogenannte Demokratische Selbstverwaltung (DSA) in den Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê aus und fasste das so entstandene, territorial nicht zusammenhängende Gebiet unter dem kurdischen Wort für "Westen" (Rojava) zusammen. Im Dezember 2015 gründete die PYD mit ihren Verbündeten den Demokratischen Rat Syriens (SDC) als politischen Arm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) (SWP 7.2018). Die von den USA unterstützten SDF (TWI 18.7.2022) sind eine Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheitengruppen (USDOS 20.3.2023), in dem der militärische Arm der PYD, die YPG, die dominierende Kraft ist (KAS 4.12.2018). Im März 2016 riefen Vertreter der drei Kantone (Kobanê war inzwischen um Tall Abyad erweitert worden) den Konstituierenden Rat des "Demokratischen Föderalen Systems Rojava/Nord-Syrien" (Democratic Federation of Northern Syria, DFNS) ins Leben (SWP 7.2018). Im März 2018 (KAS 4.12.2018) übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrîn mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022). Im September 2018 beschloss der SDC die Gründung des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) auf dem Gebiet der drei Kantone (abzüglich des von der Türkei besetzten Afrîn). Darüber hinaus wurden auch Gebiete in Deir-ez Zor und Raqqa (K24 6.9.2018) sowie Manbij, Takba und Hassakah, welche die SDF vom Islamischen Staat (IS) befreit hatten, Teil der AANES (SO 27.6.2022).
Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet 'belohnt' zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 20.3.2023). Türkische Vorstöße auf syrisches Gebiet im Jahr 2019 führten dazu, dass die SDF zur Abschreckung der Türkei syrische Regierungstruppen einlud, in den AANES Stellung zu beziehen (ICG 18.11.2021). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren (ÖB Damaskus 1.10.2021). Mit Stand Mai 2023 besteht kein entsprechender Vertrag zwischen den AANES und der syrischen Regierung (Alaraby 31.5.2023). Unter anderem wird über die Verteilung von Öl und Weizen verhandelt, wobei ein großer Teil der syrischen Öl- und Weizenvorkommen auf dem Gebiet der AANES liegen (K24 22.1.2023). Normalisierungsversuche der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und der syrischen Regierung wurden in den AANES im Juni 2023 mit Sorge betrachtet (AAA 24.6.2023). Anders als die EU und USA betrachtet die Türkei sowohl die Streitkräfte der YPG als auch die Partei PYD als identisch mit der von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und daher als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.3.2023).
Die Führungsstrukturen der AANES unterscheiden sich von denen anderer Akteure und Gebiete in Syrien. Die "autonome Verwaltung" basiert auf der egalitären, von unten nach oben gerichteten Philosophie Abdullah Öcalans, der in der Türkei im Gefängnis sitzt [Anm.: Gründungsmitglied und Vorsitzender der PKK]. Frauen spielen eine viel stärkere Rolle als anderswo im Nahen Osten, auch in den kurdischen Sicherheitskräften. Lokale Nachbarschaftsräte bilden die Grundlage der Regierungsführung, die durch Kooptation zu größeren geografischen Einheiten zusammengeführt werden (MEI 26.4.2022). Es gibt eine provisorische Verfassung, die Lokalwahlen vorsieht (FH 9.3.2023). Dies ermöglicht mehr freie Meinungsäußerung als anderswo in Syrien und theoretisch auch mehr Opposition. In der Praxis ist die PYD nach wie vor vorherrschend, insbesondere in kurdisch besiedelten Gebieten (MEI 26.4.2022), und der AANES werden autoritäre Tendenzen bei der Regierungsführung und Wirtschaftsverwaltung des Gebiets vorgeworfen (Brookings 27.1.2023; vergleiche SD 22.7.2021). Die mit der PYD verbundenen Kräfte nehmen regelmäßig politische Opponenten fest. Während die politische Vertretung von Arabern formal gewährleistet ist, werden der PYD Übergriffe gegen nicht-kurdische Einwohner vorgeworfen (FH 9.3.2023). Teile der SDF haben Berichten zufolge Übergriffe verübt, darunter Angriffe auf Wohngebiete, körperliche Misshandlungen, rechtswidrige Festnahmen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie willkürliche Zerstörung und Abriss von Häusern. Die SDF haben die meisten Vorwürfe gegen ihre Streitkräfte untersucht. Einige Mitglieder der SDF wurden wegen Missbrauchs strafrechtlich verfolgt, jedoch lagen dazu keine genauen Zahlen vor (USDOS 20.3.2023).
Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP [Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak] nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der PYD, welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 1.10.2021).
Seitdem der Islamische Staat (IS) 2019 die Kontrolle über sein letztes Bevölkerungszentrum verloren hat, greift er mit Guerilla- und Terrortaktiken Sicherheitskräfte und lokale zivile Führungskräfte an (FH 9.3.2023). Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021).
Anmerkung: s. die entsprechenden Unterkapitel des Kapitels Sicherheitslage zum Frontverlauf in Nordsyrien sowie zur Vorgehensweise der Türkei.
Quellen:
AAA - Asharq Al-Awsat (24.6.2023): Syria: AANES Issues Warning Regarding Outcomes of ‘Astana Meetings’, https://english.aawsat.com/arab-world/4399071-syria-aanes-issues-warning-regarding-outcomes-%E2%80%98astana-meetings%E2%80%99, Zugriff 28.6.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/document/2089904.html, Zugriff 23.6.2023
Alaraby - New Arab, the (31.5.2023): Why Syria's Kurds and Hayat Tahrir al-Sham are offering to host refugees, https://www.newarab.com/analysis/why-syrias-kurds-and-hts-are-offering-host-refugees, Zugriff 28.6.2023
Brookings (27.1.2023): Syria’s dissolving line between state and nonstate actors, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2023/01/27/syrias-dissolving-line-between-state-and-nonstate-actors/, Zugriff 27.6.2023
FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2088564.html, Zugriff 23.6.2023
ICG - International Crisis Group (18.11.2021): Syria: Shoring Up Raqqa’s Shaky Recovery, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064234/229-raqqas-shaky-recovery.pdf, Zugriff 29.6.2023
K24 - Kurdistan 24 (22.1.2023): Syrian Kurds deny stealing oil and wheat, https://www.kurdistan24.net/en/story/30513-Syrian-Kurds-deny-stealing-oil-and-wheat, Zugriff 28.6.2023
K24 - Kurdistan 24 (6.9.2018): New administration formed for northeastern Syria, https://www.kurdistan24.net/en/news/c9e03dab-6265-4a9a-91ee-ea8d2a93c657, Zugriff 28.6.2023
KAS - Konrad Adenauer Stiftung (4.12.2018): Zwischen den Fronten - Die Kurden in Syrien, https://www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/zwischen-den-fronten-1, Zugriff 28.6.2023
MEI - Middle East Institute (26.4.2022): Divided Syria: An examination of stabilization efforts and prospects for state continuity, https://www.mei.edu/publications/divided-syria-examination-stabilization-efforts-and-prospects-state-continuity, Zugriff 27.6.2023
ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 28.6.2023
Savelsberg, Eva: Der Aufstieg der kurdischen PYD im syrischen Bürgerkrieg (2011 bis 2017). In STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 28.6.2023
SD - Syria Direct (22.7.2021): Authoritarian tendencies mar the AANES’ quest for recognition, https://syriadirect.org/authoritarian-tendencies-mar-the-aanes-quest-for-recognition/, Zugriff 28.6.2023
SO - Syrian Observer, the (27.6.2022): Belgium Seeks Recognition of AANES – Belgian Envoy to Syria, https://syrianobserver.com/news/76218/belgium-seeks-recognition-of-aanes-belgian-envoy-to-syria.html, Zugriff 28.6.2023
SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (7.2018): Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des 'Islamischen Staates', https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S11_srt.pdf, Zugriff 28.6.2023
taz - Tageszeitung, die (15.10.2022): Kurdischer Kanton Afrin in Nordsyrien: Eine Bande durch die andere ersetzt, https://taz.de/Kurdischer-Kanton-Afrin-in-Nordsyrien/!5888260/, Zugriff 28.6.2023
TWI - Washington Institute for Near East Policy, the (18.7.2022): How the Autonomous Administration Leadership and Civilians Will View a Turkish Incursion into Northeast Syria, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/how-autonomous-administration-leadership-and-civilians-will-view-turkish-incursion, Zugriff 28.6.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2089061.html, Zugriff 23.6.2023
1.3.2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 11.07.2023
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 29.3.2023). Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) veröffentlichte eine Karte mit Stand Dezember 2022, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind. Es gibt Gebiete, in denen mehr als Akteur präsent ist (UNCOI 1.2023) [Anm.: die ausländischen Verbündeten des Regimes wie Iran, Russland und libanesische Hizbollah fehlen - siehe Karten weiter unten]:

Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:

Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023).
Die CoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Mitte des Jahres 2016 hatte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der 'wichtigsten' Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt, kontrolliert (Reuters 13.4.2016). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.3.2023).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:

Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022).
Im Gouvernement Dara'a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten 'Versöhnungsabkommens'. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).
Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nicht-identifizierte Akteure (SNHR 1.5.2023).
Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vergleiche DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vergleiche CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vergleiche BAMF 6.12.2022).
Der UN-Sicherheitsrat schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Mit mehreren Tausend Kämpfern sowie deren Angehörigen, die sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF befinden, sowie einer vermutlich dreistelligen Zahl von im Untergrund aktiven Kämpfern bleibt IS jedoch ein relevanter asymmetrischer Akteur (AA 29.3.2023). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle und Attentate (DIS 29.6.2020). Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien, und zeigte bei zwei Anschlägen im Jahr 2022 seine anhaltende Fähigkeit zu komplexen Operationen (AA 29.3.2023).
Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich zehn bis 15 Angriffe auf die Regierungsstreitkräfte pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).
Zum IS-Angriff vom 20.1.2022 in al-Hassakah siehe das Unterkapitel Nordost-Syrien im Kapitel Sicherheitslage.
Zivile Todesopfer landesweit
Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche sowohl Zivilisten als auch Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von 'Massakern', bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vergleiche SNHR 1.1.2021). Die folgende Grafik zeigt die von SNHR dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2021 getötet wurden, wobei SNHR insgesamt 1.271 getötete Zivilisten zählte, davon 299 Kinder und 134 Frauen (SNHR 1.1.2022):

SNHR 1.1.2022
Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.2021 bis 30.6.2023 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern. Demnach kamen im Jahr 2022 5.949 Menschen ums Leben und im ersten Halbjahr 2023 2.796 Personen (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):

ACLED o.D.
Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 1.1.2020-30.6.2023 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):

ACLED o.D.; *2023: Zeitraum 1.1.-30.6.2023
Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).
Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).
Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien
Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Team“ (IIT) zu ermitteln. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.3.2017 sowie Chlorgas am 25.3.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 1.3.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 7.4.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds“). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.5.2019 wiederholt Chlorgas in Kabana/Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 1.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (1.8.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.1.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.9.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.1.2022). In einem weiteren Bericht vom 1.2.2022 kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.10.2016 in Kafr Zeita eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 1.2.2022).
Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 Prozent der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021).
Auch wenn es im Jahr 2022 kein Einsatz von chemischen Waffen berichtet wurde, so wird davon ausgegangen, dass das Regime weiterhin über ausreichende Vorräte von Sarin und Chlor verfügt, und über die Expertise zur Produktion und Anwendung von Chlor-hältiger Munition verfügt. Das Regime erfüllte nicht die Forderungen der Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) Conference of the States Parties, weshalb seine Rechte in der Organisation suspendiert bleiben (USDOS 20.3.2023).
Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln
Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Z.B. wurden im Juni 2022 bei der Explosion einer Landmine in Dara’a zehn Menschen getötet und 28 verletzt. Laut dem Humanitarian Needs Overview der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und - Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.3.2023).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 6.7.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf, Zugriff 6.7.2023
ACLED/ACCORD - Armed Conflict Location & Event Data Project, zusammengestellt von ACCORD (25.3.2021): Syrien, Jahr 2020: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2050734/2020ySyria_en.pdf, Zugriff 6.7.2023
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1.3.3. Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien
Letzte Änderung 13.07.2023
Mittlerweile hat das Assad-Regime, unterstützt von Russland und Iran, unterschiedlichen Quellen zu Folge zwischen 60 % (INSS 24.4.2022; vergleiche GIS 23.5.2022) und 70 % des syrischen Territoriums wieder unter seine Kontrolle gebracht (USCIRF 11.2022; EUAA 9.2022). Im November 2022 kontrolliert die Regierung die meisten größeren Städte des Landes, darunter die Großstädte Damaskus, Aleppo, Homs und Hama (CRS 8.11.2022; vergleiche EUAA 9.2022). Ausländische Akteure und regierungstreue Milizen üben erheblichen Einfluss auf Teile des Gebiets aus, das nominell unter der Kontrolle der Regierung steht (AM 23.2.2021; vergleiche SWP 3.2020, FP 15.3.2021, EUI 13.3.2020) Anmerkung, siehe dazu auch das Überkapitel Sicherheitslage). Folgende Karte mit Stand 23.5.2023 veranschaulicht diese territoriale nominelle Dominanz der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten und das komplexe Verhältnis zum selbsternannten Autonomiegebiet im Nordosten, das hier als "halbautonome kurdische Zone" bezeichnet wird:

Quelle: DW 30.6.2023
Die zivilen Behörden haben nur begrenzten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Organisationen, die in Syrien operieren, darunter russische Streitkräfte, die libanesische Hizbollah, die iranischen Revolutionswächter (IRGC) und regierungsnahe Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defence Forces - NDF), deren Mitglieder zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen haben (USDOS 20.3.2023). Auch innerhalb einzelner Regionen unterscheidet sich die Lage von Ort zu Ort und von Betroffenen zu Betroffenen. Somit ist eine pauschale Lagebeurteilung nicht möglich (AA 29.3.2023).
Die Sicherheitslage zwischen militärischen Entwicklungen und Menschenrechtslage
Ungeachtet der obigen Ausführungen bleibt Syrien bis hin zur subregionalen Ebene territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren derzeit rund 20 Prozent der Grenzen des Landes. Obwohl die syrischen Zollbehörden offiziell für die Grenzübergänge zum Irak (Abu Kamal), zu Jordanien (Nasib) und zum Libanon (al-Arida, Jdeidat, al-Jousiyah und al-Dabousiyah) zuständig sind, liegt die tatsächliche Kontrolle bei anderen: Die libanesische Grenze ist von der Hizbollah besetzt, die auf der syrischen Seite Stützpunkte eingerichtet hat (Zabadani, al-Qusayr), von denen aus sie die Bergregion Qalamoun beherrscht. Auch die irakischen schiitischen Milizen verwalten beide Seiten ihrer Grenze von Abu Kamal bis at-Tanf (WI 10.2.2021).
Vor allem Aleppo, die größte Stadt Syriens und ihr ehemaliger wirtschaftlicher Motor, bietet einen Einblick in die derzeitige Lage: Die Truppen des Regimes haben die primäre, aber nicht die ausschließliche Kontrolle über die Stadt, weil die Milizen, auch wenn sie nominell mit dem Regime verbündet sind, sich sporadische Zusammenstöße mit Soldaten und untereinander liefern und die Einwohner schikanieren. Die Rebellen sind vertrieben, kein ausländischer Akteur hat ein Interesse an einer erneuten Intervention, um das Regime herauszufordern, und die Bevölkerung ist durch den jahrelangen Krieg zu erschöpft und verarmt und zu sehr damit beschäftigt, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, um einen weiteren Aufstand zu führen. Außerdem konnten die meisten Einwohner der Stadt, die in von der Opposition gehaltene Gebiete oder ins Ausland vertrieben wurden, nicht zurückkehren, vor allem weil sie entweder die Einberufung oder Repressalien wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Aufstand fürchten (ICG 9.5.2022). Gebiete, in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, werden nun auch verstärkt durch die Geheimdienste überwacht (Üngör 15.12.2021).
Andere Regionen wie der Westen des Landes, insbesondere die Gouvernements Tartus und Latakia (Kerneinflussgebiete des Assad-Regimes), blieben auch im Berichtszeitraum von aktiven Kampfhandlungen vergleichsweise verschont. Unverändert kam es hier nur vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Latakia und Idlib (AA 29.3.2023).
Unabhängig von militärischen Entwicklungen kommt es laut Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen, insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.11.2021) [Anm.: Siehe dazu Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Die UN-Untersuchungskommission für Syrien hält es für wahrscheinlich, dass das Regime, seine russischen Verbündeten und andere regimetreue Kräfte Angriffe begangen haben, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet sind und möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen. Dem Regime nahestehende paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufige Verstöße und Misshandlungen, darunter Massaker, wahllose Tötungen, Entführungen von Zivilisten, extreme körperliche Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, und rechtswidrige Festnahmen (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung und andere Konfliktparteien setzen weiterhin Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategie zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein (GlobalR2P 31.5.2023; vergleiche CC 3.11.2022). In Zentral-, West- und Südsyrien kommt es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen (GlobalR2P 1.12.2022) [Anm.: Siehe auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Aus den Gouvernements Dara'a, Quneitra und Suweida wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 gezielte Tötungen, Sprengstoffanschläge, Schusswechsel, Zusammenstöße und Entführungen gemeldet, an denen Kräfte der syrischen Regierung und regierungsfreundliche Milizen, ehemalige Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, IS-Kämpfer und andere nicht identifizierte Akteure beteiligt waren (EUAA 9.2022).
Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versucht der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen 'Hort der Ruhe' in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 1.7.2022; vergleiche EUAA 9.2022). Allerdings kommt es seit Anfang 2020 zu wiederholten Anschlägen in Damaskus und Damaskus-Umland bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen werden (TSO 10.3.2020; vergleiche COAR 25.10.2021). Darunter war z. B. die Bombenexplosion eines Militärbusses am 20.10.2021 in einem dicht besiedelten Gebiet von Damaskus, bei welcher 14 Personen getötet wurden (HRW 13.1.2022). Im Zeitraum April 2022 bis Juli 2022 wurden sechzehn Anschläge in und um Damaskus gemeldet, welche Personen mit Regimenähe zum Ziel hatten (AN 1.7.2022).
In Gebieten wie Daraʿa, der Stadt Deir ez-Zor und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihre Macht missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des IS, mit schweren Zerstörungen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren konfrontiert (ICG 13.2.2020).
Der Islamischer Staat (IS) verfügt über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun (AA 29.11.2021; Anmerkung, Siehe dazu auch Abschnitt "Provinz Deir ez-Zour / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet"). Der IS ist unter anderem im Osten der Provinz Homs aktiv. Es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021; vergleiche DIS 5.2022).
Von Februar bis April versuchen verarmte Syrer durch die Trüffelsuche Geld zum Überleben zu verdienen - trotz Lebensgefahr (France 24 8.3.2023) aufgrund der Präsenz von IS-Kämpfern und zahlreichen Landminen in der Wüste Zentralsyriens (TAZ 24.3.2023). Bei einem weiteren IS-Angriff Mitte Februar kamen 53 Zivilisten bei der Trüffelsuche ums Leben (Ha'aretz 17.2.2023). Mittlerweile soll der IS mindestens 150 Trüffelsucher im heurigen Jahr getötet haben (BBC 17.4.2023).
Verschiebungen bei der militärischen Präsenz von Russland und Iran
Die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine haben begonnen, sich spürbar auf Russlands militärische und diplomatische Haltung in Syrien auszuwirken (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Russland ist seit 2015 eine dominante militärische Kraft in Syrien und trägt dazu bei, das syrische Regime an der Macht zu halten (NYT 19.10.2022). Allerdings versucht Russland nun auch, seine Position in Europa zu stärken, indem es im Stillen seine Präsenz und sein Engagement in Syrien reduziert. Berichten zufolge wurden diese Soldaten teilweise durch russische Militärpolizisten ersetzt (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Die Bemühungen Russlands, seine Präsenz in Syrien zu verringern, haben auch diplomatische Manöver mit Iran und der Türkei ausgelöst. Iran hat das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in Ostsyrien auszubauen (CC 3.11.2022).
Israelische Luftschläge
Um die Präsenz Irans zu bekämpfen und die Weitergabe von Waffen an die Hizbollah zu verhindern, hat Israel häufig Luftangriffe gegen die syrische Regierung und die vom Iran unterstützten Milizen in ganz Syrien durchgeführt (CC 3.11.2022). Die israelischen Luftschläge gingen in den letzten Jahren in die Hunderte (Haaretz 18.2.2023).
Im Jahr 2021 erhöhte sich bereits das Ausmaß der israelischen Luftangriffe mit mindestens 56 Konfliktvorfällen (CC 3.11.2022). Im November 2021 wurde von zwei israelischen Angriffen auf Ziele in der Umgebung von Damaskus berichtet (NPA 3.11.2021). Am 28.12.2021 wurden Hafenanlagen in Latakia durch Luftschläge schwer beschädigt (AA 29.3.2023). Im Jahr 2022 fanden 31 israelische Luftangriffe statt, davon 19 im dritten Quartal 2022 (CC 3.11.2022). Seit Beginn 2022 kam es zudem zu israelischen Angriffen u. a. auf den Flughafen von Damaskus, wo sowohl zivile wie militärische Landebahnen getroffen wurden (JP 11.6.2022), bzw. der Flughafen vorübergehend gesperrt wurde (Ha'aretz 30.1.2023, vergleiche AA 29.3.2023). Auch gab es am 5.7.2022 nahe der Stadt Tartus einen israelischen Angriff auf Luftabwehrsysteme (JP 5.7.2022).
Im Jahr 2023 erfolgten weitere Luftangriffe, darunter ein Angriff auf den internationalen Flughafen Damaskus am 2.1.2023 (Ha'aretz 18.2.2023) und auf den Flughafen Aleppo am 7.3.2023 (Standard 7.3.2023). Seither gab es auch weitere Angriffsziele in Zusammenhang mit iranischen Milizen und der Hizbollah, darunter ein Ort im Stadtteil Kafr Sousa in Damaskus mit je nach Quelle divergierenden Zahlen zu den Todesopfern, welche von fünf bis 15 Personen reichten (Ha'aretz 18.2.2023). Laut syrischer Version wurde in Kafr Sousa eine iranische Schule (Ha'aretz 18.2.2023) getroffen, während andere Quellen von einem militärischen Ziel ausgehen - hauptsächlich mit Iran-Konnex (Ha'aretz 22.2.2022). Bei einem Raketenangriff Israels auf den Flughafen in Aleppo, zum Beispiel am 1. Mai, wurde nach Angaben syrischer Staatsmedien ein Soldat getötet. Sieben weitere Menschen, darunter zwei Zivilisten, seien verwundet worden, berichteten staatliche syrische Medien unter Berufung auf einen Militärvertreter. Der Flughafen sei nach dem Angriff außer Betrieb gewesen. Auch einige Orte in der Nähe wurden demnach getroffen (Standard 2.5.2023). In der Region Aleppo sind pro-iranische Milizen besonders präsent (ORF 2.5.2023) Anmerkung, Zu iranischen Waffenlieferungen über die Flughäfen Lattakia, Damaskus und Aleppo unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe nach den Erdbeben siehe Unterkapitel Gouvernment Latakiya). Mittlerweile soll die Beunruhigung der Bevölkerung wachsen, weil sie immer mehr bei diesen Angriffen in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach Russland sollen zunehmend auch syrische Kräfte sich weigern, mit iranischen Verbänden gemeinsam zu patrouillieren (Zenith 24.2.2023).
US-Luftschläge in Syrien
Auch die USA gingen immer wieder gezielt mit Luftschlägen gegen Iran-nahe Akteure, aber auch ranghohe Kommandeure des sogenannten IS vor. Zugleich wurden US-Stützpunkte und von US-Kräften gesicherte Anlagen wiederholt Ziel von Drohnen- und Raketenangriffen, die nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte auf Iran-nahe Milizen zurückzuführen sind (AA 29.3.2023).
Dem deutschen Auswärtigen Amt zufolge kann daher in keinem Landesteil Syriens von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (AA 29.3.2023).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 18.3.2023
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Standard - Standard, Der (7.3.2023): Flughafen in Aleppo nach israelischem Luftangriff außer Betrieb, https://www.derstandard.at/story/2000144215351/flughafen-in-aleppo-nach-israelischem-luftangriff-ausser-betrieb, Zugriff 7.3.2023
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TAZ - Die Tageszeitung (24.3.2023): Mindestens elf Tote bei US-Angriff, https://taz.de/US-Angriffe-in-Syrien/!5924183/, Zugriff 28.3.2023
TSO - The Syrian Observer (10.3.2020): The Damascus Bombings: Settling Scores or Creative Chaos?, https://syrianobserver.com/EN/features/56592/the-damascus-bombings-settling-scores-or-creative-chaos.html, Zugriff 4.7.2023
Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall
USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom (11.2022): Factsheet: Religious Freedom in Syria, https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2022-11/2022%20Factsheet%20-%20HTS-Syria.pdf, Zugriff 4.7.2023
USDOS - USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
WI - Washington Institute (10.2.2021): The Assad Regime Has Failed to Restore Full Sovereignty Over Syria, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/assad-regime-has-failed-restore-full-sovereignty-over-syria, Zugriff 4.7.2023
Zenith (24.2.2023): zenith-Newsletter für Insider: Live-Premiere mit Netflix-Star / Israel, Iran und Syrien / falsche Scheichs beim Karneval, per E-Mail
1.3.4. Rechtsschutz / Justizwesen
Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes
Letzte Änderung 13.07.2023
Die syrische Verfassung sieht Demokratie (Artikel eins,, 8, 10, 12), Achtung der Grund- und Bürgerrechte (Artikel 33 -, 49,), Rechtsstaatlichkeit (Artikel 50 -, 53,), Gewaltenteilung sowie freie, allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament (Artikel 57,) vor. Faktisch haben diese Prinzipien in Syrien jedoch nie ihre Wirkung entfaltet, da die Ba'ath-Partei durch einen von 1963 bis 2011 geltenden, extensiv angewandten Ausnahmezustand wichtige Verfassungsregeln außer Kraft setzte. Zwar wurde der Ausnahmezustand 2011 beendet, aber mit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien umgehend im Jahr 2012 durch eine genauso umfassende und einschneidende „Anti-Terror-Gesetzgebung“ ersetzt. Sie führte zu einem Machtzuwachs der Sicherheitsdienste und massiver Repression, mit der das Regime auf die anfänglichen Demonstrationen und Proteste sowie den späteren bewaffneten Aufstand großer Teile der Bevölkerung antwortete. Justiz und Gerichtswesen sind von grassierender Korruption und Politisierung durch das Regime geprägt. Laut geltender Verfassung ist der Präsident auch Vorsitzender des Obersten Justizrates (AA 29.3.2023).
Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten regeln das Familienrecht (SLJ 5.9.2016). Der Konflikt in Syrien hat das bereits zuvor schwache Justizsystem weiter ausgehöhlt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die syrischen Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte werden regelmäßig vom Regime für politische Zwecke missbraucht. Zudem ist Korruption weit verbreitet. Die Unabhängigkeit syrischer Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte ist somit unverändert nicht gewährleistet. Vor allem vor Strafgerichten ist eine effektive Verteidigung in Fällen mit politischem Hintergrund praktisch nicht möglich. Immer wieder werden falsche Geständnisse durch Folter und Drohungen durch die Anklage erpresst und seitens der Gerichte weitestgehend vorbehaltlos akzeptiert (AA 29.3.2023). In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Umsetzung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weitverbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB Damaskus 1.10.2021). Richter und Staatsanwälte müssen im Grunde genommen der Ba'ath-Partei angehören und sind in der Praxis der politischen Führung verpflichtet (FH 9.3.2023).
Tausende von Gefangenen wurden monatelang oder jahrelang ohne Kontakt zur Außenwelt ("incommunicado") festgehalten, bevor sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren freigelassen wurden, während viele andere im Gefängnis starben (USDOS 20.3.2023).
Anti-Terror-Gerichte (CTC)
2012 wurde in Syrien ein Anti-Terror-Gericht (Counter Terrorism Court - CTC) eingerichtet. Dieses soll Verhandlungen aufgrund "terroristischer Taten" gegen Zivilisten und Militärpersonal führen, wobei die Definition von Terrorismus im entsprechenden Gesetz sehr weit gefasst ist (SJAC 9.2018). Die „Terrorismus-Gerichte“ sind außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens tätig (ÖB Damaskus 1.10.2021). Anklagen gegen Personen, die vor das CTC gebracht werden, beinhalten: das Finanzieren, Fördern und Unterstützen von Terrorismus; die Teilnahme an Demonstrationen; das Schreiben von Stellungnahmen auf Facebook; die Kontaktierung von Oppositionellen im Ausland; den Waffenschmuggel an bewaffnete Oppositionelle; das Liefern von Nahrungsmitteln, Hilfsgütern und Medizin in von der Opposition kontrollierte Gebiete (NMFA 5.2020).
Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) und andere Quellen betonen, dass sowohl der Gerichtsprozess im CTC als auch die Gesetzgebung, auf deren Basis dieser Gerichtshof agiert offenkundig internationales Menschenrecht und fundamentale rechtliche Standards verletzen. Diese Verletzungen beinhalten: willkürliche Verhaftungen, unter Folter erzwungene Geständnisse als Beweismittel, geschlossene Gerichtssitzungen unter Ausschluss der Medien, das Urteilen des Gerichts über Zivilisten, Minderjährige und Militärangehörige gleichermaßen, die Ernennung der Richter durch den Präsidenten, die Nicht-Zulässigkeit von ZeugInnen der/des Angeklagten, usw. (NMFA 6.2021). Das normale juristische Prozedere gilt bei keinem der Fälle vor den CTCs. Eine Berufung gegen Urteile ist nicht möglich (BS 23.2.2022).
Mangels Definition von "Terrorismus" und mit "Terrorismus" als Generalvorwurf gegen jede Form von abweichender Meinung werden die Anti-Terrorismus-Gerichte als "politisch" kategorisiert (BS 23.3.2022), und vor allem auch viele Oppositionelle werden dabei als "Terroristen" angeführt (ÖB Damaskus 1.10.2021): Die Anti-Terror-Gerichte dienen insbesondere dem Zweck, politische Gegner und Personen, die sich für politischen Wandel und Menschenrechte einsetzen, auszuschalten. Demnach sollen seit Errichtung dieser Gerichte bis Oktober 2020 schätzungsweise mindestens 90.560 Fälle vor diesen Gerichten verhandelt worden sein. Dabei sollen mindestens 20.641 Gefängnisstrafen und mehr als 2.147 Todesurteile verhängt worden sein, davon der Großteil in Abwesenheit der Angeklagten. Vor diesen Gerichten sei Angeklagten in Verfahren, die oftmals nur wenige Minuten dauern, ein Rechtsbeistand verwehrt; sie würden nach glaubhaften Aussagen ehemaliger Häftlinge oftmals gezwungen, Geständnisse ohne Kenntnis des Textes blind zu unterschreiben. Viele der von diesen Gerichten Verurteilten erhielten laut SNHR Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren, politische Dissidenten häufig bis zu 30 Jahre. In letzteren Fällen sei es wiederholt auch zu außergerichtlichen Hinrichtungen gekommen (AA 29.3.2023).
Undeklarierte Internierungslager, in denen unmenschliche Bedingungen vorherrschen, sind weit verbreitet. Auch Kinder und Frauen werden in diesen Internierungszentren festgehalten. Im Mai 2018 veröffentlichte die syrische Regierung Listen mit Tausenden Namen von in Internierungslagern verstorbenen Bürgern. Eine Aufklärung dieser Todesfälle steht aus (ÖB Damaskus 1.10.2021). Neben Gefängnisstrafen, Zwangsarbeit und der Todesstrafe sieht das Dekret 6372 auch vor, dass das Gericht, jeglichen beweglichen und unbeweglichen Besitz beschlagnahmen kann (SJAC 9.2018). Umfasst ist auch das Eigentum der Familien der Verurteilten und in einigen Fällen sogar ihrer Freunde (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Militärgerichte und Feldgerichte
Militäroffiziere können ZivilistInnen sowohl vor Militärgerichte wie auch Feldgerichte stellen, in welchen es den Angeklagten an Prozessrechten fehlt. ZivilistInnen können zwar Berufung gegen die Entscheidungen von Militärgerichten einlegen, aber die Richter der Militärkammer des Kassationsgerichts sind letztlich dem Militär untergeordnet (FH 9.3.2023).
Militär-Feldgerichte sind geheime Gerichte, deren Richter Militärangehörige sind, die keinerlei Ausbildung oder juristischen Hintergrund haben müssen. Inhaftierte haben hierbei nicht die Möglichkeit, einen Anwalt zu beauftragen, und Anwälte können den Sitzungen nicht beiwohnen. Es gibt keine Möglichkeit zum Einspruch, und es fehlt an den Bedingungen für ein faires Gerichtsverfahren (NMFA 6.2021).
Ein befragter Experte beschrieb die Arbeit der Feldgerichte während aktiver Kämpfe in Kriegsgebieten folgendermaßen: "Feldtribunal" bedeutet nicht, dass es in einem großen Gebäude abseits der Front stattfindet, sondern es ist im Grunde ein Tisch mit drei Offizieren. Sie prüfen die Anschuldigungen, und es gibt eine sehr kurze Verhandlung, in der sie die Version der Geschichte des Angeklagten hören. Sie hören auch die Versionen der Offiziere und der Mitsoldaten, und wenn der Angeklagte beispielsweise des Hochverrats für schuldig befunden wird, kann er im Schnellverfahren hingerichtet werden, was bedeutet, dass er an die Wand gestellt und erschossen wird. Während des Konflikts ist es zu derartigen Fällen gekommen. Die Hinrichtungen werden üblicherweise von der Militärpolizei (ash-Shurta al-Askariya) oder dem Militärgeheimdienst durchgeführt (Üngör 15.12.2021).
Andere Gerichte
Die Verwaltung in den von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeitet in Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in Personenstandsangelegenheiten (AA 29.3.2023). Die religiösen Gerichte behandeln das Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Erb- und Sorgerecht (IA 7.2017). Hierbei sind Scharia-Gerichte für sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene Berufungsgerichte (SLJ 5.9.2016). Manche Personenstandsgesetze wenden die Scharia unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten an (USDOS 20.3.2023).
Die anhaltende Regierungskampagne zur Konfiszierung von Land und Häusern oder Beschlagnahmung ohne adäquate Entschädigung macht Land- und Immobilienbesitzrechte zu einem sensiblen Thema, bei dem die Justiz nicht unabhängig ist. In diesen Fällen dienen die Gerichte dazu, die Einziehung des Besitzes im Namen des Kampfes gegen "Terrorismus" zu legitimieren. BürgerInnen im Ausland riskieren, dass ihr Besitz beschlagnahmt wird, wenn sie vom Regime mit der Opposition in Verbindung gebracht werden und haben kaum Einspruchsmöglichkeiten. Die Verfügungen zur Durchführung der Konfiszierung werden nur in lokalen Zeitungen bekannt gegeben und sind so vom Ausland nicht zugänglich. Die Kläger müssten persönlich (bei Einsprüchen) in solchen Fällen zugegen sein (BS 23.3.2022).
Siehe hierzu auch Kapitel Korruption und das Unterkapitel Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge im Kapitel Rechtsschutz / Justizwesen.
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023
FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, https://freedomhouse.org/country/syria/freedom-world/2023, Zugriff 10.3.2023
IA - International Alert (7.2017): 'Most of the Men want to leave': Armed groups, displacement and the gendered webs of vulnerability in Syria, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Gender_VulnerabilitySyria_EN_2017.pdf, Zugriff 11.3.2023
NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022)): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 11.3.2023
NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/06/14/country-of-origin-information-report-syria-june-2021/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 11.3.2023
NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2020): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038451/2020_05_MinBZ_NLMFA_COI_Report_Syria_Algemeen_ambtsbericht_Syrie.pdf, Zugriff 11.3.2023
ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 23.11.2022
SJAC - The Syria Justice and Accountability Centre (9.2018): Return is a Dream - Options for Post-Conflict Property Restitution in Syria, https://syriaaccountability.org/content/files/2022/04/Property-Restitution-Report-Final-Web-1--4-.pdf, Zugriff 23.11.2022
SLJ - Syrian Law Journal (5.9.2016): An Overview of the Syrian Court System, https://www.syria.law/index.php/overview-syrian-court-system/, Zugriff 10.3.2023
Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall
USDOS - USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
1.3.5. Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 14.07.2023
Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 12.1.2023). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie "verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 29.3.2023). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023), wobei die jüngsten Betroffenen erst elf Jahre alt waren (HRW 13.1.2022). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 29.3.2023). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023).
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).
Eine realistische Möglichkeit zur Einforderung einer strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte besteht nicht. Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 29.3.2023).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten (darunter laut SNHR drei Todesfälle durch Folter im Jahr 2022), Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die Berichte dazu betreffen u. a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Folteropfer der SDF starben im Zeitraum Januar 2014 bis Juni 2022 SNHR zufolge mindestens mindestens 83 Menschen durch Folter, darunter ein Kind und zwei Frauen (SNHR 26.6.2022).
Anmerkung: Für weitere Informationen zu den Arten und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen siehe auch das Kapitel zur Sicherheitslage sowie besonders die Kapitel zur Menschenrechtslage und zur Todesstrafe sowie das Kapitel Haftbedingungen. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst.
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 17.4.2023
AI - Amnesty International (31.3.2022): Syria: New anti-torture law "whitewashes" decades of human rights violations, https://www.ecoi.net/en/document/2070690.html, Zugriff 10.3.2023
FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, https://freedomhouse.org/country/syria/freedom-world/2023, Zugriff 9.3.2023
HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 9.3.2023
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2066477.html, Zugriff 9.3.2023
OSS - Omran Center for Strategic Studies (18.1.2023b): The Syrian Regime Signals Legal and Military Shifts to the World, https://omranstudies.org/index.php/publications/papers/the-syrian-regime-signals-legal-and-military-shifts-to-the-world.html, Zugriff 13.2.2023
OSS - Omran Center for Strategic Studies (1.10.2017): Changing the Security Sector in Syria, https://omranstudies.org/publications/papers/book-changing-the-security-sector-in-syria.html, Zugriff 13.2.2023
SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 10.3.2023
SNHR - Syrian Network for Human Rights (26.6.2022): The 11th Annual Report on Torture in Syria on the International Day in Support of Victims of Torture, https://snhr.org/wp-content/uploads/2022/06/R220610E.pdf, Zugriff 9.3.2023
STJ - Syrians for Truth & Justice (12.7.2022): Syria: Anti-Torture Law Issued 35 Years After the Convention against Torture Went Effective, https://stj-sy.org/en/syria-anti-torture-law-issued-35-years-after-the-convention-against-torture-went-effective/, Zugriff 10.3.2023
Üngör, Uğur Ümit - Professor f. Geschichte, Universität Amsterdam/NIOD Institute (15.12.2021): Interview, via Videocall
USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 17.4.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 10.3.2023
1.3.6. Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 14.07.2023
Anmerkungen:
In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.
Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.
Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".
Zu den Themen Wehrdienst und Desertion darf auch auf die folgenden Anfragebeantwortungen verwiesen werden (abrufbar auf ecoi.net sowie dem Koordinationsboard (KoBo) der Staatendokumentation:
In Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung:
● SYRI_SM_Wehrdienst_2022_01_27_KE
● SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Wehrdienstgesetze_2022_09_16_KE
● SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Bestrafung+Wehrdienstverweigerung,+Desertion_2022_09_16_KE
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951] (ACCORD)
● SYRI_SM_MIL_Einberufung_über_syrische_Botschaft_2023_03_21_K
● SYRI_RF_MLD_Kommunalbediensteten Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_29_K
● SYRI_RF_MLD_Zivile Angestellte des öffentlichen Diensts Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_28_K
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Genehmigung der Ausreise eines Staatsangestellten durch den Vorgesetzten; Kontrolle bei Ausreise; Folgen illegaler Ausreise und zuständige Behörde; Folgen bei unerlaubtem Fernbleiben vom Arbeitsplatz; Ausreisegenehmigung für männliche Staatsangestellte im wehrdienstpflichtigen Alter [a-12103-1] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Reisepässe der syrischen Regierung für Männer im wehrdienstfähigen Alter; mögliches Sicherheitsrisiko für diese Personengruppe, im Ausland (insbesondere in der Türkei) einen Reisepass zu beantragen [a-12067-1] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Unterliegen Palästinenser, die den Wehrdienst absolviert haben, auch einer Pflicht zum Reservedienst? (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Tauglichkeitskriterien der syrischen Armee; Einsatz von Wehrpflichtigen mit starker Sehschwäche [a-11869] (ACCORD)
● SYRI_RF_MLD_Staatenlosigkeit_2022_12_15_KE
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Restriktionen bei der Beschaffung von Dokumenten für Syrer im Ausland im Wehrpflichtsalter, die der Wehrpflicht nicht nachgekommen sind und keine Ersatzzahlungen geleistet haben [a-11903] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Möglichkeit eines Familienbesuchs ohne Sanktionen trotz nicht abgeleisteten Militärdienst [a-11857-1] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Abgabe des Wehrdienstbuches und des Personalausweises zu Beginn des Wehrdienstes und Einbehaltung der Dokumente bis zur Ausmusterung von der Militärbehörde [a-11840] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Zöllner als Teil des Sicherheitsapparats, Desertion, militärische und polizeiliche Aufgaben von Zöllnern im Krieg [a-11786] (ACCORD)
In Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung:
● SYRI_SM_MIL_ergänzende+AFB+zu+Wehrdienstpflicht+in+Gebieten+außerhalb+Regierungskontrolle+2022_10_14_KE
● SYRI_SM_MIL_Zwangsrekrutierung,+Kontrolle+Idlib_2022_03_17_KE
● SYRI_MIL_Zwangsrekrutierung+von+Frauen+für+YBJ+bzw.+SDF_2022_09_22_KE
● SYRI_SM_Rekrutierungspraxis YPG_2023_03_02_KE
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Höchstalter für die „Wehrpflicht“ im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet; unterlagen Altersvorgaben für „Wehrpflicht“ seit ihrer Einführung Schwankungen/Änderungen? [a-11932] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Stadt Ar-Raqqa: Bedrohung von Kommunalbediensteten bzw. insbesondere von Fahrern für die staatliche/städtische Müllentsorgung oder Angestellten in der Wasserversorgung durch die kurdische Selbstverwaltung (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) [a-12103-2] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen; Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnung im Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101] (ACCORD)
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung: 14.07.2023
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.3.2023). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 29.3.2023). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023; vergleiche ICWA 24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vergleiche Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vergleiche ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vergleiche BAMF 2.2023).
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).
Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vergleiche AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 29.3.2023).
Rekrutierungspraxis
Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023; vergleiche NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vergleiche NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vergleiche ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Das Gesetz verbietet allerdings die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vergleiche FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 29.3.2023).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vergleiche Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der "Gesuchten" zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
In Syrien besteht seit 2011 de facto eine unbefristete Wehrpflicht (AA 29.3.2023), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte. Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Zuletzt erließ der syrische Präsident einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vergleiche SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vergleiche NMFA 5.2022).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara'a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Alle Eingezogenen können dagegen laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus dem Bericht nicht hervor.]
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 12.5.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2042795.html, Zugriff 19.5.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/1451486.html, Zugriff 19.5.2023
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (20.3.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen;. Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnung im Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101], https://www.ecoi.net/en/document/2091203.html, Zugriff 24.5.2023
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (21.9.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Unterliegen Palästinenser, die den Wehrdienst absolviert haben, auch einer Pflicht zum Reservedienst?, https://www.ecoi.net/de/dokument/2080420.html, Zugriff 19.5.2023
ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (1.12.2022): The State of Syria: Q2 2022 – Q3 2022, https://acleddata.com/2022/12/01/the-state-of-syria-q2-2022-q3-2022/, Zugriff 19.5.2023
Action PAL - Action Group for Palestinians of Syria (3.1.2023): Syrian Regime Deprives Military Service Evaders of Their Property in Yarmouk Camp, https://www.actionpal.org.uk/en/post/13782/news-and-reports/syrian-regime-deprives-military-service-evaders-of-their-property-in-yarmouk-camp, Zugriff 12.5.2023
Al-Majalla (van Dam, Nikolaos) (15.3.2023): Was the Syrian Revolution sectarian?, https://en.majalla.com/node/287796/politics/was-syrian-revolution-sectarian, Zugriff 17.5.2023
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Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
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STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 19.5.2023
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Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts
Letzte Änderung: 14.07.2023
Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".
Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vergleiche FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen [als vor dem Konflikt] und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vergleiche DRC/DIS 8.2017).
Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Männer mit deutlich sichtbaren medizinischen Problemen, die nicht wehrdiensttauglich sind, weiterhin freigestellt. Die medizinischen Ausschüsse, welche die Personen untersuchen, sind jedoch eher streng in ihren Urteilen. In einigen Fällen wurden Männer mit einem bestimmten Gesundheitszustand dennoch in die Armee einberufen, um militärische Tätigkeiten außerhalb des Feldes auszuüben (EUAA 9.2022). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020).
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022). Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis, sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt – manchmal sogar Jahre danach – trotzdem eingezogen zu werden (STDOK 8.2017). Auch berichtet eine Quelle, dass Grenzbeamte von Rückkehrern trotz entrichteter [offizieller] Befreiungsgebühr Bestechungsgelder verlangen könnten, oder dass Personen mit gesundheitlichen Problemen, die eigentlich vom Wehrdienst befreit sein sollten, mitunter Bestechungsgelder bezahlen müssen, um eine Befreiung zu erwirken (DIS 5.2020).
Polizeidienst als Befreiung vom Wehrdienst
Gemäß Abschnitt 12 des Wehrpflichtgesetzes war eine Person vom Wehrdienst befreit, wenn sie mindestens zehn Jahre in den Diensten der inneren Sicherheit stand, einschließlich der Polizei. Diese Frist wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 1 von 2012 auf fünf Jahre verkürzt. Hat eine Person nicht die vollen fünf Jahre gedient, muss sie dennoch ihren Militärdienst ableisten. Wer bei der Polizei akzeptiert wird, unterschreibt jedoch einen Zehnjahresvertrag. Es ist auch möglich, dass ein Rekrut der Polizei beitritt und dort seinen Militärdienst ableistet, da die internen Sicherheitsdienste gemäß Artikel 10 des Wehrpflichtgesetzes zu den syrischen Streitkräften gezählt werden. Wenn eine Person der Polizei beitritt, wird das Rekrutierungsbüro, dem sie untersteht, angewiesen, sie nicht zum Militärdienst einzuberufen (NMFA 5.2022).
Rechtlich gesehen ist es möglich, aus dem Polizeidienst auszutreten. Die Kündigung muss samt einer Erklärung über die Gründe eingereicht werden. Alle Rücktrittsgesuche werden auf der Grundlage einer Sicherheitsanalyse geprüft. In der Praxis werden die meisten Anträge aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Polizeibeamte können während der ersten zehn Jahre ihres Vertrags de facto nicht kündigen. Eine Laufbahn innerhalb des erweiterten Sicherheitsapparats ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt und es ist nicht üblich, eine solche Position vorzeitig zu verlassen. Bei einer Laufbahn in einer Sicherheitsbehörde ist es laut einer Quelle praktisch unmöglich, die Erlaubnis zur Kündigung zu erhalten. Das unerlaubte Verlassen eines Polizeidienstpostens wird als eine Form der Desertion angesehen, die mit Strafe bedroht werden kann. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, welches Gesetz in diesem Fall gilt (NMFA 5.2022). Zollbeamte gelten im Rahmen ihrer Zuständigkeit als allgemeine Sicherheitskräfte und Kriminalbeamte (ACCORD 17.1.2022).
Anmerkung, Zur Rolle des Sicherheitsapparats im Laufe des Kriegs und bei Menschenrechtsverletzungen siehe die Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage, Folter und unmenschliche Behandlung, Hinrichtungen und außergerichtliche Tötungen sowie das Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen.
Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland
Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vergleiche SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 31 (Rechtsexperte 14.9.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu. Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 29.3.2023).
Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen "Versöhnungsprozess" bereinigen (NMFA 5.2022).
Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u. a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird ("bayan harakat"). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).
Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdienstes
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird wie ein ganzes Jahr gerechnet (SANA 8.11.2017; vergleiche PAR 15.11.2017).
Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.9.2022).
Unter anderem wurde auch berichtet, dass Palästinensern, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, der Zugang zum Camp Yarmouk verweigert wurde, um sich dort ihren Besitz zurückzuholen (Action PAL 3.1.2023).
Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten
Christliche und muslimische religiöse Führer sind weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit, wobei muslimische Geistliche dafür eine Abgabe bezahlen müssen (USDOS 15.5.2023). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen, anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht, und Mitglieder von Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen (FIS 14.12.2018).
Anders als in vielen Gebieten unter Regierungskontrolle konnten sich Männer im Gouvernement Suweida der gesetzlich festgelegten allgemeinen Wehrpflicht in den syrischen nationalen Streitkräften weitgehend entziehen (Syria Untold 9.1.2020; vergleiche COAR 30.9.2020), viele Gemeindevorsteher und hochrangige drusische Religionsführer haben sich geweigert, die Einberufung in die Armee zu genehmigen (AW 5.12.2022). Stattdessen hat die drusische Gemeinschaft gut organisierte Nachbarschaftsschutzgruppen und Einheiten der Nationalen Verteidigungskräfte (NDF) unterhalten. Die syrische Regierung hält jedoch offiziell weiterhin an der verfassungsmäßig verankerten "heiligen Pflicht" des allgemeinen Wehrdienstes - auch für die in Suweida heimische drusische Gemeinschaft - fest (COAR 30.9.2020). Das Regime behandelt diese Menschen als Wehrdienstverweigerer und zwingt sie von Zeit zu Zeit, an so genannten "Sicherheitsregelungen" teilzunehmen. Die letzte dieser Maßnahmen fand am 5.10.2022 statt. Sie beinhaltete einerseits einen administrativen Aufschub für einen Zeitraum von sechs Monaten vor dem Eintritt in die im Süden Syriens stationierten Armeeeinheiten und andererseits die Einstellung der Verfolgung von Personen, die von den Sicherheitsapparaten gesucht werden. Allerdings nehmen viele Drusen diese Sicherheitsregelungen nicht ernst, da sie sich nicht als Rechtsbrecher betrachten. Im Oktober 2022 nahmen nur 2.500 junge Männer von 30.000 Wehrdienstverweigerern und Überläufern in Suweida an der Sicherheitsregelung teil. Für diejenigen, die einen Vergleich abschließen, besteht das Hauptmotiv darin, eine "Schlichtungskarte" zu erwerben, die ihnen Freizügigkeit gewährt und es ihnen ermöglicht, Transaktionen bei staatlichen Einrichtungen, wie z. B. die Beantragung von Reisedokumenten, ohne Angst vor Verhaftung und Inhaftierung durchzuführen (MED Blog 12.12.2022). Die Grauzone bezüglich der Umsetzung der Wehrpflicht hat zur Folge, dass die derzeit rund 30.000 zum Wehrdienst gesuchten Personen Suweida nicht verlassen bzw. nicht in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete reisen können (Alaraby 11.2.2022).
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Alaraby - New Arab, the (11.2.2022): Why protests in Suweida are deeply troubling for the Syrian regime, https://www.newarab.com/analysis/why-protests-suweida-are-troubling-syrian-regime, Zugriff 19.5.2023
AW - Arab Weekly, the (5.12.2022): Syrian regime cracks down on protests in Druze-majority Sweida, https://thearabweekly.com/syrian-regime-cracks-down-protests-druze-majority-sweida, Zugriff 19.5.2023
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COAR - Center for Operational Analysis and Research (30.9.2020): The Syrian Economy at War, https://coar-global.org/2020/09/30/the-economy-of-war-in-syria-armed-group-mobilization-as-livelihood-and-protection-strategy/, Zugriff 19.5.2023
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PAR – Website of the Parliament [Syria] (15.11.2017): القانون رقم /35/ لعام 2017 القاضي بتعديل قانون خدمة العلم الصادر بالمرسوم التشريعي رقم /30/ لعام /2007/ [Gesetz Nr. 35 von 2017 zur Änderung des Militärdienstgesetzes, das durch das Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 verkündet wurde], http://parliament.gov.sy/arabic/index.php?node=201&nid=18681&RID=-1&Last=10262&First=0&CurrentPage=0&Vld=-1&Mode=&Service=-1&Loc1=&Key1=&SDate=&EDate=&Year=&Country=&Num=&Dep=-1&, Zugriff 19.5.2023
Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
SANA – Syrian Arab News Agency (8.11.2017): مجلس الشعب يقر مشروع قانون يتعلق بمن تجاوز سن التكليف للخدمة ربط الإلزامية وآخر حول السجل العام للعاملين في الدولة بوزارة التنمية الإدارية [Die Volksversammlung verabschiedet einen Gesetzesentwurf zu Personen, die das Mindestalter für den Pflichtdienst überschritten haben, und einen weiteren Gesetzentwurf zum allgemeinen Register der Arbeitnehmer im Staat beim Ministerium für Verwaltungsentwicklung], http://www.sana.sy/?p=656572, Zugriff 19.5.2023
SB Berlin - Botschaft der Syrischen Arabischen Republik Berlin [Syrien] (o.D.): شؤون التجنيد [Rekrutierungsangelegenheiten] http://mofaex.gov.sy/berlin-embassy/ar/pages738/%D8%B4%D8%A4%D9%88%D9%86-%D8%A7%D9%84%D8%AA%D8%AC%D9%86%D9%8A%D8%AF, Zugriff 19.5.2023
STDOK – Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien – mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 19.5.2023
Syria Untold (9.1.2020): Men evading military service in southern Syria’s Suwayda feel ‘trapped’, https://syriauntold.com/2020/01/09/men-evading-military-service-in-southern-syrias-suwayda-feel-trapped/, Zugriff 19.5.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (15.5.2023): 2022 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2091896.html, Zugriff 19.5.2023
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung 17.07.2023
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vergleiche AA 29.3.2023). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Artikel 102, bei Überlaufen zum Feind und gemäß Artikel 105, bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.3.2023).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vergleiche DIS 5.2020).
Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben (AA 29.3.2023). Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).
Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel "Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts".
Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft".
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vergleiche Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).
Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
"Versöhnungsabkommen" und Rückkehr von Wehrpflichtigen
Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).
In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch (HRW) berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines "Versöhnungsabkommens" zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter "Versöhnungsabkommen" zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 29.3.2023).
Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber "wahnsinnig", als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021).
Zu den "Versöhnungsabkommen" siehe auch Abschnitt "Versöhnungsabkommen" im Kapitel "Sicherheitslage", zu Rückkehrern s. auch Kapitel "Rückkehr".
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 12.5.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2042795.html, Zugriff 19.5.2023
Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2022): Syria - Treatment Upon Return, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072754/notat-syria-treatment-upon-return-may-2022.pdf, Zugriff 23.5.2023
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria – Military Service, Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may_2020.pdf, Zugriff 23.5.2023
FIS – Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact-finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 23.5.2023
HRW – Human Rights Watch (20.10.2021): "Our Lives Are Like Death" Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, https://www.hrw.org/report/2021/10/20/our-lives-are-death/syrian-refugee-returns-lebanon-and-jordan, Zugriff 23.5.2023
ICG - International Crisis Group (9.5.2022): Syria: Ruling over Aleppo’s Ruins, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072598/234-syria-aleppos-ruins_0.pdf, Zugriff 23.5.2023
ICWA - Institute of Current World Affairs (24.5.2022): Syria’s young draft-dodgers migrate to Iraq, https://www.icwa.org/syria-draft-dodgers-migrate/, Zugriff 23.5.2023
Khaddour, Kheder - Gast-Wissenschaftler am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center (24.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
Landinfo [Norwegen] (3.1.2018): Syria: Reactions against deserters and draft evaders, https://www.ecoi.net/en/file/local/1441219/1226_1534943446_landinfo-report-syria-reactions-against-deserters-and-draft-evaders.pdf, Zugriff 23.5.2023
Rechtsexperte der ÖB Damaskus [Österreich] (14.9.2022): Antwortschreiben per e-Mail [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
Üngör, Uğur Ümit - Professor für Geschichte, Universität Amsterdam und NIOD Institut (15.12.2021): Interview, per Videotelefonie [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
UNHRC - United Nations Human Rights Council (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic*, **, https://www.ecoi.net/en/file/local/2088857/G2301021.pdf, Zugriff 23.5.2023
1.3.7. Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 17.07.2023
Die Menschenrechtslage in Syrien wird weiterhin - auch bei Wahrnehmung regionaler Unterschiede - vom deutschen Auswärtigen Amt als 'katastrophal' eingestuft (AA 29.3.2023). Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2023). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht verschiedener Akteure und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNCOI 7.2.2023).
Regierungsgebiete
Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic geht davon, dass die syrische Regierung weiterhin Morde, Folter und Misshandlungen begeht, die sich gegen Personen in Haft richten, darunter auch Praktiken, welche zum Tod in der Haft führen. Hinzukommen willkürliche Haft und Verschwindenlassen. Die UN-Kommission sieht hierin ein Muster von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Im Berichtszeitraum wurden auch Fälle umfassender Verletzungen von Prozessrechten und des Rechts auf ein faires Verfahren im syrischen Justizstrafsystem dokumentiert (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt nennt in Bezug auf die beiden vorhergehenden Berichte [Anm.: vor dem Bericht vom 7.2.2023] der UN-Kommission gezielte als auch wahllose Tötungen, nicht zuletzt durch völkerrechtswidrige Angriffe des Regimes und seiner Verbündeten auf die syrische Zivilbevölkerung in Form von Artilleriebeschuss und Luftschlägen. Hinzukommen: Folter, willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen und Verschwindenlassen, kollektive Bestrafungen vermeintlicher Mitwissender und Familienangehöriger, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten. Nach Einschätzung der UN-Kommission liegt die Verantwortung für die - in absoluten Zahlen betrachtet - große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften des syrischen Regimes, welche Militär, Sicherheits- und Geheimdienste und in den National Defense Forces (NDF) organisierte Milizen umfassen (AA 29.3.2023, vergleiche UNCOI 8.2.2022, UNCOI 17.8.2022). Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führen etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töten (USDOS 20.3.2023).
In Deutschland wurden in den Jahren 2021 und 2022 zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Syriens wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bzw. Beihilfe dazu, verurteilt (HRW 12.1.2023).
Personen, welche glaubwürdig in Gewaltverbrechen involviert sind, Organisationen innerhalb oder verbunden mit der syrischen Regierung sowie auch der sogenannte Islamische Staat unterliegen weiterhin Sanktionen durch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Großbritannien (HRW 12.1.2023). Die syrische Regierung nutzt die Erdbebenkatastrophe unterdessen, um für ein Ende westlicher Sanktionen zu werben (BAMF 13.2.2023). Die umfassenden Sanktionen gegen Syriens Machthaber, Unternehmer und Institutionen haben bislang nicht dazu geführt, dass Verhaltensänderungen eingetreten, politische Zugeständnisse erfolgt oder Menschenrechtsverletzungen abgestellt worden wären (SWP 4.2020). [Zu den Aus- und Nebenwirkungen der breiter gefassten Sanktionen auf die syrische Wirtschaft siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit (BS 29.4.2020).
Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 wurden international nicht anerkannt und inmitten einer repressiven Ausgangslage und von Anschuldigungen von Wahlbetrug weder als fair noch frei eingestuft. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien - auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 20.3.2023). - Siehe auch Kapitel Politische Lage und zur Muslimbruderschaft siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen).
Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Personen mit Verbindungen zu lokalen Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 20.3.2023).
Weiterhin besteht laut deutschem Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes in umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert (AA 29.3.2023). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie, auch RückkehrerInnen und Personen in zurückeroberten Gebieten, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben. Es kommt auch weiterhin zu Beschlagnahmungen von Eigentum und Einschränkungen des Zugangs für Rückkehrende in ihre Herkunftsgebiete (HRW 12.1.2023). Ganze Städte und Dörfer wurden durch erzwungenes Verlassen ('forced deportations') entvölkert (BS 29.4.2020). Berichten zufolge zögern die Menschen in kürzlich vom Regime zurückeroberten Gebieten aus Angst vor Repressalien, über die dortigen Vorgänge zu reden (USDOS 12.4.2022).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023). Außerdem sind Fälle von verhafteten Personen wegen ihres Kontakts zu Verwandten oder Freunden in von der Opposition kontrollierten Gebieten bekannt, bzw. wegen des Reisens zwischen den Gebieten der Regierung und anderer Organisationen. Es gibt auch Beispiele für Verhaftungen zwecks Rekrutierung (SNHR 17.1.2023).
Nach Angaben des Syrian Network for Human Rights (SNHR) sind seit März 2011 fast 15.000 Menschen an den Folgen von Folter gestorben, die meisten von ihnen durch syrische Regierungstruppen (HRW 13.1.2022). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023).
Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021). Für das Jahr 2022 dokumentierte SNHR 2.221 Fälle willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen, darunter 148 Kinder und 457 Frauen. Dabei führte das Amnestiedekret vom 30.4.2022 nicht zu einem Rückgang willkürlicher Verhaftungen. 228 der im Jahr 2022 willkürlich Verhafteten waren zurückgekehrte Geflüchtete oder Binnenvertriebene. Auch wenn besonders der Militärgeheimdienst Verhaftungen vornimmt, so gehen willkürliche Verhaftungen von einer Vielzahl von Akteuren aus, insbesondere der Polizei, einer Vielzahl von konkurrierenden Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023) Laut UNO ist in derartigen Fällen ein zentralisiertes Muster von Verlegungen in den Raum Damaskus erkennbar. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen hiernach verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Oft werden die Familien unter Androhung von Gewalt und Repressionen zu Stillschweigen verpflichtet. Die VN und IKRK haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (AA 29.11.2021).
Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Dieses macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021). Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu verwendet, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen. (AA 29.3.20223).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 20.3.2023).
Für das Jahr 2021 (USDOS 12.4.2022) und 2022 lagen keine bestätigten Berichte über den Einsatz der verbotenen Chemiewaffen vor, wobei Syrien weiterhin über reichlich Chemiewaffen sowie über das Knowhow zu deren Produktion und Einsatz verfügt (USDOS 20.3.2023). Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z. B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017, kurz vor dem tödlicheren Einsatz von Sarin in Khan Shaykhun (USDOS 12.4.2022).
Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus und der Cholera sowie über Menschenrechtsverletzungen seitens des Regimes aus. Es verbietet die Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Spannungen und Probleme, mit denen religiösen und ethnischen Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 20.3.2023).
Im April 2022 aktualisierte das syrische Regime sein Cyberkriminalität-Gesetz, Gesetz Nr. 20 (2022), welches nun alle online getätigten Äußerungen unter schwere Strafen stellt, die verschiedene vage Strafbestände wie z. B. die Untergrabung 'des Ansehens des Staates' oder 'der nationalen Einheit' betreffen (FH 9.3.2023). Es bleibt zwar vage, welche Tatbestände genau unter das Gesetz fallen, doch die möglichen Strafen wurden drastisch erhöht: Nach Angaben der staatlich-syrischen Nachrichtenagentur Sana können Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren oder Geldstrafen von bis zu 15 Millionen syrischen Pfund verhängt werden. Menschenrechtsgruppen vermuten, dass der einzige Zweck dieses Gesetzes darin besteht, abweichende Meinungen zu verbieten (Qantara 28.6.2022). Die syrischen Behörden überwachen Online-Aussagen z. B. in Blogs und sozialen Medien sowohl von SyrerInnen im Land als auch außerhalb Syriens. Das Ausmaß der Überwachung der 'normalen BürgerInnen' soll im Jahr 2021 im Vergleich zu Beginn der Krise abgenommen haben, weil die Behörden sich aufgrund ihres (wiedererlangten) Einflusses weniger vor deren Aussagen fürchten. Kritik im Internet über die Wirtschaftskrise verbreitete sich so (NMFA 5.2022) - besonders auch in eigentlich loyalen Kreisen (FH 9.3.2023). Aber dies kann später trotzdem für die Betreffenden zum Problem werden. Gefangene werden teilweise nach ihren Konten in den Sozialen Medien befragt oder sogar zur Erlangung der Zugangsdaten gefoltert (NMFA 5.2022). Die Bestrafung abweichender Aussagen ist auch bei variierendem Einsatz des Überwachungsinstrumentariums hart (FH 9.3.2023).
Die Regierung weitete im Jahr 2022 die Manipulation von Internet-Diensten und -Inhalten wie auch Textnachrichten aus, einschließlich Falschnachrichten zur Unterminierung der Glaubwürdigkeit von Menschenrechtsgruppen und anderen humanitären Organisationen. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z. B. von E-Mails und Sozialen Medien von Gefangenen, AktivistInnen und anderen ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites, Hackangriffe und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein. Verhaftungen schüren die Sorge, dass die Behörden InternetbenutzerInnen jederzeit für Online-Aktivitäten, die als Bedrohung der Regimekontrolle wahrgenommen werden, verhaften könnten (USDOS 20.3.2023). Meta, der Firma zu der Facebook und WhatsApp gehören, z. B. entdeckte und entfernte im Oktober 2021 drei Hackergruppen der Syrian Electronic Army. Diese hatten Zugangsdaten zu Facebook-Konten und weitere sensible Informationen (z. B. Fotos, Kontaktlisten, Informationen über die verwendeten Geräte) gesucht (NMFA 5.2022)
Am 28.3.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem den Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die angebliche falsche oder übertriebene Nachrichten im Ausland verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist nun jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder anderweitig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das die Verbreitung von Nachrichten bestraft, die als Imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.4.2022). Das Gesetz verbietet überdies die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Die syrische Regierung hat auch die Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.5.2020).
Die Verfassung garantiert nominell die Pressefreiheit, aber in der Praxis werden die Medien stark eingeschränkt, und JournalistInnen, die kritisch über den Staat berichten, sind Ziele der Zensur sowie von Verhaftungen, Folter und Tod in Gefangenschaft. Alle Medien benötigen eine Erlaubnis des Innenministeriums. Private Medien im Regierungsgebiet gehören generell Personen mit Verbindungen zum Regime (FH 9.3.2023).
JournalistInnen sind in Syrien allgemein gefährdet, besonders durch Regimekräfte und extremistische Gruppen. Laut Committee to Protect Journalists (CPJ) wurden zwischen 2011 und 2022 142 MedienmitarbeiterInnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Weitere fünf wurden verhaftet und acht Personen gelten mit Stand Dezember 2022 als vermisst (FH 9.3.2023).
Die akademische Freiheit ist stark eingeschränkt. UniversitätsprofessorInnen im Regierungsgebiet werden wegen abweichender Meinungen entlassen oder inhaftiert und einige wurden aufgrund ihrer Unterstützung von Oppositionellen getötet (FH 9.3.2023).
Staatliche und nicht-staatliche Akteure begehen Akte sexueller Gewalt gegen Männer, Buben, Transgender-Frauen und non-binäre Menschen. Gemäß Artikel 520 des syrischen Strafrechts ist 'unnatürlicher Geschlechtsverkehr' mit bis zu drei Jahren Gefängnis strafbar (HRW 12.1.2023, FH 9.3.2023). I
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
Die Zahl der Übergriffe und Repressionen durch nichtstaatliche Akteure einschließlich der de-facto-Autoritäten im Nordwesten und Nordosten Syriens bleibt unverändert hoch. Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend. In den Gebieten, die durch regimefeindliche bewaffnete Gruppen kontrolliert werden, kommt es auch durch einige dieser Gruppierungen regelmäßig zu Übergriffen und Repressionen (AA 29.3.2023). In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UNCOI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlastet. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u. a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Im Fall von Free Syrian Army, HTS, bzw. Jabhat an-Nusra, sowie besonders vom IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNCOI 11.3.2021) [Anm.: zum Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch den IS sowie der anderen Organisationen siehe Bericht].
Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten und Rekrutierungen von Kindersoldaten (USDOS 20.3.2023). Personen, welche in Verdacht geraten, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu haben, sind in Gebieten extremistischer Gruppen der Gefahr von Exekutionen ausgesetzt (FH 9.3.2023).
Trotz der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Jahr 2019 (USDOS 12.4.2022) verübt die Gruppe weiterhin Morde, Angriffe und Entführungen (USDOS 12.4.2022, vergleiche USDOS 20.3.2023).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren das Rückzugsgebiet für viele moderate, aber auch radikale, teils terroristische Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021) [Anm.: siehe auch Kapitel Sicherheitslage]. HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets der Deeskalisierungszone Idlib dort auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen „Errettungs-Regierung“ aufgebaut. Auch unterhält HTS ein eigenes Gerichtswesen, welches die Sharia anwendet, sowie eigene Haftanstalten. HTS konsolidierte seine Machtposition im Nordwesten des Landes im Berichtszeitraum weiter und ging dabei teils brutal gegen Widerstand aus der Zivilgesellschaft vor, insbesondere eine weitere Einschränkung des Raums für zivilgesellschaftliches Engagement und die Verhaftung von Aktivistinnen und Aktivisten sowie anderen HTS-kritischen Akteuren, wiederholt auch ohne Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen und Rechtsbeiständen (AA 29.3.2023). In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Berichtet wurden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten, wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der UNCOI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab as-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden. Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der UNCOI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch HTS-Mitglieder, auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021). Die HTS greift in vermehrtem Ausmaß in alle Aspekte des zivilen Lebens ein, z. B. durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen, Vorschreiben von Kleidungsvorschriften und Frisuren sowie durch das wahllose Einheben von Steuern und Geldbußen. Er beschlagnahmt auch viele Häuser und Immobilien von Christen (HRW 13.1.2022). Zusätzlich verhaftete HTS eine Anzahl von IDPs unter dem Vorwand, dass diese sich weigerten, in Lager für IDPs zu ziehen, und HTS verhaftete auch BürgerInnen für die Kontaktierung von Familienangehörigen, die im Regierungsgebiet lebten (SNHR 3.1.2023).
In den von der Türkei besetzten Gebieten verletzen die Türkei und lokale syrische Gruppierungen ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung und schränken ihre Freiheiten ein. Im Zuge der türkischen Militäroperation Friedensquelle im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der SNA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB 1.10.2021). In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut SNHR willkürlich 162 Personen. Mit Dezember 2019 hatten die türkischen Behörden und die mit ihr verbündete SNA mindestens 63 syrische Staatsbürger verhaftet und illegalerweise in die Türkei verbracht, um sie wegen Anklagen mit potenziell lebenslangen Haftstrafen vor Gericht zu stellen. Fünf der 63 Syrer wurde bereits im Oktober 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt (HRW 13.1.2022). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut UN-COI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021). Auch in den von der Türkei bzw. der Türkei-nahen SNA kontrollierten Gebieten im Norden Syriens kam es vielfach zu Übergriffen und Verhaftungen, die laut UNCOI insbesondere die kurdische Zivilbevölkerung betreffen. In vielen Fällen befänden sich Kurdinnen und Kurden hier laut der UN-Kommission in einer doppelten Opferrolle: Nach einer früheren Zwangsrekrutierung durch die kurdischen SDF in vorherigen Phasen des Konflikts mit der Türkei würden sie nun für eben diesen unfreiwilligen Einsatz von der SNA verfolgt und inhaftiert. Auch darüber hinaus sind in SNA-Gebieten Fälle von willkürlichen Verhaftungen, Isolationshaft ohne Kontakt zur Außenwelt sowie Fälle von Folter in Haft von der UN-Kommission verzeichnet. Der grundsätzlich bestehende Rechtsweg, um sich gegen ungerechtfertigte Inhaftierungen rechtlich zur Wehr zu setzen, ist laut UN-Einschätzung aufgrund langer Verfahrensdauern nicht effektiv (AA 29.3.2023).
Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter Angriffe auf Wohngebiete, willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Versammlungs- und Redefreiheit wie auch die willkürliche Zerstörung von Häusern. Die SDF untersuchen die meisten gegen sie vorgebrachten Klagen, und einige SDF-Mitglieder werden wegen Misshandlungen angeklagt, wozu aber keine Statistiken vorliegen (USDOS 20.3.2023). Die SDF führten im Jahr 2021 'Massenverhaftungen von Zivilisten, darunter Aktivisten, Journalisten und Lehrer', durch. In der ersten Jahreshälfte 2021 belief sich die Zahl der Verhafteten laut dem SNHR auf 369 Personen (HRW 13.1.2022). Das US-Außenministerium berichtete hingegen für das Jahr 2021 von 'gelegentlichen' Einschränkungen von Menschenrechtsorganisationen und Schikanen gegen Aktivisten von Seiten der SDF und anderen Oppositionsgruppen, darunter 'in manchen Fällen' willkürliche Haft (USDOS 12.4.2022). Bezüglich des Jahres 2022 berichtet Human Rights Watch weiterhin von Massenverhaftungen von Zivilisten, darunter Aktivisten, Journalisten und Lehrer. Ende Juli 2022 verhafteten die SDF demnach inmitten erhöhter Spannungen mit der Türkei mindestens 16 AktivistInnen und MedienmitarbeiterInnen unter dem Vorwurf der 'Spionage' (HRW 12.1.2023). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023).
Nach der territorialen Niederlage des IS im Nordosten Syriens wies Human Rights Watch (HRW) auf die Notwendigkeit hin, dass Entschädigungen für zivile Opfer geleistet, dass Unterstützung bei der Ermittlung des Schicksals der vom IS Entführten angeboten wird, und dass man sich angemessen mit der Notlage von mehr als 60.000 syrischen und ausländischen Männern, Frauen und Kindern, die auf unbestimmte Zeit als IS-Verdächtige und deren Familienmitglieder unter schlechten Bedingungen in geschlossenen Lagern und Gefängnissen festgehalten werden, befasst (HRW 13.1.2022).
In Gebieten, in denen weder die Regierung noch extremistische Gruppen dominieren, ist der Spielraum der Redefreiheit etwas größer, auch wenn die Partei der Demokratischen Union (PYD) und einige andere Oppositionsfraktionen Berichten zufolge auch die Redefreiheit einschränken. Die Medienfreiheit variiert in Gebieten unter der Herrschaft anderer Gruppen, aber lokale Medien stehen normalweise unter großem Druck, die dominante Gruppe ihres Gebiets zu unterstützen. So suspendierte die PYD-geführte Verwaltung im Februar 2022 die Lizenz der im Nordirak ansässigen Rudaw-Mediengruppe unter dem Vorwurf der Falschinformation und Aufhetzung. Mitte März verlangte dieselbe Verwaltung von JournalistInnen den Beitritt zur Union of Free Media, welche sich unter ihrem Einfluss befindet. HTS schikaniert regelmäßig wahrgenommene KritierInnen, einschließlich JournalistInnen (FH 9.3.2023).
Quellen:
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USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071124.html, Zugriff 25.4.2023
1.3.8. Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Letzte Änderung: 12.07.2023
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).
Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 % der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).
Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 15.5.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).
Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 15.5.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 29.3.2023). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).
Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (FP 1.2.2023).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte 'Versöhnungskarte' vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019). Es gibt keine Rechtssicherheit, und die Gefahr, Opfer staatlicher Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).
Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.1.2019). Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).
Ausländischen DiplomatInnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) - wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (USDOS 20.3.2023).
Anmerkung, Zum dahinschwindenden öffentlichen Verkehrssystem und seinen gestiegenen Fahrpreisen siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Betreten und Verlassen des Regimegebiets
Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).
Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).
Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung Anmerkung, mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung Anmerkung, mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022).
Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen - landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (NMFA 5.2022).
Anmerkung, Bezüglich der Frage, welche Personen unter welchen Bedingungen dauerhaft in ihre Heimatorte im Selbstverwaltungsgebiet zurückkehren können, wird auf die folgende AFB verwiesen: ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.5.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak [a-11859-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2073007.html, Zugriff 15.5.2023
Die Bewegungsfreiheit von Frauen und Frauen sowie ihre Einschätzung von Gefahren im öffentlichen Raum
[…]
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.5.2023): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung Stand - 15.5.2023 (Unverändert gültig seit: 31.03.2022), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278, Zugriff 15.5.2023
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (9.2019): Syria - Access to Damascus Province for Individuals from Former Rebel-held Areas, https://www.ecoi.net/en/file/local/2017468/COI_report_Syria_Access+to+Damascus+Province_sept_2019.pdf, Zugriff 15.5.2023
DIS/DRC - Danish Immigration Service [Dänemark] / Danish Refugee Council (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/Syrien_FFM_rapport_2019_Final_31012019.pdf?la=da&hash=A4D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC, Zugriff 15.5.2023
FP - Foreign Policy (Lister, Charles) (1.2.2023): Something Has to Give in Postwar Syria, https://foreignpolicy.com/2023/02/01/something-has-to-give-in-postwar-syria/, Zugriff 15.5.2023
HRW - HRW – Human Rights Watch (20.10.2021): 'Our Lives Are Like Death'; Syrian Refugee Returns from Lebanon and Jordan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2062564/syria1021_web.pdf, Zugriff 15.5.2023
NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria May 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 29.4.2023
NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (6.2021): Country of origin information report Syria June 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069799/EN-AAB-Syrie-juni-2021.pdf, Zugriff 29.4.2023
SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 15.5.2023
UNFPA – UN Population Fund, GPC – Global Protection Cluster (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (28.3.2023): Whole of Syria; Gender-Based Violence Area of Responsibility; Voices from Syria 2023; Assessment Findings of the Humanitarian Needs Overview, https://reliefweb.int/attachments/338b5a3e-2c43-405b-8298-86612ec88e09/Voices%20from%20Syria%202023_FINAL_online%20version_En.pdf, Zugriff 29.4.2023
USDOS - USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Letzte Änderung 13.07.2023
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern. Die Kosten für einen Reisepass von 800 bis 2.000 USD macht diesen für viele unerschwinglich. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).
Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023) Anmerkung, Bzgl. der Schließung von zivilen Flughäfen wegen israelischer Luftangriffe siehe auch Kapitel Sicherheitslage). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise für mehrere Wochen eingestellt werden (AA 29.3.2023).
Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022) Anmerkung, bzgl. Personenverkehr zwischen Türkei und Syrien seit 6.2.2023 siehe auch Kapitel Rückkehr).
Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen per Antrag an das Innenministerium die Ausreise aus Syrien zu verbieten, auch wenn Frauen, die älter als 18 Jahre sind, eigentlich das Recht haben, ohne die Zustimmung männlicher Angehöriger zu verreisen (USDOS 20.3.2023).
Einige in Syrien aufhältige PalästinenserInnen brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).
Anmerkung, Für weitere Informationen zu Einreisemöglichkeiten in Nachbarländer siehe Abschnitt „Bewegungsfreiheit“ und die jeweiligen Länderinformationsblätter zum Libanon und Jordanien, den einzigen Nachstaaten, welche ebenfalls Mandatsgebiet von UNRWA sind. Dort finden sich auch Informationen, aus denen hervorgeht, dass eine legale Umsiedlung von staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien nicht vorgesehen ist, und auch eine etwaige UNRWA-Registrierung nicht zu einer Legalisierung des Aufenthalts oder etwa zu einem gesicherten, dauerhaften Aufenthaltsrecht führt, wie das seit Oktober 2012 geltende Einreiseverbot Jordaniens für Palästinenser illustriert.
Rückkehr
Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).
Anmerkung, Zur Sammlung nachrichtendienstlicher Informationen im Zuge von Dokumentenanträgen an syrischen Botschaften inklusive Bedingung der Offenlegung des Aufenthaltstitels siehe AFBs zu den jeweiligen Dokumenten. Für grundsätzliche Informationen siehe: BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Syrien: SYRI_SM_Sammlung von Personendaten für nachrichtendienstliche Zwecke 2019_11_04_KE
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 % (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022) Anmerkung, bzgl. Abfrage derartiger Daten bei Verhören siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).
Anmerkung, für weitere Informationen siehe Kapitel "Rückkehr".
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.5.2023): Syrien: Reisewarnung: Reisewarnung Stand - 15.5.2023 (Unverändert gültig seit: 31.03.2022), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278, Zugriff 16.5.2023
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 11.3.2023
ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand Ende Dezember 2022) [Der Bericht ist in der Staatendokumentation archiviert.]
STDOK – Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 16.5.2023
UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://undocs.org/en/A/HRC/52/69, Zugriff 18.3.2023
USDOS - USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
Binnenvertriebene (IDPs) und Flüchtlinge
Letzte Änderung 13.07.2023
Binnenvertriebene (IDPs)
Ende 2022 waren 12,4 Millionen SyrerInnen weiterhin entweder Flüchtlinge außerhalb des Landes oder Binnenvertriebene (IDPs - internally displaced persons) in Syrien. Es kam zu keinen bedeutenden Rückkehrbewegungen, und so betrug die Zahl der syrischen Flüchtlinge 5,5 Millionen Menschen. Die Anzahl der IDPs stieg auf 6,9 Millionen Menschen - ein Drittel der Bevölkerung und ein Anstieg um 100.000 Personen seit Ende 2021 (WFP 8.4.2023).UNOCHA weist darauf hin, dass es sich um die höchste Zahl an Binnenvertriebenen weltweit handelt. Bereits vor dem Erdbeben (am 6.2.2023) waren fast 80 Prozent der IDP-Haushalte mindestens fünf Jahre vertrieben, und viele durchlebten mehrere Vertreibungen (UNOCHA 14.2.2023) [Anm.: die genauen Zahlen an Flüchtlingen und IDPs variieren je nach Quelle und Berichtszeitpunkt]. Umfassende und landesweite Informationen über Binnenvertreibung fehlen (UNOCHA 14.2.2023).
Während einige SyrerInnen begannen, in ihre Heime in Gebiete zurückzukehren, wo die Kampfhandlungen nachgelassen haben, kam es im Laufe von 2022 auch zu neuer Gewalt und neuen Fluchtbewegungen (FH 9.3.2023). Bei den intern Vertriebenen (IDPs) blieb mit 356.000 RückkehrerInnen die Zahl gegenüber 2019 (1,2 Mio.) weit zurück, wobei der Großteil der Bewegungen innerhalb der Gouvernements erfolgte. Bis August 2020 kehrten rund 300.000 Menschen zurück, der Großteil davon innerhalb/nach Idlib und Aleppo. Die Zahlen der neu Vertriebenen sind erneut weit höher; es gab 2020 wie im Jahr zuvor 1,8 Mio. IDP-Bewegungen insgesamt. Im Zuge der Eskalation des Konfliktes in Idlib wurden von Dezember 2019 bis März 2020 knapp 1 Mio. Menschen vertrieben (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonder vulnerabel bezüglich sexueller Ausbeutung oder durch Arbeit sowie bezüglich Menschenhandel. Dies trifft auch auf die relativ stabilen Gebiete unter Regierungskontrolle zu, denn dort ist der Zugang zu Arbeit und Investitionen oft von persönlichen oder politischen Beziehungen bzw. Beziehungen auf Basis der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, abhängig (FH 9.3.2023).
Im Zeitraum 6. bis 8.2.2023 [Anm.: zum Erdbeben vom 6.2.2023 siehe auch Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft] wurden mehr als 30.000 Fluchtbewegungen in Nordwest-Syrien verzeichnet. Es ist wahrscheinlich, dass viele IDPs nochmals vertrieben werden. Berichte dazu gibt es bereits aus Deir-ez-Zor, Aleppo, Hama, Lattakia und Tartus. Das Erdbeben hat nicht nur weitere Fluchtbewegungen aufgrund beschädigter/unsicherer Unterkünfte verursacht, sondern auch die Aussichten für eine sichere Rückkehr von denjenigen bereits binnenvertriebenen Personen verringert, die ursprünglich aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten stammen (UNOCHA 14.2.2023).
Sicheres Obdach ist eines der Hauptbedürfnisse nach dem Erdbeben (UNOCHA 14.2.2023). Im Dezember 2022 [Anm.: also noch vor dem Erdbeben vom 6.2.2023] lebten in Syrien bereits 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien – in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des Humanitarian Needs Assessment Programme der UNO von 2020 wohnten 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023). Im August 2022 lebten 30 Prozent der IDPs außerhalb von Lagern, und 43 Prozent der zurückgekehrten, ehemals binnenvertriebenen Haushalte in Nordwest-Syrien lebten in risikoanfälligen Unterkünften, z. B. bezüglich Wetterereignissen und Naturkatastrophen (UNOCHA 14.2.2023).
Besonders problematisch blieb auch laut CoI (United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) die Lage im Vertriebenenlager in Rukban innerhalb der von den USA garantierten sogenannten 'deconflicting zone' an der Grenze zu Jordanien. Schätzungen zufolge leben in diesem Lager noch rund 10.000 Menschen (rund 80 Prozent davon Frauen und Kinder) unter prekären Bedingungen - ohne zuverlässige Versorgung und hinreichenden Zugang zu medizinischen Einrichtungen. Von der UNO unterstützte Versuche einer Evakuierung des Lagers in dafür vorgesehene Aufnahmelager im durch das Regime kontrollierten Homs waren 2019 gescheitert, vermutlich in erster Linie aus Sicherheitserwägungen. Im Jahr 2021 haben örtlichen Angaben zufolge rund 5.000 Personen das Camp verlassen (AA 29.3.2023).
Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut dieser Berichte haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 29.3.2023). Die Regierung verwendete weiterhin Gesetz Nr. 10 bezüglich Zonen für einen Wiederaufbau, um regierungstreue Personen zu belohnen, und Flüchtlinge und IDPs daran zu hindern, ihr Eigentum einzufordern oder in ihre Heimat zurückzukehren (USDOS 2.6.2022). Als Gründe für die Rückkehr/Nichtrückkehr wird von den Betroffenen neben der Sicherheitslage zunehmend die schlechte wirtschaftliche Situation ins Treffen geführt. Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom sogenannten Islamischen Staat gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir-Ez-Zor). Laut Mitteilung von UNMAS (United Nations Mine Action Service) vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen - also rund 50 Prozent der Bevölkerung - dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs. Ein Drittel aller Opfer von Explosionen ist gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden, und mehr als 20 Prozent haben Gehör- oder Sehvermögen verloren. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: zu Gefahren von Explosivstoffen besonders für Kinder siehe auch das Unterkapitel Kinder im Kapitel Relevante Bevölkerungsgruppen].
Anmerkung, Für weitere Informationen zur Lage von Binnenvertriebenen siehe Kapitel 'Grundversorgung und Wirtschaft' sowie zur Rückkehr, bzw. Rückkehrhindernissen, von Binnenvertriebenen siehe Kapitel Rückkehr.
Flüchtlinge unter UNHCR-Mandat
Laut UNHCR-Schätzung halten sich zusätzlich zu den palästinensischen Flüchtlingen ungefähr 22.800 Flüchtlinge oder Asylsuchende in Syrien auf, die mit Stande Ende September 2022 bei UNHCR registriert waren. Flüchtlinge und Asylsuchende waren Risiken, mehrfacher Vertreibung, verstärkten Sicherheitsmaßnahmen an Checkpoints und Schwierigkeiten beim Erhalt der Aufenthaltsgenehmigung ausgesetzt, was ihre Bewegungsfreiheit beeinträchtigte (USDOS 20.3.2023).
Das syrische Gesetz bietet die Möglichkeit, den Flüchtlingsstatus zu gewähren. UNHCR bietet Hilfsleistungen für Flüchtlinge, wobei Gewalt den Zugang zu vulnerablen Personen verhindern kann. Das Gesetz garantiert Flüchtlingen nicht explizit das Recht auf Arbeit, außer Palästinensern mit einem bestimmten rechtlichen Status. Die Regierung gewährt Nicht-Palästinensern selten Arbeitsgenehmigungen, und viele Geflüchtete finden im informellen Sektor Arbeit, z. B. als Wachpersonal, Bauarbeiter, Straßenhändler oder in anderen manuellen Berufen (USDOS 20.3.2023).
Die Regierung gewährt irakischen Flüchtlingen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, doch Aufenthaltsgenehmigungen sind nur für jene erhältlich, die legal einreisten, und über einen gültigen Pass verfügten. Diese Kriterien erfüllen nicht alle Flüchtlinge. Sie sind dadurch den Risiken von Schikanen und Ausbeutung ausgesetzt und die fehlende Aufenthaltsgenehmigung hatte schwere Auswirkungen auf ihren Zugang zu öffentlichen Leistungen (USDOS 20.3.2023).
Anmerkung, Für Informationen zu palästinensischen Flüchtlingen in Syrien siehe Kapitel Palästinensische Flüchtlinge.
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
FH - Freedom House (9.3.2023): Freedom in the World 2023 - Syria, 2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2088564.html, Zugriff 10.7.2023
ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2021 (Stand Ende Dezember 2022) [Der Bericht ist bei der Staatendokumentation einsehbar.]
UNOCHA - - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.2.2023): Flash Appeal: Syrian Arab Republic Earthquake (February - May 2023) [EN/AR], https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/flash-appeal-syrian-arab-republic-earthquake-february-may-2023-enar, Zugriff 10.5.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
USDOS - United States Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2073954.html, Zugriff 17.5.2023
WFP – World Food Programme (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (8.4.2023): Syrian Arab Republic Annual Country Report 2022 - Country Strategic Plan 2022 - 2023, https://reliefweb.int/attachments/bb3f5122-1518-4232-8d8b-ba6d194be7c0/WFP-0000147991.pdf, Zugriff 2.5.2023
Palästinensische Flüchtlinge
Letzte Änderung 13.07.2023
Rechtlicher Status der palästinensischen Flüchtlinge in Syrien und das Mandat der UNRWA
Die United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) ist entsprechend der Resolution 302 römisch IV (1949) der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit einem Mandat zur Förderung der menschlichen Entwicklung palästinensischer Flüchtlinge ausgestattet. Per definitionem sind palästinensische Flüchtlinge Personen, deren gewöhnlicher Aufenthaltsort zwischen 1.6.1946 und 15.5.1948 Palästina war, und die sowohl ihr Zuhause wie auch ihre Mittel zur Lebenshaltung aufgrund des Konflikts von 1948 verloren haben. Dienste von UNRWA stehen all jenen Personen offen, die im Einsatzgebiet der Organisation leben, von der Definition umfasst und bei UNRWA registriert sind, sowie Bedarf an Unterstützung haben. Nachkommen männlicher palästinensischer Flüchtlinge können sich ebenfalls bei UNRWA registrieren. Darüber hinaus bietet UNRWA ihre Dienste auch palästinensischen Flüchtlingen und Vertriebenen des Arabisch-Israelischen Konflikts von 1967 und nachfolgender Feindseligkeiten an (STDOK 8.2017). Im Dezember 2022 beschloss die UN-Generalversammlung eine Verlängerung des UNRWA-Mandats bis 30.6.2026 (UN 14.12.2022).
Laut UNO befanden sich mit Stand Juli 2022 noch ungefähr 438.000 palästinensische Flüchtlinge von vormals 575.234 Personen im Land. Mehr als die Hälfte der von den verbliebenen PalästinenserInnen ist mindestens einmal intern vertrieben worden und 95 % benötigten humanitäre Hilfe (USDOS 20.3.2023).
In Syrien lebende Palästinenser werden in Abhängigkeit vom Zeitpunkt ihrer Ankunft in Syrien in verschiedene Kategorien eingeteilt, von denen jeweils auch ihre rechtliche Stellung abhängt. Zu unterscheiden ist zwischen jenen Palästinensern, die als Flüchtlinge in Syrien anerkannt sind, und jenen, die in Syrien keinen Flüchtlingsstatus genießen. Da Syrien nicht Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist, richtet sich der Flüchtlingsstatus nach syrischem Recht. Die Unterteilung in verschiedene Kategorien hat Auswirkungen auf die Art des Reisedokumentes, im Besitz dessen Palästinenser in Syrien sind (ÖB Damaskus 12.2022):
1) Die größte Gruppe (rund 85 % der Palästinenser vor Ausbruch der Krise) bilden Palästinenser, die bis zum oder im Jahr 1956 nach Syrien gekommen waren sowie deren Nachkommen. Diese Palästinenser fallen unter die Anwendung des Gesetzes Nr. 260 aus 1956, welches Palästinenser, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes einen Wohnsitz in Syrien hatten, im Hinblick auf Arbeit, Handel, Militärdienst und Zugang zum öffentlichen Dienst syrischen Staatsbürgern gleichstellt. Ausgeschlossen ist diese Gruppe jedoch vom Wahlrecht, dem Innehaben öffentlicher Ämter sowie vom Erwerb landwirtschaftlicher Nutzflächen. Sie erhalten auch nicht die syrische Staatsbürgerschaft. Unter diese Kategorie fallende Personen sind bei der GAPAR (General Authority for Palestinian Arab Refugees) registriert (ÖB Damaskus 12.2022).
2) Für jene Palästinenser, die sich nach Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 260 noch im Jahr 1956 in Syrien niedergelassen haben, gelten bestimmte Modifikationen und Einschränkungen (v. a. Anstellung im öffentlichen Dienst nur auf Grundlage zeitlich befristeter Verträge; keine Ableistung von Militärdienst). Berichtet wurde, dass Angehörige dieser Gruppe von der PLO rekrutiert werden und sich sonstigen regimetreuen bewaffneten Gruppierungen anschließen. Sie sind aber ebenfalls bei GAPAR registriert (ÖB Damaskus 12.2022).
Diese unter 1) genannten Gruppen von Palästinensern und ihre Nachkommen sind somit als Flüchtlinge in Syrien anerkannt (ÖB Damaskus 12.2022). Die Identitätskarte für staatenlose PalästinenserInnen in Syrien heißt übersetzt 'Temporäre Aufenthaltskarte für PalästinenserInnen', hat aber kein Ablaufdatum. Voraussetzung für den Erhalt dieser Karte ist die Registrierung bei GAPAR - eine Registrierung bei UNRWA reicht nicht (NMFA 5.2022). Diese Identitätskarte ist nötig, um Zugang zu Basisleistungen wie syrische StaatsbürgerInnen zu erhalten (USDOS 20.3.2023). Zu einem Großteil verfügen Personen, die bei GAPAR registriert sind, auch über eine UNRWA-Registrierung und haben dadurch in der Regel Anspruch auf UNRWA-Leistungen. Da UNRWA eine enger gefasste Definition für Registrierungsberechtigte ('Palästina-Flüchtlinge') zugrunde legt, sowie in bestimmten Zeiträumen keine Neuregistrierungen akzeptierte, kann es sich - trotz späterer Möglichkeiten, sich nachträglich zu registrieren sich nachträglich zu registrieren - ergeben, dass palästinensische Flüchtlinge in Syrien zwar bei GAPAR, nicht aber bei UNRWA registriert sind. GAPAR veröffentlicht daher höhere Zahlen der erfassten palästinensischen Flüchtlinge als UNRWA (BAMF 2.2023).
2) Die nach 1956, insbesondere ab 1967 nach Syrien gekommenen Palästinenser und deren Nachkommen umfassen ihrerseits eine Reihe weiterer Untergruppen. Unter anderem fallen darunter Personen, die nach 1970 aus Jordanien, nach 1982 aus dem Libanon und während der letzten beiden Dekaden aus dem Irak gekommen waren. Ihnen ist gemeinsam, dass sie nicht bei GAPAR registriert und nicht von Syrien als palästinensische Flüchtlinge anerkannt sind. In Syrien gelten sie als „Arabs in Syria“ und werden wie Staatsbürger arabischer Staaten (unterschieden wird in Syrien in vielen Bereichen zwischen syrischen Staatsbürgern, Staatsbürgern arabischer Staaten und sonstigen ausländischen Staatsbürgern) behandelt. Sie können ihren Aufenthalt in Syrien alle zehn Jahre beim Innenministerium erneuern lassen und müssen Arbeitsgenehmigungen erhalten (ÖB Damaskus 12.2022). Diese PalästinenserInnen ohne GAPAR-Identitätskarte müssen mit ihrer UNRWA-Registrierung oder anderen Dokumenten das Auslangen finden. PalästinenserInnen ohne gültige Identitätsdokumente können mit einer Reihe von Problemen konfrontiert sein, z. B. bzgl. Bewegungsfreiheit und Zugang zur Gesundheitsversorgung (NMFA 5.2022). Doch auch zwischen einzelnen Profilen in dieser Personengruppe ohne GAPAR-Registrierung finden sich Unterschiede, je nach Zeitpunkt ihrer Migration nach Syrien. Einige, aber nicht alle verfügen über eine Registrierung bei UNRWA. Einige fallen hingegen unter das Mandat des UNHCR, darunter bspw. einige palästinensische Geflüchtete, welche zunächst in den Irak, nach Ägypten, Libyen oder in andere Staaten flohen, die nicht zum UNRWA-Mandatsgebiet zählen (BAMF 2.2023) Anmerkung, für nähere Informationen zu weiteren, komplexen Aspekten der verschiedenen Profile in dieser Kategorie siehe BAMF 2.2023).
Einige Kategorien von PalästinenserInnen erfüllen zwar nicht die Kriterien für eine Registrierung als palästinensische Flüchtlinge bei UNRWA, können sich aber für UNRWA-Leistungen registrieren lassen (UNRWA 5.2022).
Syrien kooperiert in gewissem Maß mit UNRWA (USDOS 20.3.2023).
Weiterhin kommt es zu Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für palästinensische Flüchtling, die in Flüchtlingslagern leben (USDOS 20.3.2023). Obwohl die syrische Verfassung die Bewegungsfreiheit für syrische Bürger und GAPAR-registrierte PalästinenserInnen garantiert, hat die Regierung seit Beginn des Konflikts Gebiete, darunter auch die Palästinenserlager in der Umgebung von Damaskus, durch die Einrichtung bemannter und unbemannter Kontrollpunkte voneinander getrennt. Die syrische Regierung hat außerdem Militärpersonal und physische Begrenzungen eingesetzt, um die Abgrenzung der Gebiete zu verstärken. Die Zahl der Kontrollpunkte in Damaskus wurde seit 2018 reduziert; es gibt jedoch immer noch Kontrollpunkte in Damaskus und an den Hauptstraßen, die verschiedene Gebiete miteinander verbinden, auch in der Nähe der Lager, sowie an den Hauptstraßen nach Damaskus. Palästinenser müssen viele Kontrollpunkte passieren, wenn sie sich in Gebieten zwischen den dortigen Lagern bewegen. Einige Palästinenser, die nicht bei der GAPAR registriert sind, müssen mit weiteren Bewegungseinschränkungen rechnen, weil die Dokumente in ihrem Besitz nicht an allen Kontrollpunkten akzeptiert werden. Nach Einschätzung einer internationalen Organisation laufen sie Gefahr, inhaftiert zu werden, weil ihr Aufenthalt in Syrien als illegal angesehen werden könnte (DIS 10.2021).
Berichten zufolge müssen PalästinenserInnen z. B. in Damaskus eine Genehmigung der Geheimdienste (Mukhabarat) und der Sicherheitskräfte erhalten, um ihren Wohnsitz verlegen zu können. Diese Registrierungsvorschrift führt dazu, dass manche Personen nicht an palästinensische Flüchtlinge vermieten wollen (STDOK 8.2017).
Bei GAPAR registrierte palästinensische Flüchtlinge unterliegen der Wehrpflicht, Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee (Palestinian Liberation Army, PLA) trägt. Es liegen keine Informationen darüber vor, die besagen, dass wehrdienstpflichtige Palästinenser von Regelungen zum Reservedienst ausgenommen wären (BAMF 2.2023).
Frauen können die syrische Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder weitergeben. Politiker argumentieren hierbei auch, dass Kinder einer syrischen Mutter und eines palästinensischen Vaters keine Syrer werden, sondern Palästinenser bleiben sollen, um das Recht auf Rückkehr in einen palästinensischen Staat zu behalten (STDOK 8.2017).
Die Sicherheitslage in den palästinensischen Flüchtlingslagern und Wohngebieten
Laut UN-Schätzung aus dem Jahr 2019 wurden seit 2011 mindestens 120.000 PalästinenserInnen aus Syrien vertrieben (USDOS 20.3.2023). Vor Ausbruch des Bürgerkrieges lebten geschätzte 560.000 palästinensische Flüchtlinge in Syrien und davon mehr als 80 % in und um Damaskus (USAID 8.2.2019). Schon vor dem Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 waren diese Personen eine vulnerable Bevölkerungsgruppe (STDOK 8.2017).
Zu Beginn des Konfliktes versuchten die BewohnerInnen der meisten palästinensischen Flüchtlingslager neutral zu bleiben (NOREF 24.1.2017). Mittlerweile sind die PalästinenserInnen zwischen den Konfliktparteien gespalten. Die PalästinenserInnen sind hauptsächlich SunnitInnen und werden vonseiten des Regimes und dessen Verbündeten auch wie solche behandelt - also mit Misstrauen, wobei es Ausnahmen hierzu gibt. Was die Vulnerabilität betrifft, scheint jedoch die Herkunft einer Person aus einem bestimmten Gebiet wichtiger zu sein, als ihre Konfession, und ob sie der palästinensischen Minderheit angehört oder nicht. Dabei determinierten die Anfangsjahre des Konflikts 2011-2013, welche Gebiete zu welchen Konfliktparteien zugeordnet werden (STDOK 8.2017).
Die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien waren von schweren Kämpfen in und um manche palästinensische Flüchtlingslager und Stadtteile erheblich betroffen (USAID 8.2.2019). Sowohl Regime- als auch Oppositionskräfte belagerten, beschossen oder machten auf eine andere Art einige palästinensischen Flüchtlingslager oder Stadtteile unzugänglich. Das führte zu schwerer Mangelernährung, fehlendem Zugang zu Gesundheitsversorgung und zu humanitärer Hilfe sowie zu zivilen Todesfällen. Laut Action Group of Palestinians of Syria wurden zwischen März 2011 und Oktober 2022 638 PalästinenserInnen, einschließlich Kindern, von Regimekräften gefoltert. 77 der Opfer wurden durch die 'Caesar'-Fotos [Anm.: durch den Fotografen mit Decknamen Caeser hinausgeschmuggelte Fotos von in Haft Getöteten/Verstorbenen] identifiziert (USDOS 20.3.2023). Die palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk, Ain el-Tel und Dara'a wurden im Zuge von Militäroperationen großteils zerstört. Mitte 2021 führten Kampfhandlungen in Dara'a zur Flucht von ungefähr 3.000 PalästinenserInnen. (NMFA 5.2022) Im Lager Yarmouk kam es auch zu groß angelegten Plünderungen durch regierungsnahe Milizen und syrische Regierungstruppen, während es in den anderen Lagern keine Plünderungen in ähnlichem Ausmaß gab. Es gibt Berichte darüber, dass Palästinenser während des gesamten Konflikts in ganz Syrien, auch in den beiden Gouvernements Damaskus und Rif Dimashq, ins Visier der syrischen Behörden geraten sind. Palästinenser, die beispielsweise in Gebieten südlich von Damaskus leben, wurden an Kontrollpunkten kontrolliert und erpresst. Es kam zu Verhaftungen von Einzelpersonen ohne bekannten Grund sowie zu Verhaftungen von Palästinensern, die zum Militärdienst eingezogen werden sollten und auch von mehr als 50 Kindern. Es wurde auch von nicht-explodierten Kampfmittelrückständen (unexploded ordnances, UXOs) in manchen palästinensischen Flüchtlingslagern berichtet (DIS 10.2021).
Die Leistungen der UNRWA im Rahmen ihrer Zugangsmöglichkeiten
Anmerkung, Da die Leistungen von der aktuellen finanziellen Lage von UNRWA und der Lage vor Ort (Stichwort zusätzlicher humanitärer Bedarf durch Erdbeben) abhängen, kann es relativ kurzfristig zu Änderungen kommen - es handelt sich somit eine Skizzierung der Ausgangslage.
PalästinenserInnen, die bereits vor dem Konflikt deutlich ärmer als SyrerInnen waren, sind nun eine der am meisten vom Konflikt betroffenen Bevölkerungsgruppen in Syrien. Sie sind außerdem häufig von mehrfachen Vertreibungen betroffen: Der Konflikt breitete sich bereits früh auch entlang der Siedlungsgebiete von Palästinensern in Syrien aus, wodurch diese vertrieben wurden und, auch weil Jordanien und der Libanon ihre Grenzen geschlossen haben, Schutz in anderen UNRWA-Lagern und Siedlungen suchten. Wenn dann diese Regionen vom Krieg eingeholt waren, wurden sie erneut vertrieben. Allgemein gesprochen, sind die PalästinenserInnen vulnerabler als der Durchschnitt der SyrerInnen, was auch mit fehlenden Identitätsdokumenten in Verbindung steht (STDOK 8.2017). So kehrten internvertriebene PalästinenserInnen in die drei zerstörten Lager zurück, weil sie sich die Miete andernorts nicht leisten konnten (NMFA 5.2022).
Laut UNRWA-Schätzung benötigen 90 % der 62.000 PalästinenserInnen in den Lagern in Lattakia, Neirab, Ein el-Tel und Hama aufgrund des Erdbebens Hilfe (UNRWA 7.2.2023). 1.076 Unterkünfte von palästinensischen Flüchtlingen in den Provinzen Aleppo. Lattakia und Hama waren von dem Erdbeben betroffen: 166 wurden schwer und 309 teilweise beschädigt. 601 Unterkünfte wiesen geringe Schäden auf. 75 % der beschädigten Gebäude befinden sich in der Provinz Aleppo, 23 % in Lattakia und 2 % in Hama. Hinzukommen Schäden an elf UNRWA-Gebäuden, darunter Schulen und Gesundheitseinrichtungen. Mit Berichtsstand 13.4.2023 waren nur 6 % des Spendenaufrufs der UNRWA zur Bewältigung der Erdbebenfolgen eingelangt (UNRWA 14.4.2023).
Die palästinensischen Flüchtlingslager in Syrien sind nicht durch physische Begrenzungen wie z. B. Mauern eingefriedet, sondern sie sind Teil der Städte und gleichen eher Wohnvierteln. In Syrien leben Teile der palästinensischen Bevölkerung innerhalb und andere außerhalb der Lager. Das Land, auf welchem sich die UNRWA-Lager befinden, ist Eigentum des Gaststaates. Den palästinensischen Familien wurden in der Vergangenheit Grundstücke zugeteilt, worauf Häuser gebaut wurden. Rechtlich gehört den palästinensischen BewohnerInnen das Land, auf dem die Häuser stehen, nicht. Dennoch werden die dort errichteten Wohnungen und Häuser mittlerweile auch vermietet und verkauft. Der Zugang zu UNRWA-Lagern ist rechtlich nicht eingeschränkt, es kann jedoch faktische Probleme geben, die den Zugang einschränken. Für PalästinenserInnen ist es zudem schwierig, sich durch Checkpoints zu bewegen, z.B. wenn sie keine gültigen syrischen Dokumente vorweisen können. Ihre Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens ist aufgrund der Notwendigkeit, die Genehmigung für einen Wohnortwechsel einzuholen, und aufgrund der Registrierungspflicht eingeschränkt (STDOK 8.2017).
UNRWA ist auf den Einsatz in staatlich kontrollierten Gebieten beschränkt, auch angesichts wachsender Budgetknappheit. UNRWA hat keine Präsenz in von der Opposition gehaltenen Gebieten im Nordwesten Syriens (Syria Direct 4.3.2019) Die Durchführung ihrer Aufgaben ist von der jeweiligen Sicherheitslage und den jeweils vor Ort dominanten Organisationen abhängig (STDOK 8.2017). UNRWA bietet Unterstützungsleistungen in zwölf Flüchtlingslagern in Syrien an (neun offizielle und drei inoffizielle Lager), gibt aber gleichzeitig an, nur Zugang zu zehn der zwölf Lager zu haben (UNRWA 8.2022). Die offiziellen UNRWA-Flüchtlingslager sind Gebiete, die UNRWA von der Regierung des jeweiligen Gastlandes zur Errichtung eines Lagers und der notwendigen Infrastruktur überlassen werden. Die Aktivitäten von UNRWA erstrecken sich jedoch auch auf nicht offiziell diesem Zweck zugewiesene Gebiete Anmerkung, sog. 'inoffizielle Lager') wie z. B. Yarmouk. Die (offiziellen und inoffiziellen) Lager werden von UNRWA jedoch nicht verwaltet, und UNRWA ist nicht für die Sicherheit in den Lagern zuständig. Diese liegt in der Verantwortung der Behörden des Gaststaates. Die meisten Einrichtungen von UNRWA befinden sich in den Flüchtlingslagern. UNRWA unterhält jedoch teils auch Schulen, Gesundheitszentren und Verteilungszentren in Gebieten außerhalb der offiziellen Lager. Alle Dienstleistungen von UNRWA stehen allen registrierten palästinensischen Flüchtlingen zur Verfügung - auch denen, die nicht in den Lagern leben (UNRWA o.D. A). Laut Experteneinschätzung sind die UNRWA-Leistungen zurückgegangen und reichen nicht aus, um den hohen Bedarf durch den Konflikt zu decken (DIS 10.2021).
Die meisten UNRWA-Schulen befinden sich in den palästinensischen Flüchtlingslagern selbst. Die Schulen haben unter dem Konflikt gelitten, viele wurden geschlossen. Im Schuljahr 2021/2022 stellte UNRWA in 102 Schulen Unterricht für ungefähr 50.000 SchülerInnen zur Verfügung. Die Schulen befinden sich in Damaskus, Rif Damaskus, Aleppo, Hama, Homs, Lattakia und Dara’a. Die syrische Regierung lieh zudem UNRWA 39 Schulen für das Schuljahr 2021/ 2022 (UNRWA o.D. B). Laut Expertenauskunft geht die Hälfte der palästinensischen Kinder im Grundschulalter aus Gründen wie hohe Transportkosten und einem Niedergang der Bildungsqualität nicht mehr zur Schule (DIS 10.2021).
Die Zukunft von UNRWA gilt als ungewiss (CMI 9.2022). Aufgrund ihrer eigenen Finanzkrise musste UNRWA (2019 z. B.) das Programm für Geldhilfen um die Hälfte reduzieren (MEE 20.2.2020). Es ist daher wichtig, zwischen allgemeinen Leistungen und solchen für bestimmte Zielgruppen zu unterscheiden, für welche die Erfüllung von Kriterien zum Bezug einer Leistung nötig ist. Die tatsächliche Inanspruchnahme hängt so vom sozioökonomischen Status (Leistbarkeit von Alternativen), Bedürfnissen bei der Gesundheitsversorgung (UNRWA deckt nicht alle Bedarfskategorien ab), Ort der Leistungen in Relation zum Wohnort (Reiseentfernung, -kosten) und der wahrgenommenen Qualität ab (CMI 9.2022). Mit Stand Mai 2021 lebten einer UNRWA-Studie zufolge 82 % der Personen in den befragten 503 Haushalten von weniger als 1,9 USD am Tag - inklusive allfälliger UNRWA-Finanzunterstützung - um 8 % mehr Personen als bei der letzten Studie 2017/18. 48 % der Haushaltsausgaben entfielen auf Lebensmittel, was auf die Schwere der Lage der Familien hinweist. Etwa 96 % der in Syrien verbliebenen palästinensischen Flüchtlingsbevölkerung von ungefähr 420.000 Menschen hängt von humanitärer Hilfe ab, um ihre Grundbedürfnisse zu stillen. 145.000 von ihnen - das sind 35 % - gelten als am meisten vulnerabel: Haushalte mit weiblichen Vorständen, Familien mit Mitgliedern mit Behinderungen, Familien mit älteren Familienoberhäuptern sowie unbegleitete Minderjährige und Waisen (UNOCHA 22.2.2022). Bei der Vergabe von Nothilfe haben diese Priorität, weshalb 28.622 Personen z. B. zwecks Hilfe bei der Deckung ihrer Grundbedürfnisse wie Lebensmittel, Obdach oder Heizung 14 USD (11,86 EUR) pro Monat über einen Zeitraum von fünf Monaten erhalten (ReliefWeb 7.3.2022). Mit Stand März 2022 erhielten circa 145.000 palästinensische Flüchtlinge, die in die vulnerabelsten Kategorien fallen, eine finanzielle Unterstützung (UNRWA 25.3.2022). Im August 2022 verlautbarte UNRWA Anmerkung, ohne nähere Angaben über Höhe und Bezugskriterien), dass 417.000 eine Geldhilfe erhalten würden, und betonte, dass laut einer Studie von 2021 82 % der palästinensischen Flüchtlinge in absoluter Armut (mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag) leben. 347.246 palästinensische Flüchtlinge erhielten zudem im Juni 2022 Lebensmittelkörbe, die ein Drittel des täglichen Kalorienbedarfs decken. Es gibt außerdem ein Mikrofinanzierungsprogramm (UNRWA 8.2022). Die Lebensmittel- und Geldhilfen decken in den meisten Fällen nicht die Grundbedürfnisse, und aufgrund der Finanzierungsstrukturen ist viel von der Hilfe schwer vorhersehbar (CMI 9.2022).
UNRWA unterhält zudem in den ihr zugänglichen Lager Wasser- und Sanitärleistungen. UNRWA verfügt über 3.000 Angestellte in Syrien in ungefähr 177 Einrichtungen, darunter ÄrztInnen, LehrerInnen und IngenieurInnen. Allerdings sind die Leistungen vom Konflikt betroffen, und viele Einrichtungen unzugänglich oder schwer beschädigt. So können aktuell ein Viertel der Gesundheitszentren nicht verwendet werden, was UNRWA durch 'health points' Anmerkung, improvisierte Arzt-, Behandlungspraxen statt Kliniken) zu kompensieren versucht. Mit Stand August 2022 hat UNRWA 18 Todesfälle unter den UNRWA-Angestellten zu verzeichnen (UNRWA 8.2022).
Reisedokumente und Ausreiseregelungen für Palästinenser
Je nach Kategorie unterscheidet sich auch die Art der Reisedokumente der in Syrien lebenden PalästinenserInnen. Nur jene PalästinenserInnen, die als palästinensische Flüchtlinge von Syrien anerkannt sind, d.h. nur jene, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien gekommen sind, (bzw. deren Nachkommen) erhalten ein von syrischen Behörden ausgestelltes Reisedokument (siehe Liste der EK über visierfähige Dokumente „Syria – Travel Document for Palestinian Refugees“, Anfangsbuchstabe der Dokumentennummer „P“) (ÖB Damaskus 12.2022).
Alle anderen Palästinenser, d. h. jene, die ab 1957 nach Syrien gekommen sind, (bzw. deren Nachkommen) hatten/haben in Abhängigkeit nach deren Herkunft (Westbank, Gaza) in der Regel von anderen Staaten ausgestellte Dokumente, meistens von Jordanien oder Ägypten. So hatten beispielsweise die nach dem Schwarzen September 1970 aus Jordanien exilierten PalästinenserInnen bei ihrer Ankunft in Syrien jordanische Reisedokumente, die seither nicht mehr erneuert werden konnten. Ähnlich war die Situation für nach 1991 aus dem Irak nach Syrien eingereiste PalästinenserInnen, die zum Teil noch (alte) ägyptische Reisedokumente und IDs hatten, deren Erneuerung jedoch ebenso mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. PalästinenserInnen, die unter die in 2) genannten – mannigfaltigen – Personengruppen fallen, erhalten daher kein durch syrische Behörden ausgestelltes Reisedokument. Viele leben daher bis heute mit abgelaufenen jordanischen oder ägyptischen Dokumenten. In Einzelfällen anerkennt Syrien zwar auch nach 1956 eingereiste PalästinenserInnen als Flüchtlinge und stattet sie mit dem Status gemäß dem Gesetz 260 aus 1956 aus; dies erfolgt jedoch nur im Ermessen des Staates und einzelfallorientiert (ÖB Damaskus 12.2022).
Nach der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens 1993 erhielt die Palästinensische Autonomiebehörde das Recht, Reisedokumente auszustellen (erfolgt in der Praxis seit 1995). Seit 2009 werden biometrische Reisedokumente ausgestellt. Diese von der Palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellten Reisedokumente werden laut der Liste der visafähigen Dokumente (Stand: 28.09.2016) in ARGUS von allen EU-Mitgliedstaaten anerkannt (siehe Beilage). Ausstellungsort dieser durch die Palästinensische Autonomiebehörde ausgestellten Reisedokumente ist stets Ramallah, auch dann, wenn die Antragstellung an einer palästinensischen Vertretung im Ausland erfolgt. Eine persönliche Vorsprache in Ramallah ist für die Ausstellung dieses Reisedokuments nicht erforderlich (ÖB Damaskus 12.2022).
Zusammenfassend ergibt sich somit folgendes Bild hinsichtlich der unterschiedlichen Reisedokumente, die Palästinenser aus Syrien vorweisen (ÖB Damaskus 12.2022):
PalästinenserInnen, die als Flüchtlinge in Syrien anerkannt sind: Dies betrifft Palästinenser, die bis 1956 nach Syrien gekommen sind. Diese Personen sind mit von syrischen Behörden ausgestellten Reisedokumenten ausgestattet: blaue Reisedokumente mit der Bezeichnung 'Travel Document for Palestinian Refugees' (Nummer beginnend mit „P“) (ÖB Damaskus 12.2022).
PalästinenserInnen, die von Syrien nicht als Flüchtlinge anerkannt sind, weil sie nach 1956 nach Syrien gekommen waren: Diese Personen haben in Syrien den Status als 'Arabs in Syria' und erhalten keine Reisedokumente von Syrien. Mangels anderer gültiger Reisedokumente beantragen Personen aus dieser Kategorie bei der Vertretung der Palästinensischen Behörde (Botschaft Palästinas in Syrien) in Damaskus die Ausstellung eines Reisedokuments durch die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah: schwarze Reisedokumente, ausgestellt von der 'Palestinian Authority' mit der Bezeichnung 'Passport – Travel Document'; Ausstellungsort Ramallah (ÖB Damaskus 12.2022).
Diesen palästinensischen Reisepass können Palästinenserinnen und Palästinenser in Syrien und anderen Ländern über die Auslandsvertretung der Autonomiebehörde ausgehändigt bekommen. Er dient in der Praxis als Nachweis einer palästinensischen (Volks-)Identität und als internationales Reisedokument für staatenlose Palästinenserinnen und Palästinenser. Anders aber als „vollwertige“ Reisepässe der Palästinensischen Autonomiebehörde für dort registrierte (das heißt dort wohnhafte bzw. gemeldete) Personen erhalten Palästinenserinnen und Palästinenser im Ausland den Reisepass ohne gültige Identifikationsnummer. Im Feld für die Identifikationsnummer steht dann eine 'fiktive' Nummer, welche üblicherweise mit mehreren Nullen beginnt (BAMF 2.2023).
Einige in Syrien aufhältige Palästinenser brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen, dies hängt jedoch wieder von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab. Für Palästinenser ist es nicht nur schwieriger als für syrische Flüchtlinge in Nachbarländer einzureisen, sondern auch dort zu verbleiben und einen legalen Aufenthaltsstatus aufrechtzuhalten sowie folglich Leistungen zu bekommen (STDOK 8.2017).
Ein Palästinenser, der in Syrien bei UNRWA registriert ist, und sich dann in ein anderes Land begibt, das auch im Mandatsgebiet der UNRWA liegt (wie z. B. der Libanon), bleibt in Syrien registriert („registered“), wird aber z. B. im Libanon erfasst („recorded“) und hat dort Zugang zu UNRWA-Leistungen. UNRWA schränkt den Zugang zu UNRWA-Leistungen für Palästinenser aus anderen Staaten nicht ein, jedoch können die Staaten die Einreise von Palästinensern und somit deren Zugang zu UNRWA Leistungen in Nachbarstaaten einschränken (STDOK 8.2017).
Anmerkung: Für weitere Informationen zu Einreisemöglichkeiten in Nachbarländer siehe Abschnitt „Bewegungsfreiheit“ sowie die jeweiligen Länderinformationsblätter (LIB) zum Libanon und Jordanien, den einzigen Nachbarstaaten, welche ebenfalls Mandatsgebiet von UNRWA sind [Dort finden sich auch Informationen, wonach eine legale Umsiedlung staatenloser palästinensischer Flüchtlingen aus Syrien seit Längerem nicht vorgesehen ist und auch eine etwaige UNRWA-Registrierung nicht zu einer Legalisierung des Aufenthalts oder etwa zu einem gesicherten, dauerhaften Aufenthaltsrecht führt, wie das seit Oktober 2012 geltende Einreiseverbot Jordaniens für PalästinenserInnen aus Syrien illustriert].
Quellen:
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (2.2023): Status palästinensischer Geflüchteter in Syrien, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684464/684546/24088313/-/Deutschland%2E_Bundesamt_f%C3%BCr_Migration_und_Fl%C3%BCchtlinge%2C_Status_pal%C3%A4stinensischer_Gefl%C3%BCchteter_in_Syrien%2C_01%2E02%2E2023._%28Kurzinformation_%2D_%C3%B6ffentlich%29.pdf?nodeid=24088418&vernum=-2, Zugriff 11.5.2023
CMI - Chr. Michelsen Institute (9.2022): UNRWA, funding crisis and the way forward, CMI Report Number 4, https://www.cmi.no/publications/8574-unrwa-funding-crisis-and-the-way-forward, Zugriff 12.5.2023
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MEE - Middle East Eye (20.2.2020): 'Poverty everywhere': Palestinians in Syria living in desperate conditions, https://www.middleeasteye.net/news/more-90-percent-palestinians-syria-living-absolute-poverty-says-unrwa, Zugriff 12.5.2023
NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (5.2022): Country of origin information report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2081724/Country+of+origin+information+report+Syria.pdf, Zugriff 11.3.2023
NOREF - Norwegian Centre for Conflict Resolution (24.1.2017): Syrian voices on the Syrian conflict: The plight of Palestinain refugees in Syria in the camps of south Damascus, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/d610abfb75fa0d03434f54b470799b32.pdf, Zugriff 11.5.2023
ÖB Damaskus - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien 2022 (Stand Ende 2022) (in der Staatendokumentation aufliegend)
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STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 10.5.2023
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USDOS - USDOS – US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089061.html, Zugriff 14.4.2023
1.3.9. Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung 12.07.2023
Erdbeben vom 6. Februar 2023
Am 6.2.2023 ereignete sich ein Erdbeben in der Türkei der Stärke 7,8, gefolgt von einem starken Nachbeben der Stärke 7,5 auf der Richter-Skala. Das erste Beben betraf, zumindest moderat, auch fast ganz Syrien. Am schwersten betroffenen waren die Gebiete im Nordwesten des Landes bzw. entlang der türkisch-syrischen Grenze. Das Nachbeben beschränkte sich auf die nördliche Landeshälfte, wieder mit besonders schwer betroffenen Gebieten entlang der Grenze (TNYT 6.2.2023):

Quelle: TNYT 6.2.2023
Mehr als 7.000 SyrerInnen wurden getötet und geschätzte 5,3 Millionen wurden obdachlos (USIP 14.3.2023). 350.000 Menschen in dem Land wurden durch die Katastrophe vertrieben (Zeit 15.2.2023). So waren laut UN-Koordinator für Syrien 10,9 Millionen Menschen in Syrien von den Erdbebenfolgen in den Gouvernements Hama, Lattakia, Idlib, Aleppo und Tartus betroffen (UN News 8.2.2023). Nachbeben führten dazu, dass Menschen immer wieder ins Freie flüchteten (UN News 12.2.2023). Die Erdbeben verstärkten die humanitäre Krise, und der Cholera-Ausbruch [seit August 2022 - Anmerkung, siehe auch Kapitel Medizinische Versorgung] unterstreicht die Fragilität des Gesundheitssystems sowie der Wasser- und Abwassersysteme (USIP 14.3.2023).
Die Weltbank beurteilte die Lage in den Gouvernements Aleppo, Hama, Idlib, Lattakia, Raqqah und Tartus mit einer tiefer gehenden Prüfung der Städte Aleppo, Harem, Jableh, Afrin, Ad-Dana, Jandairis, Azaz, Sarmada und Lattakia. Demnach trat der größte Schaden bei Unterkünften auf - 24 %, gefolgt vom Transportbereich, der Umwelt (Kosten für die Räumung des Schutts) und der Landwirtschaft, welche gemessen am Ausfall der Lebensmittel den größten Schaden aufweist. Die meisten Schäden werden im Gouvernement Aleppo mit 44 % aller Schäden verzeichnet - besonders in den Bereichen Obdach und Landwirtschaft, gefolgt von Idlib mit 21 %. Die Stadt Aleppo steht mit 60 % der Gesamtschäden an der Spitze der am meisten betroffenen Städte, gefolgt von Lattakia mit 12 % und Azaz mit 10 % (Weltbank 17.3.2023).
Insgesamt kritisierten z. B. die USAID-Chefin Samantha Power die Langsamkeit der Hilfe in Syrien. Zu den am schwersten betroffenen Gebieten in Syrien zählt die Provinz Lattakia, die vom Assad-Regime kontrolliert wird. Dort kommt vor allem humanitäre Hilfe der UN-Organisationen und des Welternährungsprogramms an (Zeit 15.2.2023). UNHCR konzentrierte sich z. B. auf Hilfe für Obdach und Hilfsgüter in den Sammelzentren für die Vertriebenen in Form von Zelten, Plastikplanen, Thermodecken etc. vor dem Hintergrund einer 'Krise in der Krise', in welcher noch Schneestürme in manchen Gegenden und durch die Erdbeben beschädigte Straßen hinzukamen. Bereits vor dem Erdbeben gab es laut UNHCR 6,8 Millionen Binnenvertriebene in Syrien (UNHCR 10.2.2023). Die Weltgesundheitsorganisation arbeitete in allen Teilen des Erdbebengebiets und verstärkte ihren Einsatz einschließlich im besonders betroffenen Nordwesten des Landes. Bereits vor dem Erdbeben waren nur gerade die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen in Betrieb. Nationale und internationale Organisationen, ebenso wie Nachbarn, Moscheen, Kirchen und Gruppen beeilten sich, mit Lebensmitteln, sauberem Wasser, medizinischer Versorgung und sicheren Schlafplätzen zu helfen (UN News 12.2.2023). Nach dem Erdbeben lockerte die EU vorübergehend ihre Sanktionen gegenüber dem Regime. Hilfsflüge aus Deutschland, Dänemark und Norwegen landeten direkt in Damaskus (Qantara 28.2.2023). Als Folge der Erdbeben eröffnen sich für den Iran in vielen Sektoren neue Einflussmöglichkeiten in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Unterkünfte und Transport in Gebieten, wo die syrische Regierung nicht ausreichend den Erdbebenopfern humanitäre Hilfe leisten kann. In der Küstenregion Baniyas, Jableh and Lattakia setzt Iran bereits humanitäre Hilfe als 'soft power' ein, denn neben dem militärischen Einfluss sucht Iran auch wirtschaftlichen Einfluss in Syrien (L'Orient 16.2.2023). Gleichzeitig gibt es Berichte, dass unter der Deckung humanitärer Hilfe Waffen ins Land gebracht wurden (L'Orient 12.4.2023) und UN-Hilfsgüter von Regierungsangestellten abgezweigt oder sonst in einer Form Einfluss genommen wurde (FDD 15.3.2023). Berichten zufolge fließt die aktuelle Nothilfe zu 90 % an das Regime(gebiet), obwohl 88 % der syrischen Erdbebenopfer in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (Qantara 28.2.2023).
In einer Geberkonferenz wurden mittlerweile 911 Millionen Euro für Erdbebenhilfe für Syrien zugesagt, welche von den UN-Organisationen und international anerkannten NGOs verwaltet werden. Faktoren bei der Vergabe der Verwaltung an die UNO (und nicht an die syrische Regierung) sowie Herausforderungen für die Umsetzung sind: das Ausmaß der Zerstörung, viele politische Einschränkungen, das als 'bankrott und korrupt' bezeichnete Regime sowie die Anzahl an politischen Akteuren in Nordsyrien. Dazukommt die Notwendigkeit von Wachsamkeit, dass es nicht zu demographischen Manipulationen entlang der türkischen Grenze kommt (CMEC 3.4.2023).
In das Oppositionsgebiet gelangten zuerst 80 LKW-Ladungen der International Organization for Migration (IOM) über die beiden neu für humanitäre Hilfe geöffneten Grenzübergänge Bab al-Salam und Al Ra'ee (IOM 21.2.2023). Hintergrund ist, dass die syrische Regierung weiterhin Hilfslieferungen in Gebieten außerhalb ihrer Kontrolle einschränkt oder verhindert. Allein im Nordwesten leben in solchen Gebieten mindestens vier Millionen Menschen in schlechten Bedingungen, die völlig auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Auch bewaffnete Oppositionsgruppen verhinderten Hilfslieferungen aus dem Regimegebiet. Darüber hinaus verhinderte die syrische Regierung Hilfslieferungen an die hauptsächlich kurdischen Stadtteile in Aleppo Stadt, die vom 'kurdischen Zivilrat' kontrolliert werden, und welche stark vom Erdbeben betroffen waren. Die kurdische Selbstverwaltung wurde von der Regierung bei Hilfslieferungen in Regierungsgebieten und den Nordwesten eingeschränkt, bzw. die Lieferungen verzögert. Im nördlichen Teil des Gouvernements schränkten pro-türkische Oppositionsgruppen die Lieferung von Hilfe an KurdInnen ein und behinderten Rettungsbemühungen (AI 2.2023).
Aufgrund der Erdbeben vom 6.2.2023 und (dem besonders starken Nachbeben) vom 20.2.2023 wird von der Weltbank ein Schrumpfen der Wirtschaft um 5,5 % prognostiziert. Wenn der Wiederaufbau vor dem Hintergrund beschränkter öffentlicher Ressourcen, schwacher privater Investitionen und beschränkt einlangender Hilfe langsamer als erwartet stattfinden sollte, könnte die Schrumpfung größer ausfallen (Weltbank 17.3.2023). Laut Einschätzung von Ärzte ohne Grenzen werden die Folgen des Erdbebens noch monate- und jahrelang in Nordsyrien spürbar sein. Menschen, deren Häuser nicht wiederaufgebaut werden können, werden in Lagern verbleiben (Standard 3.3.2023).
Die allgemeine sozioökonomische Lage
Die wirtschaftliche und die humanitäre Lage in Syrien bleibt laut deutschem Auswärtigem Amt desolat und hat sich durch das Erdbeben am 6.2.2023 noch einmal deutlich verschärft (AA 29.3.2023). Die UN Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic kam bereits in ihrem Bericht von September 2022 zu dem Schluss, dass sich Syrien in der schwersten wirtschaftlichen und humanitären Krise seit Ausbruch des Konflikts befindet (UNCOI 17.8.2022). Mehr als 90 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Aktuell sind mit steigender Tendenz 15,3 Mio. Menschen von humanitärer Hilfe abhängig (5 % bzw. 0,7 Mio. mehr als 2022), die jedoch laut Vereinten Nationen nicht in benötigtem Maße zur Verfügung gestellt werden kann. In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage weiterhin besonders angespannt. Die ohnehin schlechte Wirtschaftslage hat 2022 durch die rasant fortschreitende Devisen- und Währungskrise (Einbruch des BIP um 60 % zwischen 2010 und 2020, Währungsverfall des syrischen Pfunds um 51,7 % im Vergleich zum Vorjahresmonat (Februar 2022) und um 99,4 % gegenüber dem US-Dollar auf dem Schwarzmarkt seit Konfliktbeginn 2011) sowie durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und die Wirtschaftskrise im Libanon einen neuen Tiefpunkt erreicht (AA 29.3.2023). Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, weil die Situation regional unterschiedlich ist und davon abhängt, unter wessen Kontrolle das jeweilige Gebiet steht (BS 29.4.2020). Auch basiert das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken, die regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019). Die syrische Regierung kontrolliert auch die Sammlung von Daten (EIP 7.2019).
Aufgrund deutlich gestiegener Lebensmittel- und Kraftstoffpreise hat sich in den letzten zwölf Monaten die Versorgungslage nochmals deutlich verschlechtert. Insgesamt sind 12,1 Mio. Menschen von Hunger bedroht (68 % der Bevölkerung), ein Anstieg von etwa 55 % seit 2019. Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 (2022) auf 609.979 (2023). Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zw. sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Die Kosten für Lebensmittel haben sich seit 2020 um über 800 % erhöht. Die Kosten für einen Lebensmittelkorb des Welternährungsprogramms haben sich um 91 % im Vergleich zum Vorjahr erhöht (AA 29.3.2023). Das Welternährungsprogramm führt Syrien noch vor dem Jemen als Land mit der weitesten Verbreitung von ungenügender Ernährung im Nahen Osten und Nordafrika an: 10,4 Millionen Menschen können nur ungenügend Nahrung zu sich nehmen. Das sind 58 % der Bevölkerung in den Gebieten Syriens, zu denen das Welternährungsprogramm Erhebungen durchführen konnte (WFP 10.5.2023). Der UN-Koordinator für Syrien warnte nach dem Erdbeben, dass die Zahlen für humanitären Bedarf nach oben revidiert werden müssen (UN News 8.2.2023).
Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, aber steigen tendenziell landesweit an. Der Mangel an Treibstoff und Elektrizität birgt laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) Risiken für ca. sechs Mio. Menschen, die sich nicht angemessen vor Winterbedingungen schützen können, und dies betrifft nun 33 % mehr Haushalte als im zurückliegenden Jahr. Etwa 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 % der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023).
Die Wintersaison 2023 war besonders herausfordernd für bereits fragile Gemeinschaften und Menschen mit bereits bestehenden gesundheitlichen und sozialen Schwächen. Die Wintermaßnahmen sollten ursprünglich zwei Mio. Menschen unterstützen, die überwiegend in Lagern leben und als am verletzlichsten eingestuft werden. Dazu gehören Binnenvertriebene (IDP), die bereits das zwölfte Jahr in Zelten oder provisorischen Unterkünften bei Minustemperaturen, Schnee und Regen verbracht haben. Hinzu kamen nach dem Erdbeben am 6.2.2023 laut UN-Angaben weitere 11.000 Familien aus verschiedenen Teilen Syriens, deren Häuser eingestürzt sind bzw. schwer beschädigt wurden. 5,37 Mio. brauchen Hilfe bei der Unterbringung. Die geplante humanitäre Reaktion ist in allen Bereichen erheblich unterfinanziert. Laut Humanitarian Response Plan (HRP) 2022-23, herausgegeben von UNOCHA, waren mit Stand Dezember 2022 lediglich 47,4 % der Bedarfe finanziert (AA 29.3.2023). Einer anderen Aussage vom 6.5.2023 zufolge waren trotz der Erdbeben nur sieben % des benötigten Betrags bisher für das ohnedies unterfinanzierte Hilfsprogramm eingelangt (Al-Jazeera 6.5.2023).
Aufgrund der Unterfinanzierung erreichten die humanitären Hilfen in den Bereichen Unterkunft und Non-Food-Items (NFI) mindestens 1,2 Mio. der angestrebten 2,2 Mio. Menschen nicht. 2023 gab es 5,3 Mio. NFI-Bedürftige, ein Zuwachs um 15 % zum Vorjahr. 85 % der Bevölkerung gaben an, dass ihr monatliches Einkommen nicht zur Deckung der notwendigen Ausgaben reiche. Ein Großteil der Bevölkerung verfügt nach zwölf Jahren Konflikt über keine Ersparnisse mehr, 69 % der Haushalte haben sich folglich seit 2021 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Subventionierte Basisgüter sind nur in begrenztem Umfang und in Regime-kontrollierten Gebieten über eine elektronische Karte zu beziehen. Im Februar 2022 entzog Syriens Regierung über 600.000 Haushalten mit 2,5 Mio. Personen die Berechtigung zum Bezug subventionierter Güter (AA 29.3.2023).
Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 12.2022).
Nordwest-Syrien (Oppositionsgebiete):
Prekär blieb die humanitäre Lage auch im Nordwesten Syriens. Ca. 2,9 Mio. der aktuell ca. 4,6 Mio. dort lebenden Menschen sind nach Schätzungen von UNOCHA Binnenvertriebene, die infolge von Kampfhandlungen nach oder innerhalb Idlibs geflohen sind oder durch vom Regime betriebene 'Evakuierungen' aus zuvor belagerten Gebieten dorthin verbracht wurden. Die hohe Bevölkerungsdichte stellt eine besondere Herausforderung dar, wenn auch die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs aufgrund der Nähe zur Türkei teilweise besser als in Regimegebieten ist. Mittlerweile leben 1,8 Mio. Binnenvertriebene in Lagern, 2022 waren es 1,7 Mio. Die Vereinten Nationen gehen von einem Anstieg auf zwei Mio. bis Jahresende aus (AA 29.3.2023).
Fast jeder und jede in Nordwest-Syrien war vom Erdbeben betroffen. Mehr als 4.500 Menschen starben. Mehr als 10.500 Personen wurden verletzt, und mehr als 100.000 wurden laut UN-Angaben durch das Erdbeben vertrieben. Durch die Erdbeben kollabierten fast 2.000 Gebäude und mehr als 4.000 Gebäude wurden als unsicher oder unbewohnbar eingestuft. Viele können ohne externe Hilfe nicht ihre Unterkünfte wiederaufbauen, und Nachbeben bleiben eine Sorge. Hinzukommt der Verlust von Einkommensmöglichkeiten als Folge des Erdbebens (Al Jazeera 6.5.2023). Die hohen Raten an Lebensmittelunsicherheit in der Region wurden durch die Erdbeben verschärft ebenso wie die Dürre. Die am stärksten von den Erdbeben betroffenen Gebiete in Syrien haben bedeutenden Wassermangel erlebt und viel Ackerland wird nun zur Unterbringung von Menschen genutzt, welche durch die Erdbeben ihr Obdach verloren (TNH 6.6.2023).
Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Lage weiter zugespitzt. 97 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze (Stand 2022); etwa 90 % der Menschen in der Region sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mangelernährung stellt ein wachsendes Problem in der Region dar. 3,3 Mio. Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Laut OCHA hat weniger als eins von zehn Kindern Zugang zu adäquater und ausreichender Ernährung. Die grenzüberschreitende humanitäre Versorgung von 4,1 Mio. Menschen in Nordwestsyrien bleibt daher weiterhin essenziell. Im November 2022 erreichten die Hilfsmaßnahmen der UNO 2,47 Mio. Menschen. Nach Auslaufen der Resolution 2585 konnte die notwendige Hilfe der Vereinten Nationen über den Grenzübergang Bab al-Hawa bisher jeweils immer um sechs Monate verlängert werden. Der UN-Sicherheitsrat verlängerte die Öffnung des Grenzübergangs erneut am 9. Januar 2023 bis zum 10. Juli 2023 (AA 29.3.2023). So kann jeweils für die Dauer von sechs Monaten humanitäre Hilfe ohne Zustimmung der syrischen Regierung in das Gebiet gebracht werden (Al Jazeera 6.5.2023).
Der Nordosten
Auch im Nordosten Syriens bleibt die humanitäre Lage angespannt. In Nordostsyrien leben 2,7 Mio. Menschen, von denen rund 1,8 Mio. auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Prekär bleibt die Situation besonders für die etwa 630.000 Binnenvertriebenen in der Region, von denen 89 % bereits seit mindestens vier Jahren vertrieben sind. Nur vier % dieser Personen planen, innerhalb des nächsten Jahres in ihre Heimatorte zurückzukehren (AA 29.3.2023).
Mitte 2020 führten die türkisch-kontrollierten Gebiete in Nordsyrien die türkische Lira als Währung ein, um das volatile syrische Pfund zu umgehen (AA 4.12.2020). Die türkische Lira hat jedoch im Jahr 2022 ungefähr 30 % ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren und 44 % bereits im Jahr davor (Reuters 9.3.2023). Da die türkische Lira im Nordwesten Syriens mittlerweile eine weitverbreitete Währung ist, hat ihre Abwertung negative Auswirkungen auf die Menschen und die humanitäre Hilfe (UNOCHA 16.12.2021). Im Dezember 2021 wurde von Panikkäufen aufgrund des Währungsverfalls der türkischen Lira berichtet (The National 8.12.2021). Die selbst ernannte 'syrische Errettungsregierung' hat daraufhin beschlossen, die Preise für Ölprodukte, die in den von Hay'at Tahrir ash-Sham kontrollierten Teilen des Gouvernements Idlib verkauft werden, in US-Dollar statt in türkischen Lira anzugeben (TSR 14.12.2021).
Die allgemeine Wirtschaftslage
Mit 2021 belief sich der wirtschaftliche Schaden des Kriegs auf 1,2 Billionen US-Dollar, hauptsächlich durch die Zerstörung von Infrastruktur und die massiven Vertreibungen durch Einsatz verbotener Kriegstaktiken primär durch die syrischen und russischen Streitkräfte (HRW 13.1.2022). Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die sich weiter verschlechternde katastrophale wirtschaftliche Lage und infolgedessen die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch teils seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen. Die Wirtschaftskrise im Libanon, dem vor allem auch im Hinblick auf die Sanktionen eine zentrale Rolle als Umschlags-und Finanzplatz für die syrische Wirtschaft zukommt, und COVID-19 verschärften die Situation ab 2019 weiter. Es kommt immer wieder zu Verknappungen von Benzin und Diesel, der für Heizzwecke und angesichts der völlig unzureichenden öffentlichen Stromversorgung auch für Generatoren benötigt wird. Auch bei dem Grundnahrungsmittel Brot gibt es Engpässe. Die Preise für beide Güter wurden stark erhöht und die Subventionen zurückgefahren. Mit derzeit mehr als 15 Mio. von Nahrungsmittelunsicherheit betroffenen Menschen ist diese Zahl höher als am Höhepunkt des Konfliktes. Der Preis für den Nahrungsmittelkorb erhöhte sich seit 2019 um 800 %. Der Konflikt hat die soziale Ungleichheit verschärft. Die Gehälter bewegen sich zwischen 70.000 und 120.000 syrische Pfund (SYP), dies entspricht umgerechnet zum Marktkurs rund 20 bzw. 35 US-Dollar. 90 % der Menschen leben in Armut. Im Land begegnet überall der Eindruck des Fehlens jeglicher Hoffnung auf Besserung (ÖB Damaskus 12.2022), und die Wirtschaft taumelt am Rande des Kollaps (MEE 3.4.2023). Die Arbeitslosenrate wird auf 57 % geschätzt. Andererseits gibt es einen Mangel an qualifiziertem Personal in bestimmten Sektoren und Gebieten, u.a. bedingt durch die Vertreibung, Flucht und Abwanderung. Ein Drittel des Wohnungsbestandes wurde ganz oder teilweise zerstört (ÖB Damaskus 12.2022).
Nach zwei Jahren Wachstum brach die Wirtschaft 2020 um 8 % ein. Die Inflation betrug 2022 geschätzt 121,5 %. Der Verfall des syrischen Pfunds hat sich weiter beschleunigt. Einem offiziellen Kurs von 3.000 SYP/USD steht ein inoffizieller Kurs von 6.100 SYP/USD gegenüber, der Unterschied beträgt demnach bereits über 50 % und steigt weiter. Die Überweisungen der im Ausland lebenden Syrer bilden einen wesentlichen Plusposten. Die Währungsreserven sind von 21 Mrd. USD (2010) dem Vernehmen nach heuer zeitweise auf nur 100.000 USD gesunken. Der Verfall der Währung führt zur Verstärkung der wirtschaftlichen Zentrifugalkräfte in den Regionen. – Im Nordwesten wird verstärkt die türkische Lira im Zahlungsverkehr genützt. Das BIP schrumpfte auf ein Fünftel gegenüber 2010, das Budget beträgt real 2022 rund zehn des Budgets von 2010. Die Ölproduktion fiel von 380.000 auf 25.000 Barrel pro Tag. Der Konflikt verursachte auch erhebliche Schäden an der physischen Infrastruktur (ÖB Damaskus 12.2022).
Sieht man von Russland und Iran (v. a. im Grundstoffbereich) sowie in geringerem Ausmaß von China ab, sind keine größeren Auslandsinvestitionen zu erwarten; auch die syrische Diaspora zeigt sich sehr zurückhaltend. Die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sind derzeit nicht gegeben; die Perspektiven haben sich vielmehr verschlechtert. Mit dem Iran sieht sich ein wichtiger Kreditgeber und Erdöllieferant aufgrund der US-Sanktionen und aktuell aufgrund massiver Proteste im Land und weiterer Sanktionsschritte des Westens selbst massiv unter wirtschaftlichem Druck (ÖB Damaskus 12.2022).
Während die Staatsinstitutionen und -funktionen in Instrumente des Regimes transformiert wurden, wurden unter der Regimeführung illegale Wirtschaftsaktivitäten massiv ausgeweitet. Diese stellen nun eine immer wichtigere Einnahmequelle dar. Dazu gehören die Drogenproduktion (Captagon) im großen Stil, Schmuggel, Schutzgelderpressungen, informelle Besteuerung von Warenhandel über die Frontlinien hinweg, Erpressung etc. Hochrangige Militärs wie Maher al-Assad und die Vierte Division sind dabei zentral in dieser 'Parallelwirtschaft' (Brookings 27.1.2023).
Laut Economist stellen Produktion und Schmuggel von Drogen - besonders von Captagon - mittlerweile die Hauptquelle Syriens für Devisen dar (USDOS 20.3.2023), es stellt das wichtigste Exportgut des Landes dar (Spiegel 17.6.2022). Die Produktion und der Schmuggel erfolgen durch Elemente mit Verbindungen zu Regimefunktionären und der Hizbollah: Die Vierte Gepanzerte Division der Syrischen Armee und Maher al-Assad dominieren auch hierbei (USDOS 20.3.2023), bzw. verdienen mit (Spiegel 17.6.2022).
Größere Produktionsstätten liegen der folgenden Karte gemäß in und um Damaskus sowie in Lattakia sowie weiteren Regionen vor allem im Westen, Südwesten und Nordwesten des Landes. Im Gebietsstreifen zwischen Homs und Damaskus entlang der libanesischen Grenze ballen sich zahlreiche kleinere Produktionsstätten (Spiegel 17.6.2022).

Quelle: Spiegel 17.6.2022
In Europa und dem Nahen Osten erfolgen große Beschlagnahmungen von Captagon, die aus regimekontrollierten Gebieten in Syrien stammten (USDOS 20.3.2023) [Zur Funktion von Captagon als Einnahmequelle siehe auch Kapitel Politische Lage]. Allerdings gibt es keinen Hinweis, dass die Captagon-Produktion der syrischen Bevölkerung in irgendeiner Weise wirtschaftlich helfen würde. Stattdessen scheint Captagon Syrien in einen 'Narco-Staat' mit einer Abhängigkeit vom Drogenhandel zu verwandeln, in welchem die Staatsführung - auch privat - finanziell profitiert. Durch die Einnahmen in US-Dollar ist der Captagon von besonderer Bedeutung, weil die Sanktionen gegen Syrien den Zugang zu Dollars unterbinden sollen. So helfen die Profite von Captagon bei der Bezahlung von Assad-Unterstützern, Milizen und Leibwächtern, und schützen so die Assad-Loyalisten vor ihren heimischen Gegnern (Soufan 13.4.2023). Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden dabei nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität eingesetzt, sondern auch zum Schutz der wirtschaftlichen Privilegien (Brookings 27.1.2023). Währenddessen erlebt die syrische Bevölkerung nach UN-Einschätzung vom März 2023 eines der schwersten Jahre, verschlechtert durch die Zerstörungen durch das Erdbeben und durch verschiedene kumulierende Entwicklungen davor, einschließlich der anhaltenden Cholera-Epidemie (UNFPA 28.3.2023).
Die Rolle der al-Muwafaqa al-Amniyeh (Sicherheitsgenehmigung) bei Wirtschaftstransaktionen im Regierungsgebiet
Sicherheitsgenehmigungen sind von Immobilientransaktionen bis hin zu kommerziellen oder industriellen Aktivitäten sowie Dienstleistungen - oder sogar für Künstler für ein Konzert nötig - ebenso für verschiedene Personenstandsangelegenheiten wie Registrierungen von Geburten und Todesfällen. Die Liste genehmigungspflichtiger Aktivitäten wurde stetig länger - wie z.B. das Mieten eines Hauses. Die Vollmachten für einige Personenstandsangelegenheiten wie Geburtenregistrierungen und Eheschließungen sowie Reisepässe und Freikäufe vom Wehrdienst (von Syrern im Ausland) wurden im Jahr 2018 wieder von der Regelung ausgenommen. So kann die syrische Regierung bezüglich Personenstandsangelegenheiten im Ausland am Laufenden bleiben, bzw. durch die Reisepass- und Befreiungsgebühren US-Dollars einnehmen. Vollmachten für vermisste und abwesende Personen bedürfen jedoch laut einem späteren Erlass weiterhin einer Sicherheitsgenehmigung, was für die Familien und besonders für weibliche Familienmitglieder von Vermissten nachteilige Folgen hat. Der Erlass bricht laut Beurteilung der NGO STJ (Syrians for Truth and Justice) syrisches Gesetz und die Verfassung. Die beiden Erlässe zu den Sicherheitsgenehmigungen dienen in Augen von STJ zur demografischen Umgestaltung von Gebieten, die zuvor von bewaffneten Oppositionsgruppen gehalten wurden. Auch verwenden Mitarbeiter des Sicherheitsapparats die Genehmigung zur Erpressung von BürgerInnen, verweigern diese auf Basis böswilliger Berichte oder profitieren durch Bestechungsgelder für die Erteilung der Genehmigung oder deren Beschleunigung (STJ 1.2023).
Oppositionsgebiete
Auch Gebieten außerhalb staatlicher Kontrolle etablierten oder übernahmen die an der Macht befindlichen Bündnisse Institutionen, um ihre Autorität zu legitimieren. Neben rudimentären Sozialleistungen regulieren sie die lokalen Märkte und den Handel über Grenzen und Frontlinien hinweg. Sie verwalten die Verteilungen essenzieller Waren und humanitärer Hilfe und heben Steuern ein. Dies ermöglicht auch kriminelle Praktiken und Ausübung von Zwang, was das wirtschaftliche Überleben der bewaffneten Gruppen sichert, und ihre Anführer bereichert. Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität der Gruppen eingesetzt, sondern auch zum Schutz ihrer wirtschaftlichen Vorteile. Während im Regimegebiet Organisierte Kriminalität staatliche Strukturen ausbeutet und durchdringt, kann in den Rebellengebieten eine Art 'Staatsaufbau' durch Organisierte Kriminalität wahrnehmen (Brookings 27.1.2023).
Quellen:
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WKO - Wirtschaftskammer Österreich – Außenwirtschaftscenter Amman (10.2019): Wirtschaftsbericht Syrien, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/syrien-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 7.10.2020 [Der Link ist nicht mehr Zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]
Zeit Online (15.2.2023): Syrische Erdbebenopfer erhalten offenbar viel zu wenig Hilfe, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-02/usaid-syrien-erdbeben-hilfe-zu-wenig, Zugriff 23.2.2023
Zugang zu Einkommen und Arbeit
Letzte Änderung 12.07.2023
Allgemeines zum Arbeitsmarkt
Im Verlauf des Konflikts hat sich eine Kriegsökonomie herausgebildet, von der die syrische Regierung und ihr nahestehende Individuen und Gruppen profitieren (AA 29.11.2021). Durch den Bürgerkrieg haben sich bestehende Einkommens- und Vermögensungleichheiten verschärft, indem gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben, und die Konsolidierung einer wohlhabenden Wirtschaftselite in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ermöglicht wurde. Die Mittelschicht ist landesweit verschwunden (BS 29.4.2020). 90 % der syrischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze (Omran 23.1.2023). Es zeichnet sich ein Muster der Ungleichheit innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete ab: Ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind anfälliger für die Verletzung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten (durch Plünderungen und Einschüchterungen) und haben weniger Chancen, von Wiederaufbaugeldern zu profitieren. Die Entwicklungsungleichheit folgt zunehmend der historischen Loyalität einer Region gegenüber dem Regime Assads und nicht mehr dem ethnischen oder religiösen Status (BS 29.4.2020). Insbesondere in Gebieten, in denen lokal Ansässige mit (rückkehrenden) Binnenvertriebenen um Ressourcen konkurrieren – wie im Norden und Nordosten des Landes – bestehen kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Es gibt zudem erhebliche Unterschiede zwischen den Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung, der kurdischen Selbstverwaltung und der Syrian Salvation Government im Nordwesten: In Regierungsgebieten haben 49 % der Haushalte mehr als einen Versorger. Im Nordosten sind es 33 %, im Nordwesten nur 21 %. Laut Medienberichten liegt die Arbeitslosenquote in Nordsyrien (West und Ost) bei etwa 85 % (AA 29.3.2023).
Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die katastrophale wirtschaftliche Lage und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen (ÖB Damaskus 1.10.2021). Wirtschaftliche Verluste führten zum Verlust von Arbeitsplätzen. Bereits im Jahr 2020 gingen laut GIZ drei von vier Erwachsenen keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach (GIZ 9.2020). Das deutsche Auswärtige Amt berichtete im selben Jahr hingegen, dass 50 % der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos waren (AA 4.12.2020). Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonders vulnerabel bezüglich Ausbeutung in der Arbeit - auch in relativ stabilen Gebieten unter Regierungskontrolle, weil der Zugang zu Arbeit und Investitionskapital oft von persönlichen, politischen oder gemeinschaftsbasierten Zugehörigkeiten abhängt (FH 9.3.2023).
Der Think Tank Middle East Institute berichtete schon 2018, dass es in Damaskus immer schwieriger wurde, ohne Beziehungen (wasta) eine Arbeitsmöglichkeit zu finden (MEI 6.11.2018). Das Operations and Policy Center (OPC) veröffentlichte Daten, die darauf hindeuten, dass obwohl Menschen in Damaskus eine der längsten Arbeitswochen der Welt haben, ihre Ausgaben unter die globale Armutsgrenze fallen. Ein großer Teil der Menschen in Damaskus (und de facto ganz Syriens) sind auf externe Einkommensquellen angewiesen, um sich zu versorgen. Ein Viertel der im Rahmen des OPC-Berichts Befragten gaben an, dass Überweisungen aus dem Ausland eine Haupteinkommensquelle sind, während 41 % auf Bargeldzahlungen von Hilfsorganisationen angewiesen sind (OPC 22.6.2021).
Aufgrund von Treibstoffknappheit verteuern sich auch viele Grundprodukte, und die Preise öffentlicher Verkehrsmittel erhöhten sich teilweise um bis zu 200 % (AA 4.12.2020). Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021). Von Jänner bis Mai 2022 stieg der Preis von Treibstoff um weitere 40 % (AM 29.6.2022).
Der öffentliche Sektor als richtungsweisender Teil des Arbeitsmarkts Syriens
Die syrische Regierung verwendet einen Großteil des bereits limitierten Staatshaushalts für die Instandhaltung der Armee und der Sicherheitsbehörden sowie für laufende Militäroperationen (AA 29.11.2021). Trotz der geringen Gehälter sind Stellen im Staatsdienst aufgrund weniger Alternativen, der Aussicht auf Bestechungsgelder und günstiger Kredite gefragt (New Lines 4.6.2021).
Der starke Wettbewerb um Stellen stellt sicher, dass nur diejenigen einen Posten bekommen, die am besten vernetzt sind und als loyal angesehen werden (New Lines 4.6.2021). Im Allgemeinen haben AlawitInnen, falls sie gute Beziehungen (auf Arabisch 'wasta') haben, viel bessere Chancen auf eine Arbeit im öffentlichen Sektor als andere Gruppen wie ChristInnen, sunnitische AraberInnen oder KurdInnen. Hinzukommt, dass diese Bevölkerungsgruppen von den Geheimdiensten angesprochen werden können, für sie als InformantInnen zu arbeiten, um ihre Arbeit ausüben zu dürfen (DIS 6.2019) [Anm.: weitere Informationen zum Informantenwesen siehe auch besonders Kapitel Rückkehr, Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen]. Offiziell wird unmittelbaren Angehörigen von gefallenen Soldaten und Soldaten, die ihren gewöhnlich mehr als acht Jahre dauernden Dienst abgeleistet haben, Vorrang eingeräumt. Allerdings ist auch in dieser Gruppe mit Vorrang die Arbeitslosigkeit hoch (New Lines 4.6.2021). Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies gilt der Eintritt in die Streitkräfte als 'die einzige vielversprechende Karriereoption für junge Syrer' im Regierungsgebiet (Omran 23.1.2023).
Vor 2011 betrug das durchschnittliche Gehalt für Staatsangestellte 20.000 syrische Lira, umgerechnet etwa 400 US-Dollar. Trotz wiederholter Gehaltserhöhungen konnten die Löhne nicht mit der Inflation Schritt halten: Ein Durchschnittsgehalt von 55.000 Lira ist ungefähr 15 US-Dollar wert und reicht aufgrund der Lebensmittelteuerung für ungefähr drei Tage, um eine fünfköpfige Familie mit Basisgütern zu versorgen. Daher bessern die Staatsangestellten ihre Einkommen mit Zusatzjobs [Anm.: im Privatsektor, siehe Omran 23.1.2023] und Bestechungsgeldern auf (New Lines 4.6.2021) oder sie sind von Überweisungen aus dem Ausland abhängig. Im Fall der Militärs verfügen sie über Einkommensquellen, die allesamt illegal sind: Plündern, Erpressung, Schutzgelderpressung und Checkpoint-Steuern. Dazukommt auch noch Korruption bei Einkäufen und Verträgen des Verteidigungsministeriums, von der nur bestimmte Offiziere und Unteroffiziere profitieren (Omran 23.1.2023) [Anm.: zur Korruption zwischen Offizieren und ihren Untergebenen in Form von 'Tafyeesh' siehe Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen, Unterkapitel Streitkräfte].
Im Zuge des Kriegs fand gleichzeitig eine Aufwertung der Militärgehälter im Vergleich zu den Löhnen der Zivilangestellten des öffentlichen Diensts statt: So ist mittlerweile das Netto-Einstiegsgehalt eines einfachen Soldaten mit Gundschulabschluss (auch aufgrund der Steuerbefreiung) höher als das Einstiegsgehalt von AkademikerInnen mit Doktorat. Insgesamt fördert diese Bevorzugung des Militärapparats die Militarisierung der Gesellschaft, und vermittelt laut Omran for Strategic Studies die Botschaft an junge Leute, dass der Eintritt ins Militär einer (höheren) Schulbildung vorzuziehen ist. Diese Gehaltspolitik hat auch zur Verstärkung der Auswanderung besonders gebildeter Schichten geführt, wobei die Auswanderung junger Leute ebenfalls Teil dieser Politik ist, damit die AuslandssyrerInnen später Geld an ihre Familien überweisen. Das Regime profitiert dabei nicht nur von diesen Devisen, sondern auch von den sehr hohen Summen für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst (Omran 23.1.2023).
Das US-Außenministerium zieht weiterhin einen Bericht des Danish Immigration Service (DIS) heran, wonach das Regime das unerlaubte Verlassen, bzw. Fernbleiben von der Arbeit im öffentlichen Dienst als politische oder regierungsfeindliche Aktion ansieht (USDOS 20.3.2023): Von 2011 bis 2017 wurden ungefähr 138.000 derartige Fälle vor syrische Gerichte gebracht. Ein Urteil erfolgte in 50.000 Fällen, und die meisten Betroffenen wurden in absentia verurteilt. Im Fall einer Rückkehr riskieren die Verurteilten eine Verhaftung. Hochrangige ehemalige MitarbeiterInnen laufen Gefahr, unter dem Anti-Terror-Gesetz von 2012 angeklagt zu werden, weil ihr Verlassen des Diensts als politischer bzw. oppositioneller Akt ausgelegt wird. Fälschungen von Gerichtsurteilen werden eher von außerhalb Syriens als in Syrien berichtet. Die Amnestien von September 2019 und März 2020 decken auch Verurteilungen und offene Verfahren von ehemaligen Angestellten des öffentlichen Diensts, wenn das Verlassen des öffentlichen Diensts nicht als politisch motiviert eingestuft wird. Im Fall einer Rückkehr nach Syrien würde trotzdem erst eine Verhaftung bis zum Entscheid über eine etwaige Anwendung der Amnestie erfolgen (DIS 4.2021).
Auch ist der öffentliche Sektor von Treibstoffknappheiten betroffen, welche zu Verspätungen der MitarbeiterInnen oder in einigen Fällen zum Einstellen des Erscheinens bei der Arbeit aufgrund der hohen Transportkosten führten. So kam es im Jahr 2021 im April wegen der Treibstoffknappheit auch zu angeordneten Arbeitszeitreduzierungen für viele Angestellte um 60 % und zu einer ursprünglich für zwei Wochen angekündigten Schließung von Schulen und Universitäten, die jedoch Anfang Juni 2021 noch anhielt (New Lines 4.6.2021).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf, Zugriff 31.5.2023
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BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report – Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf, Zugriff 16.6.2023
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DIS – Danish Immigration Service (6.2019): Syria - Consequences of illegal exit, consequences of leaving a civil servant position without notice and the situation of Kurds in Damascus, Juni 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011587/Report_syria_june_2019.pdf, Zugriff 27.4.2023E
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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit [Deutschland] (9.2020): LIPortal – Das Länder-Informations-Portal Syrien – Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/syrien/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 7.10.2020 [Der Link ist nicht mehr zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]
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Qantara.de (Helberg, Kristin) (28.2.2023): Syriens Diktator und die Erdbebenhilfe, https://de.qantara.de/inhalt/ende-von-assads-isolation-syriens-diktator-und-die-erdbebenhilfe, Zugriff 6.3.2023
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Ergänzende Informationen zum Zugang zu Lebensmitteln und humanitärer Hilfe
Letzte Änderung 12.07.2023
Ergänzende Informationen zur Lebensmittelversorgung
Im Jahr 2022 lebten 90 % der SyrerInnen unter der Armutsgrenze, und mindestens zwölf Millionen SyrerInnen waren vor dem Hintergrund steigender Lebensmittelpreise von Unsicherheit in der Lebensmittelversorgung betroffen. Mehr als 600.000 Kinder waren chronisch unterernährt (HRW 12.1.2023): Die Kosten für Grundnahrungsmittel für eine Familie haben sich seit Kriegsbeginn verdreißigfacht. 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel aus, in drei Viertel der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei. Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, steigen tendenziell aber landesweit weiter an. 87 % der Bevölkerung haben keinerlei Ersparnisse mehr, 71 % der Haushalte haben sich seit 2019 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch, z.B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten. Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich: Mittlerweile sind subventionierte Basisgüter nur in begrenztem Umfang über eine elektronische Karte zu beziehen. Für viele Menschen kostet der Weg zur Arbeit inzwischen mehr Geld, als ihr Gehalt deckt (AA 29.11.2021).
Im Jahresverlauf 2020 stieg die Zahl der Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist, dramatisch an. Zu den Gebieten mit der größten Ernährungsunsicherheit gehörten Lattakia, Raqqa und Aleppo (FAO 13.8.2020). Anfang 2021 waren 12,4 Mio. Menschen in Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen (WFP 3.2021), eine Steigerung um 56 % von 7,9 Millionen 2019 (UNOCHA 3.2021a). Mittlerweile benötigen 15,3 Millionen SyrerInnen humanitäre Hilfe und von diesen verfügen vier Fünftel nicht über genug Nahrung (BBC 31.1.2023). In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage besonders angespannt. Die kritische Versorgungslage hat in Regionen mit einem besonders hohen Anteil Binnenvertriebener (z. B. Provinz Idlib, aber auch Zufluchtsorte in den Provinzen Homs, Damaskus, Lattakia und Tartus) darüber hinaus vereinzelt zu Ablehnung und Abweisung von Neuankömmlingen geführt, die als Konkurrenten in Bezug auf die ohnehin sehr knappen Ressourcen gesehen werden (UNOCHA 3.2021b).
Im Februar 2022 wurde der Ausschluss von ungefähr 600.000 Familien vom Subventionsprogramm bekannt gegeben, das Gas und Heiztreibstoffe, Brot und andere Basisgüter wie Mehl und Zucker beinhaltet. Das löste Proteste in Suwaida sowie online aus (HRW 12.1.2023). Der Zugang zu Sozialleistungen wird auch häufig durch die geografische Lage und die politische Kontrolle bestimmt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten waren bestimmte Sozialleistungen eine wichtige Stütze für die 'Leistungsfähigkeit des Staates', vor allem der fortgesetzte Zugang zu subventioniertem Brot [Anm.: zu der Rangordnung beim Zugang siehe Unterkapitel Lebensmittelversorgung und Zugang zu humanitärer Hilfe]. Das Regime versucht jedoch auch, den Zugang zu Sozialleistungen in Rebellengebieten zu verhindern. Dies geschieht häufig durch die Ausbeutung von Hilfslieferungen an Checkpoints durch Regimekräfte sowie durch andere bewaffnete Gruppen. Mangelnde Überwachung bedingt außerdem, dass die Hilfe, selbst wenn sie die betroffenen Gebiete erreicht, oft nach politischen Loyalitäten oder familiären Verbindungen verteilt wird. Die Regierung verlässt sich zunehmend auf Wohltätigkeitsverbände bei der Vergabe von Sozialleistungen und Unterstützungen (BS 29.4.2020).
Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, da es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.2.2022).
In Damaskus und den Gouvernements Lattakia und Tartus ist der Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung und gesundheitlicher Versorgung grundlegend gewährleistet, während sich die Versorgungslage aufgrund der Wirtschaftskrise wieder deutlich verschlechtert hat (AA 4.12.2020). Einer Mitte Oktober 2022 durchgeführten Befragung hauptsächlich im Bevölkerungssegment von 16 bis 35 Jahren zufolge stehen z. B. in Homs 9 % genug Essen zur Verfügung, während es in Aleppo 23 % und in Damaskus 33 % der Befragten sind. 3 % in Damaskus sowie 12 % in Aleppo und 20 % in Homs schaffen es nicht, ihre Familien mit ausreichend Lebensmittel zu versorgen. In Damaskus kommen 21 % gerade noch bei der Lebensmittelversorgung über die Runden. In Aleppo sind es 27 % und in Homs 28 % (COID/SL 2022).
Trotz der Brotkrise weigerte sich das Regime oft, private Bäcker in Gebieten, die zuvor von der Opposition kontrolliert wurden, zuzulassen. Seit Kriegsbeginn zerstörten das Regime- und Pro-Regime-Kräfte systematisch Bäckereien und Öfen, was die Produktion und Verteilung von Brot in umstrittenen Gebieten einschränkte. Auch der Wiederaufbau von Bäckereien durch die Regierung erfolgt nach politischer Ausrichtung eines Viertels statt nach dem Bedarf. Human Rights Watch (HRW) berichtete, dass Regierungskräfte den Bäckereien Brot wegnahmen, um es am Schwarzmarkt zu verkaufen. Bäckereien mit Regierungsunterstützung haben separate Warteschlangen für Einwohner, IDPs, Militärs und Angehörige der Geheimdienste, wobei Kunden mit Regierungszugehörigkeit Vorrang haben (USDOS 20.3.2023). Bereits im September 2020 berichtet wurde, dass die Benzin- und Brotknappheit typisch für Regierungsgebiete ist. Die Lebensmittelpreise sind erheblich gestiegen, wobei urbane Regionen stärker betroffen sind - auch Damaskus (UNHCR 3.2021).
Einschränkungen beim Zugang zu humanitärer Hilfe im Regierungsgebiet
Die Lebensmittelpreise stiegen in den beiden letzten Jahren um mehr als 500 %, was die Deckung der Grundbedürfnisse für die zwölf Millionen SyrerInnen, welche unter Lebensmittelunsicherheit leiden, unerreichbar macht (WFP 19.10.2022). Der Anteil an Menschen mit Bedarf an humanitärer Hilfe stieg im Jahr 2021 um 21 % und erreichte eine Gesamtzahl von 13,4 Millionen Menschen, von denen sich laut UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) 1,48 Millionen in schwerster Not befanden (HRW 13.1.2022). Im Jahr 2022 wurde der bisherige Höchststand an humanitären Bedarf erreicht, und im Jahr 2023 benötigen 15,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe - eine Steigerung um 700.000 Personen im Vergleich zu 2022. Unter den von Lebensmittelunsicherheit Betroffenen befinden sich 3,75 Millionen Kinder (UNPFA 28.3.2023).
Ausreichender humanitärer Zugang und Schutz der Zivilbevölkerung stellen weiter die größte Herausforderung dar. Die syrische Regierung gewährt weiterhin keinen ausreichenden Zugang zu den zurückeroberten Gebieten (AA 19.5.2020). Der Syria Humanitarian Response Plan (HRP) erhält immer weniger Geld möglicherweise wegen anderer Krisen wie jener in der Ukraine (UNPFA 28.3.2023). Laut UN-Aussage sind nur elf % der von der UNO budgetierten Hilfe für 2023 abseits der Erdbebennothilfe finanziert. Das Welternährungsprogramm (World Food Programme - WFP) der UNO hat seine Hilfe in Syrien reduziert - trotz ihres vorhergehend publizierten Hinweises einen Monat vor den Erdbeben, dass der Hunger in Syrien den Höchststand in den zwölf Jahren Krieg erreicht hat. Eine Verschlechterung der Lage seit den Erdbeben ist offensichtlich. DIe WFP-Rationen sind sukzessive kleiner geworden und mit Juli 2023 muss die Hilfe für 40 % der RezipientInnen eingestellt werden, sollten nicht die 280 Millionen US-Dollar für die Fortführung seiner Programme einlangen (TNH 6.6.2023).
Die syrische Regierung hält weiterhin strenge Restriktionen bei der Lieferung humanitärer Hilfe in den Regimegebieten Syriens und darüber hinaus im Land aufrecht. Hilfe wird zur Bestrafung oppositioneller Meinung umgeleitet. Fehlende Sicherungsmaßnahmen der Beschaffungspraxis von UN-Organisationen bergen ein ernstes Risiko, Missbräuchlichkeiten durch syrische Organisationen zu unterstützen (HRW 12.1.2023) [Anm.: siehe dazu auch Kapitel Medizinische Versorgung]. Die UNO-Organisationen müssen den Regierungsvorgaben gemäß Partnerschaften mit syrischen Organisationen unter Regimekontrolle wie dem Syria Trust und dem Syrian Arab Red Crescent eingehen. Als Maßnahme, um diese Kooperation sicherzustellen, verweigert das syrische Außenministerium Personen Visa, von denen sie eine mangelnde Zusammenarbeit erwartet (FDD 15.3.2023). Quasi-NGOs, besonders der von Präsidentengattin Asma al-Assad geführte Syria Trust, sind immer einflussreicher geworden, seit internationale NGOs gezwungen sind, ihre Hilfe über diese zu verteilen. Unterabteilungen des Syria Trusts wurden zwecks Profit von dieser Hilfe eingerichtet. Es gibt zudem den Trend, neue Quasi-NGOs zu gründen oder alte umzubenennen, sodass die Überwachung der Geber über deren Hintergrund verkompliziert wird (BS 23.2.2022). Selbst wenn das UN-Personal alle diese Herausforderungen meistert, so können syrische Sicherheitskräfte dennoch aus den Konvois Güter für sich entwenden. Zudem konnte sich Bashar al-Assad mehr als 100 Millionen US-Dollar von Hilfe in den Jahren 2019 bis 2020 durch die Manipulation der Wechselkurse aneignen (FDD 15.3.2023)
Mit der fortgesetzt steigenden Zahl an Syrern und Syrerinnen in Not wird die Regierung al-Assad immer versierter darin, humanitäre Unterstützung als politisches Instrument zu verwenden, weshalb Hilfe, die dem syrischen Volk helfen soll, in wachsendem Maß die Regierung politisch und finanziell stärkt. Sie schöpft Hilfe ab, zweckentfremdet sie und leitet sie für eigenen Zwecke um - sowohl in den Gebieten unter seiner Kontrolle wie auch in anderen Landesteilen, indem es den internationalen Zugang lenkt (CSIS 14.2.2022). Die syrische Regierung hat immer wieder auch humanitäre Hilfe als strategische Waffe eingesetzt, um ihre Konfliktziele zu erreichen, wie zum Beispiel während der Belagerung von Dara’a Stadt zwischen 24.6. und 26.7.2021 (COAR 19.7.2021). Auch wird z. B. die UNO daran gehindert, den Hilfsbedarf der Bevölkerung zu ermitteln (FDD 15.3.2023).
Die Lage im oppositionellen Nordwesten vor dem Hintergrund der Erdbeben
Die Erdbeben verschlechterten die Lage in der Region, wo 4,1 Millionen Menschen - 90 % der Bevölkerung - irgendeine Art humanitärer Hilfe benötigen, aber nicht unbedingt erhalten. Nach den Erdbeben benötigten noch mehr Leute Hilfe, während gleichzeitig die Lebensmittelpreise in die Höhe schossen, weil Straßen, Supermärkte und Bäckereien beschädigt waren. Noch im Juni waren die Preise weiterhin am Steigen, allerdings hauptsächlich wegen der anhaltenden Inflation der türkischen Lira, die ungefähr 77 % ihres Werts gegen den US-Dollar über fünf Jahre hin verloren hat. Teile des Nordwestens unter Kontrolle der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) führten die Türkische Lira im Jahr 2020 als Alternative zum fallenden Syrischen Pfund ein. Dazukommen neben den Erdbebenfolgen auch noch die Klimaschocks für die Landwirtschaft in Form der Dürre. Auf vielen Feldern stehen zudem nun die Behausungen für die durch die Erdbeben obdachlos gewordenen Menschen (TNH 6.6.2023).
Außerdem gelangen weniger Hilfsgüter in die Region - im Zeitraum Jänner bis Mai 2023 insgesamt 2.496 LKW-Ladungen über die seit dem Erdbeben drei vom Regime erlaubten Grenzübergänge zur Türkei. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 3.506 LKW-Ladungen (damals nur via Grenzübergang Bab al-Hawa). Hintergrund ist seit Längerem die Unterfinanzierung der Hilfsoperation für Nordwest-Syrien. Die von der UNO initiierte Erdbebennothilfe für Syrien von 398 Millionen US-Dollar ist allerdings voll finanziert, und die Hilfslieferungen über die syrisch-türkische Grenze wurden hochgefahren. Laut UN-Angaben erhielten auch mehr als eine halbe Million Menschen im Nordwesten nach den Erdbeben eine Geldhilfe, eine entscheidende Hilfe, welche nicht auf LKWs verladen werden muss (TNH 6.6.2023).
Landwirtschaftliche Produktion
Die lange andauernden kriegerischen Handlungen führten auch zu einer Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur. Die COVID-19-Krise hat dies noch weiter verschärft (FAO 13.8.2020). Der Agrarsektor, der vor dem Krieg zu rund einem Fünftel zum BIP beitrug, ist nach Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) seit 2011 um 90 % eingebrochen. Damit ist Syrien als vormaliger Agrarexporteur mittlerweile auf Nahrungsmittelimporte angewiesen, insbesondere auch aus Russland. Ein wesentlicher Teil der syrischen Agrarprodukte (Weizen, Oliven(-öl), Gemüse) wird teils in oppositionellen Gebieten produziert (Idlib, al-Hassakah). Für die Nahrungsversorgung der syrischen Bevölkerung spielt Weizen eine tragende Rolle. Der Bedarf an Weizen für Syrien wird laut FAO auf ca. 3,5 Mio. Tonnen pro Jahr geschätzt. Während die Produktion 2007 noch 4 Mio. Tonnen betrug, lag sie 2022 laut FAO bei nur noch 1,05 Mio. Tonnen. Der Ertrag des Gerstenanbaus ist ebenfalls stark zurückgegangen, er fiel im Vergleich zum Vorjahr um 75 %. Heute sind etwa 15 Mio. Syrerinnen und Syrer auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Die starke Dürre 2020/2021 im Nordosten, wo 80 % der jährlichen Getreideproduktion Syriens erwirtschaftet wird, hat bis heute fatale Auswirkungen auf die Ernteerträge. 40 % der Ackerflächen liegen brach, in al-Hassakah sogar die Hälfte. Die VN sprachen von der schlimmsten Trockenheit seit 70 Jahren. Die Situation hat sich seither nicht verbessert, die VN rechnen aufgrund hoher Temperaturen und Trockenheit mit schweren Ernteausfällen auch für 2023. Laut einer OPC-Studie (Juni 2022) sind womöglich noch weniger Anbauflächen nutzbar als 2021 (AA 29.3.2023).
Neben der Dürre sind viele Anbaugebiete durch Kampfmittel schwer kontaminiert, was ihre Nutzung teilweise unmöglich macht. Die Transportwege in Regimegebiete sind teils blockiert oder aufgrund zahlreicher Straßensperren, an denen Milizen Wegzoll verlangen, sehr teuer. Das syrische Regime hat nach glaubhaften Berichten gezielt die Zerstörung von Anbaugebieten, Lebensmittelvorräten und Saatgut in von der Opposition gehaltenen Gebieten als Mittel der Kriegsführung eingesetzt und versucht, gleichzeitig so viel der Weizenernte im Nordosten wie möglich aufzukaufen – aufgrund der knappen Devisen mit nur mäßigem Erfolg (AA 29.3.2023). Auch im Nordosten sorgen rasant steigende Lebensmittelpreise, wachsende Sicherheitsprobleme und eine Verdopplung der Bevölkerung durch IDPs für eine vergrößerte Armutsrate. Viele Menschen sind nun auf humanitäre Hilfe für ihr Überleben angewiesen, aber Budgetknappheiten (der Hilfsorganisationen) und logistische Einschränkungen bedeuten, dass nicht alle Hilfsbedürftigen erreicht werden. Die UNO hat Schwierigkeiten, Hilfe in das Gebiet zu bekommen seit Russland und China im Jahr 2020 die Resolution über die Fortsetzung von Hilfslieferungen über einen irakischen Grenzübergang blockierten. Seither sind die Menschen im Nordosten auf Hilfslieferungen via Regimegebiet angewiesen. Was davon dann im Nordosten ankommt, geht meist in IDP-Lager und die am meisten vom Krieg getroffenen Gebiete wie Raqqa und Deir az-Zour, während die ländlichen Gebiete dazwischen quasi übersehen werden (BBC 31.1.2023).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042795/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_November_2020%29%2C_04.12.2020.pdf, Zugriff 2.6.2023
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UNPFA – UN Population Fund, GPC – Global Protection Cluster (Autor), veröffentlicht von ReliefWeb (28.3.2023): Whole of Syria; Gender-Based Violence Area of Responsibility; Voices from Syria 2023; Assessment Findings of the Humanitarian Needs Overview, https://reliefweb.int/attachments/338b5a3e-2c43-405b-8298-86612ec88e09/Voices%20from%20Syria%202023_FINAL_online%20version_En.pdf, Zugriff 29.4.2023
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WFP - World Food Programme (3.2021): WFP Syria – Country Brief, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/2021%2003%20Syria%20Country%20Brief.pdf, Zugriff 20.6.2023
Wohnsituation und Infrastruktur
Letzte Änderung 12.07.2023
Wohnsituation sowie Enteignungen
Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, welche die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen (AA 29.11.2021). Einer Untersuchung der Weltbank (2017) zufolge ist ein Drittel des gesamten Bestandes an Häusern und Wohnungen in Syrien im Rahmen des Konfliktes in Mitleidenschaft gezogen worden, wobei sieben Prozent zerstört und 20 Prozent beschädigt sind. Aufgrund der Kämpfe in den sog. Deeskalationszonen (Ost-Ghouta, Dara’a, Homs, Idlib), v. a. 2018, dürfte der Schaden an Infrastruktur heute noch höher sein (AA 29.3.2023). In Gebieten, welche von der Regierung zurückerobert wurden, berichtete die Mehrheit der von Human Rights Watch interviewten Personen über komplett oder teilweise zerstörte Häuser, der Wiederaufbau oder Renovierung sie sich nicht leisten konnten. Die syrische Regierung stellt keine Wiederaufbauhilfe zur Verfügung - auch nicht Jahre nach der Rückeroberung. Daher leben viele BewohnerInnen in behelfsmäßigen Zelten, weil sie es sich nicht leisten können, anderswo etwas zu mieten (HRW 13.1.2022). Mindestens 5,7 Mio. Menschen lebten vor dem Erdbeben im Februar 2023 in von UNHCR als 'unzulänglich' kategorisierten Unterkünften, vielfach ohne Heizung und entsprechende Isolierung gegen Kälte und Regen. Aufgrund der Erdbebenkatastrophe sind laut UNHCR weitere 5,37 Mio. Menschen in Syrien auf Hilfe bei der Unterbringung (Shelter Assistance) angewiesen. Laut einer Studie der NRO Norwegian Refugee Council von Mai 2022 kann nur einer von zehn Syrern die monatlichen Ausgaben, wie etwa für Miete, Strom und Lebensmittel, bezahlen. Im Dezember 2022 lebten in Syrien 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften, außerhalb der Lager sind es zwei Prozent. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien – in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des VN- Humanitarian Needs Assessment Programme von 2020 wohnen 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023) [Anm.: bzgl. des Einflusses der Erdbeben auf den Zugang zu Obdach siehe auch Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
In Damaskus haben sich fast eine Million Binnenvertriebene vorübergehend oder dauerhaft niedergelassen, während ein großer Teil der Wohnhäuser am ehemals von den Rebellen gehaltenen östlichen und südlichen Stadtrand zerstört ist (Wind/Ibrahim 2.2020). Die Nachfrage nach Wohnraum ist enorm, während das Angebot auf dem Wohnungsmarkt begrenzt ist. Neue Stadtentwicklungsprojekte sind luxuriös und unerschwinglich für Familien, die ihr Zuhause aufgrund des Krieges verloren haben. Daher hat der informelle Wohnungsbau am südlichen und nördlichen Rand der Stadt stark zugenommen (Wind/Ibrahim 2.2020; vergleiche Syria Times 21.6.2020). Aufgrund der Abwertung des syrischen Pfunds sind die Wohnungspreise im Laufe des Jahres 2020 stark gestiegen (Syria Times 21.6.2020). Bereits im Jahr 2021 überstiegen die Preise in und um Damaskus das Durchschnittsgehalt der Angestellten im öffentlichen Dienst (DIS 10.2021). Für die Gültigkeit von Kauf- oder Mietverträgen wird eine Sicherheitsüberprüfung verlangt. Personen, die an Immobilientransaktionen interessiert sind, werden vom Sicherheitsapparat dahingehend überprüft, ob 'Familienmitglieder unter dem Verdacht terroristischer Aktivitäten stehen, ob sie aus dem Land geflohen sind oder ob der Antragsteller aus einem von Rebellen kontrollierten Gebiet umzieht'. Bereits im September 2012 hat die syrische Regierung mit Präsidialdekret 66/2012 eine rechtliche Grundlage für die Ausweisung von Stadtentwicklungsgebieten in zwei informellen Siedlungen in Damaskus (Marota City im Stadtteil Basateen al-Razi und Basilia City in mehreren südlichen Stadtvierteln) geschaffen. Da viele geflohene oder vertriebene Bewohner nicht nach Syrien zurückkehren konnten, um ihre Eigentumsrechte geltend zu machen, bzw. keine Eigentumsdokumente vorweisen konnten, verloren in Marota rund 50.000 Menschen ihr Zuhause ohne angemessene Entschädigung oder Erhalt einer alternativen Unterkunft (AA 29.11.2021).
Übereinstimmenden Berichten von VN und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentiert auch die CoI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) in ihrem jüngsten Bericht von September 2022. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut diesen Berichten haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert. Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen. Auf der Grundlage des Dekrets 63/2012 wurde die vorsorgliche Beschlagnahme von Eigentum und Vermögen von mindestens 10.000 Personen gerechtfertigt. Diese Form der Bestrafung führt nicht nur zu Repressalien gegen die Inhaftierten, sondern dient auch als kollektive Bestrafung von deren Familien. Die Ausübung von Eigentumsrechten wird außerdem behindert, indem für die Gültigkeit von Kauf- oder Mietverträgen eine Sicherheitsüberprüfung verlangt wird, in welcher die Familienmitglieder auf angebliche terroristische Aktivitäten sowie auf die Flucht außer Landes überprüft werden und ob sich die AntragstellerInnen aus einem Oppositionsgebiet zurückkehren. Zudem erlaubt Dekret 63/2012 dem Finanzministerium den Besitz und das Vermögen aller, die unter die Anti-Terror-Gesetzgebung fallen, zu beschlagnahmen. Laut eines Berichts des Syrian Network for Human Rights (SNHR) wurden zwischen 2014 und Oktober 2020 mindestens 3.970 solcher Fälle dokumentiert. Die Konfiszierungslisten sollen neben den Daten der Betroffenen selbst, auch die Namen ihrer Familienmitglieder enthalten. Die Anwendung des Dekrets kann auch auf diese ausgedehnt werden. Das Regime konfisziert Eigentum nicht nur unter rechtlichem Vorwand, sondern beschlagnahmt auch Grundstücke von Gefangenen, Oppositionellen und Vertriebenen für militärische Zwecke und zum Verkauf an iranische Milizionäre (AA 29.3.2023).
In wiedereroberten Teilen von Idlib und Hama konfiszieren so z. B. die syrischen Behörden mittels Pro-Regime-Milizen und der staatlich kontrollierten Bauerngewerkschaft ungesetzlicherweise die Heime und das Land von SyrerInnen, welche vor den syrisch-russischen Angriffen geflüchtet waren. Der Besitz wird dann durch Auktionen versteigert (HRW 13.1.2022). Zu Beginn 2021 beschlagnahmte das Regime mehr als 44.000 ha landwirtschaftliche Flächen in den Gouvernements Hama, Aleppo und Idlib, und gab diese öffentlich zur Versteigerung frei. Diese Flächen waren als Land in Staatseigentum ('Amiriland') zur langfristigen Nutzung im Besitz von im Konflikt vertriebenen Syrern, von denen sich die meisten außerhalb des Landes befinden und deshalb ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Bewirtschaftung des Bodens nicht nachkommen konnten (AA 29.11.2021). In Ost-Ghouta und Douma hat die Regierung viele Grundstücke beschlagnahmt, die in erster Linie Personen gehören, die nach Nordsyrien oder in die Türkei vertrieben wurden oder die vom Militär zu anderen bewaffneten Kräften übergelaufen sind. Diese Grundstücke wurden an Familien von Militärangehörigen vergeben oder werden als militärische Quartiere genutzt (AA 29.3.2023).
Während des gesamten Konflikts gab es zudem Berichte über Luftangriffe, die direkt auf Standes- und Katasterämter abzielten. Dadurch wurden in großem Umfang Personenstands- und Eigentumsdokumente zerstört, sodass es für viele Menschen schwierig ist, ihre Eigentumsansprüche nachzuweisen. Mit dem Gesetz 10/2016 hat das Regime bestimmte Gebiete - insbesondere Gebiete außerhalb der staatlichen Kontrolle - als 'Sicherheitsrisiko' eingestuft, um damit Änderungen in den Eigentumsregistern in diesen Gebieten zu verbieten. Immobilientransaktionen von Syrerinnen und Syrern in Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung werden damit nicht anerkannt. Weiterhin wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern (AA 29.3.2023).
Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist. Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023). Im Februar 2021 veröffentlichte das Ministerium für Medien und Information ein Video des Chefs der Abteilung für die Befreiung vom Militärdienst der syrischen Armee, in dem dieser die sofortige Beschlagnahme von Vermögenswerten ohne vorherige Benachrichtigung ankündigte, sofern die Zahlung des Ersatzgeldes nicht bis spätestens drei Monate nach Vollendung des 43. Lebensjahres erfolge. Eine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, fehlt laut Human Rights Watch. Außerdem wird dadurch ein zusätzliches Rückkehrhindernis geschaffen (AA 29.11.2021).
Milizen konfiszieren in unterschiedlichem Ausmaß Privatbesitz. Das Gesetz Nr. 10 von 2018 erlaubt dem Staat, Gebiete für den Wiederaufbau zu bestimmen. Personen, welche eine Anzahl von Kriterien zum Beweis ihres Besitzes nicht erfüllen können, riskieren diesen ohne Kompensation zu verlieren (FH 9.3.2023). Die Eigentümer werden innerhalb einer einmonatigen Ankündigungsfrist verständigt und haben dann ein Jahr Zeit, ihre Eigentumsansprüche einzubringen, damit sie Anspruch auf Kompensation (auch Eigentumsansprüche auf neu errichtete Wohneinheiten auf ihren Grundstücken) erheben können. Anvisierte Bezirke oder Gebiete waren zuvor mehrheitlich in der Hand der Rebellen. De facto stellt dies auch eine Enteignung jener Flüchtlinge dar, die aus Angst vor politischer Verfolgung oder aus anderen Gründen nicht nach Syrien zurückkehren können, um ihre Ansprüche anzumelden (WKO 10.2019). Die in Dekret 10/2018 festgelegte Vorgehensweise bei der Berechnung des Entschädigungswerts bei Neubebauung kommt laut UN-Experten einer „marktbasierten Enteignung“ gleich. Die meisten Binnenvertriebenen oder Flüchtlinge haben weder ausreichend Ressourcen noch die notwendigen Urkunden, um ihren Anspruch zu registrieren (AA 29.11.2021).
Dekret 42/2018 wurde bislang nicht umgesetzt. Stattdessen findet zunehmend Dekret 23/2015 Anwendung, demzufolge Grundstücke auch in Abwesenheit der ursprünglichen Eigentümer genutzt werden können. Insbesondere informelle Viertel, die aufgrund der rapiden Urbanisierung in den 1980er und 1990er-Jahren in den meisten syrischen Städten entstanden waren, sind der Regierung ein Dorn im Auge. Eigentumsverhältnisse sind für von dort geflohene Bewohner nur schwer nachweisbar. Zahlreiche syrische Staatsangehörige scheuen zudem den Kontakt mit offiziellen staatlichen Stellen, weil sie Befragungen durch die Sicherheitsbehörden befürchten. Menschen aus ehemals belagerten Gebieten trauen sich oftmals aus Angst vor Repressionen nicht, persönlich die Ausstellung eigener Personenstandsdokumente zu beantragen. Bei Anwendung von Gesetz 10/2018 könnten daher zahlreiche Rückkehrerinnen und Rückkehrer kurz- bis mittelfristig enteignet werden. Es gibt außerdem immer wieder Berichte über Rückkehrende, die verhaftet wurden, als sie ihre Besitzansprüche gegenüber syrischen Behörden geltend machen wollten (AA 29.11.2021).
Frauen sind bezüglich Grundstückbesitzes mit gesellschaftlichen Normen konfrontiert, welche Frauen bzgl. Immobilienbesitz entmutigen, zusätzlich zu Personenstandsgesetzen, die Frauen bei Erbschaften diskriminieren (FH 9.3.2023).
In der selbsternannten Autonomieverwaltung AANES (Autonomous Administration of North and East Syria) wird die dortige angewachsene Zahl an Immobilienstreitfällen (auch durch gefälschte Dokumente) durch die Existenz zweier Rechtssysteme - dem nationalen und dem der AANES - für die Betroffenen erschwert, wobei die AANES-Gerichte mangels eigener Landregister auf die Unterlagen der Regierungsgerichte zurückgreifen müssen. Das Problem der Immobilienstreitigkeiten aufgrund gefälschter Dokumente ist mittlerweile in mehreren syrischen Provinzen verbreitet und führte zu mehreren Erlässen des syrischen Justizministeriums, um das Phänomen einzudämmen (Enab 31.1.2023).
Infrastruktur allgemein
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP 20.7.2020). Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren, und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa, Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 20.4.2020).
Die syrische Regierung bemüht sich, den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten dient eher der internen Propaganda, bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein politisches Signal zu senden, und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019). Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa, die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten IS befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzukommt die immense Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die Hafenstädte Tartus und Lattakia (AA 4.12.2020). Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche, und der Beschädigungsgrad variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen klare Spuren des Krieges auf, und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018). Vor allem im westlichen Teil des Landes ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).
Das öffentlicher Verkehrssystem in Syrien funktionierte mit Stand 2021 kaum noch: Es war für die Fahrer viel profitabler, ihre subventionierten Treibstoffrationen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Das führte zu langen Wartezeiten zu Beginn und am Ende der Arbeitstage. Dies traf auch den öffentlichen Dienst in Form zu spät kommender Angestellter und in Form von Nicht-Erscheinen an vielen Arbeitstagen von Angestellten aufgrund der hohen Transportkosten (New Lines 4.6.2021). Im Februar 2023 war z. B. in Lattakia der Preis für Diesel, der in der Landwirtschaft, im Transport und zum Heizen benötigt wird, 14-mal höher als drei Jahre zuvor (WFP 14.3.2023). Im nordwestlichen Syrien, wo außerhalb der Regierungskontrolle die türkische Lira eingeführt wurde, wächst die Schere zwischen niedrigen Einkommen und steigenden Preisen für Treibstoffe und Transport weiter (The New Arab 26.5.2023).
Wasser- und Stromversorgung
13,6 Mio. Menschen benötigen im Jahr 2023 Zugang zu Trinkwasser, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen, darunter 6 Mio. Kinder - ein Anstieg um 2,6 Prozent zum Vorjahr (AA 29.3.2023).
- Zugang zu Trinkwasser
Syriens sieben größte Trinkwasseranlagen versorgen etwa 9,5 Mio. Menschen. Die maroden Systeme verfallen aufgrund von Konflikt und fehlender Wartung zunehmend. Die Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung ist infolge gezielter Zerstörung vor allem in umkämpften Gebieten eingeschränkt. Für viele Syrerinnen und Syrer bedeutet der Kauf von Trinkwasser eine große finanzielle Belastung: Haushalte geben sieben Prozent ihres monatlichen Einkommens für Wasser aus. Anfang 2023 hatten 52 Prozent der syrischen Bevölkerung keinen Zugang zur regulären leitungsbasierten Wasserversorgung, im Vorjahr waren es 47 Prozent. 6,9 Mio. Menschen erhalten nur 2-7 Tage im Monat Leitungswasser, da u. a. nicht ausreichend Strom für die Pumpwerke vorhanden ist. Insbesondere der Süden (Gouvernements Dara‘a und Quneitra), der Norden (Gouvernements Idlib, Aleppo, al-Hassakah) sowie nahezu die gesamte in Zeltlagern lebende Bevölkerung ist nach wie vor in hohem Maße auf durch Lastwagen im Rahmen der humanitären Hilfe geliefertes Wasser angewiesen (AA 29.3.2023).
Die Krise gefährdet die Wasserversorgung von rund 5,5 Mio. Menschen, die in den an den Euphrat grenzenden Provinzen leben. Das Generaldirektorat der EU-Kommission für Zivilschutz und humanitäre Hilfsmaßnahmen (ECHO) warnte im Juli 2022 mit Verweis auf jüngste Wetterprognosen der World Meteorological Organisation (WMO) vor einer "extremen und langfristigen" Dürre in Syrien (AA 29.3.2023) [Anm.: zur Wassersituation in Relation zum Ausbruch der Cholera siehe Kapitel Medizinische Versorgung und Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Die regenarme Saison, die zu Wasserknappheit und dürftiger Ernte geführt hatte, führte bereits früher in Nordsyrien zu Spannungen. Die Wasserknappheit verschlimmert sich durch den Einsatz von Wasserversorgung als Waffe durch die Konfliktparteien, besonders durch das Regime, die Autonome Administration und die Türkei, sowie durch das Missmanagement und die Übernutzung des Grundwassers (COAR 5.7.2021). Neben dem humanitären und gesundheitlichen Aspekt der Zerstörung der Wasserinfrastruktur trägt dies auch zu einem Wassermangel bei der landwirtschaftlichen Bewässerung bei (Insecurity 19.4.2023).
Im Sommer 2021 wurde der Nordosten von einer Wasserkrise heimgesucht, wie sie zuletzt 2008 stattfand (AA 29.3.2023): In al-Hassakah hatten im Jahr 2021 eine Million Menschen seit fast zwei Jahren keinen Zugang mehr zu Wasser (MSF 27.9.2021). Diese dreifache Wasserkrise bestand aus: (1) einer Dürre aufgrund geringer Niederschläge im Winter, (2) einem überdurchschnittlich niedrigen Wasserstand am Euphrat (200m³/s statt 500m³/s Durchfluss) und (3) häufigen Unterbrechungen im Wassersystem, allen voran der Alouk-Wasserstation, die knapp 460.000 Menschen in al-Hassakah inklusive der Flüchtlingslager Roj und Al Hol versorgt (AA 29.3.2023). Neben einem Sommer mit extrem wenig Niederschlag im Jahr 2021 machten Vertreter der kurdisch geführten Verwaltung die türkische Regierung für die Verlangsamung der Wassermenge, die über den Euphrat ins Land fließt, verantwortlich (TNH 20.12.2021).
Aufgrund zerstörter Kläranlagen werden mindestens 70 Prozent des Abwassers nicht behandelt (AA 29.3.2023). Medienberichten zufolge erreicht die Verschmutzung wichtiger Gewässer ein kritisches Niveau. In vielen Gebieten ist das verschmutzte Wasser nicht mehr für den Konsum geeignet (TNH 20.12.2021) [Anm.: zum Cholera-Ausbruch seit August 2022 siehe Kapitel Medizinische Versorgung und Überkapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
- Stromversorgung
Die Stromversorgung funktioniert u. a. aufgrund der Treibstoffknappheit, der zerstörten Energie-Infrastruktur und des niedrigen Wasserstandes an den Staudämmen in manchen Gebieten Syriens nur noch für wenige Stunden pro Tag. Insgesamt erhalten drei Viertel aller Haushalte weniger als acht Stunden Strom am Tag. In Nordostsyrien war Elektrizität im September 2021 täglich nur 5-6 Stunden verfügbar; in Nordwestsyrien täglich 7-8 Stunden (Stand 2022). Der Pro-Kopf-Konsum von staatlicher Elektrizität beträgt lediglich 15 Prozent gegenüber 2010 (AA 29.3.2023).
Quellen:
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WKO - Wirtschaftskammer Österreich – Außenwirtschaftscenter Amman (11.2018): Außenwirtschaft: Update Syrien, Zugriff 1.3.2019 [Der Link ist nicht mehr zugänglich, die Daten sind bei der Staatendokumentation jedoch archiviert und abrufbar]
1.3.10. Medizinische Versorgung
Letzte Änderung 12.07.2023
Der im gesamten Land ohnehin überlastete und in Teilen dysfunktionale öffentliche Gesundheitssektor ist weiterhin gemäß Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts unzureichend: 41 Prozent der öffentlichen Krankenhäuser sind nicht oder nur teilweise funktionsfähig. Große Teile der Gesundheitsinfrastruktur sind infolge militärischer Auseinandersetzungen und fehlender Instandhaltung weiterhin nicht oder nur eingeschränkt nutzbar (Stand August 2022). Notfalltransporte sind durch einen Mangel an Krankenwagen stark beeinträchtigt. Im Zeitraum 2015-2021 wurden 159 Ambulanzfahrzeuge beschädigt oder zerstört. Trotz einer Erhöhung der Zuweisungen durch die syrische Regierung im Jahr 2022 bleibt der syrische Gesundheitssektor chronisch unterfinanziert. Die Ausgaben wurden nominal um 97,1 Prozent und real um 4,2 Prozent im Vergleich zu 2021 erhöht. Das Defizit wird durch rückläufige finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland verstärkt. Überdies meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im September 2022 eine Finanzierungslücke von 69 Prozent (179 Mio. US-Dollar) (AA 29.3.2023).
Mehr als 15,3 Mio. Menschen sind derzeit auf Gesundheitshilfe angewiesen, eine Erhöhung um 3,2 Mio. im Vergleich zum Vorjahr. Der Anstieg 2023 wird unter anderem auf die sich verschlechternden sozioökonomische Lage der Gemeinden, COVID-19 und den Cholera-Ausbruch zurückgeführt. Der Zugang zu medizinischer Versorgung war schon vor der COVID-19-Pandemie stark eingeschränkt; medizinische Grund- und Notversorgung waren u. a. aufgrund von gezielten Angriffen auf das Gesundheitswesen kaum gewährleistet (AA 29.3.2023). Syrische Regierungstruppen und ihre Verbündeten waren mit Berichtszeitpunkt Juli 2021 für 90 Prozent von 600 verifizierten Angriffen auf medizinische Einrichtungen verantwortlich. Diese machten medizinische Einrichtungen sowohl für das medizinische Personal als auch für die Patienten zu tödlichen Orten und dezimierten den Gesundheitssektor im ganzen Land (PHR 7.2021). Auch werden MitarbeiterInnen von Gesundheitseinrichtungen Ziel von Verhaftungen und Folter (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung betrachtet medizinisches Personal als Staatsfeinde, wenn dieses diskriminierungsfrei medizinische Versorgung in Gebieten, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, anbietet (NMFA 5.2020), und auch sonst sind MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors spezifische Ziele wegen ihres Berufs oder ihrer tatsächlichen oder angenommenen medizinischen Versorgung von Oppositionellen: Verhaftungen betrafen so auch z. B. Gesundheitspersonal, das mit internationalen Medien über COVID-19 gesprochen hatte oder sonst dem strengkontrollierten offiziellen Narrativ über die Pandemie widersprach. Gegen diese wird Folter eingesetzt, z.B. um Informationen über Aktivitäten zur Gesundheitsversorgung oder über anderes medizinisches Personal zu erhalten oder auch um Verbrechen zu gestehen, welche die Gefolterten gar nicht begangen hatten. Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR - Syrian Network for Human Rights) sind weiterhin mindestens 3.407 Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs von Verschwindenlassen oder Haft betroffen, wobei die syrischen Regimekräfte für mehr als 3.358 Fälle verantwortlich sind (USDOS 20.3.2023). SNHR dokumentierte von 2011 bis November 2021 den von 861 MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors, PHR (Physicians for Human Rights) verzeichnete den Tod von 930 Personen aus dem medizinischen Bereich, wobei das Regime sowie die russischen Truppen für mehr als 90 % der Fälle die Verantwortung trugen (USDOS 12.4.2022). Aufgrund der Kampfhandlungen in der Provinz Idlib und der Abwanderung großer Teile des Gesundheitspersonals mussten seit Dezember 2019 mindestens 83 Gesundheitseinrichtungen schließen (Stand 2021). Zahlreiche Ärzte und Pflegekräfte wurden zudem bei Angriffen getötet: 2022 kamen bei 17 Angriffen 25 Patienten und drei Pflegekräfte ums Leben, knapp 100 wurden verletzt (AA 29.3.2023).
Gewalt macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung laut US-Außenministerium gefährlich und teuer, z. B. durch die fallweise Verweigerung des Passierens von schwangeren Frauen an Regime-Checkpoints oder durch die Bombardierung von Gesundheitseinrichtungen in Oppositionsgebieten, von denen zwei Fälle vom Jahr 2022 erwähnt werden (USDOS 20.3.2023).
Im Süden Syriens, in den Provinzen Dara’a, Quneitra und Sweida, sind fünf von sechs Krankenhäusern beschädigt und nur bedingt funktionstüchtig. Laut WHO können komplexere Operationen und spezialisierte Behandlungen für chronische Krankheiten derzeit ausschließlich in Damaskus oder den Küstenorten Tartus und Lattakia durchgeführt werden. Bei lebensrettenden Arzneimitteln, medizinischem Personal und Ausstattung sind erhebliche Engpässe ermittelt worden, insbesondere im Hinblick auf die medizinische Behandlung verletzter und chronisch kranker Personen. Dies hat auch zur Rückkehr übertragbarer Krankheiten wie Polio geführt. Aufgrund kritischer hygienischer Bedingungen sowie unzureichender vorbeugender Maßnahmen und Behandlungen mehren sich landesweit Cholera-, Diphtherie- und Leishmaniose-Fälle (AA 29.3.2023). Die verfügbaren Daten für Nicht-COVID-19-Bezogene Krankheiten zeigen, dass grippeähnliche Erkrankungen, akute Diarrhö, Leishmaniose und mutmaßlich Hepatitis in allen Altersgruppen die Hauptursachen für Sterblichkeit sind. Dies gilt insbesondere für Lager von Binnenvertriebenen, in denen die Indikatoren für den Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygienediensten durchwegs schlechter sind als außerhalb. Vertriebene sind aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, Überbevölkerung und anderen Risikofaktoren einem erhöhten Risiko von Infektionskrankheiten ausgesetzt (WHO 3.2021).
Gewalt gegen Mitarbeiter im Gesundheitsbereich und Angriffe auf medizinische Einrichtungen, verbunden mit den Folgen von COVID-19, erschweren den Zugang zu medizinischer Versorgung, auch für Personen mit konfliktbedingten Behinderungen (USDOS 12.4.2022) [Anm.: speziell zur Lage von Kindern mit Behinderungen siehe USDOS 20.3.2023]. 28 Prozent der Bevölkerung haben – mehrheitlich konfliktbedingte – Behinderungen, fast doppelt so viele wie der internationale Durchschnitt (15 Prozent). In Nordostsyrien sind es sogar 37 Prozent. Insgesamt 59 Prozent der syrischen Erwachsenen mit Behinderung sind arbeitslos und knapp 50 Prozent ohne Zugang zu medizinischer Versorgung (AA 29.3.2023). Menschen mit Behinderungen benötigen Rehabilitations- und Hilfsdienste (WHO 3.2021). 25 Prozent der Über-Zwölf-Jährigen in Syrien haben eine Beeinträchtigung und 36 Prozent der Binnenvertriebenen. Die Hälfte der Binnenvertriebenen zwischen zwölf und 23 Jahren mit Beeinträchtigung besucht die Schule im Vergleich zu 69 Prozent der Binnenvertriebenen ohne Beeinträchtigung (HNAP 7.4.2021). Frauen und Menschen mit Beeinträchtigung scheinen im Nordwesten stärker betroffen zu sein, wo mehr als die Hälfte der Frauen und mehr als 40 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung von einem Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten berichten, im Vergleich zu etwas mehr als 35 Prozent der Frauen und fast 20 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung im Nordosten (USAID 16.04.2021).
Einer Studie zufolge leiden 60 Prozent der syrischen Bevölkerung an Symptomen, die auf eine mittelschwere bis schwere psychische Störung hindeuten. Schätzungen zufolge leiden eine Million SyrerInnen an schweren psychiatrischen Störungen, wobei 2018 nur 80 Psychiater im Land tätig waren (1 pro 100.000 Einwohner) (BJPSYCH 8.2021). Syrien ist unter den Ländern mit der höchsten Traumarate weltweit. Laut Angaben der Vereinten Nationen litten im Jahr 2020 36,9 Prozent der Bevölkerung unter Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD). Die Traumata bleiben häufig unbehandelt: Eine psychosoziale Betreuung der hohen Anzahl traumatisierter Menschen wird nur punktuell und fast ausschließlich durch Maßnahmen der WHO gewährleistet. Sexualisierte Gewalt ist so weit verbreitet, dass sie laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts inzwischen 'zum traurigen Alltag' insbesondere von Frauen und Mädchen gehört (AA 29.3.2023).
Die Folgen des Erbebens vom 6.2.2023
Der Mangel an Sanitäreinrichtungen, abgefülltem Trinkwasser und Wasser zum Baden sowie das [Anm.: im Frühjahr noch] kalte Wetter in stark überbelegten Sammelunterkünften und Zelten stellen ein Risiko für durch Wasser übertragbare Krankheiten und schwere Risken im Bereich reproduktiver Gesundheit, wie Infektionen dar. Es kam bereits zu Ausbrüchen von Krätze und anderen Krankheiten. Es gibt ein hohes Risiko für einen Cholera-Ausbruch in den betroffenen Gebieten. Mit Berichtszeitpunkt 3.3.2023 war bereits ein Anstieg der Cholera-Fälle von zwölf Prozent seit dem Erdbeben zu verzeichnen, darunter beinahe 1.700 Verdachtsfälle innerhalb einer Woche. Der Mangel an Laborausrüstungen und -materialien zur Überwachung der Qualität des Trinkwassers behindert die Prävention von durch Wasser übertragbare Krankheiten. Aus Lattakia, Tartus und Hama wird ein Mangel an Waschgelegenheiten gemeldet, was das Risiko von Läusen, Krätze, ansteckenden und infektiösen Krankheiten erhöht (DEEP 10.3.2023).
Gebiete außerhalb der Regierungskontrolle
Der Gesundheitssektor litt bereits vor den Erdbeben nach zwölf Jahren Krieg unter einem schweren Mangel an Ausstattung und medizinischem Personal (Al Jazeera 6.5.2023). Die Versorgung mit Medikamenten sowie die Abdeckung mit medizinischem Personal ist laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes noch schlechter als in Regimegebieten. Während es in Damaskus, Lattakia und Tartus immerhin 38-41 Pflegekräfte und Ärzte pro 10.000 Einwohner gibt, sind es in al-Hassaka, Raqqa und Dara’a lediglich 5-6 pro 10.000 Einwohner. Durch Vertreibungen aus in den vergangenen Monaten und Jahren vom Regime belagerten Gebieten, u. a. im Südwesten des Landes, wird das ohnehin extrem angespannte Gesundheitssystem im nicht vom Regime kontrollierten Nordwesten des Landes weiter belastet (AA 29.3.2023).
Die Erdbeben [Anm.: vom 6.2.2023 sowie Nachbeben] haben die Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung in Nordwest-Syrien verschärft, weil viele Gesundheitseinrichtungen beschädigt wurden, und daher nicht mehr in Betrieb sind. Weitere 42 medizinische Einrichtungen weisen eine Beschädigung von 20 bis 50 Prozent auf. Mehrere MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs starben, während bereits zuvor eine Knappheit an ausgebildeten MitarbeiterInnen herrschte (Al Jazeera 6.5.2023).
Auch die chronische Unterernährung von Kindern unter fünf Jahren ist in Nordost-Syrien doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Die Menschen im Nordwesten leiden unter Kampfhandlungen, Vertreibung und großer Armut, von den rund 4,6 Mio. Menschen dort leben knapp 1,8 Mio. notdürftig in Zelten. Aufgrund einer Finanzierungslücke von 82 Prozent sind im kommenden Winter laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs etwa 2,5 Mio. Menschen vom Erfrieren bedroht (AA 29.3.2023).
Humanitäre Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Sicherstellung einer Basisgesundheitsversorgung der Menschen dort werden vom Regime gezielt behindert bzw. verhindert. Auch gezielte Angriffe des Regimes gegen zivile Gesundheitseinrichtungen dauern an. Zwischen 2016-2019 wurden im Nordwesten 337 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gezählt, von den 606 durch die WHO erfassten Gesundheitseinrichtungen in Nordwestsyrien sind 131 funktionsunfähig. Laut Aid Worker Security Database steht Syrien mit insgesamt 337 (Stand Oktober 2022) Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen auf Platz drei weltweit – hinter dem Südsudan und Afghanistan. Hauptursachen waren Luftangriffe, Beschuss sowie Detonationen von Kampfmitteln (IEDs). Hilfsprogramme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in von der bewaffneten Opposition (Idlib) oder der kurdischen sog. „Selbstverwaltung“ kontrollierten Gebieten werden vom Regime durch Androhung einer Einstellung aller WHO-Operationen regelmäßig verhindert (AA 29.3.2023). Physicians for Human Rights (PHR) berichtete, dass schwangere Frauen in steigendem Maß Kaiserschnitte als Geburtsmethode wählten, um die Zeit in Krankenhäusern zu verringern, die als Ziel für Angriffe bekannt sind. Im Lauf des Jahres 2022 kam es weiterhin zu Luftangriffen des Regimes und der russischen Luftwaffe auf zivile Ziele, darunter auch Krankenhäuser (USDOS 20.3.2023).
Die Gesundheitsversorgung in den oppositionellen Gebieten wird weitestgehend von Nichtregierungsorganisationen geleistet, die von Zuwendungen der internationalen Gebergemeinschaft abhängig sind (AA 29.3.2023). Die aktuelle internationale Hilfe deckt laut einer Quelle vor Ort nur 25 Prozent des aktuellen Bedarfs an Medikamenten und medizinischer Ausstattung (Al Jazeera 6.5.2023). Die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, haben laut Aussagen humanitärer HelferInnen nicht annähernd mit der UNO vergleichbare Kapazitäten für den Ankauf und Transport von Hilfsgütern in den Nordwesten, wobei Russland wiederholt gedroht hat, mit einem Veto den UN-Hilfslieferungen und den UN-Geldern via Türkei ein Ende zu machen. Millionen Menschen in Nordost- und Nordwest-Syrien sind auf Lebensmittel, Medikamente und andere lebensnotwendige Hilfe - einschließlich COVID-19-Impfstoffen - über die syrisch-türkische Grenze angewiesen. In Nordost-Syrien konnten die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, nicht kompensieren, dass die UNO im Jänner 2020 ihre Hilfslieferungen vom Irak aus nach Syrien einstellen musste (HRW 12.1.2023). PatientInnen in den nordwestlichen Oppositionsgebieten, die vor den Erdbeben Behandlungen gegen Krebs in türkischen Spitälern erhalten konnten, können nicht lokal versorgt werden - ebenso wie auch Herzpatienten mit Operationsbedarf (Al Jazeera 6.5.2023).
Der Cholera-Ausbruch seit August 2022
Der Cholera-Fall vom 22.8.2022 gilt als der erste bekannte Fall (WHO 18.10.2022). Der Ausbruch begann in der Provinz Aleppo und ist höchstwahrscheinlich auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen, das zur Bewässerung von Feldern eingesetzt wurde, aber auch als Trinkwasser dient (AA 29.3.2023). Seit August 2022 hat sich die Cholera in Syrien ausgebreitet, wobei vor allem die Küste (ÖB Damaskus 12.2022) sowie die Provinzen Aleppo, Raqqa, Deir ez-Zor und Al-Hassakah am schlimmsten betroffen sind, obgleich in allen 14 Gouvernements Cholera-Fälle verzeichnet wurden (AA 29.3.2023). 23 Prozent von 84.607 Verdachtsfällen von Cholera aus ganz Syrien betreffen das Gouvernement Aleppo (DEEP 10.3.2023). Zwischen August 2022 und Januar 2023 wurden 100 zugeschriebene Todesfälle bei einer Fallsterblichkeitsrate von 0,13 Prozent verzeichnet. Zwar hat sich die Zahl der gemeldeten Verdachtsfälle in einigen Gouvernements mittlerweile deutlich verringert, insgesamt nehmen die kumulierten Fälle aber weiter zu. Die Gesundheitsbehörden in Nordostsyrien, deren Angaben nicht vom Gesundheitsministerium in Damaskus berücksichtigt werden, meldeten bis Ende Oktober 2022 152 positive Fälle und 29 Tote. (AA 29.3.2023)
Es wurde mittlerweile mit Impfungen gegen Cholera begonnen (UN Secretary General 21.2.2023).
Laut der WHO stellen das fragile Gesundheitssystem Syriens, Zugangsbeschränkungen zu Gebieten mit bewaffneter Gewalt und die mangelhafte Wasser-, Sanitäts- und Hygienesituation (Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Erschwinglichkeit von Wasser) bei hohen Preisen für sicheres Wasser die derzeit größten Herausforderungen dar (WHO 18.10.2022). Hinzu kommen Berichte, dass die Türkei keinen geregelten Wasserfluss in den Euphrat garantiert, und daher das Problem des Wassermangels zusätzlich verstärkt, während die syrische Regierung Hilfslieferungen für das Selbstverwaltungsgebiet behindert (AP News 7.11.2022, vergleiche HRW 7.11.2022).
COVID-19
Am 22.3.2020 wurde der erste Fall einer COVID-19 infizierten Person in Syrien bestätigt (ÖB Damaskus 29.9.2020). Unbestätigte Berichte deuteten damals darauf hin, dass das Virus schon früher entdeckt worden war, dies aber vertuscht wurde (Reuters 23.3.2020). Die offiziell verlautbarten Zahlen (rund 70 000 Fälle und 3300 Tote per Anfang Juli) für die von der Regierung kontrollierten Landesteile sind sehr niedrig; detto die der Testungen; die Dunkelziffer ist sehr hoch. Es folgten weitreichende Maßnahmen (u. a. Ausgangssperren, Verkehrsbeschränkungen, Schließungen von Bildungseinrichtungen und Geschäften), die zwischenzeitig weitgehend aufgehoben wurden. Die Pandemie traf ein Land mit einem Gesundheitssystem, das durch den Konflikt schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies trifft gerade auch für die humanitären Brennpunkte mit Hunderttausenden IDPs vor allem im Nordwesten zu (ÖB Damaskus 12.2022). Die vierte Welle erreichte das Land im Sommer 2021. Die WHO stufte Syrien aufgrund nicht vorhandener Kapazitäten im Gesundheitsbereich bereits zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 als Hochrisikoland ein. Impfstofflieferungen im Rahmen von COVAX verzögerten sich zu Beginn jedoch stark und die Auslieferung in Oppositionsgebiete wurde zeitweise durch das Regime zurückgehalten. Aufgrund fehlender persönlicher Schutzausrüstung, völlig unzureichender Test-, Isolations-, Kontroll- und Versorgungskapazitäten und aktiver Vertuschung der Pandemie durch das Regime gingen Nichtregierungsorganisationen mit Stand November 2021 von über einer halben Million tatsächlicher Infektionen aus (AA 29.11.2021). Die Informationen bzgl. der COVID-19 Pandemie sind landesweit weiterhin unzulänglich; laut syrischem Gesundheitsministerium gab es bis Ende Oktober 2022 57.354 Ansteckungen, 3.163 Menschen sind infolge einer Erkrankung verstorben. Bis Ende Juli 2022 erhielten 13,9 % der Syrerinnen und Syrer eine COVID-19-Impfung, 9,5 % sind doppelt geimpft (AA 29.3.2023).
Die Regierung erhielt mit Stand März 2021 geschätzte 120.000 Test-Sets und andere Ausrüstung von unterschiedlichen Ländern und soll diese an private Labore verkauft haben, statt sie im öffentlichen Gesundheitssystem zu verteilen. Es gibt auch Anschuldigungen, dass die Regierung Lieferungen, die für oppositionelle Gebiete bestimmt waren, für ähnliche Zwecke beschlagnahmt hat, bzw. sich bemüht, Hilfsgüter in die eigenen Gebiete zu lenken. Auch verweigerte die Regierung verschiedene kooperative Maßnahmen mit dem Selbstverwaltungsgebiet, was die dortigen Anti-Covid-Maßnahmen untergrub (COAR 10.3.2021) [Anm.: bzgl. Umgang mit Hilfsgütern siehe auch Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
Im Jahr 2020 berichteten die unterbesetzten medizinischen Fachkräfte, dass sie ihre Aufgaben unter der Aufsicht der mächtigen Sicherheitsdienste erfüllen mussten, welche die staatlichen Gesundheitseinrichtungen überwachen. Dies soll abschreckend auf Patienten wirken, die bereits zögern, sich in einem Land behandeln zu lassen, in dem die Angst vor dem Staatsapparat groß ist und jede kritische Diskussion über den Umgang mit der Pandemie als Bedrohung für eine Regierung angesehen werden könnte, die entschlossen ist, eine Botschaft der Kontrolle zu vermitteln (Al Jazeera 5.10.2020). Menschenrechtsaktivisten zufolge verhaftete das Regime MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs, die mit internationalen Medien über die COVID-19-Krise sprachen oder dem streng kontrollierten Narrativ über die Auswirkungen der Pandemie auf das Land widersprachen (USDOS 20.3.2023).
Gewalt durch MitarbeiterInnen medizinischer Berufe sowie Korruptionsberichte besonders bzgl. der Weltgesundheitsorganisation in Syrien
Im Jänner 2022 begann in Deutschland ein Gerichtsverfahren gegen den syrischen Arzt Alaa Mousa, der eines Mordes und der Folter in 18 Fällen in Militärhospitälern in Homs und Damaskus angeklagt ist. Folterungen finden Berichten zufolge in mehreren Militärkrankenhäusern statt (USDOS 20.3.2023).
Im Oktober 2022 wurden Berichte über Korruption, Betrug und Übergriffen im Syrien-Büro der WHO bekannt. So soll die Leiterin Akjemal Magtymova laut der Associated Press Hilfsgelder in Millionenhöhe veruntreut und Regierungsvertreter mit kostspieligen Geschenken beeinflusst haben. Des Weiteren beschuldigen WHO-Mitarbeiter ihre Chefin, inkompetente Verwandte von teils fragwürdigen Staatsfunktionären angestellt und während der COVID-19-Pandemie dringend benötigte Gelder, die für humanitäre Hilfeleistungen vorgesehen waren, anderweitig ausgegeben zu haben. Dadurch konnte und kann die WHO laut eigenen Mitarbeitern in Syrien das Gesundheitssystem, welches beinahe gänzlich auf internationale Hilfeleistungen angewiesen ist, nicht adäquat unterstützen, vor allem da das letztjährige Budget nur ca. 115 Millionen US-Dollar betrug. Eine interne Untersuchung der WHO der berichteten Missstände war damals bereits seit mehreren Monaten am Laufen (AP News 20.10.2022, vergleiche TG 20.10.2022). Zusätzlich zu den Fällen bei der WHO sollen die Ehefrau und ein Bruder des syrischen Außenministers Faisal Mekdad sowie Angehörige anderen Spitzen des syrischen Staatsapparats ebenfalls im Lauf der Zeit in den Genuss von Anstellungen bei UN-Organisationen in Syrien gekommen sein (FDD 15.3.2023).
Anmerkung, Bzgl. Korruption im öffentlichen Sektor Syriens siehe Kapitel Korruption.
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072999/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien%2C_%28Stand_November_2021%29%2C_29.11.2021.pdf, Zugriff 19.5.2023
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1.3.11. Rückkehr
Letzte Änderung: 12.07.2023
Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten. Gleichzeitig steigt durch die diplomatische Normalisierung zwischen Syrien und der Arabischen Liga in manchen Staaten der Druck auf die Flüchtlinge, trotz der für sie unsicheren Lage nach Syrien zurückzukehren (CNN 10.5.2023).
Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 12.1.2022) RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023, vergleiche Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Schikanen durch die syrischen Behörden (HRW 12.1.2023). Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften an Rückkehrenden, die sich an verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassen Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).
Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023).
Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).
Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).
Hindernisse für die Rückkehr
Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z.B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).
Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).
Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z.B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialen wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].
Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).
Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: mehr dazu siehe in dem Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort sowie im Unterkapitel Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr].
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.3.2023): Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: März 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2089904/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_%28Stand_M%C3%A4rz_2023%29%2C_29.03.2023.pdf, Zugriff 14.4.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (29.11.2021): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/de/dokument/2072999.html, Zugriff 6.6.2023
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/de/dokument/2059734.html, Zugriff 6.6.2023
Al Jazeera (17.5.2023): Syrian refugees in fear as Lebanon steps up deportations, https://www.aljazeera.com/news/2023/5/17/syrian-refugees-in-fear-as-lebanon-steps-up-deportations, Zugriff 19.5.2023
Balanche, Fabrice - Universität Lyon 2, Washington Institute (13.12.2021): Interview, per Videocall
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069699/country_report_2022_SYR.pdf, Zugriff 11.3.2023
CNN - Cable News Network.(10.5.2023): For Syrian refugees, Assad’s rehabilitation prompts fear of forced return, https://edition.cnn.com/2023/05/10/middleeast/syria-refugees-fear-assad-rehabilitation-mime-intl/index.html, Zugriff 6.6.2023
HRW – Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2085501.html, Zugriff 24.5.2023
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066477.html, Zugriff 6.6.2023
NMFA - Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (7.2019): Country of Origin Information Report Syria: The security situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2016076/Country+of+Origin+Information+Report+Syria+%28July+2019%29.pdf, Zugriff 6.6.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (12.2022): Asylländerbericht Syrien (Stand Ende Dezember 2022) (in der Staatendokumentation aufliegend)
ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (1.10.2021): Asylländerbericht Syrien (Stand September 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2066258.html, Zugriff 6.6.2023
The Guardian (24.4.2023): Scandal of Syria’s stolen homes: fraudsters use courts to legitimise thefts from refugees, https://www.theguardian.com/global-development/2023/apr/24/scandal-of-syrias-stolen-homes-fraudsters-use-courts-to-legitimise-thefts-from-refugees, Zugriff 6.6.2023
UNCOI - United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (7.2.2023): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/iici-syria/report-coi-syria-march2023, Zugriff 18.3.2023
UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (6.2022): Protection Analysis Update June 2022, https://www.globalprotectioncluster.org/wp-content/uploads/GOS-and-NES-PAU-June-2022-Final.pdf, Zugriff 6.6.2023
Weltbank (2020): The Mobility of Displaced Syrians, https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/31205/9781464814013.pdf, Zugriff 6.6.2023
1.3.12. Zur Einreise nach Syrien:
Themenbericht der Staatendokumentation: Syrien – Grenzübergänge [auszugsweise]
Datum der Veröffentlichung: 25.10.2023
Allgemeine Bemerkungen zu den syrischen Grenzen und Ausblick
Während sich die Staatsgrenzen Syriens in den letzten Jahren offiziell nicht verändert haben, und das syrische Regime inzwischen wieder rund zwei Drittel des Staatsgebiets - inklusive der sechs wichtigsten Städte (Damaskus, Aleppo, Homs, Hama, Latakia, Tartus, Dara’a und Deir ez-Zor) - kontrolliert, ist der Einfluss des Regimes auf das „Souveränitätssymbol par excellence“, nämlich die Staatsgrenzen, enden wollend. Die syrische Armee kontrolliert laut Fabrice Balanche, einem Experten für politische Geografie, nur ca. 15% der internationalen Landgrenzen. Die Kontrolle über den restlichen Grenzverlauf ist zwischen ausländischen Akteuren aufgeteilt (TWI/Balanche 10.2.2021).
Die Hisbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren rund 20 % der Staatsgrenzen. Während die syrischen Zollbehörden offiziell die Grenzübergänge in den Irak, nach Jordanien und in den Libanon kontrollieren (TWI/Balanche 10.2.2021), sind am Grenzübergang al-Bukamal/al-Qa’im zum Irak beispielsweise auf beiden Seiten pro-iranische Milizen präsent (TWI/Balanche 10.2.2021; vergleiche Haaretz 3.2.2023). Das syrische Regime hat allerdings nicht nur die Kontrolle über einen Großteil seiner Landgrenzen abgegeben, sondern auch die Souveränität über den Luftraum und die Seegrenzen bislang nicht wiedererlangt, die von den russischen Basen in Hmeimim (Luftraum) und Tartus (Seegrenzen) überwacht werden (TWI/Balanche 10.2.2021).
Nachstehend kann eine Übersichtskarte zu den Kontrollzonen unterschiedlicher Akteure entnommen werden:
Anmerkung: Die von Israel im Jahr 1967 besetzten Golanhöhen werden von der internationalenGemeinschaft als syrisches Staatsgebiet anerkannt, die Besetzung wurde in einer UN-Sicherheitsresolution des Jahres 1981 für nichtig erklärt (REU 25.3.2019). Der Kontrollpunkt zu den Golanhöhen nahe Quneitra ist auf der Karte als „Grenzübergang“ und die Waffenstillstandslinie als „internationale Grenze“ eingezeichnet, was entsprechend dem Status des Gebiets de jure nicht zutrifft. Weiters hat sich der Status von manchen internationalen Grenzübergängen inzwischen verändert (s. dazu die jeweiligen Abschnitte zu den konkreten Grenzübergängen).
Innerhalb des syrischen Staatsapparats konnte sich Präsident Bashar al-Assad unter anderem an der Macht halten, indem er kriminellen Gruppierungen und mächtigen Akteuren innerhalb des Sicherheitsapparats Handlungsspielraum für (illegale) wirtschaftliche Aktivitäten zugestand (Spiegel 17.6.2022; vergleiche BI 27.1.2023). Diese reichen von der groß angelegten Herstellung illegaler Drogen wie Captagon bis hin zu Schmuggel, Erpressung, informeller Besteuerung des grenzüberschreitenden Handels und anderen Formen der illegalen Geschäftemacherei (BI 27.1.2023). Innerhalb der syrischen Sicherheitskräfte übt dabei die als Iran-nahe geltende Vierte Division der Syrischen Arabischen Armee (SAA) Einfluss auf die Zoll- und Grenzkontrollen sowie für den grenzübergreifenden Schmuggel wichtigen Routen aus [Anm.: s. das Kapitel „Grenzbehörden der Syrischen Arabischen Republik“ für weitere Informationen] (Enab 30.1.2023; vergleiche FP 1.2.2023, AAA 14.1.2016).
Neben den mit der syrischen Regierung verbundenen Kräften sind auch Akteure ohne die Zustimmung der syrischen Regierung in Grenzregionen auf syrischem Staatsgebiet aktiv. An der Grenze zu Jordanien und dem Irak (TWI/Balanche 10.2.2021) im Südwesten Syriens unterhalten die USA in der Militärbasis at-Tanf eine strategische Präsenz, die auf die Bekämpfung des Islamischen Staats (IS) und des iranischen Einflusses in der Region abzielt (Jasim/STDOK 10.10.2023). Der Grenzübergang in at-Tanf, der im Irak auch als al-Waleed-Übergang bekannt ist, ist die kürzeste und schnellste Landverbindung von Iran zum Irak, dann nach Syrien und weiter in den Libanon zur Hisbollah. Der geografische Raum um at-Tanf bietet eine Art Autonomie für anti-Assad-Kräfte, die dort unter der Schirmherrschaft des US-amerikanischen Militärs stationiert sind (Alma 8.6.2023), sehr zum Missfallen der syrischen, iranischen und russischen Kräfte, die betonen, dass die US-Präsenz ohne Einladung und Abstimmung mit dem Assad-Regime gegen das Völkerrecht verstößt (Alma 8.6.2023; vergleiche MEHR 13.1.2021).
Entlang des weitgehend außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes stehenden syrischen Staatsgebiets im Nordwesten und Nordosten des Landes agieren ebenfalls unterschiedliche Akteure an den Grenzübergängen (TWI/Balanche 10.2.2021). Im Nordwesten sind dies insbesondere Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie mit der Türkei verbundene Kräfte (TWI/Balanche 10.2.2021; vergleiche UNOCHA 25.4.2023). Mit dem Verweis, dass die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) ein autonomes Verwaltungsprojekt innerhalb des Staats sei und nicht den Anspruch stellt, selbst staatliche Aufgaben zu übernehmen, hat die AANES die syrische Regierung nach türkischen Einmärschen dazu aufgerufen, die Grenzkontrolle entlang der türkisch-syrischen Grenze in Nordostsyrien zu übernehmen (Jasim/STDOK 10.10.2023). Im Zuge der „Peace Spring“-Militäroperation, bei der die türkischen Streitkräfte 2019 die beiden Städte Tel Abyad und Serekaniye (Ra’s al-’Ain) einnahmen, unterzeichnete die Türkei je ein Waffenstillstandsabkommen mit Russland und eines mit den USA. Die Abkommen sahen einen Abzug der Syrian Democratic Forces (SDF) [Anm.: Streitkräfte der AANES] in einem 30km breiten Streifen entlang der türkischen Grenze vor, in Kombination mit gemeinsamen Grenzpatrouillen der Türkei und Russlands, um die Umsetzung der Abkommen zu überwachen (SO 30.5.2022). Die Grenzpatrouillen sollten gemeinsame US-türkische Patrouillen in dem Gebiet weitgehend ersetzen (TWI/Balanche 10.2.2021). Entlang der Grenze gibt es Kontrollpunkte der syrischen Armee (van Wilgenburg 2.9.2023; vergleiche TWI/Balanche 10.2.2021). Balanche bezeichnet die Präsenz der Regierungstruppen dort allerdings als „lediglich symbolisch“ (TWI/Balanche 10.2.2021).
Die Ein- und Ausreisebestimmungen zwischen Syrien und der Türkei werden in Nordwestsyrien vor allem von der türkischen Seite bestimmt (FNWS 13.9.2023), während die Grenzübergänge zwischen der Türkei und der AANES auf Betreiben der Türkei durchwegs geschlossen sind.
Eine Grenzmauer riegelt das Gebiet auf türkischer Seite ab (Jasim/STDOK 10.10.2023; vergleiche TWI/Balanche 10.2.2021). Am Grenzübergang Semalka/Fishkhabour benötigen Syrer:innen die Zustimmung der Grenzbehörde der Kurdistan Region Irak (KRI), um den Grenzübergang zu passieren (van Wilgenburg 9.10.2023).
Der Grenzübergang Semalka/Fishkhabour mit dem Irak bzw. der KRI ist für die AANES der einzige Grenzübergang, den die zahlreichen, für die Versorgung der Bevölkerung wichtigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) benutzen können: auf der irakischen Seite an Syriens Ostgrenze hat die Kurdistan Regionalregierung (KRG) 2017 die Kontrolle über umstrittene Gebiete zwischen Kirkuk und Sinjar verloren und schiitische Milizen sind nachgerückt. Iranische Stellvertreter haben - zum Teil mit russischer diplomatischer Hilfe - seitdem verhindert, dass die AANES oder andere Akteure andere Grenzübergänge benutzen. Hierbei ist allerdings bedeutsam, dass die involvierten NGOs nicht auch in den Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes tätig sind: letzteres betrachtet einen Grenzübertritt via Semalka nämlich als illegal und alle NGOs, die eine Akkreditierung beim Syrischen Arabischen Roten Halbmond beantragen, um in den Gebieten des Regimes tätig zu werden, müssen sich verpflichten, Aktivitäten einzustellen, die mit einem Grenzübertritt aus den Nachbarländern in die AANES einhergehen (TWI/Balanche 10.2.2021). Der offizielle Grenzübergang al-Yaroubiya zwischen dem Irak und dem Gebiet der AANES ist für die humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen seit einem UN-Sicherheitsratsveto Russlands im Dezember 2019 geschlossen (TWI/Balanche 10.2.2021), wobei auch die Türkei versucht, auf die internationale Gemeinschaft Druck auszuüben, um die Isolierung der AANES aufrecht zu erhalten (Jasim/STDOK 10.10.2023). Damit müssen alle UN-Hilfsgüter für die AANES zunächst nach Damaskus geschickt werden, bevor sie in den Nordosten transportiert werden können (TWI/Balanche 10.2.2021).
Die Situation an den Grenzübergängen ist somit ein Spiegel der Machtverhältnisse in Syrien.
Neben den offiziellen Grenzübergängen gibt es auch im Gebiet unter Kontrolle der syrischen Regierung inoffizielle Grenzübergänge, die teils auch von staatlichen Akteuren benutzt werden, beispielsweise bei Rückführungen von Syrer:innen aus dem Libanon nach Syrien (SR 8.11.2022).
Ob ein Grenzübergang „offen“ ist, hängt mitunter vom Profil einer Person ab (CMEC/Tokmajyan 3.10.2023) und die Souveränität der Syrischen Arabischen Republik wird von diversen Akteuren eingeschränkt (TWI/Balanche 10.2.2021). Ebenso ist die Frage der Kontrolle von Grenzübergängen im syrischen Kontext nicht immer eindeutig zu beantworten. Neben der nominalen Kontrolle über Grenzübergänge berichten diverse Quellen von einer teils abweichenden, wirtschaftlichen Kontrolle über lukrative Grenzübergänge (FNWS 13.9.2023; vergleiche Haaretz 3.2.2023).
Ausblick - „Kantonalisierung“ von Syriens Nordgrenze
Die syrische Regierung unter Präsident Bashar al-Assad pocht seit langem darauf, die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet zurückzuerobern und die türkischen wie auch US-amerikanichen Sicherheitskräfte aus dem Land zu vertreiben (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022).
Dies kann allerdings nur in Absprache mit den in Nordwest- und Nordostsyrien präsenten internationalen Mächten gelingen (CMEC/Tokmajyan/Khaddour 27.3.2023). Sollten die USA nach den Präsidentschaftswahlen im November 2024 beispielsweise ihre Politik ändern und aus Syrien (oder sogar dem Irak) abziehen, könnten sich die Machtverhältnisse in Nordostsyrien, das sich derzeit weitgehend unter Kontrolle der [von den USA unterstützten] SDF befindet, deutlich verändern (van Wilgenburg 9.10.2023).
Seit dem 5.10.2023 führt das türkische Militär wieder schwere Luftangriffe und Drohnenschläge gegen Infrastruktur in Nordostsyrien durch, nachdem die Türkei zwei Militante aus Syrien für einen PKK-Anschlag in Ankara verantwortlich gemacht hat. Auch im November 2022 reagierte die Türkei mit Luftschlägen in Nordostsyrien auf einen Anschlag in Istanbul, den sie der Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD)/SDF zuschrieb. Die Türkei drohte zudem vor den allgemeinen Wahlen vom 14.5.2023 (van Wilgenburg 9.10.2023) wie auch im Jahr 2022 mit einer weiteren groß angelegten Bodenoffensive in Nordsyrien (Lead IG 1.11.2022; vergleiche Lead IG 3.8.2023). Die Bodenoffensive scheiterte bislang an der mangelnden Zustimmung von Syriens Verbündeten Iran und Russland wie auch der USA (van Wilgenburg 9.10.2023, Lead IG 1.11.2022; vergleiche Lead IG 3.8.2023). Manche kurdische Aktivist:innen fürchten jedoch, dass die Türkei vom jüngsten Aufflammen des palästinensisch-israelischen Konflikts profitieren könnte, indem sie eine neue Offensive in Nordostsyrien startet, während die Weltöffentlichkeit von einem neuen Gazakrieg abgelenkt ist. Derzeit [Stand 9.10.2023] sieht es allerdings nicht danach aus (van Wilgenburg 9.10.2023).
Der von Wladimir van Wilgenburg befragte Journalist Hisham Arafat beschrieb die Situation in Syrien als anhaltend „fluid, Bündnisse und Konkurrenzkämpfe wandeln sich weiterhin“. Gemäß seinem Letztstand vom September 2021 behält „Rojava einen bestimmten Grad an de facto-Autonomie in Nordostsyrien, während das syrische Regime weiterhin eine Präsenz in manchen
Gebieten aufrechterhält, insbesondere entlang der wichtigsten Fernstraßen. Verhandlungen zwischen den beiden Seiten haben zeitweise stattgefunden, aber eine umfassende politische Lösung blieb unerreichbar“ (van Wilgenburg 9.10.2023). Während die Lage ruhig wirkt (FNWS 13.9.2023) und van Wilgenburg sowie ein von ihm befragter kurdischer Aktivist aus al-Hassakah in naher Zukunft keine großen Machtverschiebungen in Nordostsyrien erwarten (van Wilgenburg 9.10.2023), ist die Lage trotzdem fragil (FNWS 13.9.2023) und es lassen sich manche Eskalationen im Gebiet beobachten (van Wilgenburg 9.10.2023). Als vor kurzem beispielsweise bestimmte arabische Stammesangehörige in Deir ez-Zor in Nordostsyrien gegen die SDF rebellierten, begannen türkische Kräfte zeitgleich, kurdisch kontrollierte Gebiete in Manbij anzugreifen (FNWS 13.9.2023; vergleiche van Wilgenburg 2.9.2023). Bei den schweren Kämpfen zwischen den SDF und gegnerischen arabischen Kämpfern zwischen 27.8. und 12.9.2023 in Deir ez-Zor wurden über 100 Personen getötet. Während die SDF ursprünglich Territorium verloren, konnten sie es später wieder zurückerobern und sehen sich jetzt mit Aufständischenangriffen konfrontiert, die vom syrischen Regime unterstützt werden (van Wilgenburg 9.10.2023).
Darüber hinaus verfügt das syrische Regime gegenwärtig nicht über die notwendigen Kapazitäten, um beispielsweise Nordwestsyrien und seine Bevölkerung in das syrische Staatsgefüge wiederaufzunehmen, wie die seit 2018 bestehenden Mühen des Regimes um die Herrschaft über Dara’a in Südsyrien nahelegen (CMEC/Tokmajyan/Khaddour 27.3.2023). Als Folge der Gebietsgewinne des syrischen Regimes in anderen Landesteilen wurden rund 200.000 Syrer:innen in den Nordwesten des Landes vertrieben, was die vorherrschende sunnitisch-ländliche gesellschaftspolitische Einstellung, die dem Regime kompromisslos feindlich gegenübersteht, in dem Gebiet noch weiter konsolidiert hat. In Nordwestsyrien leben damit bis zu 4.5 Mio. Menschen, die seit den verstärkten türkischen Grenzkontrollen ab 2015/2016 und einer abnehmenden Akzeptanz von Flüchtlingen in Europa nicht mehr wegkönnen (CMEC/Tokmajyan 3.10.2023).
Die „Kantonalisierung“ von Syriens Norden dürfte damit in naher Zukunft nicht rückgängig gemacht werden (CMEC/Tokmajyan/Khaddour 27.3.2023), allerdings kann es weiterhin zu „Anpassungen“ der Grenz- bzw. Frontverläufe kommen, schließlich ist keiner der vier involvierten Staaten mit der derzeitigen Situation zufrieden (CMEC/Tokmajyan 3.10.2023) - auch wenn Drohszenarien des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bezüglich eines erneuten groß angelegten militärischen Einmarschs bislang [Stand 10.10.2023] nicht Wirklichkeit wurden und die syrisch-türkischen diplomatischen Beziehungen 2022 intensiviert wurden (Lead IG 1.11.2022; vergleiche Lead IG 3.8.2023). Wie schon in der Vergangenheit ist davon auszugehen,mdass diese „Adjustierungen“ der Grenz- und Frontverläufe nicht ohne Härten stattfinden, einschließlich Kriegshandlungen und Militarisierung, Massenvertreibungen, niedergeschlagener Aufstände, demografischem Wandel und einem verstärkten Wettbewerb um begrenzte Ressourcen, bei denen Zivilist:innen den höchsten Tribut zahlen (CMEC/Tokmajyan 3.10.2023).
4.1 Grenzbehörden der Syrischen Arabischen Republik
Laut Gregory Waters, der unter anderem umfangreiche Recherchen zur syrischen Truppenaufstellung durchgeführt hat, verfügt das syrische Regime über Grenzschutztruppen, auch als Hajjane bekannt. Obwohl der Hauptaufgabenbereich der Grenzschutztruppen in der Bewachung der internationalen Landesgrenzen liegt, einschließlich der Bekämpfung von Schmuggel, und die Truppen vor allem Hilfsfunktionen an der Seite der Syrischen Arabischen Armee (SAA) - z. B. zum Objektschutz und bei defensiven Operationen - übernehmen, waren sie im Verlauf des Konflikts auch in Kampfhandlungen verwickelt. Vor dem Krieg unterstanden die Grenzschutztruppen dem General Intelligence Directorate (GID) [Anm.: auch als Staatssicherheit bekannt]. Nach Schaffung des 5. Korps im November 2016 [Anm.: eine von Russland unterstützte Einheit der SAA] wurden die Grenzschutztruppen zeitweise dieser Einheit zugeordnet. Ein von Waters befragter Angehöriger eines Regiments der Grenzschutztruppen behauptete im September 2019 jedoch, dass die Truppe offiziell keinem Divisions- oder Korpskommando untersteht, sondern jedes Regiment dem Divisionskommando der Region, in der es gerade eingesetzt ist, zugeordnet wird (IREV 25.9.2019). [Anm.: Abseits dieser Quelle konnten nur sehr wenige Informationen zu den Grenzschutztruppen gefunden werden.]
Ein Rundschreiben des Nationalen Sicherheitsbüros vom Jänner 2023 schuf eine neue Einheit zur Verwaltung der offiziellen und inoffiziellen Grenzübergänge Syriens mit seinen Nachbarstaaten, wobei in diesem Zusammenhang insbesondere die Grenzübergänge mit dem Libanon und Jordanien erwähnt werden. Die Einheit setzt sich aus Mitgliedern von vier Nachrichtendiensten und der Vierten Division der SAA zusammen (Enab 30.1.2023). Demnach sollen an den offiziellen Grenzübergängen gemeinsame Kontrollpunkte der Politischen Sicherheit, Militärsicherheit, Staatssicherheit und des Luftwaffengeheimdienstes geschaffen werden (Enab 30.1.2023; vergleiche SYD 3.2.2023). Die Vierte Division kontrolliert darüber hinaus gemeinsam mit Zollbeamt:innen Personen und zivile Fahrzeuge, welche die Grenze passieren. An den inoffiziellen Grenzübergängen und an der Grenze patrouilliert die Vierte Division, um den Schmuggel von Waren zu kontrollieren (Enab 30.1.2023).
Das Generaldirektorat für Zoll (General Directorate of Customs) in Syrien untersteht dem Finanzministerium und ist unter anderem mit der Bekämpfung von Schmuggel betraut (CUSTOMS o.D.). Das Generaldirektorat operiert hierbei nicht nur an den Grenzen, sondern ist auch dazu berechtigt, innerhalb Syriens Inspektionen durchzuführen (NPA 5.5.2021). Eine syrische Zeitung berichtete im August 2022 von einem Gesetzesentwurf, dem zufolge die Behörde unter dem Namen Generalbehörde für Zoll (General Authority of Customs) reorganisiert und die Angehörigen der derzeit dem Generaldirektorat unterstehenden Zollpolizei dem Verteidigungsministerium zugewiesen werden sollen (SO 1.8.2022; vergleiche Syria TV 10.10.2022). Ein Zeitungsbericht vom Mai 2023 erwähnt allerdings weiterhin das Generaldirektorat für Zoll als Zollbehörde (Shaam 10.5.2023). Das Generaldirektorat für Zoll gilt aufgrund seiner wichtigen Rolle bei der Versorgung des syrischen Regimes mit Geld und Devisen durch die Kontrolle des Handelsverkehrs und des Warentransports als eine der sehr wichtigen Institutionen des syrischen Regimes. Sie ist mittlerweile auch die Hauptaufsichtsbehörde des syrischen Regimes über den Schmuggel und Handel mit Drogen (Captagon-Pillen), die in den Regimegebieten in Syrien hergestellt werden (Syria TV 10.10.2022). Laut einem Bericht der oppositionsnahen Nachrichtenorganisation Shaam Network ist das Zolldirektorat eines der korruptesten Direktorate, und die in diesem Korps Beschäftigten zahlen Millionen [syrische Pfund] für ihre Anstellung an den Grenzübergängen, wobei sie dazu auch enge Verbindungen zu Offizieren der Assad-Streitkräfte und Direktoren öffentlicher Institutionen benötigen. An den Grenzübergängen beteiligen sie sich am Schmuggel aller Waren mit großen Geldbeträgen, insbesondere am Schmuggel von Waffen und Drogen (Shaam 10.5.2023; vergleiche AAA 14.1.2016).
Laut einem Bericht aus dem Jahr 2016 wird das Zolldirektorat von der Vierten Division kontrolliert, die sich in die Verzollung importierter Waren einmischt und Waren beschlagnahmt (AAA 14.1.2016). Ein jordanischer Politikanalyst bezeichnete die Vierte Division im Jänner 2023 als den „Dynamo des Schmuggels, der Plünderung und der Entrichtung von Gebühren“, der eine Vorgeschichte auf dem Gebiet des Drogenschmuggels hat. Nichtsdestotrotz wurde die Einheit mit dem oben erwähnten Rundschreiben vom Jänner 2023 wieder am Grenzübergang zu Jordanien stationiert (Enab 30.1.2023). Die verschiedenen Nachrichtendienste und die Vierte Division der SAA konkurrieren untereinander um die Stationierung an den Straßen zu den wichtigsten Orten innerhalb Syriens. Die Vierte Division hat bei der Stationierung in grenznahen Gebieten und zwischen den Gouvernementgrenzen Vorrang (Alaraby 22.1.2023) und kontrolliert de facto alle Transportrouten, die Syrien mit dem Libanon und Jordanien verbinden, sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Südsyrien (FP 1.2.2023). Die Grenzgebiete zum Libanon stellen beispielsweise eine bedeutsame Einnahmequelle für die Mitglieder und Offiziere der Vierten Division sowie für hochrangige Beamt:innen des Regimes dar, in Partnerschaft mit der libanesischen Hisbollah, welche Schmuggelübergänge zwischen den beiden Ländern kontrolliert (Alaraby 22.1.2023).
4.2 Einreisebestimmungen und ihre Umsetzung in Gebieten unter Kontrolle der Syrischen Arabischen Republik
Artikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 sieht vor, dass syrische Staatsbürger:innen nicht aus Syrien abgeschoben oder an einer Rückkehr nach Syrien gehindert werden können (Absatz eins,). Weiters haben syrische Staatsbürger:innen das Recht, sich innerhalb des Staatsgebiets frei zu bewegen oder dieses zu verlassen, es sei denn, die Entscheidung eines dazu bevollmächtigten Gerichts oder der Staatsanwaltschaft, oder Gesetze der öffentlichen Gesundheit sowie Sicherheit verbieten dies (Absatz 3,) (Verf SYR 27.2.2012). In der Praxis bestehen dennoch Einschränkungen bezüglich der Einreisemöglichkeiten, die in den Länderinformationen Syrien im COI-CMS der Staatendokumentation (dzt. Version 9 vom 17.7.2023) in den Kapiteln „Bewegungsfreiheit“, Unterkapitel „Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen“ sowie „Rückkehr“, Unterkapitel „Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort“, ausführlich beschrieben werden - einschließlich Informationen zu Sicherheitsfreigaben und Statusregelungen vor einer Rückkehr. Sie werden daher hier nicht noch einmal (vollständig) wiedergegeben, es wird jedoch auf die Relevanz dieser Sachverhalte bei einer etwaigen Einreise nach Syrien verwiesen. Darüber hinaus wird auf die folgenden Anfragebeantwortungen zu verschiedenen Aspekten bezüglich der Ein- und Ausreisebestimmungen hingewiesen:
o ACCORD -Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (14.6.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt [a-12132-2], https://www.ecoi.net/de/dokument/2094281.html
o ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (9.6.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Kontrollen durch Sicherheitsbehörden bei Einreise, Auswirkungen von negativem Asylbescheid [a-12124-5], https://www.ecoi.net/de/dokument/2094294.html
o ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (9.6.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Wiederansiedlung von Personen, die im Ausland waren, und Binnenvertriebenen (besondere Erfordernisse und Hürden, Profile von Rückkehrenden und solchen, die gescheitert sind), insbesondere Damaskus und Umland, Latakia, Tartous [a-12124-4], https://www.ecoi.net/de/dokument/2094290.html
o ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (24.3.2023): Anfragebeantwortung zu Syrien: Genehmigung der Ausreise eines Staatsangestellten durch den Vorgesetzten; Kontrolle bei Ausreise; Folgen illegaler Ausreise und zuständige Behörde; Folgen bei unerlaubtem Fernbleiben vom Arbeitsplatz; Ausreise genehmigung für männliche Staatsangestellte im wehrdienstpflichtigen Alter [a-12103-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2091208.html
Nachfolgend werden ein kursorischer Überblick sowie ergänzende Informationen zur Thematik bereitgestellt.
Reisedokumente und Einreisebestimmungen
Syrer:innen müssen in der Lage sein, bei einer Rückkehr ihre rechtliche Identität, ihren Status, ihre Staatsangehörigkeit und ihre familiäre Abstammung nachzuweisen. Bei der Einreise nach Syrien benötigen syrische Staatsbürger:innen einen gültigen Reisepass, ein Reisedokument (Laissez-Passer) oder eine andere, von den Behörden akzeptierte Form des Identitätsnachweises (Clutterbuck et al. 10.2019; vergleiche HRW 20.10.2021). Zur Einreise vom Libanon nach Syrien können Syrer:innen beispielsweise ihren nationalen Personalausweis benutzen. Für eine legale Ausreise aus dem Libanon benötigen sie allerdings einen legalen Aufenthaltsstatus im Libanon, über den nur rund ein Viertel der im Libanon lebenden syrischen Flüchtlinge verfügt. Darüber hinaus sind schätzungsweise rund 100.000 im Libanon lebende Syrer:innen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren nicht im Besitz eines syrischen Personalausweises oder Auszugs aus dem Personenstandsregister, welcher ihre Identität bestätigen würde, da dieser in Syrien beantragt werden muss. Die libanesischen Behörden haben zwar einige Kategorien von Rückkehrer:innen von der Zahlung der mit einem irregulären Aufenthalt verbundenen Bußgelder befreit (Clutterbuck et al. 10.2019), doch gilt dies nicht für alle. Einige Personen können damit mit einem Wiedereinreiseverbot belegt werden (Clutterbuck et al. 10.2019; vergleiche HRW 20.10.2021). Andere Syrer:innen, die ohne Nachweis eines formellen Wohnsitzes auf libanesischem Staatsgebiet ausreisen, können inhaftiert oder an der Grenze mit anderen Problemen konfrontiert werden. 75 % der syrischen Flüchtlinge in Jordanien besitzen keinen Reisepass, obwohl ein Laissez-passer, der zur einmaligen Rückkehr nach Syrien berechtigt, für 25 USD [Anm.: Stand 2019, s. auch nächster Absatz] bei der syrischen Botschaft erworben werden kann. Schätzungsweise sieben Prozent der syrischen Flüchtlinge in Jordanien sind völlig ohne Dokumente und möglicherweise nicht in der Lage, ein Reisedokument zu erhalten (Clutterbuck et al. 10.2019). Aus Jordanien zurückkehrenden Syrer:innen wurde von jordanischen Grenzbeamt:innen teils mitgeteilt, dass sie mit einem fünfjährigen Wiedereinreiseverbot belegt werden, wobei ein jordanischer Rechtsanwalt angab, dass es kein generelles Einreiseverbot für syrische Staatsangehörige in Jordanien gebe. Einreiseverbote stehen laut dem Rechtsanwalt vielmehr im Zusammenhang mit „Sicherheitsgründen“ oder Übertretungen wie gefälschten Dokumenten. Rückkehrer:innen brachten die Verhängung von Einreiseverboten mit einer illegalen Einreise nach Jordanien in Verbindung (HRW 20.10.2021).
Obwohl syrische Staatsbürger:innen das Recht haben, international zu reisen, verweigert das Regime Reisepässe und andere lebenswichtige Dokumente auf der Grundlage der politischen Ansichten des Antragstellers, seiner (vermeintlichen) Verbindung mit, oder Unterstützung von Oppositionsgruppen oder seiner Verbindungen zu geografischen Gebieten, in denen die Opposition dominiert (USDOS 21.3.2023). Die Kosten für Reisepasserneuerungen sind seit 2011 zudem deutlich gestiegen (HRW 27.6.2023) - von rund 30 USD vor 2011 auf gegenwärtig 300 USD für einen regulären Reisepass (AC 5.4.2021; vergleiche HRW 27.6.2023), wobei dieser normalerweise für sechs Jahre ausgestellt wird (SJAC 31.3.2022). Personen, die von den syrischen Sicherheitskräften gesucht werden, erhalten jedoch nur einen für zwei Jahre gültigen Reisepass (SNHR 28.1.2019; vgl.SJAC 31.3.2022). Es wird von Verzögerungen bei Passausstellungen oder -erneuerungen berichtet (HRW 27.6.2023; vergleiche SJAC 31.3.2022, COAR 28.2.2022), Mitte 2023 auch davon, dass die Bearbeitung von Passanträgen in den meisten Botschaften und innerhalb Syriens weitgehend zum Erliegen gekommen zu sein scheint, ohne dass die Behörden dies erklären. Syrer:innen berichteten von Schwierigkeiten bei der Reservierung von Terminen für die Ausstellung von Pässen, dass sie ohne Erklärung abgewiesen werden, oder überhöhte Beträge zahlen müssen, um das Verfahren zu erleichtern (HRW 27.6.2023; vergleiche Al-Hal Net 10.5.2023). Die Praxis, über Vermittler:innen, die mit Einwanderungsbeamt:innen in Verbindung stehen, mittels Bestechungsgeldern Termine für Passanträge zu erhalten, ist ein weitverbreitetes Phänomen an syrischen Konsulaten und Botschaften (COAR 28.2.2022; vergleiche SJAC 31.3.2022). Die tatsächlichen Kosten für die Beantragung von Reisepässen sind dadurch weitaus höher als die offiziellen Gebühren und belaufen sich oftmals auf bis zu 1.500 USD (SJAC 31.3.2022). Die Kosten für eine Reisepassausstellung sind für viele Bürger:innen unerschwinglich (USDOS 21.3.2023).
Die syrische Regierung führt laut der Menschenrechtsorganisation Syria Justice and Accountability Centre (SJAC) seit 2015 keine generellen nachrichtendienstlichen Überprüfungen von Passanträgen aus dem Ausland mehr durch, allerdings müssen die Antragsteller:innen Videobeweise vorlegen. Diese digitalen Inhalte ermöglichen es der syrischen Regierung, ihre im Ausland lebenden Bürger:innen zu lokalisieren, was die weitere Überwachung derjenigen erleichtert, die sie des Dissenses verdächtigt oder denen sie vorwirft, Syrien illegal verlassen zu haben. Die Beantragung von Reisepässen innerhalb des Landes werden vom Innenministerium überwacht. Antragsteller:innen oder Familienangehörige, die in ihrem Namen den Antrag stellen, sind dabei Gegenstand nachrichtendienstlicher Überprüfungen und laufen Gefahr, willkürlich inhaftiert, gefoltert oder zum Verschwinden gebracht zu werden (SJAC 31.3.2022).
Staatsangestellte müssen um eine Ausreisegenehmigung ihres zuständigen Ministeriums ansuchen und Männer im wehrpflichtigen Alter benötigen für die Ausreise aus Syrien eine Genehmigung der Generaldirektion für Rekrutierung (ACCORD 24.3.2023; vergleiche MBZ 8.2023), die bescheinigt, dass der Wehrdienst abgeleistet wurde. Ansonsten werden in Syrien aufhältigen Männern im wehrpflichtigen Alter Reisepässe vorenthalten (AA 29.3.2023). Wehrdienstverweigerer, Deserteure sowie Reservisten, die sich im Ausland aufhalten und für den Reservedienst gesucht werden, können dagegen einen Reisepass beantragen. Die syrischen Behörden sehen darin eine zusätzliche Einnahmequelle durch Personen, die meist nicht die Absicht haben, nach, Syrien zurückzukehren. Es ist auch möglich, dass Familienangehörige für einen im Ausland lebenden Mann, der sich dem Militärdienst entzogen hat oder als Reservist einberufen wurde, einen Pass beantragen. Ob dafür eine Einverständniserklärung der Armee erforderlich ist, ist nicht bekannt [Anm.: unberücksichtigt bleiben hier etwaige Fragen bzgl. eines Sicherheitsrisikos für vom syrischen Regime verfolgte Personen bei Betreten einer syrischen Vertretung oder für deren Angehörige bei einer stellvertretenden Passbeantragung innerhalb Syriens] (MBZ 8.2023).
Seit Juli 2020 müssen syrische Staatsangehörige bei der Einreise nach Syrien 100 USD zum offiziellen Wechselkurs in syrische Pfund eintauschen (HRW 10.2021; vergleiche AA 16.8.2023), wobei der offizielle Wechselkurs weit unter dem tatsächlichen Marktwert von US-Dollars liegt und Einreisende somit Geld verlieren (Alaraby 22.1.2023; vergleiche AC 5.4.2021). Die Regelung wurde im April 2021 teilweise gekippt, um Rückkehrer:innen davon auszunehmen. Human Rights Watch berichtete jedoch von Fällen, bei denen Rückkehrer:innen an der Grenze zu Jordanien gezwungen wurden, 100 USD pro Person zu übergeben und den entsprechenden Betrag in syrischen Pfund nicht zurückerhielten (HRW 10.2021).
Reisepässe werden bei der Ein- und Ausreise nach und aus Syrien gestempelt. Ob jemand illegal ausgereist ist, wird daher bei der erneuten Einreise durch einen Blick in den Pass ersichtlich. Darüber hinaus berichtet eine Quelle aus dem Jahr 2018 von einer Datenbank, die diesbezüglich an Grenzübergängen konsultiert werden kann [Anm.: bzgl. der Verfügbarkeit einer zentralen Datenbank an Grenzübergängen vergleiche auch nachfolgende Informationen] (IRB 9.9.2019). Gemäß Gesetz Nr. 9 aus dem Jahr 2013 muss „jede Person, die illegal in syrisches Hoheitsgebiet einreist, […] mit einer Freiheitsstrafe von einem bis fünf Jahren rechnen, verbunden mit einer Geldstrafe zwischen fünf und zehn Millionen syrischen Pfund oder einer der beiden Strafen“ (FSLA 21.9.2023; vergleiche Arabiya 25.6.2013). 2014 wurde ein weiteres Gesetz erlassen (Gesetz Nr. 2/2014), das ähnliche Regeln enthält und sich explizit auf ausländische Staatsbürger:innen bezieht. Während das Gesetz von 2013 keinen Bezug auf die Staatsbürgerschaft nimmt, ist nach Angaben der syrischen Rechtsanwaltsvereinigung Free Syrian Lawyers Association (FSLA) in Kombination mit dem ähnlich lautenden Gesetz von 2014 davon auszugehen, dass sich Gesetz Nr. 9/2013 vor allem auf syrische Staatsangehörige bezieht (FSLA 21.9.2023). Das syrische Regime betrachtet beispielsweise einen Grenzübertritt über den von der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) kontrollierten Grenzübergang Semalka/Faysh Khabour als illegal (TWI/Balanche 10.2.2021). Als eine französische Delegation im Juli 2023 in das Gebiet der AANES einreiste, äußerte sich das syrische Außenministerium dementsprechend, verurteilte die Vorgehensweise als eine Verletzung der staatlichen Souveränität der Syrischen Arabischen Republik (K24 18.7.2023) und forderte Frankreich dazu auf, internationales Recht zu respektieren, wobei es die Akteure der AANES als „separatistische und terroristische Organisationen“ bezeichnete (Tasnim 18.7.2023). Bei einer Einreise aus dem Irak über Faysh Khabour nach Syrien ist eine legale Weiterreise in von der Regierung kontrollierte Gebiete laut Fabrice Balanche, Associate Professor und Forschungsdirektor an der Universität von Lyon 2, nicht möglich. Wenn eine aus dem Ausland einreisende Person etwa nach Damaskus reisen will, muss sie über einen offiziellen Grenzübergang unter Kontrolle der syrischen Regierung, etwa über den Libanon oder die jordanisch-syrische Grenze, einreisen. Eine Einreise über den Grenzübergang Fish Khabour gilt offiziell nicht als Einreise nach Syrien und der Reisepass wird nicht abgestempelt. Einreisende erhalten lediglich ein „Papiervisum“. Sollte eine Person dennoch versuchen, zum Beispiel nach Damaskus weiterzureisen, würde sie festgenommen werden (ACCORD 14.6.2023).
Falls die Ausreise aus Syrien illegal erfolgte, müssen Personen vor einer geplanten Rückkehr ihren Status mit der Regierung „klären“, um einer Strafverfolgung zu entgehen (DIS 5.2022). Obwohl das syrische Regime für diese Regularisierungsprozesse durch ihre Auslandsvertretungen wirbt, stellt es dafür laut der FSLA unerfüllbare Bedingungen auf. Die syrische Botschaft im Libanon fordert beispielsweise, dass Syrer:innen Ein- und Ausreisedokumente der libanesischen Behörde General Security [General Security Office, GSO] vorlegen, die vom libanesischen Außenministerium beglaubigt werden müssen. Syrer:innen, die illegal aus Syrien aus- und in den Libanon eingereist sind, können diese Dokumente nicht vorlegen. Hinzu kommen die Sicherheitsrisiken, welche für syrische Flüchtlinge bei einer Interaktion mit den libanesischen Sicherheitsbehörden bestehen. Die syrische Botschaft in Istanbul sieht dagegen beispielsweise weniger komplexe Bedingungen zur Statusregularisierung für syrische Flüchtlinge vor. Allerdings stellen die Reise- und Übernachtungskosten für einen Aufenthalt in Istanbul hierbei eine Herausforderung dar, verbunden mit Kosten für Makler, um Termine bei der Botschaft zu erhalten. In den meisten Fällen wird die Genehmigung zur Legalisierung des Status nur durch die Vermittlung von Maklern erteilt, die mit den Sicherheitsbehörden des Regimes zusammenarbeiten, und es wird eine Zahlung von mindestens 5.000 USD verlangt, die sich je nach Sicherheitsstatus der Person erhöhen kann. Unabhängig davon gibt es selbst bei einer Statusregelung keine rechtliche Garantie dafür, dass die Person bei ihrer Rückkehr nach Syrien nicht von den Sicherheitsbehörden verhaftet wird (FSLA 19.9.2023). Verschiedene Quellen berichten von rechtswidrigen Einreisen von Syrer:innen nach Syrien, beispielsweise aufgrund der strikten Ausreisebestimmungen der libanesischen Behörden, wie auch von Festnahmen von illegal eingereisten Syrer:innen, wobei nicht immer klar war, ob dies nur aufgrund der illegalen Einreise geschah (DIS 5.2022).
Einheitlichkeit bei der Vorgehensweise, Rechtsstaatlichkeit
Weitergehende Informationen zum Thema Rechtsstaatlichkeit und Willkür können den Länderinformationen zu Syrien im COI-CMS der Staatendokumentation (dzt. Version 9 vom 17.7.2023) entnommen werden, insbesondere den Kapiteln „Politische Lage“, „Rechtsschutz und Justizwesen“ und „Rückkehr“. Dem Kapitel „Bewegungsfreiheit“ können weitergehende Informationen zu den Kontrollpunkten und der Behandlung von Reisenden an diesen entnommen werden.
Die Ein- und Ausreisebedingungen für Syrien können sich kurzfristig ändern (DFAT 7.6.2023).
Es gibt keine systematischen Erhebungen zur Lage von Syrer:innen nach ihrer Rückkehr. Unabhängige Organisationen, darunter auch UNHCR, waren nicht in der Lage, in diesem Bereich Daten zu sammeln und sind mit starken Einschränkungen bei der Beobachtung von Rückkehrer:innen in Syrien konfrontiert (DIS 5.2022; vergleiche MBZ 8.2023). Die vorhandenen Informationen zeigen kein klares Gesamtmuster bei ihrer Behandlung, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass die zuständigen Beamt:innen am Grenzübergang oder in den örtlichen Sicherheitsdienststellen die Befugnis haben, eigene Entscheidungen über die einzelnen Rückkehrer:innen zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022).
Human Rights Watch (HRW) dokumentierte im Rahmen einer Erhebung zur Behandlung von Rückkehrer:innen aus Jordanien und dem Libanon im Jahr 2021 sowohl Verhaftungen direkt am Grenzübergang, als auch bei Kontrollstellen diverser Sicherheitsdienste am Weg von der Grenze in den Heimatort der Rückkehrer:innen sowie einige Tage oder Monate nach der Rückkehr in den Heimatort (HRW 20.10.2021; vergleiche FSLA 19.9.2023).
Aufgrund der angespannten sozioökonomischen Lage in Syrien nützen Sicherheitsbeamt:innen sich bietende Möglichkeiten zur Erpressung ihrer Mitbürger:innen (DIS 5.2022), wobei Kontrollposten in den vergangenen Jahren eine wichtige Finanzierungsquelle für regimenahe Milizen und Sicherheitskräfte geworden sind und somit nicht nur der Ergreifung von Wehrdienstverweigerern und Reservisten dienen (Alaraby 22.1.2023). Wenn die verantwortlichen Beamt:innen an einem Grenzübergang herausfinden, dass Rückkehrer:innen im Besitz erheblicher Geldbeträge oder anderer Vermögenswerte sind, können sie der Person Schwierigkeiten machen, um diese zur Zahlung von Bestechungsgeldern zu bewegen. Einer von der dänischen Einwanderungsbehörde befragten syrischen Menschenrechtsorganisation waren mehrere Beispiele von Personen bekannt, die bei ihrer Rückkehr verhaftet und so lange festgehalten wurden, bis sie ein Bestechungsgeld zahlten, um freigelassen zu werden (DIS 5.2022).
Manche Quellen berichten, dass die Beamt:innen an bestimmten Grenzübergängen Zugang zu einer zentralen Fahndungsdatenbank haben (MBZ 8.2023; vergleiche DIS 5.2020). Andere Quellen bestreiten dies hingegen (MBZ 8.2023). Hinzu kommt, dass die verschiedenen Nachrichtendienste des syrischen Sicherheitsapparats jeweils eigene Fahndungslisten führen (DIS 5.2022; vergleiche HRW 20.10.2021). Es kann daher vorkommen, dass der Name einer Person im Rahmen einer Sicherheitsfreigabe von der Fahndungsliste eines Nachrichtendiensts gestrichen wurde, nicht jedoch von der Liste eines anderen Dienstes (DIS 5.2022). Zwischen den Grenzposten und jeder Stadt im Gebiet unter Kontrolle der syrischen Regierung bestehen eine Reihe von Sicherheitspunkten der Nachrichten- und Militärdienste des syrischen Regimes, die voneinander unabhängig agieren (Alaraby 22.1.2023). Obwohl die syrischen Nachrichtendienste einer Reihe von Flüchtlingen die Rückkehr gestatten, gibt es somit keine Garantie, dass die Rückkehrer:innen nicht von den Sicherheitsdiensten verfolgt werden, da es an einer angemessenen Koordinierung zwischen den Nachrichtendiensten fehlt. Im Zusammenhang mit einem Rückführungsprogramm der libanesischen GSO in Koordination mit dem syrischen Nachrichtendienst General Intelligence Directorate (GID) [Anm.: s. dazu auch Abschnitt zur libanesisch-syrischen Grenze] merkte eine Quelle zudem an, dass manchen Personen die Rückkehr eventuell einfach deshalb gestattet wird, weil sie von einer Behörde in Syrien gesucht werden und damit dann Opfer der brutalen Praktiken des Regimes werden (TIMEP 23.1.2023). Manche Rückkehrer:innen bekommen ein Dokument ausgehändigt, welches sie dazu anweist, sich bei einem Nachrichtendienst zu melden (der Politischen Sicherheit, Militärsicherheit, Staatssicherheit [GID]) (FSLA 19.9.2023; vergleiche TIMEP 23.1.2023). Wenn sie sich melden, werden sie verhört und aufgefordert, Informationen für das sogenannte Polizeidossier zu liefern. In diesem Dossier wird die Person, gegen die ermittelt wird, aufgefordert, alle männlichen Familienmitglieder aufzulisten, sodass die Sicherheitsbehörde die Akten der Familie innerhalb von 15 Tagen überprüfen kann. Diese Überprüfung entscheidet darüber, ob die zurückkehrende Person eine Reiseerlaubnis und ein „Versöhnungsdokument“ erhält. Obwohl das syrische Regime für „Versöhnungen“ wirbt, sind diese an Bedingungen geknüpft, die das syrische Regime festlegt und die rechtlich als „Unterwerfungsverträge“ einzustufen sind, da die andere Partei keine dieser Bedingungen ändern kann. Das syrische Regime hält sich nicht an die Vereinbarungen und ist dazu übergegangen, Personen unter dem Vorwand persönlicher Anzeigen zu verhaften, auch solche, die sich einer „Versöhnung“ unterzogen haben (FSLA 19.9.2023). Ob jemand bei einem Nachrichtendienst vorstellig werden muss, hängt von vielen Faktoren ab, u. a. davon, wer die zurückkehrende Person ist und welche Kapazitäten die Behörden vor Ort haben. Oft werden Bestechungsgelder an die Ermittler gezahlt, um die Verhöre zu erleichtern und die zurückgekehrte Person schließlich positiv zu bewerten, damit ihre Akte bei den Sicherheitsbehörden geschlossen werden kann (TIMEP 23.1.2023).
Es wurden mehrere Fälle von willkürlicher und illegaler Inhaftierung sowie Fälle von Vergewaltigung, sexueller Gewalt und gewaltsamem Verschwindenlassen von Rückkehrer:innen dokumentiert. Diese Praktiken haben nicht unbedingt etwas mit dem politischen Status der Rückkehrer:innen zu tun - ob sie nun der Opposition angehören oder nicht -, sondern mitunter auch einfach damit, dass sie Flüchtlinge sind oder einem Umfeld angehören, das sich gegen das Regime stellt (TIMEP 23.1.2023).
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Möglichkeiten zum Aufgriff von Wehrdienstverweigerern und Reservisten in Nordwestsyrien und dem Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien
Personen, die von der Türkei aus in Gebiete außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes in Nordwestsyrien reisen würden, können nicht von der syrischen Regierung gefunden und zum Dienst in der Armee einberufen werden, weil die syrische Regierung nicht von ihrer Einreise erfahren würde. Bei einer Einreise in die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) über den Grenzübergang Faysh Khabour [Semalka] aus dem Irak erfährt die syrische Regierung offiziell nichts von der Einreise nach Syrien. Daran bestünden laut Fabrice Balanche jedoch Zweifel, da es eine informelle Vereinbarung zwischen der AANES und der syrischen Regierung zu geben scheint. Die syrische Regierung weiß laut Balanche, wer über Faysh Khabour nach Syrien einreist (ACCORD 14.6.2023). Laut dem syrisch-kurdischen Journalisten Hisham Arafat sind es nur Gerüchte, dass es einen Informationsaustausch des syrischen Regimes und der AANES bezüglich einreisender Syrer:innen gibt und laut Bassam al-Ahmad, dem Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) hat die syrische Regierung nicht die Möglichkeit, zu überwachen oder zu kontrollieren, wer das Gebiet betritt (van Wilgenburg 9.10.2023). Laut Balanche könnte es auch sein, dass sich Spitzel der syrischen Regierung in der Region befinden, da die syrische Regierung genau überwache, wer über Faysh Khabour nach Syrien einreist (ACCORD 14.6.2023). Reservisten können jedoch in der AANES-kontrollierten Region nicht von der syrischen Regierung gefasst werden, außer sie betreten von der Regierung kontrollierte Gebiete in Qamischli [kurdisch: Qamishlo] oder al-Hasakah [kurdisch: Hesekê], da beide Städte unter geteilter Kontrolle stehen. In Qamischli gibt es ein Sicherheitsquadrat („security square“), das unter der Kontrolle der syrischen Armee steht, während der Rest der Stadt von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, YPG) kontrolliert wird (ACCORD 14.6.2023; vergleiche van Wilgenburg 9.10.2023). Die Streitkräfte des syrischen Regimes können Personen kontrollieren, wenn diese die Sicherheitsquadrate betreten (van Wilgenburg 9.10.2023). In der Nähe des Flughafens befindet sich eine Zone im Graubereich, wo es möglich ist, von regierungsnahen Kräften festgenommen zu werden (ACCORD 14.6.2023). Der Flughafen wird von Regimekräften kontrolliert. In den ländlichen Gebieten im Süden von Qamishli gibt es auch Kontrollpunkte des syrischen Regimes, an denen Passant:innen angehalten werden können (van Wilgenburg 2.9.2023). In al-Hasakah ist die Regierungskontrolle auf einen sehr kleinen Abschnitt beschränkt, der weniger als einen Quadratkilometer umfasst. Abgesehen von den aufgezählten Regionen ist es für Reservisten in den AANES-kontrollierten Gebieten relativ sicher („quite safe“) (ACCORD 14.6.2023). Es gibt außerdem Kontrollpunkte der syrischen Armee in den Grenzgebieten zu den von der Türkei unterstützten Gruppierungen in der Nähe von Ain Issa [kurdisch: Bozanê]/Tal Tamr [kurdisch: Til Temir] und an der Grenze zur Türkei, aber dort werden keine Personen kontrolliert. Die Kontrollpunkte wurden nach einer von Russland vermittelten Vereinbarung zwischen den Syrian Democatic Forces (SDF) [Anm.: Streitkräfte der AANES] und Damaskus im Oktober 2019 errichtet. Syrische Regierungstruppen sind auch an der Distriktgrenze von Manbij präsent. Diese Kontrollpunkte der syrischen Armee haben nicht die Befugnis, Menschen in den Städten zu kontrollieren, sie dienen der Abschreckung der Türkei (van Wilgenburg 2.9.2023).
Anmerkung: Es wird darauf verwiesen, dass die Beziehung zwischen dem syrischen Regime und den AANES nicht formalisiert ist und Veränderungen unterworfen ist (Jasim/STDOK 10.10.2023). Vgl. hierzu beispielsweise die jüngsten bewaffneten Auseinandersetzungen im Gouvernement Deir ez-Zor im September 2023, die zwischen den SDF und Verbündeten des Anführers des Militärrats von Deir ez-Zor ausbrachen, nachdem die SDF den Anführer des eigentlich mit ihr verbundenen Militärrats verhafteten (FR24 4.9.2023) und in deren Verlauf die SDF die syrische Regierung beschuldigten, Truppen in das unter SDF-Kontrolle befindliche Gebiet von Deir ez-Zor östlich des Euphrat zu entsenden (K24 1.9.2023). Dadurch haben sich die Beziehungen zwischen dem syrischen Regime und den AANES verschlechtert (Jasim/STDOK 10.10.2023).
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5 Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES)
Stabilität der Lage
Der Grenzübergang von Semalka/Fishkhabur [Anm.: auch Faysh Khabour, Peshkhabour] ist politisch wie wirtschaftlich zentral für das Überleben des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES]. Er stellt die einzige Einreisemöglichkeit für die zahlreichen NGOs dar, welche unverzichtbare Hilfe für die Bevölkerung dieser Region leisten. Da die syrische Regierung für die Einreise über Semalka weiterhin eine Strafe von fünf Jahren Haft vorsieht, müssen die Organisationen darauf achten, keine Aktivitäten in von der Regierung kontrollierten Gebieten durchzuführen. Jeder Akkreditierungsantrag beim Syrischen Roten Halbmond für die Arbeit im Regimegebiet setzt die Zusage der NGO voraus, jegliche Aktivitäten einzustellen, welche die Einreise aus Nachbarländern in das Selbstverwaltungsgebiet bedingen. Während Assad so zumindest einen Aspekt seiner Grenzsouveränität wieder zu erlangen versucht, bemühen sich russische Patrouillen, trotz Widerstands der SDF (Syrian Democratic Forces) bis nach Semalka vorzudringen, und irakische Milizen drohen mit der Besetzung des Grenzübergangs auf irakischer Seite (TWI/Balanche 10.2.2021). Vor den Wahlen am 14.5.2023 drohte auch die Türkei mit einer Invasion in Nordsyrien. Der Widerstand Russlands, Irans und der USA gebot dem jedoch Einhalt. Manche kurdische Aktivist:innen fürchten allerdings, dass die Türkei eine Militäroperation starten könnte, während die Welt durch den israelisch-palästinensischen Konflikt abgelenkt ist. Gemäß dem Journalisten Wladimir van Wilgenburg, dessen Schwerpunkt auf den Kurdengebieten in Syrien und im Irak liegt, sieht es zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht danach aus (van Wilgenburg 9.10.2023). Die Türkei übt allerdings durch die Lahmlegung von Infrastruktur Druck aus. Laut Thomas Schmidinger, einem Experten für die Lage in den kurdischen Gebieten Syriens, geht die Türkei ’systematisch’ gegen die zivile Infrastruktur vor und bombardierte Elektrizitätswerke, Getreidesilos sowie die Öl-, Gas- und Wasserversorgung. Mittlerweile sind gemäß Schmidinger alle Städte in der Selbstverwaltungsregion ohne Wasser- und Stromversorgung. Benzin, Öl und Gas sind kaum noch erhältlich, und wenn, dann zu extrem hohen Preisen. Der Großteil der heurigen Getreideernte ist vernichtet und Schmidinger warnt vor einer Hungersnot im Winter (Der Standard 13.10.2023).
Der Journalist Hisham Arafat beschrieb die Lage gegenüber van Wilgenburg als ’fließend’, in der ’Allianzen und Rivalitäten weiterhin wechseln’, wobei aktuell keine größere Machtverschiebung im Nordosten in Sicht scheint. Die SDF haben die Lage großteils unter Kontrolle, vorausgesetzt die USA halten ihre Militärpräsenz im Nordosten aufrecht. Die US-Wahlen im November 2024 könnten diesbezüglich die Lage ändern, falls die Republikanische Partei gewinnt, und den Abzug aus Syrien (und sogar dem Irak) beschließen sollte (van Wilgenburg 9.10.2023).
Die Präsenz von Regierungskräften im Selbstverwaltungsgebiet
’Rojava’ (AANES) erhält nach dem Wissensstand von Hisham Arafat vom September 2021 eine gewisse De facto-Autonomie in Nord- und Ost-Syrien aufrecht, während das syrische Regime in einigen Gebieten und besonders entlang der Highways vertreten ist. Verhandlungen haben dann und wann zwischen den beiden Seiten stattgefunden, aber eine politische Einigung bleibt außer Reichweite (van Wilgenburg 9.10.2023).
Innerhalb der Städte Qamishli und al-Hassakah gibt es Gebiete unter Regimekontrolle. In Qamishli gibt es einen ’Sicherheitsabschnitt’ (’security square’), der unter der Kontrolle der syrischen Armee steht, während der Rest der Stadt von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (KR: Yekîneyên Parastina Gel, YPG) kontrolliert wird. In al-Hassaka ist die Regierungskontrolle auf einen sehr kleinen Abschnitt beschränkt, der weniger als einen Quadratkilometer umfasst (ACCORD 14.6.2023). In beiden Städten können die syrischen Sicherheitskräfte beim Betreten der ’Sicherheitsabschnitte’ Kontrollen durchführen. Ein Checkpoint des Regimes befindet sich auch nach der Grenze, und der Flughafen [Anm.: von Qamishli] wird von syrischen Regierungskräften kontrolliert (van Wilgenburg 2.9.2023). In der Vergangenheit wurden einige Journalist:innen in Qamishli von Regierungskräften verhaftet, z. B. ein schwedischer Journalist im Jahr 2015. Dies geschah beim Filmen nach Betreten des ’Sicherheitsabschnitts’ (van Wilgenburg 9.10.2023), wobei der Journalist eine Woche später wieder freigelassen wurde (REU 22.2.2015). Das Betreten der regimekontrollierten Gebiete kann auch ohne Aufforderung zum Vorzeigen eines Identitätsnachweises erfolgen. Allerdings geht es im Sicherheitsabschnitt in al-Hassakah laut einem kurdischen Aktivisten strenger zu (van Wilgenburg 9.10.2023). In der Nähe des Flughafens von Qamishli befindet sich auch eine Zone im Graubereich, wo es ebenso möglich ist, von regierungsnahen Kräften festgenommen zu werden (ACCORD 14.6.2023). Auf dem Land im südlichen Qamishli gibt es ebenfalls syrische Checkpoints, an denen Personen angehalten werden können (van Wilgenburg 2.9.2023), wo es eine Anzahl arabischer Dörfer unter Regimekontrolle gibt (van Wilgenburg 9.10.2023). Die Armee-Checkpoints haben dort auch schon von Zeit zu Zeit US-Patrouillen aufgehalten und gezwungen, wieder wegzufahren (van Wilgenburg 9.10.2023).
Die Checkpoints sind mit Mitgliedern der syrischen Armee (SAA - Syrian Arab Army) oder der National Defence Forces (NDF) besetzt. Einmal kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der NDF und Mitgliedern des Jubour-Stammes, nachdem ein Stammesmitglied im Sicherheitsabschnitt von al-Hassakah beleidigt worden war. Daraufhin entfernte die SAA die NDF-Kämpfer von dem Sicherheitsabschnitt und ersetzte deren Kommandanten wegen Rebellion gegen die Regierung (van Wilgenburg 9.10.2023).
Überdies gibt es syrische Armee-Positionen in den Gebieten, die an Regionen unter Kontrolle pro-türkischer Gruppen grenzen - nahe Ain Issa/Tal Tamr - sowie an der Grenze zur Türkei. Dort werden jedoch keine Personenkontrollen durchgeführt. Dazu gibt es ein Abkommen zwischen den SDF (Syrian Democratic Forces) und dem Regime vom Oktober 2019, das Russland vermittelt hat. Es sind auch Regierungstruppen an der Grenze der Provinz Manbij stationiert. Die Armee-Checkpoints sind nicht in der Lage, Personenkontrollen in den Städten durchzuführen, sie dienen vielmehr zur Abschreckung der Türkei (van Wilgenburg 2.9.2023). In Tal Rifaat ist die Situation laut van Wilgenburg eine andere als in den übrigen Gebieten. Er kann aus diesem Grund nicht sagen, ob die Regierung in Tal Rifaat Personen zum Reservedienst einziehen könne oder nicht. Die Kurden gestatten es allgemein nicht, dass die Regierung Personen in den von ihnen kontrollierten Gebieten zum Militärdienst einzieht (ACCORD 24.3.2023).
Laut einem im August 2023 von ACCORD kontaktierten Syrienexperten würden sich die Gebiete in und um Manbij zwar durch die Präsenz einiger Regierungstruppen auszeichnen, die SDF seien jedoch nach wie vor der Hauptakteur in der Region. Die SDF haben der Regierung lediglich erlaubt, Truppen einzusetzen, um eine mögliche türkische Militäroperation in Nordsyrien zu verhindern. Daher seien die Regierungstruppen zwar präsent, allerdings beschränke sich diese Präsenz auf die Durchführung von Patrouillen, meist zusammen mit der russischen Militärpolizei. In der Region sei die SDF zurzeit der wichtigste Kontrollakteur, der die Möglichkeit habe, die Lokalbevölkerung zu rekrutieren und zu verhaften. Der Syrienexperte bestätigte auf Nachfrage im September 2023, dass die syrische Regierung seines Wissens nach keine Wehrpflichtigen für den Militärdienst in Manbij einberufen könne, was auch van Wilgenburg bekräftigte. Die Menschenrechtsorganisation Syrian Network for Human Rights (SNHR) gab in einer E-Mail-Auskunft an ACCORD im August 2023 dagegen an, dass die Rekrutierung von Wehrpflichtigen und Reservisten durch die syrische Regierung an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden sei, was bedeute, dass junge Menschen, die einen Checkpoint unter der Kontrolle der Regierungskräfte in der Nähe von Manbij passieren würden und für den Militärdienst gesucht würden, zur Wehrpflicht eskortiert würden (ACCORD 7.9.2023).
Die russischen Einheiten führen von Zeit zu Zeit Patrouillen zusammen mit der türkischen Armee oder den SDF durch. Sie überprüfen auch manchmal Orte, die von der Türkei bombardiert wurden. Sie unterhalten aber keine Checkpoints ebenso wenig wie die US-Armee. Diese betreibt Positionen in den Provinzen Deir ez-Zor und al-Hassakah, deren Perimeter von den SDF geschützt werden (van Wilgenburg 9.10.2023).
In den anderen Gebieten ist es laut Auskunft von Bassam al-Ahmad, dem Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) viele Jahre her, dass die syrische Regierung jemanden festgenommen hat (van Wilgenburg 9.10.2023). Im nördlichen Aleppo, wo kurdische Kräfte aktiv sind, und vertriebene Flüchtlinge aus Afrin in Lagern leben, ist auch das Regime präsent. Dort ist die Lage anders. Mit der Partei der Demokratischen Union (PYD) alliierte Kräfte kontrollieren die Checkpoints von Sheikh Maqsoud und Ashrafiya [Anm.: zwei kurdische Stadtviertel in Aleppo Stadt], welche zuweilen von Regimekräften abgeriegelt werden, um Druck auf die AANES und die SDF auszuüben (van Wilgenburg 9.10.2023).
Anmerkung: Umfangreiche Informationen zum Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien können u. a. den entsprechenden Unterkapiteln zu den Kapiteln „Politische Lage“ und „Sicherheitslage“ der Länderinformationen zu Syrien im COI-CMS der Staatendokumentation (dzt. Version 9 vom 17.7.2023) entnommen werden.
5.1 Einreisebestimmungen und ihre Umsetzung
Fishkhabour/Semalka als einziger für Personen offener Grenzübergang zum Irak ohne direkten Regimekontakt
Der Fluss Tigris trennt die beiden Seiten des Grenzübergangs Fishkhabour/Semalka [Anm.: verschiedene Umschriften möglich, z. B. auch Faysh Khabour, Peshkhabour]. Es gibt zwei Flussübergänge - einen für private bzw. zivile Reisebewegungen und einen für kommerzielle und humanitäre Güter. Auf der syrischen Seite kontrolliert die PYD (Partei der Demokratischen Union) den Semalka-Übergang, und laut Journalist Hisham Arafat sind zwei Organe der [Anm.: selbst ernannten] Selbstverwaltungsregion AANES (Autonomous Administration of North and East Syria) vor Ort: 1.) die Asayish (Sicherheitspolizei) in Form von Wachen (Polizei oder interne Sicherheitskräfte der AANES) und 2.) die zivile Grenzverwaltung, deren Personal für die Dokumente der Reisenden bei Ein- und Ausreise zuständig ist. Am Grenzübergang Semalka sind keine Beamten des syrischen Staates präsent (van Wilgenburg 9.10.2023).
Auf der irakischen Seite betreibt das Kurdistan Regional Government (KRG) der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) unter der Leitung von Direktor Shawkat Barbuhari (Berbihary) den Grenzübergang Fishkhabour. Sein Stellvertreter ist Nazim Hamid Abdullah. Hamid Darbandi ist nicht nur Leiter der Abteilung für Public Relations der Präsidentschaft der KRG, sondern auch für die Beziehungen zu Syrien, bzw. den syrischen Kurd:innen. Er spielt eine Rolle bei Genehmigungen, besonders für Ausländer:innen, welche die Grenze überqueren wollen. Einer zweiten syrisch-kurdischen Quelle zufolge werden beide Seiten des Grenzübergangs von den jeweiligen Innenministerien der kurdischen Regionalverwaltungen KRG und AANES betrieben. So sind es auch auf der irakischen Seite Asayish der KRI (Kurdistan Region Irak) bzw. der KDP, welche in manchen Fällen Personen bei der Einreise aus Syrien oder ihrer Rückkehr befragen, insbesondere, wenn es sich um Ausländer:innen handelt, die nach Syrien reisen (van Wilgenburg 9.10.2023).
Der Grenzübergang Semalka gilt politisch, humanitär und wirtschaftlich als Lebensader der AANES. Nur hier können laut Thomas Schmidinger auch politische Delegationen, NGOs und andere humanitäre Organisationen den Norden und Osten Syriens erreichen (Al-Monitor 21.5.2023).
Behandlung bei der Ein- und Ausreise am Grenzübergang Semalka/Fishkhabour
Es gibt laut Wladimir van Wilgenburg nur wenige Rückweisungen am Grenzübergang (van Wilgenburg 9.10.2023).
Dabei handelt es sich auf irakischer Seite um Fälle mit politischem Hintergrund, etwa Personen, gegen die in der KRI Dossiers vorliegen. So wurde Syrer:innen das Betreten der KRI wegen des Verdachts einer Verbindung zur PKK, YPG oder PYD (Kurdische Arbeiterpartei, Volksverteidigungseinheiten, Partei der Demokratischen Union), syrischen Nachrichtendiensten oder pro-türkischen Milizen wie der SNA (Syrian National Army) und FSA (Freie Syrische Armee) verwehrt. Personen mit wahrgenommenen Verbindungen zur Selbstverwaltung (AANES), YPG oder SDF (Syrian Democratic Forces) erlangen laut Einschätzung eines von van Wilgenburg befragten Aktivisten nicht so leicht Zutritt (van Wilgenburg 9.10.2023). Auf der syrischen Seite wurde auch syrischen Bewohner:innen der KRI die Rückkehr nach Syrien von AANES-Kräften verweigert - und zwar wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Verbindungen zur PDK-S (dem syrischen Zweig der irakischen KDP der Barzani-Familie), zum Kurdish National Council (KNC) [Kurdischer Nationalrat, von Barzani unterstützter Zusammenschluss kurdischer Parteien] oder zu türkischen Nachrichtendiensten, syrischen Oppositionsmilizen (SNA, FSA) oder dem Islamischen Staat etc. (van Wilgenburg 9.10.2023). Laut van Wilgenburg war es früher für Mitarbeiter:innen der AANES bzw. des Syrian Democratic Council (SDC) [Anm.: Syrischer Demokratischer Rat, politisches Gremium der AANES] leichter, in die KRI einzureisen, während in den letzten Jahren die Einreise durch die KRI verweigert wurde. Gleichzeitig hat die AANES ihrerseits Vertreter:innen des KNC die Einreise verweigert. Hintergrund sind die verstärkten Spannungen zwischen der PKK und der KDP im irakischen Kurdistan. Die syrische PYD ist mit der PKK verbunden, bzw. steht ihr nahe, während der KNC und PDK-S der KDP bzw. KRG nahestehen. Nach früheren, nie umgesetzten Vermittlungsabkommen gab es auch einen Versuch der USA im Jahr 2020, einen Dialog zwischen den beiden Seiten zu vermitteln, der scheiterte. Oft kam es nach dem Bruch der Abkommen zu Spannungen, und die Grenzübergänge wurden geschlossen, und die beiden Seiten verweigerten jeweils den KNC-Funktionären oder den PYD-Vertreter:innen die Einreise (van Wilgenburg 9.10.2023).
Es kommt auch zu Fällen, wo die Grenzen ganz für Grenzübertritte geschlossen sind, und von beiden Seiten kein Passieren möglich ist (van Wilgenburg 9.10.2023).
Es gibt nicht viele Verhaftungen direkt an der Grenze, auch wenn Leuten die Einreise verweigert wird. Einige Fälle von Verhaftungen und Misshandlungen ereigneten sich laut Hisham Arafat in den letzten Jahren aufgrund der politischen Ansichten der Reisenden, einer früheren Mitgliedschaft in einer (bewaffneten) Gruppe (van Wilgenburg 9.10.2023) oder weil die Betreffenden den Wehrdienst in der HXP (Selbstverteidigungseinheiten der AANES) vermieden hatten (van Wilgenburg 9.10.2023, van Wilgenburg 17.10.2023). Direkt am Grenzübergang kommt es nicht zu Misshandlungen (van Wilgenburg 9.10.2023).
So erwähnte Arafat das Beispiel von Regin Sherro, einer Korrespondentin des Medienunternehmens Rudaw, die von Asayish der AANES wegen ihrer Arbeit für Rudaw misshandelt wurde. Rudaw ist eine der führenden Fernsehstationen in der KRI. Sie hatte vor sechs Jahren politische Differenzen mit der „von der PKK kontrollierten“ AANES. Dies ereignete sich jedoch nicht an der Grenze, ebenso wie andere Vorwürfe von Folter und Tod in Haft (van Wilgenburg 9.10.2023).
Aufseiten der KRI wurden einige syrische kurdische Aktivist:innen durch KRI-Sicherheitskräfte misshandelt, weil sie verdächtigt wurden, mit der PKK oder anderen kurdischen Parteien in Verbindung zu stehen - so z. B. in einigen Fällen im Jahr 2015. Aber dies geschah auch nicht direkt an der Grenze (van Wilgenburg 9.10.2023).
Bassam al-Ahmad, der geschäftsführende Direktor von Syrians for Truth and Justice, gibt an noch nie von Verhaftungen oder Misshandlungen auf einer der beiden Seiten [direkt] an der Grenze gehört zu haben. Auch andere syrisch-kurdische Quellen bestätigten, dass es keine Verhaftungen an der Grenze gab (van Wilgenburg 9.10.2023).
Ausweisungen von kurdischen Syrer:innen aus dem AANES-Gebiet in die KRI
Die Asayish gehen auch von Zeit zu Zeit gegen Unterstützer:innen des KNC im Gebiet der AANES vor, brennen ihre Büros nieder oder diese werden von den lokalen AANES-Behörden geschlossen. Der Spitzenvertreter des KNC Ibrahim Birro wurde im August 2016 verhaftet und ausgewiesen. Auch syrisch-kurdische Journalist:innen mit KNC-Sympathien wurden in die KRI ausgewiesen (van Wilgenburg 9.10.2023).
Legalität der Einreise via Fishkhabour/Semalka
Dastan Jasim weist darauf hin, dass dieser Grenzübergang weder von Syrien noch vom Irak offiziell anerkannt ist, und das Queren der Grenze ist illegal, auch wenn dies in den meisten Fällen nicht strafrechtlich verfolgt wird, weil sich beide Seiten unter kurdischer Kontrolle befinden (Jasim/STDOK 10.10.2023). Reist jemand aus dem Irak über Fishkhabour nach Syrien ein, ist keine legale Einreise in von der Regierung kontrollierte Gebiete möglich, so der Syrienexperte Fabrice Balanche. Wenn eine aus dem Ausland einreisende Person etwa nach Damaskus reisen wollte, müsste sie über einen offiziellen Grenzübergang unter Kontrolle der syrischen Regierung, etwa über den Libanon oder die jordanisch-syrische Grenze, einreisen. Eine Einreise über den Grenzübergang Fishkhabour gilt nicht offiziell als Einreise nach Syrien und der Reisepass wird nicht abgestempelt. Man erhält bei der Einreise lediglich ein ’Papiervisum’. Sollte eine Person, dennoch versuchen, zum Beispiel nach Damaskus weiterzureisen, würde sie festgenommen (ACCORD 14.6.2023). 4
Semalka ist daher für viele Leute im Nordosten Syriens der bevorzugte Grenzübergang, weil er nicht von der syrischen Regierung anerkannt oder verwaltet wird. Der fehlende Eintrag im Reisepass ist auch für diejenigen Syrer:innen wichtig, die Angst haben, ihre Aufenthaltsgenehmigung im Ausland als Flüchtlinge zu verlieren, wenn ihre Reise nach Syrien aufscheinen würde (Al-Monitor 21.5.2023).
Für Zivilist:innen ist das Überqueren der irakisch-syrischen Grenze abseits der Benutzung von Semalka großteils gefährlich, zumal diese schwer durchdringbar ist (Jasim/STDOK 10.10.2023).
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Öffnungen und Schließungen des Grenzübergangs
Der Grenzübergang ist aktuell [Stand 9.10.2023] offen (van Wilgenburg 9.10.2023).
Semalka und Yaroubiya [Anm.: für Güter - siehe Unterkapitel ’Grenzübergänge’, auch Yaarubiyah] können von Schließungen betroffen sein. Semalka wird gelegentlich aus politischen Gründen von der KRG geschlossen, besonders wenn sich Spannungen zwischen der im Nordirak dominanten KDP und der PYD, welche die AANES dominiert, zuspitzen. Allerdings dauern diese Blockaden nicht lange, weil der Handel für beide Seiten sehr profitabel ist. Zwischen den beiden Autonomieverwaltungen gibt es ’diplomatische’ Beziehungen. Seit der Militäroffensive ’Claw Eagle Operations’ der Türkei im Jahr 2019 erhöht diese den Druck auf die KRG und den Irak, die Grenze zur AANES zu schließen, um diese zu isolieren (Jasim/STDOK 10.10.2023). Laut van Wilgenburg sorgten die Spannungen zwischen der KRG und der AANES und den mit ihr verbundenen Streitkräften besonders im Zeitraum 2013 bis 2018 für Schließungen von Semalka. Seither wurden die Schließungen weniger und die letzte war im Mai 2023, als die PYD bzw. AANES KNC-Funktionär:innen nicht erlaubte, zu einer Museumseröffnung in die KRI zu reisen. Im Dezember 2021 kam es zu einer Schließung aufgrund von Spannungen zwischen der KDP und PYD nach einem Protest oder Angriff einer PKK-Jugendgruppe an der Grenze. Im Jahr 2020 war die Grenze wegen der COVID-19-Pandemie geschlossen (van Wilgenburg 9.10.2023). Im Dezember 2021 kam es zu einer Schließung, die 40 Tage andauerte. Während der Schließung im Juni 2021 zum Höhepunkt neuerlicher inner-kurdischer Spannungen war der Grenzübergang für Reisende gesperrt, aber nicht für den humanitären Bereich (Al-Monitor 21.5.2023).
Gelegentlich zeigt auch die irakische Zentralregierung ihren Unmut über die Existenz der inoffiziellen Grenzübergänge der KRG, was dann dazu führt, dass diese für einige Tage geschlossen werden, bis die Aufmerksamkeit der Regierung geschwunden ist (Jasim/STDOK 10.10.2023).
Im Fall von Schließungen ist Nordost-Syrien dann nur über das Regierungsgebiet erreichbar (Al-Monitor 21.5.2023). Die KDP hat bisher auch im Fall von Schließungen immer Nahrungsmittel und Medikamente passieren lassen (CAP 26.5.2021).
Die Selbstverwaltung AANES ist (auch) an der irakischen Grenze an den essenziellen Grenzübergängen Fishkhabour und Yaroubiya mit Gefahren konfrontiert. Das Grenzgebiet ist politisch zwischen PKK, irakischen Sicherheitskräften, schiitischen Milizen und mit Barzani verbündeten KDP-Kräften umstritten. Die Türkei hat überdies gedroht, im nahe gelegenen Sinjar zu intervenieren, was die Lage völlig verändern würde. Vor dem Hintergrund des Eigeninteresses der US-Truppen an einer offenen Grenze und der Abhängigkeit der KDP von US-Unterstützung sollten die USA jedoch in der Lage sein, das Thema Fishkhabour zu regeln (CAP 26.5.2021).
Der Yarubiya-Grenzübergang ist insofern eine eigene Thematik, als dort nach einem russischen Veto im UN-Sicherheitsrat seit Jänner 2020 keine humanitäre Hilfe der UNO mehr passieren darf. Das schränkt die Einfuhr von essenziellem Medizinbedarf in die AANES ein - auch während der Pandemie gab Russland nicht nach (CAP 26.5.2021).
Informierung der syrischen Regierung über das Passieren des Grenzübergangs Semalka
Sowohl Hisham Arafat wie auch Bassam al-Ahmad sagten gegenüber van Wilgenburg aus, dass die syrische Regierung nicht am Grenzübergang präsent ist und keine Kontrollmöglichkeit hat (van Wilgenburg 9.10.2023). Bei einer Einreise in die AANES über den Grenzübergang Fishkhabour aus dem Irak erfährt die syrische Regierung offiziell nichts von der Einreise nach Syrien. Daran bestehen jedoch laut Balanche Zweifel, da eine informelle Vereinbarung zwischen der AANES und der syrischen Regierung zu bestehen scheint. Die syrische Regierung weiß seines Erachtens, wer über Fishkhabour nach Syrien einreist (ACCORD 14.6.2023). Laut dem kurdischen Journalist Hisham Arafat gibt es nur Gerüchte über einen Informationsaustausch zwischen AANES und der syrischen Regierung (van Wilgenburg 9.10.2023). Es könnte laut Balanche jedoch auch sein, dass sich Spitzel der syrischen Regierung in der Region befinden, da die syrische Regierung genau überwache, wer über Fishkhabour nach Syrien einreise (ACCORD 14.6.2023).
5.2 Internationale Grenzübergänge
Die folgende Karte zeigt einige Grenzübergänge zwischen Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) und den Nachbarländern Türkei und Irak:

Die Grenzübergänge zum Irak
Am 5. Juni 2023 öffnete der Grenzübergang Semalka/Fishkhabour wieder nach fast einem Monat Schließung (iMMAP 13.7.2023) [Anm.: Für mehr Informationen zu immer wieder vorkommenden Schließungen siehe Unterkapitel ’Einreisebestimmungen und ihre Umsetzung’].
Der südlich von Semalka befindliche Grenzübergang al-Waleed wird nur für Güter verwendet, nicht für Personenverkehr. Laut kurdischen Aktivisten kam es jedoch schon vor, dass Leute diesen (Land-) Grenzübergang wegen Überschwemmungen verwendeten, die eine Überquerung per Boot erschwerten. Einmal ertrank eine Person bei der Grenzüberquerung über den Fluss aufgrund des Regenfalls (van Wilgenburg 9.10.2023).
Die Selbstverwaltungsregion verfügt auch über den Grenzübergang Rabia/Yaroubiya, aber der Irak verbietet seine Nutzung für Personenverkehr (van Wilgenburg 9.10.2023). Seit 2020 ist der Grenzübergang nach einem Veto Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat geschlossen. Gelegentlich wird er für US-Militärfahrzeuge geöffnet (Jasim/STDOK 10.10.2023).
70 bis 100 LKW-Ladungen mit kommerziellen Gütern werden täglich via Semalka in die AANES gebracht und 150 bis 200 LKW-Ladungen werden pro Tag via al-Waleed eingeführt. Al-Waleed ist zentral für den Export des lokal geförderten Rohöls, das eine Haupteinnahmequelle der AANES darstellt (Al-Monitor 21.5.2023). Eine temporäre Schließung wie vom 20. Mai bis 5. Juni 2023 sorgte für das Fehlen wichtiger Güter in der AANES. Laut Welternährungsprogramm verteuerten sich die Waren innerhalb weniger Tage - im Fall von Zucker um 16% (UNSC 22.6.2023).
Manchmal haben sowohl die Partei der Demokratischen Union (PYD) als auch der Kurdische Nationalrat (KNC) während Spannungen zwischen den beiden Seiten Schmuggler zum Überqueren der Grenze verwendet. Auch einige Menschen, denen die Einreise verweigert wurde, sind gezwungen, auf Schmuggler zurückzugreifen (van Wilgenburg 9.10.2023).
Die Grenzübergänge zur Türkei
Anmerkung: Für Informationen zur Lage an den Grenzübergängen in Gebiete unter Kontrolle von mit der Türkei verbundenen Gruppierungen, s. Kap. „Nordwestsyrien: Gebiet unter Kontrolle der Syrischen Heilsregierung (SSG) und Syrischen Interimsregierung (SIG)“.
- Ain al-Arab (Kobani): Auf der türkischen Seite liegt der Grenzübergang Mursitpinar von Sanliurfa-Suruc. Der Grenzübergang ist seit 1970 geschlossen, war aber zumindest im Jahr 2014 (trotz Präsenz der Volksverteidigungseinheiten YPG) gelegentlich für humanitäre Transporte einschließlich der Evakuierung von Verwundeten offen (Al-Monitor 30.4.2014).
- Darbasiyah gegenüber von Senyurt ist seit 1953 geschlossen (Al-Monitor 30.4.2014).
- Qamishli liegt gegenüber dem türkischen Nusaybin. Auch dieser Grenzübergang ist wegen der YPG-Präsenz geschlossen. Im März 2014 wurde einem UN-Hilfskonvoi das Passieren des Grenzübergangs erlaubt (Al-Monitor 30.4.2014).
Als Faustregel gilt laut einem älteren al-Monitor-Artikel, dass Grenzübergänge zur Türkei, wenn sie auf syrischer Seite von Kurden oder dem ’Islamischen Staat’ gehalten werden, von türkischer Seite geschlossen werden (Al-Monitor 30.4.2014).
Auflistung bedeutsamer Grenzübergänge:

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1.3.13. Country Guidance Syria, Februar 2023 (auszugsweise)
Palästinenser
COI-Zusammenfassung
[Wichtigste COI-Referenz: Targeting 2022, 12, Sitzung 98-107; Targeting 2020, 11, Sitzung 87-91]
Im Dezember 2020 waren 569 000 Palästinenser beim UNRWA in Syrien registriert, von denen schätzungsweise 438 000 im Land blieben. [Targeting 2022, 12.1, Sitzung 98]
85 % der palästinensischen Flüchtlinge in Syrien sind diejenigen, die 1956 oder davor in das Land geflohen sind, und ihre Nachkommen [Targeting 2020, 11, Sitzung 87]. Sie haben die gleichen Rechte wie syrische Staatsbürger in Bezug auf Aufenthalt, Freizügigkeit, Arbeit, Handel und Zugang zu Stellen im öffentlichen Dienst und öffentlichen Diensten. Sie haben jedoch nicht das Recht, zu wählen, ein öffentliches Amt zu bekleiden, landwirtschaftliche Flächen zu besitzen oder mehr als ein Haus pro Person zu besitzen. Diejenigen, die 1948 geflohen sind, müssen den obligatorischen Militärdienst in der Palästinensischen Befreiungsarmee leisten, einer palästinensischen Einheit innerhalb der syrischen Streitkräfte [Targeting 2020, 11, Sitzung 87].
Diejenigen, die zwischen 1948 und 1956 kamen, wurden von der staatlichen Generalverwaltung für palästinensische arabische Flüchtlinge (GAPAR) als "palästinensische Flüchtlinge" registriert [Targeting 2022, 12, Sitzung 99-100]. Palästinenser, die nach 1956 nach Syrien geflohen sind, und ihre Nachkommen wurden beim UNRWA in anderen Ländern oder in den besetzten palästinensischen Gebieten registriert und werden als arabische Ausländer behandelt. Sie haben eine verlängerbare Aufenthaltsgenehmigung für 10 Jahre und müssen eine Arbeitserlaubnis beantragen. Sie haben Zugang zu den UNRWA-Diensten, aber nur eingeschränkten Zugang zur Beschäftigung, da sie sie zum Beispiel nicht das Recht haben, im öffentlichen Sektor, im Bildungs- und Gesundheitswesen zu arbeiten [Targeting 2022, 12.2, Sitzung 99-100; Targeting 2020, 11, Sitzung 87].
Das UNRWA bietet Dienstleistungen in neun offiziellen und drei inoffiziellen palästinensischen Flüchtlingslagern in Syrien [Targeting 2020, 11, Sitzung 87]. 96 % der Palästinenser in Syrien sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das UNRWA ist nicht in der Lage, diesen Bedarf zu decken [Zielvorgabe 2022, 12.3, Sitzung 101]. Die Maßnahmen in Syrien umfassen vor allem Bargeld- und Nahrungsmittelhilfe sowie Bildungs- und Gesundheitsdienste. DAS UNRWA verwaltet oder überwacht die Flüchtlingslager nicht, da dies in der Verantwortung der Regierung liegt. Während das UNRWA während des gesamten Konflikts in den meisten Lagern in Syrien weiterhin Bargeldhilfe sowie Bildungs- und Gesundheitsdienste bereitstellte, erklärte die Organisation im November 2019, dass sie "weiterhin mit einer Finanzkrise konfrontiert ist, die ihre Fähigkeit beeinträchtigt, wesentliche Dienstleistungen, einschließlich humanitärer Hilfe für Palästina-Flüchtlinge in Syrien, zu erbringen" [Targeting 2020, 11.2, Sitzung 87-88]. Die Finanzierungslücke des UNRWA ist immer größer geworden und hat in den letzten Jahren zu einer Einschränkung der Hilfsleistungen geführt. Bis zum 31. Oktober 2021 waren 49,6 % des gesamten UNRWA-Finanzierungsbedarfs in Syrien für 2021 von Gebern und Partnern zugesagt oder erhalten worden [Targeting 2022, 12.3, Sitzung 101].
Die meisten der rund 100 vom UNRWA verwalteten Schulen in Syrien befanden sich in den palästinensischen Flüchtlingslagern. Mehrere UNRWA-Schulen wurden während des Konflikts beschädigt oder zerstört. Die Schulen, die geöffnet blieben, wurden von 50 000 Schülern besucht. Für die Bewohner der Lager war es einfacher Zugang zum UNRWA-Bildungsangebot als für diejenigen, die außerhalb der Lager leben, da die meisten UNRWA-Dienstleistungen sich in der Nähe oder in den Lagern befinden [Damaskus 2022, 3.7.2, Sitzung 57].
Die palästinensischen Flüchtlingslager sind von Feindseligkeiten und konfliktbedingten Vertreibungen betroffen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Etwa 40 % der Palästinenser in Syrien sind immer noch vertrieben [Targeting 2022, 12.1, p. 98]. Nach Angaben des UNOCHA sind palästinensische Flüchtlinge in Syrien nach wie vor gefährdet durch Vertreibung, dem Verlust von Eigentum und der Zerstörung ihrer Viertel im Jahr 2019 ausgesetzt. Mehreren Schätzungen zufolge wurden die Häuser von mehr als 180 000 Menschen schwer beschädigt oder zerstört, wie in den Lagern Yarmouk, Dar'a und Ein el Tal, in denen 30 % der palästinensischen Bevölkerung beherbergen [Targeting 2020, 11.2, Sitzung 88].
Das Lager Yarmouk in Damaskus, in dem vor dem Konflikt fast 160 000 vom UNRWA registrierte palästinensische Flüchtlinge lebten, war während des Konflikts Schauplatz schwerer Kämpfe und Belagerungen [Rückeroberte Gebiete, 3.1.8, Sitzung 32]. Mehr als 80 % der Wohnungen und der Infrastruktur wurden zerstört [Damaskus 2022, 2.4.2, Sitzung 27]. Mitte 2021 lebten nach Angaben von UNOCHA etwa 480 gefährdete Familien in Yarmouk, denen es an grundlegender Infrastruktur und Dienstleistungen fehlte [Damaskus 2022, 2.4.2, Sitzung 28; Targeting 2022, 12.5, Sitzung 104-105]. Obwohl für diejenigen, die in das Lager zurückkehren wollen, ein neuer Mechanismus eingerichtet wurde, der das Ausfüllen von Genehmigungsformularen und die Aushändigung von Eigentumsurkunden nach Bezahlung vorsieht, wird berichtet, dass die Sicherheitsdienste die Rückkehr in das Lager absichtlich verhindern [Damaskus 2021, 2.3.6, Sitzung 32].
Die Sicherheitslage in den Flüchtlingslagern im Gouvernement Damaskus, insbesondere in den Lagern Sbeineh, Khan Al-Shieh und Qabr Al-Sit, wo Kliniken, Schulen sowie das Abwasser- und Wassernetz wiederaufgebaut werden konnten, wurde als ruhig bezeichnet. Während die Rückkehr von palästinensischen Flüchtlingen in einige Flüchtlingslager im ländlichen Damaskus berichtet wird, blieben die Flüchtlinge aus Yarmouk vertrieben [Security 2021, 2.11.3, Sitzung 245-247]. Plünderungen durch Pro-GoS Milizen und GoS-Truppen haben in großem Umfang im Lager Yarmouk stattgefunden [Targeting 2022, 12.7, Sitzung 107]. Palästinenser, die in Städten südlich von Damaskus leben, mussten ein Führungszeugnis von "Regimeangehörigen in der Region" und eine Sicherheitsgenehmigung einholen, um nach Damaskus einreisen zu können, aber palästinensischen Binnenvertriebenen, die in Damaskus leben, war es verboten, in diese südlichen Städte zu reisen, obwohl sie eine Statusregelung beantragt hatten [Damaskus 2021, 2.3.3, Sitzung 30]. Es wurde berichtet, dass Liwa Al-Quds, eine aus Palästinensern bestehende regierungsnahe Miliz, Häuser und Geschäfte von vermeintlich oppositionellen Palästinensern in Neirab, einem palästinensischen Flüchtlingslager im nördlichen Gouvernement Aleppo, beschlagnahmt hat [Rückkehrer aus dem Ausland, 4.3, S.26].
Seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten wird von Repressionen der Regierung gegen Palästinenser berichtet, die die Opposition gegen den Generalgouverneur in diesem Konflikt unterstützen. Verschiedene Organisationen berichten von Entführungen, Verhaftungen und Inhaftierungen von palästinensischen Flüchtlingen, einschließlich Frauen, Mädchen, Rückkehrern und Personen, die Versöhnungsabkommen unterzeichnet hatten, durch die Streitkräfte der Regierung sowie von Folterungen von Palästinensern in staatlichen Gefängnissen, oft aus unbekannten Gründen [Targeting 2022, 12.7, Sitzung 106; Targeting 2020, 11.3, Sitzung 88-90].
Die Zahl der nach Syrien zurückkehrenden Palästinenser ist im Jahr 2021 und bis August 2022 zurückgegangen [Targeting 2022, 12.5, Sitzung 103].
Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a QD [Artikel 1D Genfer Konvention] Analyse
In Artikel 1D der Genfer Konvention von 1951 heißt es: "Die Konvention findet keine Anwendung auf Personen, die gegenwärtig von anderen Organen oder Einrichtungen der Vereinten Nationen als dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge Schutz oder Hilfe erhalten. Wenn dieser Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund endet, ohne dass die Lage dieser Personen in Übereinstimmung mit den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geregelt ist, haben diese Personen ipso facto Anspruch auf die Vorteile dieser Konvention".
Die Bestimmungen von Artikel 1D finden sich in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a) QD wieder, der für palästinensische Flüchtlinge gilt, die tatsächlich Schutz oder Hilfe des UNRWA in Anspruch genommen haben. Wenn ein solcher Schutz oder Beistand aus einem Grund eingestellt wurde, auf den der Antragsteller keinen Einfluss hat und der unabhängig von seinem Willen ist, so dass er gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, oder daran gehindert wurde, diesen Schutz oder Beistand erneut in Anspruch zu nehmen, sollte dem Antragsteller automatisch die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden. (7F8)
Trotz gelegentlicher Bemühungen um den Wiederaufbau von Unterkünften in einigen palästinensischen Flüchtlingslagern bietet das UNRWA den palästinensischen Flüchtlingen in Syrien im Allgemeinen keinen Schutz und keine Unterstützung in einem Umfang, der gewährleisten würde, dass "die Lebensbedingungen in diesem Gebiet dem Auftrag des Hilfswerks angemessen sind". (8F9) Ein Indiz dafür ist auch die große Zahl der Palästinenser, die vertrieben bleiben, ohne sich in einem anderen der in Syrien bestehenden Flüchtlingslager niederlassen zu können. Darüber hinaus kann es praktische und rechtliche Hindernisse sowie Sicherheitsbedrohungen geben, die palästinensische Flüchtlinge daran hindern, zu den Einsatzgebieten des UNRWA in Syrien zu gelangen und somit den Schutz oder die Hilfe des Hilfswerks in Anspruch zu nehmen.
Auf dieser Grundlage wird festgestellt, dass der Schutz oder die Unterstützung durch das UNRWA in ganz Syrien als beendet im Sinne von Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a) QD angesehen werden kann. Daher ist Palästinensern, die zuvor den Schutz oder die Hilfe des UNRWA in Syrien in Anspruch genommen hatten, ipso facto der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. (9F10)
Bei Palästinensern, die in Syrien keinen Schutz oder Beistand des UNRWA in Anspruch genommen haben, sollte die Prüfung mit einer Risikoanalyse und einer Analyse des Zusammenhangs mit einem Verfolgungsgrund fortgesetzt werden.
Risikoanalyse (für Personen, die nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 1D der Genfer Konvention fallen)
Handlungen, die Berichten zufolge gegen Personen im Rahmen dieses Profils begangen werden, sind so schwerwiegend, dass sie einer Verfolgung gleichkommen (z. B. Gewalt durch Milizen, illegale Inhaftierung, Entführung, Folter, Tötung, gewaltsames Verschwindenlassen). Handelt es sich bei den fraglichen Handlungen (ausschließlich) um diskriminierende Maßnahmen handelt, sollte bei der individuellen Bewertung, ob die Diskriminierung eine Verfolgung darstellt die Schwere und/oder die Häufigkeit der Handlungen berücksichtigt werden oder ob sie als eine Kumulierung verschiedener Maßnahmen.
Bei der individuellen Beurteilung der Frage, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Verfolgung zu rechnen ist, sollten risikorelevante Umstände berücksichtigt werden, wie z. B.: gewöhnlicher Aufenthaltsort, Identitätsdokumente, mutmaßliche Verwicklung in eine Konfliktpartei, etc.
Zusammenhang mit einem Verfolgungsgrund (für Personen, die nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 1 Buchstabe D der der Genfer Konvention)
Die verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass die Verfolgung dieses Profils mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Gründen der (unterstellten) politischen Meinung und/oder der Staatsangehörigkeit (Staatenlosigkeit) erfolgt.
Gesundheitswesen und sozioökonomische Bedingungen
Gesundheitseinrichtungen wurden durch gezielte Angriffe von Konfliktakteuren zerstört oder beschädigt, wodurch der Zugang zur Gesundheitsversorgung in den betreffenden Gebieten absichtlich eingeschränkt wurde [siehe zum Beispiel zum Beispiel Damaskus 2020, 3.5, Sitzung 28; Sicherheit 2020, 1.6.1.2, Sitzung 34, 2.1.3, Sitzung 60, 2.2.3.7, Sitzung 85, usw.]. Belagerungen in Aleppo und Dar'a al-Balad schränkten die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Strom sowie den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern wie Mehl, Treibstoff und medizinischer Hilfe [Security 2022, 2.3.3, Sitzung 93, 2.12.3, Sitzung 210]. In solchen Fällen kann die Anwendung von Artikel 15(b) QD in Betracht gezogen werden in Betracht gezogen werden, wenn die Flüchtlingseigenschaft nicht festgestellt wurde.
Es ist wichtig zu beachten, dass ein schwerer Schaden die Form eines Verhaltens eines Akteurs annehmen muss (Artikel 6 QD). An sich werden die allgemeine Nichtverfügbarkeit von Gesundheitsversorgung, Bildung oder oder andere sozioökonomische Faktoren (z. B. die Situation von Binnenvertriebenen, Schwierigkeiten bei der Suche nach Lebensunterhalt, Unterkunft) nicht als ernsthafter Schaden betrachtet, der die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäß Artikel 15(b) QD in Bezug auf in Bezug auf Artikel 6 QD erfüllt, es sei denn, es handelt sich um ein vorsätzliches Verhalten eines Akteurs, wie z. B. die vorsätzliche Vorenthaltung einer angemessenen medizinischen Versorgung des Antragstellers.
Medizinische Grundversorgung
UNOCHA stellte fest, dass sich der Zugang der Bevölkerung zur Grundversorgung landesweit weiter verschlechtert hat, was auf die beschädigte Infrastruktur, den Mangel an lebenswichtigen Gütern, fehlende finanzielle Mittel sowie Einschränkungen der freien und sicheren Bewegung zurückzuführen ist. Besonders gravierend war der Mangel an technischem Personal, das für die Bereitstellung und Instandhaltung grundlegender Gesundheitsdienste und für den Betrieb von Trinkwasserversorgungssystemen benötigt wird. Im Dezember 2021 berichtete das WEP, dass fast 23 % der befragten Haushalte in ganz Syrien Schwierigkeiten beim Zugang zu medizinischen Versorgungseinrichtungen hatten, 48 % hatten Probleme beim Kauf notwendiger Medikamente, vor allem wegen fehlender finanzieller Mittel (55 %), aber auch aufgrund von Engpässen in Apotheken (17 %) [Damaskus 2022, 3.6.1, S.51]. Zivilisten, die als regierungsfeindlich eingestuft wurden, gaben an, dass ihnen der Zugang zu medizinischer Behandlung in Damaskus verweigert wurde [Damaskus 2022, 3.6.1, S.52].
Den letzten verfügbaren WHO-Daten zufolge gab es im Dezember 2020 in Damaskus 15 öffentliche Krankenhäuser, von denen 11 als "voll funktionsfähig" und 4 als "teilweise funktionsfähig" eingestuft wurden [Damaskus 2022, 3.6.2, S.51]. Im März 2022 war die öffentliche Gesundheitsversorgung in der Stadt Damaskus Berichten zufolge allgemein verfügbar. Allerdings mussten die Menschen oft lange auf eine Behandlung warten und für alle medizinischen Produkte bezahlen. Darüber hinaus wurde ein allgemeiner Mangel an Ärzten festgestellt, da viele das Land verlassen hatten [Damaskus 2022, 3.6.1, S.52].
Die allgemeinen Umstände, die in Damaskus vorherrschen, stellen in Bezug auf die oben genannten Faktoren eine erhebliche Härte dar. Die Fähigkeit der Person, sich in den oben genannten Umstände zu bewältigen, hängt in erster Linie vom Zugang zu finanziellen Mitteln ab, und in Ausnahmefällen kann das Erfordernis der Zumutbarkeit erfüllt sein. Die Bewertung sollte die individuellen Umstände des Antragstellers berücksichtigt werden.
Gesundheitszustand
Das bereits angespannte Gesundheitssystem in Damaskus wurde durch die COVID-19-Pandemie weiter überlastet [Damaskus 2021, 3.6.3, Sitzung 49-50]. Der Gesundheitssektor litt Berichten zufolge nicht nur unter Personalmangel aufgrund hoher Auswanderungs- und Ruhestandsraten, sondern auch unter der begrenzten Verfügbarkeit von Medikamenten und der schlechten Qualität der verfügbaren Produkte [Damaskus 2022, 3.6.1, S.52]. Daher ist der Gesundheitszustand des Antragstellers ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Angemessenheit der IPA für Personen, die eine medizinische Behandlung benötigen. Es sollte auch berücksichtigt werden, dass der Gesundheitszustand die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen kann. Für Menschen mit Behinderungen ist der Zugang für den Lebensunterhalt, z. B. durch eine Beschäftigung, weiter eingeschränkt werden.
Damaskus
Allgemeine Informationen
Das Gouvernement Damaskus, das die syrische Hauptstadt umfasst, liegt im südwestlichen Teil von Syrien und ist vollständig vom Gouvernement Rif Damashq (ländliches Damaskus) umgeben. Das Gouvernement ist in zwei Bezirke unterteilt, Damaskus-Stadt und Yarmouk, Stand Februar 2022. UNOCHA schätzt die Bevölkerung des Gouvernements Damaskus auf 1 828 845 Einwohner.
Hintergrund des Konflikts
Während des gesamten Krieges konnten die GoS-Spezialeinheiten die Hauptstadt verteidigen, und obwohl sunnitische sunnitischen Rebellen in der Anfangsphase des Konflikts die Vororte einnahmen, konnten sie nie in die zentralen Bezirke vorzudringen. Der Konflikt innerhalb der Stadt Damaskus spielte sich hauptsächlich in von der Opposition gehaltenen Gebieten, darunter die Viertel Jobar, Qaboun, Tishreen und Barzeh die mit Ost-Ghouta, der Hochburg der Opposition, verbunden waren. Die südlichen Stadtteile Yarmouk Camp und Tadamoun waren ebenfalls häufig von Konflikten Aktivität. Im Jahr 2018 erlangten die von Iran und Russland unterstützten Streitkräfte der Regierung von Syrien die vollständige Kontrolle über die Hauptstadt zurück.
Akteure: Kontrolle und Präsenz
Die GoS und mit ihr verbundene Gruppen hatten während des gesamten Berichtszeitraums die Kontrolle über das Gouvernement Damaskus. Berichten zufolge befinden sich mehrere Hisbollah- und iranische Stützpunkte in der Region Damaskus. Ende 2019 überwachte die Hisbollah das schiitische Viertel al-Shaghour, die Umgebung der der Umayyaden-Moschee und das Gebiet um den Sayyidah Ruqayya-Schrein, in dem sich das Hauptquartier der Hisbollah befindet. Im August und September 2020 wurde berichtet, dass der ISIL und andere Oppositionsgruppen im Gouvernement Damaskus nicht mehr präsent seien. In der ersten Hälfte des Jahres 2022 haben Quellen eine "aktive Präsenz" oder zumindest "gelegentliche" ISIL-Aktivitäten festgestellt. Die mögliche Präsenz der aufständischen Oppositionsgruppe Hurras al-Din und Saraya Qasioun-Zellen wurde ebenfalls festgestellt.
Art der Gewalt und Beispiele für Vorfälle
Es wurde festgestellt, dass Angriffe innerhalb des Gouvernements Damaskus selten geworden sind, seit die GoS das Umland im Jahr 2018 zurückerobert hat. Während des Berichtszeitraums gab es jedoch mehrere Vorfälle gemeldet, die sich gegen Beamte oder Anhänger der Regierung richteten, darunter drei tödliche Bombenanschläge auf Militärbusse im August 2021, Oktober 2021 und Februar 2022. Hurras al-Din übernahm die Verantwortung für den ersten Anschlag und Saraya Qasioun für den zweiten. Im September 2021 übernahm der ISIL die Verantwortung für die Zerstörung einer Gaspipeline, die die Kraftwerke Deir Ali und Tishreen sowie zwei Strommasten. Es wurden mehrere Luftangriffe der israelischen Streitkräfte auf Orte am oder in der Nähe des internationalen Flughafens von Damaskus verzeichnet, darunter Militärposten und Lagerhäuser der syrischen Streitkräfte, iranischer Truppen oder von Iran unterstützter Milizen. Mehrere syrische Soldaten und andere Personen, die mit der Hisbollah und den vom Iran unterstützten Milizen in Verbindung stehen, wurden bei diesen Angriffen getötet.
Im September und Oktober 2022 wurden israelische Luftangriffe auf Einrichtungen der Regierung von Syrien gemeldet, darunter auf den Flughafen von Damaskus.
Am 13. Oktober 2022 wurden bei einem IED-Anschlag auf einen Armeebus in Damaskus 18 Pro-GoS-Soldaten getötet und 27 weitere Soldaten in der Stadt Damaskus verwundet. Keine Gruppe übernahm die Verantwortung für den Anschlag.
Vorfälle: Daten
Damaskus verzeichnete von allen Gouvernoraten die zweitniedrigste Anzahl von Sicherheitsvorfällen. ACLED verzeichnete 21 Sicherheitsvorfälle (durchschnittlich 0,3 Sicherheitsvorfälle pro Woche) im Gouvernement Damaskus im Zeitraum vom 1. April 2021 bis zum 31. Juli 2022. Von den gemeldeten Vorfällen wurden 11 als "Explosionen/entfernte Gewalt", 8 als "Gewalt gegen Zivilisten" und 2 als "Kämpfe" kodiert. Im Zeitraum vom 1. August bis 31. Oktober 2022 wurden sieben sicherheitsrelevante Vorfälle in Damaskus registriert, was einem Durchschnitt von 0,6 Sicherheitsvorfällen pro Woche entspricht.
Geografischer Geltungsbereich
Alle Sicherheitsvorfälle wurden in der Stadt Damaskus erfasst.
Zivile Todesopfer: Daten
Das SNHR verzeichnete in den neun Monaten zwischen April und Dezember 2021 keine zivilen Todesopfer in Damaskus. Dezember 2021. Im Zeitraum Januar bis Oktober 2022 verzeichnete der SNHR drei zivile Todesopfer. Dies entspricht weniger als einem zivilen Todesopfer pro 100 000 Einwohner in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022.
Vertreibung
Im Januar 2022 wurde die Zahl der Binnenvertriebenen im Gouvernement Damaskus mit 609 682 angegeben. UNOCHA verzeichnete im Jahr 2021 etwa 1 000 Binnenvertriebene aus dem Gouvernement Damaskus und 398 Bewegungen von Binnenvertriebenen in das Gouvernement im Jahr 2021. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2022 registrierte UNOCHA 552 IDP-Bewegungen aus dem Gouvernement Damaskus und 62 IDP-Bewegungen in dieses Gouvernorat.
Im Jahr 2021 wurden etwa 11 000 IDP-Rückkehrbewegungen aus dem Gouvernement und etwa 2 000 Rückkehrerbewegungen in das Gouvernement registriert. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2022 wurden 2 671 Rückkehrbewegungen von Binnenvertriebenen aus dem Gouvernement und 725 Rückkehrer in das Gouvernement von UNOCHA registriert.
Weitere Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung
Das Gouvernement Damaskus erlitt während des Konflikts etwa 3 % der gesamten Schäden an Sachwerten in Syrien während des Konflikts. Das Flüchtlingslager Yarmouk wurde schwer beschädigt, und im März 2021, stellte das UNRWA fest, dass die grundlegende Infrastruktur des Flüchtlingslagers Yarmouk weiterhin stark beschädigt sind. Im Mai 2022 starben vier Zivilisten unter einem einstürzenden Gebäude, das zuvor beschossen worden war, im Jobar-Viertel im Mai 2022.
Das Carter Center berichtete, dass zwischen Dezember 2012 und Mai 2021 31 744 Sprengkörper in Damaskus eingesetzt wurden, was zu einer geschätzten Verseuchung der Stadt durch 3000- 9500 Stück nicht explodierter Sprengkörper führt. Räumungsbemühungen der Regierung und der russischen Streitkräfte wurden zur Kenntnis genommen.
Die Indikatoren lassen den Schluss zu, dass im Gouvernorat Damaskus im Allgemeinen kein echtes Risiko besteht, dass eine Zivilperson im Sinne von Artikel 15 Buchstabe c) QD persönlich betroffen ist.
Quelle:
https://euaa.europa.eu/publications/country-guidance-syria-february-2023, Zugriff am 09.02.2024
1.3.14. Syria Military service: recruitment procedure, conscripts’ duties and military service for naturalised Ajanibs, Stand Juli 2023 (Auszug)
Bei der ärztlichen Untersuchung handelt es sich in der Regel um eine sehr schnelle, grundlegende Untersuchung, bei der Größe, Gewicht, Sehkraft usw. der Person überprüft werden. Nur wenn eine Person angibt, dass sie an einer schweren Krankheit leidet (z. B. Diabetes, Herzkrankheiten, unheilbare Krankheiten usw.), wird sie einer gründlicheren Untersuchung unterzogen. Wenn eine Person an einer Krankheit leidet, die nach Einschätzung der Rekrutierungsabteilung ein Hindernis für die Ableistung des Militärdienstes darstellt, wird sie freigestellt; eine Person, die als nicht felddiensttauglich eingestuft wird, wird für administrative Aufgaben eingesetzt.
Quelle:
https://euaa.europa.eu/publications/country-guidance-syria-february-2023, Zugriff am 09.02.2024
1.3.15. Anfragebeantwortung zu Syrien: Abgabe des Wehrdienstbuches und des Personalausweises zu Beginn des Wehrdienstes und Einbehaltung der Dokumente bis zur Ausmusterung von der Militärbehörde [a‑11840], Stand 20. April 2022
Das Immigration and Refugee Board of Canada (IRB) zitiert im August 2014 einen syrischen Aktivisten und Forscher in Washington DC. Der Aktivist erklärt, dass alle Männer nach der Vollendung ihres 18. Lebensjahres zum allgemeinen Rekrutierungsbüro gehen würden, wo sie unter anderem befragt, fotografiert und Bluttests unterzogen würden. Anschließend werde ihnen ein Wehrdienstbuch ausgestellt. Laut dem Aktivisten werde der Militärausweis jenen Personen ausgestellt, die Militärdienst leisten. Eine Person, die ihren Militärdienst antrete, gehe zum erwähnten allgemeinen Rekrutierungsbüro. Dort werde der Personalausweis und das Wehrdienstbuch abgegeben. Die Person erhalte sofort einen Militärausweis, bevor sie zu ihrer Einheit geschickt werde, um ihren Dienst zu leisten. Der Aktivist erklärt weiter, dass Personen nach Beendigung ihres Dienstes ein „Entlassungsformular“ erhalten würden. Die Person müsse sich dann an das allgemeine Rekrutierungsbüro wenden, wo sie ihren Militärausweis zusammen mit dem Entlassungsschein abgeben und daraufhin ihren Personalausweis und ihr Wehrdienstbuch zurückerhalten. Das Wehrdienstbuch werde abgestempelt, um anzuzeigen, dass der Dienst abgeleistet und die Person entlassen sei (IRB, 13. August 2014).
Bitte beachten Sie, dass die folgende Übersetzung aus dem Schwedischen unter Verwendung von technischen Übersetzungshilfen erstellt wurden. Es besteht daher ein erhöhtes Risiko, dass diese Arbeitsübersetzungen Ungenauigkeiten enthalten.
Die schwedische Migrationsbehörde Migrationsverket schreibt im Mai 2017, dass der Wehrausweis zu Beginn des Wehrdienstes ausgestellt werde. Den Ausweis erhalte der Rekrut im Austausch gegen seinen Personalausweis und sein Wehrdienstbuch, das während des Dienstes bei der Mobilmachungsbehörde geführt werde. Allerdings könne es manchmal einige Monate dauern, bis der Soldat seinen Wehrausweis erhalte. In der Zwischenzeit führe er normalerweise ein vorläufiges Dienstzeugnis / Papier mit sich. Nach Beendigung des Militärdienstes müsse der Militärausweis im Austausch gegen den Personalausweis und das Militärbuch zurückgegeben werden (Migrationsverket, Mai 2017, Sitzung 38-39).
Ein syrischen Forscher beschreibt die Situation in einer E-Mail Auskunft an ACCORD im April 2022 wie folgt: Männer, die kurz vor dem Beginn ihres Militärdienstes stehen, müssten sich an ihre jeweiligen Rekrutierungszentren wenden, um ihre Personalausweise und Wehrdienstbücher abzugeben. Da ein Militärausweis nicht vor Ort ausgestellt werde, würden Wehrpflichtige ein gestempeltes Papier erhalten, bevor sie zu der ihnen zugeordneten Kaserne gehen, wo sie sich versammeln und auf ihre Verlegung warten. Normalerweise kämen Offiziere verschiedener Militäreinheiten in diese Lager, um eine Liste der Wehrpflichtigen zu übernehmen. In ihren neuen Einheiten angekommen, würden die Wehrpflichtigen schließlich ihre Militärausweise erhalten. Der Personalausweis des Wehrpflichtigen sowie das Wehrdienstbuch blieben im Rekrutierungszentrum, bis er seinen Militärdienst beendet habe und offiziell entlassen werde. Laut einer informellen Auskunft, die der syrische Forscher von einer Person, die in einem Rekrutierungszentrum in Damaskus tätig ist, erhalten habe, könne der Rekrut seinen Militärausweis nicht behalten und müsse ihn zurückgeben, wenn er offiziell entlassen werde. Eine Nichtbeachtung habe schwerwiegende Folgen. Beispielsweise drohe einem entlassenen Soldaten, der seinen Militärausweis verloren habe, ein Verhör und möglicherweise 15 Tage Gefängnis. Rekruten sowie Berufssoldaten müssten ihren Personalausweis bei den Rekrutierungszentren abgeben. Auch ein Offizier sei dabei keine Ausnahme (Syrischer Forscher, 1. April 2022).
Quelle:
https://www.ecoi.net/de/dokument/2072196.html#:~:text=38%2D39).,ihre%20Personalausweise%20und%20Wehrdienstb%C3%BCcher%20abzugeben, Zugriff am 09.02.2024
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Es liegen keine Unterlagen vor, dass der Beschwerdeführer verheiratet wäre, in einer Lebensgemeinschaft leben würe oder Kinder hätte. Mangels Mitwirkung an der Sachverhaltsfeststellung durch seine Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung ist das Bundesverwaltungsgericht davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer ledig und kinderlos ist. Seine Muttersprache bestätigte er zuletzt vor dem BFA (Protokoll vom 24.01.2023, AS 609). Durchwegs stringent gab er an, ein staatenloser Palästinenser zu sein (Protokoll vom 30.07.2015, AS 15 und AS 25; Protokoll vom 16.06.2017, AS 171 und AS 173; Protokoll vom 24.01.2023, AS 621 und AS 627). Sein Religionsbekenntnis konkretisierte er seinerzeit vor dem BFA (Protokoll vom 16.06.2017, AS 172). Mangels Vorlage von identitätsbezeugenden Dokumenten – wie Reisepass oder Personalausweis – im Original, steht die Identität des Beschwerdeführers nicht zweifelsfrei fest.
Seine Diabeteserkrankung gab er stringent zu Protokoll (Protokoll vom 30.07.2015, AS 19; Protokoll vom 16.06.2017, AS 171; Protokoll vom 24.01.2023, AS 625) bzw. geht diese auch aus einem Abschlussbericht der Polizei vom 17.04.2023 hervor (AS 689). Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass der öffentliche Gesundheitssektor in Syrien überlastet oder gar dysfunktional ist. Jedoch wird die medizinische Versorgung laut der WHO gerade in Damaskus gewährleistet, da komplexere Operationen und spezialisierte Behandlungen für chronische Krankheiten derzeit ausschließlich mitunter in Damaskus durchgeführt werden können vergleiche Punkt römisch II. 1.3.10). Auch aus dem Country Guidance Syria 2023 vergleiche Punkt römisch II. 1.3.13) ergibt sich, dass elf öffentliche Krankenhäuser in Damaskus Stadt voll funktionsfähig und vier "teilweise funktionsfähig" sind und die medizinische Versorgung für die Bevölkerung zugänglich ist, auch wenn die Betroffenen gegebenenfalls für die Kosten der Medikamente selbst aufkommen müssen vergleiche Punkt römisch II. 1.3.13). Daraus ergibt sich, dass die für den Beschwerdeführer notwendigen Medikamente zur Behandlung seiner Diabeteserkrankung in Syrien erhältlich sind und dieser in der Lage sein wird, seine medizinische Therapie in Damaskus fortzusetzen. Zumal er ansonsten keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufweist und er sich im erwerbsfähigen Alter befindet, war auf die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers zu schließen, die sich auch immer wieder in seinen – im Sozialversicherungsdatenauszug ersichtlichen – kurzzeitigen Beschäftigungen manifestierte, wodurch er sich in der Lage befindet, auch für die Kosten seiner Diabetes-Medikation aufkommen zu können. Bei der Diabetes-Erkrankung des Beschwerdeführers handelt es sich um keine akut lebensgefährliche, schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigung und wurde zu keinem Zeitpunkt im Verfahren vorgebracht, dass eine Behandlung in Syrien nicht möglich sei. Vielmehr führte der Beschwerdeführer selbst aus, dass er ab dem Zeitpunkt seiner Diagnose, nämlich 2007 bis zur Ausreise, behandelt wurde und Insulin erhalten hat (Protokoll vom 24.01.2023, AS 625).
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer in Syrien geboren ist, ist im Formular zur Überprüfung der Anmeldung für bei der UNRWA registrierte Personen verschriftlicht (AS 159). Zumal seine Angaben zur Dauer des Schulbesuchs zwischen sechs (Personalblatt LPD vom 15.12.2022, AS 423; Beschuldigtenvernehmung vom 07.12.2022, AS 435), sieben (Protokoll vom 30.07.2015, AS 15), acht (Protokoll vom 16.06.2017, AS 173) und neun (Protokoll vom 24.01.2023, AS 625) Jahren divergierten, konnte lediglich festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer mehrere Jahre lang die Schule besucht hat. Seine Ausbildung zum Floristen bzw. seine Tätigkeit als Florist in Damaskus schilderte er hingegen stringent (Protokoll vom 30.07.2015, AS 15; Protokoll vom 16.06.2017, AS 173; Protokoll vom 24.01.2023, AS 625). Seine Registrierung bei UNRWA in Yarmouk, Damaskus, ist durch die in Vorlage gebrachte Registration Card vom September 2009 (AS 153) und dem Formular zur Überprüfung der Anmeldung für bei der UNRWA registrierte Personen (AS 159) belegt, wobei er selbst konkretisierte, seit seiner Geburt bei UNRWA registriert zu sein (Protokoll vom 16.06.2017, AS 174). Dies ergibt sich auch aus dem vorgelegten Führerschein, der zwar 2012 abgelaufen ist, aber den Fluchtstatus von 1948 bestätigt (AS 143) und aus der Registration Verification Form (AS 159), in welcher bestätigt wird, dasss die Familie des Beschwerdeführers aus Haifa stammt und Palästina 1948 verlassen hat. Damit zählt der Beschwerdeführer zur Gruppe jener, , die bis zum oder im Jahr 1956 nach Syrien gekommen waren (rund 85 % der in Syrien lebenden Palästinenser vor Ausbruch der Krise). Sie sind in Anwendung des Gesetzes Nr. 260 aus 1956, syrischen Staatsangehörigen rechtlich nahezu gleichgestellt und von Syrien anerkannte Flüchtlinge. Das Bundesverwaltungsgericht ist davon überzeugt, dass dem Beschwerdeführer im Lichte seiner Angaben und aufgrund der gesetzlichen Lage dieser Status in Syrien zukommt.
Auch zuletzt vor dem BFA bestätigte der Beschwerdeführer, dass seine Eltern sowie Bruder und Schwester in Syrien aufhalten würden, wobei er auch deren jeweiligen exakten Wohnort im Detail wiedergab (Protokoll vom 24.01.2023, AS 623). Die Entfernung von Qatana zur Stadt Damaskus ergibt sich aus einer Internetabfrage (https://www.google.at/maps/dir/Qatana,+Syrien/Damaskus,+Syrien/@33.4701109,36.107373,12z/data=!3m1!4b1!4m13!4m12!1m5!1m1!1s0x1519261563df42b7:0x9f725ef77d197818!2m2!1d36.0839048!2d33.4393513!1m5!1m1!1s0x1518e6dc413cc6a7:0x6b9f66ebd1e394f2!2m2!1d36.2765279!2d33.5138073?entry=ttu, Zugriff am 09.02.2024). Den Kontakt zu seinen Eltern räumte der Beschwerdeführer selbst ein (Protokoll vom 24.01.2023, AS 623). Er selbst betonte auch vor dem BFA, in dem im Eigentum stehenden, 100m2 großen Haus seines Vaters gelebt zu haben (Protokoll vom 16.06.2017, AS 173). Mangels entgegenstehender Hinweise im Verwaltungsakt, dem Umstand, dass keine Kampfhandlungen seit Langem mehr um Damaskus stattfinden und sich das Leben dort normalisiert hat sowie mangels Mitwirkung des Beschwerdeführers an der Ermittlung des diesbezüglichen Sachverhalts durch Fernblieben von der mündlichen Verhandlung ist das Bundesverwaltungsgericht davon überzeugt, dass es den dort immer noch aufhältigen Familienangehörigen gut geht.
Durchwegs gleichlautend sind die Schilderungen des Beschwerdeführers hinsichtlich seines Aufwachsens und Lebens in Syrien bis zu seiner Ausreise (Protokoll vom 16.06.2017, AS 172 und AS 173; Protokoll vom 24.01.2023, AS 623). Die Angaben des Beschwerdeführers zum Ausreisezeitpunkt divergierten jedoch gänzlich: So vermeinte er zuletzt vor dem BFA mit Nachdruck, nicht 2015, sondern bereits 2012 aus Syrien ausgereist zu sein (Protokoll vom 24.01.2023, AS 621 und AS 631), wohingegen er in seiner Erstbefragung schilderte, im November 2014 Yarmouk verlassen zu haben und im April [2015] mit dem Bus zur türkischen Grenze gefahren zu sein (Protokoll vom 30.07.2015, AS 19), sowie vor dem BFA, Syrien im April 2015 zu Fuß in die Türkei verlassen zu haben, wobei er später explizit den 20.05.2015 als Datum seiner Ausreise nannte (Protokoll vom 16.06.2017, AS 173 und AS 175). Vor diesem Hintergrund konnte sein Ausreisezeitpunkt nicht festgestellt werden. In Anbetracht seiner Asylantragstellung am 30.07.2015 in Österreich – wie im Erstbefragungsprotokoll verschriftlicht (Protokoll vom 30.07.2015, AS 17) und im Fremdenregisterauszug vermerkt – stellt sich jedoch sein Verbleib bis 2015 bzw. seine Ausreise aus der Türkei im Jahr 2015 (Protokoll vom 30.07.2015, AS 21; Protokoll vom 16.06.2017, AS 173; Protokoll vom 24.01.2023, AS 621 und AS 23) in zeitlicher Hinsicht als nachvollziehbar dar. Die von ihm genannten Durchreisestaaten (Protokoll vom 30.07.2015, AS 21) sind aus geographischer Sicht ebenfalls plausibel.
Der Bescheid des BFA vom 28.06.2017, Zl. römisch 40 , liegt im Verwaltungsakt ein (AS 203 ff).
Die drei strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem zu seiner Person von Amts wegen eingeholten Strafregisterauszug.
Das Strafurteil des Landesgerichtes Innsbruck zu römisch 40 ist im Gerichtsakt, die Strafurteile des Landesgerichtes Eisenstadt zu römisch 40 (AS 667 ff) und römisch 40 (AS 701 ff) im Gerichtsakt befindlich, auf denen die weiteren Feststellungen samt Milderungs- und Erschwernisgründen fußen.
Das Datum der Haftentlassung bzw. der Aufenthalt in einem Polizeianthaltezentrum ist im Melderegisterauszug des Beschwerdeführers ersichtlich.
Die Feststellungen zu der Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers nur über kurze Zeiträume hinweg bzw. zum Bezug von Arbeitslosengeld bzw. auch Notstands- und Überbrückungshilfe basieren auf den Eintragungen im Sozialversicherungsdatenauszug des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer brachte keine Sprachzertifikate in Vorlage, sodass Sprachkenntnisse der deutschen Sprache nicht bescheinigt worden sind. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass der Beschwerdeführer die deutsche Sprache erlernt hat. Mangels Mitwirkung an der Sachverhaltsermittlung durch das Fernbleiben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung, konnte das Bundesverwaltungsgericht auch keinen persönlichen Eindruck von etwaigen Sprachkenntnissen erhalten, sodass das Bundesverwaltungsgericht davon überzeugt ist, dass der Beschwerdeführer die deutsche Sprache nicht beherrscht. Auch ansonsten legte der Beschwerdeführer keine integrationsbekundenden Urkunden vor oder machte integrative Momente in sozialer oder kultureller Hinsicht glaubhaft. Es liegen nur Bestätigungen der Initiative „Kufstein hilft“ vor, welche alle aus dem Jahr 2017 stammen (AS 163 ff). Diese zeigen eine grundsätzliche Bereitschaft des Beschwerdeführers vor seiner mit Bescheid vom 28.06.2017 erfolgten Zuerkennung des Status des Asylberechtigten. Diese Bereitschaft briecht offensichtlich sodann aprupt ab. Da der Beschwerdeführer von der mündlichen Verhandlung ferngeblieben ist und damit sich seiner Mitwirkungspflicht an der Ermittlung des Sachverhalts entzogen hat, ist das Bundesverwaltungsgericht davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer auch keine weiteren integrationsbekundenden Urkunden vorlegen konnte und sich in sozialer und kultureller Hinsicht nicht in Österreich integriert hat. Seine mangelnde berufliche Integration ergibt sich aus dem AJ-Web-Auszug, welcher nur kurze Beschäftigungen dokumentiert, obwohl der Beschwerdeführer freien Zugang zum Arbeitsmarkt als Asylberechtigter hatte. Überwiegend lebte der Beschwerdeführer von Arbeitslosengeld, und sozialer Fürsorge, womit er keine berufliche Integration bescheinigt. Er selbst vermeinte zuletzt, dass ausschließlich Cousins in Österreich wohnhaft seien (Protokoll vom 24.01.2023, AS 627) und dass seine Eltern und Geschwister in Syrien leben würden (Protokoll vom 24.01.2023, AS 623), weshalb die Feststellung, dass keine nahen Verwandten des Beschwerdeführers in Österreich leben, zu treffen war. Ebenso wenig brachte er ein schützenswertes Familienleben vor.
In Anbetracht der Erwägungen im vorherigen Absatz war damit die Feststellung zu treffen, dass insgesamt keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht vorliegen.
2.2. Zu den Fluchtmotiven und zur individuellen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers
2.2.1. Zu den Fluchtmotiven
Gegenständlich stellt es sich für den erkennenden Richter als glaubhaft dar, dass der Beschwerdeführer seinen Wehrdienst von 2009 bis Anfang 2012 geleistet hat, wie dieser selber ausführte (Protokoll vom 24.01.2023, AS 621). Verstärkt wird dies durch die diesbezüglichen zeitlichen Angaben des Beschwerdeführers, zumal die Ableistung des syrischen Wehrdienstes ab einem Alter von 18 Jahren vorgesehen ist vergleiche Punkt römisch II. 1.3.6.) und der Beschwerdeführer im Jahr 2009 19 Jahre alt gewesen war. Auch ist es in Anbetracht der bereits seit 2007 bekannt gewordenen Diabetes-Diagnose plausibel, wenn der Beschwerdeführer anführt, in der Verwaltung eingesetzt worden zu sein (Protokoll vom 24.01.2023, AS 621), was auch in den Länderfeststellungen vergleiche Punkt römisch II. 1.3.6. und römisch II. 1.3.14.) derart bestätigt wird. Für ein Ableisten des Wehrdienstes spricht schließlich auch, dass der Beschwerdeführer sein Militärdienstbuch gehabt hätte (Protokoll vom 24.01.2023, AS 623), zumal dieses erst nach Beendigung des Militärdienstes im Austausch gegen den Militärausweis ausgehändigt wird, ebenso wie der Personalausweis vergleiche Punkt römisch II. 1.3.15.), zu dem der Beschwerdeführer eine Kopie vorlegt hat (Protokoll vom 16.06.2017, AS 171; AS 155 f). Weshalb in der Beschwerde im Gegensatz zu den eigenen Angaben des Beschwerdeführers angeführt wird, er hätte seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 954, AS 956 ff, AS 960 f und AS 962) erschließt sich dem erkennenden Richter nicht. Wenn schließlich dann – entgegen dem vorherigen Beschwerdevorbringen – doch noch ausgeführt wird, dass der Beschwerdeführer von 2009 bis 2012 den Militärdienst abgeleistet hat und darauf hingewiesen wird, dass Palästinenser eine Verpflichtung zur Ableistung von zwei Jahren Wehrdienst trifft (Protokoll vom 29.12.2023, AS 961; vergleiche auch Punkt römisch II. 1.3.6.), so zeigt der soeben zitierte Zeitraum von drei Jahren in Zusammenschau mit der Wehrdienstpflicht von zwei Jahren ja gerade auf, dass der Beschwerdeführer seiner Wehrdienstverpflichtung nachgekommen ist. Bereits aus diesem Grunde stellt sich das Vorbringen des Beschwerdeführers in Zusammenhang mit einer vermeintlichen Desertion als nicht glaubhaft dar, was sich im weiteren noch auf folgende Erwägungen stützt:
Von einem Antragsteller ist ein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Einem Asylwerber obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen und Verhältnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Asylanspruch lückenlos zu tragen und hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Die Behörde bzw. das Gericht muss somit die Überzeugung von der Wahrheit des von einem Asylwerber behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor asylrelevanter Verfolgung herleitet. Es kann zwar durchaus dem Asylwerber nicht die Pflicht auferlegt werden, dass dieser hinsichtlich asylbegründeter Vorgänge einen Sachvortrag zu Protokoll geben muss, der auf Grund unumstößlicher Gewissheit als der Wirklichkeit entsprechend gewertet werden muss, die Verantwortung eines Antragstellers hat jedoch darin bestehen, dass er bei tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit die Ereignisse schildert.
Generell ist zur Glaubwürdigkeit eines Vorbringens auszuführen, dass eine Aussage grundsätzlich dann als glaubhaft zu qualifizieren ist, wenn das Vorbringen hinreichend substantiiert ist; der Beschwerdeführer sohin in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über von ihm relevierte Umstände bzw. Erlebnisse zu machen. Weiters muss das Vorbringen plausibel sein, d.h. mit überprüfbaren Tatsachen oder der allgemeinen Lebenserfahrung entspringenden Erkenntnissen übereinstimmen. Hingegen scheinen erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Aussage angezeigt, wenn der Beschwerdeführer den seiner Meinung nach, seinen Antrag stützenden Sachverhalt bloß vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt. Weiteres Erfordernis für den Wahrheitsgehalt einer Aussage ist, dass die Angaben in sich schlüssig sind; so darf sich der Beschwerdeführer nicht in wesentlichen Passagen seiner Aussage widersprechen.
Es ist anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines Beschwerdeführers und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten – z.B. gehäufte und eklatante Widersprüche (z.B. VwGH 25.01.2001, 2000/20/0544) oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen (z.B. VwGH 22.02.2001, 2000/20/0461) – zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in zahlreichen Erkenntnissen betont, wie wichtig der persönliche Eindruck, den das zur Entscheidung berufene Mitglied der Berufungsbehörde im Rahmen der Berufungsverhandlung von dem Berufungswerber gewinnt, ist (siehe z.B. VwGH 24.06.1999, 98/20/0435; VwGH 20.05.1999, 98/20/0505, u.v.a.m.).
Vorab gilt festzuhalten, dass die Schilderungen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde in zeitlicher Hinsicht gänzlich divergierten: So führte der Beschwerdeführer ursprünglich aus, im November 2014 Yarmouk verlassen zu haben und im April [2015] mit dem Bus zur türkischen Grenze gefahren zu sein, die er dann zu Fuß überschritten habe (Protokoll vom 30.07.2015, AS 19). Auch vor dem BFA betonte er, Syrien im April 2015 zu Fuß in die Türkei verlassen zu haben (Protokoll vom 16.06.2017, AS 173). Später nannte er explizit den 20.05.2015 als Datum seiner Ausreise (Protokoll vom 16.06.2017, AS 175). Nunmehr behauptet der Beschwerdeführer, er wäre bereits 2012 aus Syrien ausgereist (Protokoll vom 24.01.2023, AS 621 und AS 623), was sein ursprünglich geschildertes Fluchtgeschehen bzw. den dabei geschilderten zeitlichen Ablauf verunmöglicht. Nicht zuletzt legte der Beschwerdeführer selbst ein syrisches Polizeiprotokoll über einen Ausweisverlust vom 17.11.2014 vor (Protokoll vom 16.06.2017, AS 171), das seinen nunmehrigen Angaben entgegensteht und seinen Aufenthalt in Syrien im November 2014 belegt. Wenn der Beschwerdeführer angesprochen auf diese zeitlichen Divergenzen schilderte, er habe auch damals bereits 2012 und nicht 2015 gesagt, was der Dolmetscher nicht verstanden hätte (Protokoll vom 24.01.2023, AS 631), so gilt festzuhalten, dass der Beschwerdeführer selbst zur damaligen Niederschrift nachweislich angegeben hat, dass – nach erfolgter Rückübersetzung – alles korrekt sei, alles gepasst und er nichts mehr hinzuzufügen habe. Zudem wurde ihm auch eine Kopie der Niederschrift ausgefolgt (Protokoll vom 16.06.2017, AS 180 f).
Auch inhaltlich wichen seine Aussagen gänzlich voneinander ab, führte der Beschwerdeführer doch ursprünglich zu seinem Fluchtgrund aus, dass ungefähr im März oder April 2015 jemand namens Mowafek ELDOWA zweimal zu ihm nach Hause gekommen sei und wollte, dass er mit den Truppen von Ahmed GEBRIL kämpfe. Ihm seien drei Tage Zeit gegeben worden, um sich vorzubereiten. Bei seinem dritten Besuch wäre der Beschwerdeführer schon weg gewesen; deshalb hätten sie seinen Bruder Amer mitgenommen und 24 Stunden festgehalten (Protokoll vom 16.06.2017, AS 175 f). Dabei ist bemerkenswert, dass der Beschwerdeführer in seiner ersten niederschriftlichen Einvernahme noch dezidiert angeführt hat, er habe keinen Militärdienst abgeleistet, weil er als Diabetiker dauerhaft freigestellt worden sei und beim Rekrutierungsversuch noch gesagt hätte, er könne aufgrund seiner Diabeteserkrankung nicht zum Militär gehen (Protokoll vom 16.06.2017, AS 173 und AS 177). Nunmehr vermeinte der Beschwerdeführer plötzlich, aufgrund einer Desertion im Jahr 2012 verfolgt zu werden (Protokoll vom 24.01.2023, AS 621) und dass er bis zu seiner Desertion sehr wohl beim Militär (in der Militärverwaltung) tätig gewesen sei (Protokoll vom 24.01.2023, AS 621). Dabei überzeugt es in keiner Weise, wenn der Beschwerdeführer ausführt, er hätte damals dem Dolmetsch gesagt, dass er beim Militär gewesen sei (Protokoll vom 24.01.2023, AS 627). Wie bereits ausgeführt, hat der Beschwerdeführer selbst zur damaligen Niederschrift nachweislich angegeben, dass – nach erfolgter Rückübersetzung – alles korrekt sei, alles gepasst und er nichts mehr hinzuzufügen habe. Zudem wurde ihm auch eine Kopie der Niederschrift ausgefolgt (Protokoll vom 16.06.2017, AS 180 f). Seine nunmehrigen Behauptungen zum Desertieren vor dem BFA sind sohin schlichtweg nicht glaubhaft.
Schließlich stritt er vor dem BFA auch ab, dass er für Ahmed GEBRIl arbeiten hätte sollen (Protokoll vom 24.01.2023, AS 631), den er ursprünglich selber zur Sprache gebracht hat bzw. für dessen Truppen er hätte kämpfen sollen (Protokoll vom 16.06.2017, AS 175). Ursprünglich gab er weiters an, dass der Verband von Ahmed GEBRIL eine sehr bekannte Miliz sei, die gewollt hätte, dass er mitkämpfe (Protokoll vom 16.06.2017, AS 176), wohingegen er zuletzt vor dem BFA zweimal verneinte, je von irgendwelchen Milizen rekrutiert worden zu sein bzw. dass Milizen versucht hätten, ihn zu rekrutieren (Protokoll vom 24.01.2023, AS 627 und AS 629). Dafür führte er im kompletten Widerspruch zu seinen ursprünglichen Darlegungen aus, er sei bei der Tahrir Armee gewesen - die Armee der Palästinenser, die im Kommando der syrischen Armee stünde (Protokoll vom 24.01.2023, AS 627 und AS 629). Auch an Mowafek ELDOWA, der ihn zweimal persönlich zu Hause aufgesucht und rekrutieren wollen hätte (Protokoll vom 16.06.2017, AS 176), konnte sich der Beschwerdeführer zuletzt vor dem BFA nicht mehr erinnern (Protokoll vom 24.01.2023, AS 629). Erst auf Vorhalt durch das BFA, dass der Beschwerdeführer damals angegeben habe, dass Mowafek ELDOWA 2015 zu ihm gekommen sei, um ihn für eine Miliz zu rekrutieren, vermeinte der Beschwerdeführer, dass er zu Mowafek ELDOWA gesagt hätte, dass er beim Militär sei und sich ihm nicht anschließen könne (Protokoll vom 24.01.2023, AS 629 und AS 631). Damit konterkariert er seine eigenen Angaben vor dem BFA kurz zuvor, als er noch verneinte, von Milizen rekrutiert worden zu sein bzw. dass es diesbezügliche Versuche von Milizen gegeben habe (Protokoll vom 24.01.2023, AS 627 und AS 629).
Im Ergebnis wird damit deutlich, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen entgegen der Beschwerde (Beschwerde vo 29.12.2023, AS 962) in keiner Weise glaubhaft ist und die Angaben des Beschwerdeführers vor dem BFA sich diametral entgegenstehen. Für den erkennenden Richter lässt dies nur den Schluss darauf zu, dass der Beschwerdeführer Syrien in Anbetracht der allgemeinen Kriegssituation und der schwierigen wirtschaftlichen Lage verlassen und kein asylrelevantes Fluchtgeschehen vorgelegen hat. Dafür spricht nicht zuletzt auch, dass der Beschwerdeführer in seiner Erstbefragung angeführt hat, Syrien aufgrund des Hungers verlassen zu haben (Protokoll vom 30.07.2015, AS 23).
Auch im Falle einer Rückkehr kann nicht von einer Verfolgung des Beschwerdeführers durch das syrische Regime ausgegangen werden (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 962):
Eine Zwangsrekrutierung zum Reservedienst der syrischen Armee ist nicht maßgeblich wahrscheinlich: Zwar ist eine Einberufung in den Reservedienst bis zum Alter von 42 Jahren möglich vergleiche Punkt römisch II. 1.3.6.), jedoch werden vornehmlich Männer bis 27 Jahren einberufen, während sich ältere – wie der Beschwerdeführer – eher auf Ausnahme berufen können. Insbesondere war der Beschwerdeführer in der Verwaltung tätig und weist er keine besonderen Qualifikationen in Hinblick auf den Militärdienst (wie etwa Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) auf. Schließlich bleibt auch die Diabeteserkrankung des Beschwerdeführers zu berücksichtigen, die ursächlich für seinen Einsatz in der Verwaltung bzw. seine Felddienstuntauglichkeit war vergleiche erneut Punkt römisch II. 1.3.14.). Eine Einziehung als Reservist im Falle einer Rückkehr nach Syrien ist damit konkret in Bezug auf den Beschwerdeführer nicht maßgeblich wahrscheinlich und damit ebenso wenig darauf aufbauende Konsequenzen einer etwaigen Wehrdienstverweigerung (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 959, AS 960 f und AS 969) bzw. die maßgebliche Gefahr, dass er sich hier an völkerrechtswidrigen militärischen Aktionen beteiligen müsste, wie in der Beschwerde vorgebracht (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 954, AS 961, AS 962 und AS 969). Das diesbezügliche, erstmalig in der Beschwerde erstattete Vorbringen (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 956) verblieb auf der bloßen Behauptungsebene.
Ansonsten ist zu seiner Rückkehr auszuführen, dass es zwar nicht zu verkennen ist, dass Berichte Menschenrechtsverletzungen gegenüber Rückkehren darlegen. Das Gericht verkennt auch nicht, dass die Schwelle von Personen, die seitens des syrischen Regimes als oppositionell betrachtet zu werden, niedrig ist sowie, dass Personen aus unterschiedlichen Gründen und teilweise willkürlich als regierungsfeindlich angesehen werden. Es übersieht weiters nicht, dass in ganz Syrien bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. ihnen zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. Bei diesen Berichten handelt es sich jedoch um Einzelfälle. Die Berichte zeigen dabei, insbesondere auch unter Betrachtung der hohen Anzahl von Personen, die in den letzten Jahren nach Syrien zurückgekehrt sind, das Bestehen einer verfahrensrelevanten Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer einer unmittelbar konkret systematischen und asylrelevanten Bedrohung iSd Paragraph 3, AsylG ausgesetzt sei, gegenständlichen nicht auf.
Aus den getroffenen Feststellungen zur Lage in Syrien ergibt sich somit entgegen dem Beschwerdevorbringen (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 960) nicht, dass gleichsam jedem Rückkehrer, der unrechtmäßig ausgereist ist und der im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird vergleiche etwa auch VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0147). Ebenso wenig genügt eine Asylantragstellung in Österreich für die Asylzuerkennung, da diese Antragstellung den syrischen Behörden nicht bekannt ist, zumal es den österreichischen Behörden ohnedies untersagt ist, diesbezüglich Daten an die syrischen Behörden weiterzuleiten. Zwar geht, wie im obigen Absatz ausgeführt, aus den Länderberichten hervor, dass es nach wie vor willkürliche Verhaftungen und andere Repressionen gegenüber Rückkehrern gibt und verschiedene Quellen immer wieder von derartigen Einzelfällen berichten, allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass Rückkehrer per se als politisch oppositionell angesehen würden oder der weitaus überwiegende Teil aller Rückkehrer systematischen Repressionen ausgesetzt wäre vergleiche Punkt römisch II. 1.3.11.).
Ein Eingriff in die psychische und/oder körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund seiner illegalen Ausreise und der Asylantragstellung im Ausland ist daher nicht wahrscheinlich. Es konnten im Verfahren keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte ermittelt werden, dass der Beschwerdeführer mit verfahrensrelevanter Wahrscheinlichkeit unmittelbar konkret persönlich gefährdet ist, im Herkunftsstaat bei einer Rückkehr in sein Heimatgebiet vom syrischen Regime wegen einer ihm zugeschriebenen oppositionellen Gesinnung unmittelbar und konkret aus asylrelevanten Gründen verfolgt zu werden.
Im Ergebnis vermochte der Beschwerdeführer zum entscheidungsrelevanten Zeitpunkt mit seinem Vorbringen nicht aufzuzeigen, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus Gründen der Rasse, Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht worden zu sein bzw. in Zukunft zu werden. Mit Ausnahme seines nicht glaubhaften Fluchtvorbringens verneinte er nämlich jegliche in der Vergangenheit liegenden etwaigen anderweitigen Verfolgungshandlungen (Protokoll vom 16.06.2017, AS 175 ff; Protokoll vom 24.01.2023, AS 621 ff), insbesondere, je politisch tätig gewesen (Protokoll vom 16.06.2017, AS 177) oder aufgrund seiner Nationalität verfolgt worden zu sein (Protokoll vom 16.06.2017, AS 178).
Abschließend konnte somit in einer Gesamtschau der vorangegangenen Ausführungen die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen asylrelevanten Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers durch das syrische Regime in der Heimatregion des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückkehr nicht erkannt werden, weshalb auch eine Einreise durch das Regimegebiet – und damit auch über den Flughafen Damaskus – möglich ist.
Vor diesem Hintergrund kann eine Auseinandersetzung mit einer etwaigen Inanspruchnahme von Schutz durch UNRWA (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 963 ff) hintanstehen.
2.2.2. Zur individuellen Rückkehrsituation
Die Feststellungen zur Situation des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr nach Syrien bzw. einer Abschiebung nach Syrien beruhen auf den in Punkt römisch II. 1.3. getroffenen Feststellungen.
Auch wenn die angespannte Sicherheitslage in Syrien durchaus nicht verkannt wird, geht aus den Länderberichten bzw. insbesondere aus dem Country Guidance Syria 2023 vergleiche Punkt römisch II. 1.3.13.) klar hervor, dass im Gouvernorat Damaskus die Indikatoren den Schluss zulassen, dass im Allgemeinen kein echtes Risiko besteht, dass eine Zivilperson im Sinne von Artikel 15 Buchstabe c) QD persönlich betroffen ist. So verzeichnete Damaskus von allen Gouvernements die zweitniedrigste Anzahl von Sicherheitsvorfällen und gilt Damaskus "seit Jahren relativ frei vom Bürgerkrieg", da die Regierung von Syrien im Mai 2018 die vollständige Kontrolle über die Hauptstadt wiedererlangt hat. Vor diesem Hintergrund kann dem Beschwerdevorbringen, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass dem Beschwerdeführer ein ernsthafter Schaden iSd Artikel 15, Schutz-RL drohe und eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit aufgrund der derzeitigen Bürgerkriegssituation in seinem Heimatland auf jeden Fall gegeben sei (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 971 f), nicht gefolgt werden. Nicht zuletzt kann auch die Familie des Beschwerdeführers unbehelligt in und um Damaskus leben.
Insoweit der Beschwerdeführer vor dem erkennenden Gericht auf seine medizinische Situation in Zusammenhang mit seiner Diabeteserkrankung verweist, wird nicht verkannt, dass sich die medizinische Versorgungslage in Syrien entsprechend den getroffenen Länderfeststellungen durchaus als prekär darstellt. Jedoch ist einerseits – wie bereits ausgeführt – die medizinische Versorgung in Damaskus gewährleistet und eine Vielzahl an öffentlichen Krankenhäusern voll funktionsfähig bzw. die medizinische Versorgung der Bevölkerung generell zugänglich. In Hinblick auf die Verfügbarkeit entsprechender Insulinpräparate bzw. die Behandlungsmöglichkeiten in Damaskus kann auf die Darlegungen unter Punkt römisch II. 2.1. verwiesen werden. Auch handelt es sich beim Diabetes des Beschwerdeführers um keine akut lebensbedrohliche Erkrankung. Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer aus individuellen Gründen gesundheitlicher Natur in eine existenzbedrohende Situation geraten würde.
Zwar wurde das Flüchtlingslager Yarmouk in der Stadt Damaskus schwer beschädigt und stellte das UNRWA im März 2021 fest, dass die grundlegende Infrastruktur des Flüchtlingslagers Yarmouk weiterhin stark beschädigt ist. Aufgrund der Aktenlage ist jedoch konkret in Bezug auf den Beschwerdeführer dennoch nicht davon auszugehen, dass dieser aus individuellen Gründen wirtschaftlicher oder sozialer Natur in eine existenzbedrohende Situation geraten würde:
Aufgrund seines Status als Angehöriger der Gruppe der Palästinenser, welche vor 1956 nach Syrien gekommen sind, ist der Beschwerdeführer in Syrien syrischen Staatsangehörigen im Wesentlichen gleichgestellt und genießt dort Flüchtlingsstatus. Damit ist es ihm möglich, sich legal in Syrien aufzuhalten und einer Arbeit nachzugehen. In Damaskus ist der Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung und gesundheitlicher Versorgung grundlegend gewährleistet vergleiche Punkt römisch II. 1.3.9.) Der in einem erwerbstätigen Alter befindliche, arbeitsfähige Beschwerdeführer, der über mehrere Jahre hinweg die Schule besucht hat und über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Florist verfügt, wird für sein Auskommen Sorge tragen und sich auch Diabetes-Medikamente leisten können. Zudem verfügt er nach wie vor über ein familiäres Netzwerk in und um Damaskus in den Personen seiner Eltern und Geschwistern, mit denen er auch in Kontakt steht und ist nach wie vor auch das im Eigentum der Familie stehende Haus vorhanden. Vor diesem Hintergrund wird der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Syrien in Bezug auf existentielle Grundbedürfnisse nicht in eine ausweglose Situation geraten und ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Gefahr im Sinne des Artikel 2 und 3 EMRK gegeben. Es besteht daher für den Beschwerdeführer unter Berücksichtigung aller relevanter Aspekte in Damaskus derzeit keine solche Gefährdungslage, dass er mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung im Sinne des Artikel 2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK (ZPEMRK) ausgesetzt wäre.
Das Bundesverwaltungsgericht kommt damit, ebenso wie die belangte Behörde, zu dem Schluss, dass es dem Beschwerdeführer im konkreten Fall möglich und zumutbar sein wird, sich wieder im Kreise seiner Kernfamilie anzusiedeln, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und für seinen Lebensunterhalt Sorge zu tragen. Der Beschwerdeführer selbst vermochte in Anbetracht seines nicht glaubhaften Fluchtvorbringens im Rahmen der Beschwerde keine Gründe nennen, welche gegen eine Rückkehr bzw. für die reale Gefahr der Folter, einer unmenschlichen Bestrafung, unmenschlichen Behandlung, der Todesstrafe bzw. einer wie immer gearteten existentiellen Bedrohung sprechen würden. Er entzog sich auch der mündlichen Verhandlung und verletzte seine Mitwirkungspflicht an der Sachverhaltsermittlung, sodass davon auszugehen ist, dass er auch keine solchen Gründe vorbringen konnte. Es ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Syrien seine dringendsten Bedürfnisse wird befriedigen können und er nicht in eine dauerhaft aussichtslose Lage gerät. Besonders exzeptionelle Umstände im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur liegen gegenständlich nicht vor.
2.3. Zum Herkunftsstaat
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf den aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation für Syrien vom 17.07.2023 samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen sowie dem Country Guidance Syria, Stand Februar 2023, einer Anfragebeantwortung und EUAA-Berichten.
Diese Länderinformationen stützen sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von Nichtregierungsorganisationen, wie bspw. Open Doors, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung
Vorab gilt festzuhalten, dass der Beschwerdeführer zwar ein staatenloser Palästinenser ist, jedoch in Anbetracht dessen, dass er in Syrien geboren, aufgewachsen und bis zu seiner Ausreise verblieben ist, entsprechend Paragraph 2, Ziffer 17, AsylG Syrien als Herkunftsstaat des Beschwerdeführers gilt.
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
3.1. Zur Wiederaufnahme des mit 30.06.2017 in Rechtskraft übergangenen Spruchpunktes (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides):
3.1.1. Rechtslage
Der mit „Wiederaufnahme des Verfahrens“ betitelte Paragraph 69, AVG lautet:
„§ 69 (1) Dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens ist stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und:
1. der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist oder
2. neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten, oder
3. der Bescheid gemäß Paragraph 38, von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. vom zuständigen Gericht in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde;
4. nachträglich ein Bescheid oder eine gerichtliche Entscheidung bekannt wird, der bzw. die einer Aufhebung oder Abänderung auf Antrag einer Partei nicht unterliegt und die im Verfahren die Einwendung der entschiedenen Sache begründet hätte.
(2) Der Antrag auf Wiederaufnahme ist binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Bescheides und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.
(3) Unter den Voraussetzungen des Absatz eins, kann die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann die Wiederaufnahme auch von Amts wegen nur mehr aus den Gründen des Absatz eins, Ziffer eins, stattfinden.
(4) Die Entscheidung über die Wiederaufnahme steht der Behörde zu, die den Bescheid in letzter Instanz erlassen hat.“
Ein "Erschleichen", das zur Wiederaufnahme eines Verfahrens führen kann, liegt dann vor, wenn die betreffende Entscheidung in einer Art zustande gekommen ist, dass die Partei gegenüber der Behörde oder dem Gericht objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht hat und die Angaben dann der Entscheidung zugrunde gelegt wurden, wobei die Verschweigung maßgeblicher Umstände dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen ist. Nach der Rechtsprechung des VwGH erfordert ein "Erschleichen" zudem, dass die Behörde oder das Gericht auf die Angaben der Partei angewiesen ist und es ihr nicht zugemutet werden kann, von Amts wegen noch weitere Ermittlungen durchzuführen. Die für die Erschleichung eines Bescheides notwendige Irreführungsabsicht setzt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes voraus, dass die Partei wider besseren Wissens gehandelt hat, um einen vielleicht sonst nicht erreichbaren Vorteil zu erlangen. Ob Irreführungsabsicht vorliegt, kann nur aus den das rechtswidrige Verhalten der Partei begleitenden Umständen geschlossen werden, die von der Behörde in freier Beweiswürdigung festzustellen sind. Es muss ein Kausalitätszusammenhang zwischen der unrichtigen Angabe der Partei und dem Entscheidungswillen der Behörde bestehen, damit das verpönte Handeln als ein die Wiederaufnahme rechtfertigendes "Erschleichen" qualifiziert werden kann vergleiche VwGH 16.11.2022, Ra 2022/20/0298 mit Hinweis auf VwGH 14.10.2022, Ra 2018/22/0227, mwN; VwGH 23.09.2014, 2013/01/0035, mwN und VwGH 25.05.2022, Ra 2022/02/0084, mwN).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Wiederaufnahmsgrund der "Erschleichung" eines Bescheides kann von einem Erschleichen nur dann gesprochen werden, wenn der Bescheid seitens der Partei durch eine verpönte Einflussnahme auf die Entscheidungsunterlagen veranlasst wird und die Behörde durch unrichtige Angaben oder durch Verschweigen wesentlicher Umstände mit Absicht irregeführt wurde (vwGH 18.06.2021, Ra 2021/22/0078).
Ob Irreführungsabsicht vorliegt, entzieht sich als interner Willensvorgang der unmittelbaren menschlichen Erkenntnis. Das Vorliegen einer solchen Absicht kann daher nur aus den das rechtswidrige Verhalten der Partei begleitenden Umständen erschlossen werden. Diese Umstände sind von der Verwaltungsbehörde im Rahmen des ihr zustehenden Rechtes der freien Beweiswürdigung festzustellen (VwGH 09.03.1983, 83/01/0002).
Bei der Prüfung der Frage, ob der Tatbestand des Erschleichens, insbesondere die innere Tatseite (Vorsatz), gegeben ist, bildet das Gesamtverhalten jener Person, der die Erschleichung vorgehalten wird, die Beurteilungsgrundlage vergleiche VwGH 28.09.2000, 99/09/0063). Es müssen schon im wiederaufzunehmenden Verfahren (nicht also etwa nachher) Handlungen und Unterlassungen feststellbar gewesen sein, die eine Erschleichungsabsicht erkennen lassen (VwGH 16.02.1999, 96/08/0270 mit Hinweis auf VwGH 17.09.1962, 492/60).
Von einem "Erschleichen" das zur Wiederaufnahme eines Verfahrens führen kann, kann nicht gesprochen werden, wenn die Behörde es verabsäumt hat, von den ihr ohne besondere Schwierigkeiten zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Sachverhaltsermittlung Gebrauch zu machen. Dem betreffenden Verfahren darf also kein ein "Erschleichen" ausschließender relevanter Ermittlungsmangel in Bezug auf das maßgebliche Sachverhaltselement anhaften. Indessen steht der Umstand bereits zuvor vorhandener, jedoch trotz durchgeführter Ermittlungen vorläufig nicht bestätigter Verdachtsmomente der späteren Wiederaufnahme wegen "Erschleichens" gestützt auf neu hervorgekommene Tatsachen nicht entgegen vergleiche VwGH 16.11.2022, Ra Ra 2022/20/0298 mit Hinweis auf VwGH Ra 2018/22/0227).
Nur wenn die erforderlichen Ermittlungen mit einem übermäßigen, außer Verhältnis stehenden Aufwand verbunden wären und es in den Angaben der Partei keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie falsch oder lückenhaft sind, kann – auch wenn die Behörde die ihr nicht zumutbaren Erhebungen unterlassen hat – davon ausgegangen werden, dass der Tatbestand des Erschleichens iSd Paragraph 69, Absatz eins, Ziffer eins, AVG erfüllt ist vergleiche VwGH 29.01.2004, 2001/20/0346; ferner VwGH 08.06.2006, 2004/01/0470).
3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Gegenständlich hat das BFA das bereits mit 30.06.2017 rechtskräftig abgeschlossene Verfahren zum Antrag auf internationalen Schutz betreffend den Beschwerdeführer nach der Bestimmung des Paragraph 69, Absatz eins, Ziffer eins, AVG wiederaufgenommen. Es bleibt daher zu prüfen, ob die Wiederaufnahme durch das BFA zu Recht erfolgte.
Das Erfordernis eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens, worauf der Wortlaut des Paragraph 69, Absatz eins, AVG abstellt, ist in Anbetracht des formell in Rechtskraft erwachsenen Bescheides des BFA vom 28.06.2017, Zahl: römisch 40 , mit dem dem Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 30.07.2015 stattgegeben, ihm der Status des Asylberechtigten zuerkannt und festgestellt wurde, dass ihm kraft Gesetztes die Flüchtlingseigenschaft zu kommt, erfüllt vergleiche etwa VwGH 22.01.1991, 90/08/0223).
Im Weiteren müssen zusammengefasst nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 25.04.1995, 94/20/0779; VwGH 29.01.2004, 2001/20/0346; VwGH 20.09.2011, 2008/01/0777) vier Voraussetzungen gegeben sein vergleiche Hengstschläger/Leeb, Stand 01.01.2020, Paragraph 70, AVG, RZ 12, Zugriff am 09.02.2024):
• Erstens müssen objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung gemacht worden sein.
• Zweitens muss ein Kausalzusammenhang zwischen den unrichtigen Angaben der Partei und dem Entscheidungswillen (Spruch) der Behörde bestehen.
• Drittens muss Irreführungsabsicht der Partei vorliegen, nämlich eine Behauptung oder ein Verschweigen wider besseres Wissen in der Absicht, daraus einen Vorteil zu erlangen.
• Viertens darf es die Behörde nicht verabsäumt haben, im Zuge eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens die Unrichtigkeit der Angaben zu erkennen.
Aufgrund der Feststellungen bzw. der Beweiswürdigung in Hinblick auf die vom Beschwerdeführer nunmehr vorgebrachten Darlegungen, die diametral seinen ursprünglichen Angaben im Asylverfahren entgegenstehen, steht für den erkennenden Richter fest, dass der Beschwerdeführer dadurch, dass er wahrheitswidrige Angaben über seine Fluchtgründe gemacht hat, objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung gemacht bzw. Tatsachen von wesentlicher Bedeutung verschwiegen hat, die letztlich zu seiner Asylzuerkennung mittels Bescheid geführt haben.
Weiters besteht insoweit ein Kausalzusammenhang zwischen diesen Umständen und dem Entscheidungswillen der Behörde, als dass diese unrichtigen Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund für die Erteilung des Status eines Asylberechtigten ausschlaggebend waren. Dezidiert wird (unter anderem) auf das damalige Vorbringen im Bescheid vom 30.06.2017 Bezug genommen und damit die Erteilung des Status eines Asylberechtigten begründet. Wäre der belangten Behörde damals bekannt gewesen, dass beim Beschwerdeführer in Syrien überhaupt keine glaubhaften, unter die GFK zu subsumierenden Fluchtgründe vorgelegen sind, wäre diesem der Status eines Asylberechtigten nicht erteilt worden.
Schließlich ergibt sich aus den Feststellungen, dass die in der dargestellten Rechtsprechung geforderte Irreführungsabsicht gegenständlich vorliegt, zumal es dem Beschwerdeführer wohl offensichtlich – wie sein Gesamtverhalten unter Beachtung seiner gänzlich widersprüchlichen Angaben vor dem BFA verdeutlichen – wider besseren Wissens darauf ankam, durch seine Angaben den Status eines Asylberechtigten zuerkannt zu bekommen, der ihm anderenfalls nicht beschienen gewesen wäre. Dass die nicht für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten relevanten Nebeninformationen – wie seine Leben und Aufwachsen in Syrien (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 954) – vom Beschwerdeführer stringent wiedergegeben wurden, vermag daran nichts zu ändern.
Zuletzt gilt festzuhalten, dass das Asylverfahren nur beschränkte Möglichkeiten bietet, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren und – sofern der Asylwerber keine anderen Beweismittel hat – lediglich seine Aussagen gegenüber den Asylbehörden bleiben, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen vergleiche zuletzt etwa VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472). Für das Asylverfahren ist es charakteristisch, dass in ihm regelmäßig Sachverhalte beurteilt werden müssen, die sich im Ausland, nämlich im Herkunftsstaat des Asylwerbers zugetragen haben bzw. im Falle von dessen Rückkehr dorthin zutragen würden (VwGH 15.03.2016, Ra 2016/19/0022). Vor diesem Hintergrund trifft es zu, dass die Behörde auf die Angaben der Partei angewiesen ist; in Ermangelung von Vor-Ort-Verifizierungsmöglichkeiten waren weitere Ermittlungen für das BFA nicht zumutbar. Die Behörde hat es damit gegenständlich nicht verabsäumt, im Zuge eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens die Unrichtigkeit der Angaben zu erkennen. In diesem Zusammenhang lässt auch die Beschwerde offen, von welchen offenstehenden Möglichkeiten die belangte Behörde ohne besondere Schwierigkeiten zur Sachverhaltsermittlung Gebrauch machen hätte sollen (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 955).
Da sich somit nicht ergeben hat, dass dem angefochtenen Bescheid eine Rechtswidrigkeit anhaftet, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zur Nichtzuerkennung von Asyl (Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides):
3.2.1. Rechtslage
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd. Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG) offen steht oder, wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG) gesetzt hat.
Flüchtling iSd. Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist vergleiche VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde vergleiche VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt vergleiche VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99/20/0128; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Selbst in einem Staat herrschende allgemein schlechte Verhältnisse oder bürgerkriegsähnliche Zustände begründen für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Um eine Verfolgung im Sinne des AsylG erfolgreich geltend zu machen, bedarf es einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Herkunftsstaates treffenden Unbilligkeiten hinaus geht (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass die asylsuchende Person bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn daher der Fremde im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, dass er im Zeitpunkt der Entscheidung weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (Aktualität der Verfolgung; vergleiche VwGH 06.04.2020, Ra 2019/01/0443; VwGH 25.09.2018, Ra 2017/01/0203). Hierbei hat sich eine Prüfung nicht isoliert auf die Herkunftsregion zu beschränken, sondern ist die für die Asylgewährung erforderliche Verfolgungsgefahr in Bezug auf den gesamten Herkunftsstaat des Asylwerbers oder der Asylwerberin zu prüfen vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108).
3.2.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Der Beschwerdeführer konnte – wie in der Beweiswürdigung unter Punkt römisch II. 2.2.1. ausführlich dargelegt – in Anbetracht seiner diametralen Angaben zu seinen Fluchtgründen keine Gründe glaubhaft machen, die auf eine Verfolgung aus Gründen der Genfer Flüchtlingskonvention schließen ließen. Er musste sein Heimatland nicht aufgrund der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der GFK verlassen. Auch für den Fall einer Rückkehr nach Syrien unterliegt der Beschwerdeführer keiner Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung. Wie weiters beweiswürdigend dargelegt und festgestellt, ist, zumal das Gericht von einer ordnungsgemäßen Ableistung des Wehrdienstes ausgeht, nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer als Reservist einberufen würde bzw. ihm bei seiner Rückkehr eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde. Es ergibt sich entgegen der Ansicht der Beschwerde auch aus keinen Länderberichten eine Verfolgung aller Rückkehrer, die um Asyl angesucht haben (VwGH 24.11.2022, Ra 2022/18/0222).
Da dem Beschwerdeführer keine Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung droht, war dem Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Asylgewährung nicht zu entsprechen. Die Beschwerde war daher auch betreffend Spruchpunkt römisch II. als unbegründet abzuweisen.
Vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer ohnedies keine Verfolgung nach der GFK glaubhaft machen konnte, bedarf es keiner Auseinandersetzung mit den in Paragraph 6, AsylG normierten Asylausschlussgründen (Beschwerde vom 29.12.2023, AS 965 ff).
3.3. Zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz (Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides):
3.3.1. Rechtslage
Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK (ZPERMRK) bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Gemäß Paragraph 8, Absatz 2, AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz eins, mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach Paragraph 7, zu verbinden. Gemäß Paragraph 8, Absatz 3, AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des Paragraph 11, leg. cit. offen steht.
Im Rahmen der Prüfung des Einzelfalls ist die Frage zu beantworten, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein – über eine bloße Möglichkeit hinausgehendes – "real risk" einer gegen Artikel 3, EMRK verstoßenden Behandlung droht vergleiche VwGH 28.06.2011, 2008/01/0102). Die dabei aufgrund konkreter vom Fremden aufgezeigter oder von Amts wegen bekannter Anhaltspunkte anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 15.12.2010, 2006/19/1354; VwGH 31.05.2005, 2005/20/0095, VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582).
Die Abschiebung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann eine Verletzung von Artikel 3, EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also bezogen auf den Einzelfall die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Artikel 3, EMRK ist nicht ausreichend (VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174; VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174 ua). Das Vorliegen solch exzeptioneller Umstände erfordert detaillierte und konkrete Darlegungen vergleiche VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; VwGH 07.09.2016, Ra 2015/19/0303 ua).
Im Allgemeinen hat kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind (VwGH 10.08.2017, Ra 2016/20/0105 mit Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 189 ff).
Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Artikel 3, MRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (VwGH 30.06.2017, Ra 2017/18/0086 mit Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 183).
3.3.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht gegeben sind.
Ihm droht in Syrien – wie bereits unter Punkt römisch II. 2.2.1. ausführlich dargelegt wurde – keine asylrelevante Verfolgung.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Lage in weiten Teilen Syriens prekär ist. Jedoch besteht – wie unter Punkt römisch II. 2.2.2. bereits angeführt – gerade in Damaskus Stadt derzeit kein reales Risiko als Zivilperson persönlich von willkürlicher Gewalt betroffen zu sein, wurden in Damaskus von allen Gouvernements die zweitniedrigste Anzahl von Sicherheitsvorfällen verzeichnet und gilt Damaskus "seit Jahren relativ frei vom Bürgerkrieg“.
Auch dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Syrien die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Artikel 3 EMRK überschritten wäre (zur "Schwelle" des Artikel 3 EMRK vergleiche VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), gibt es im vorliegenden Beschwerdefall, wie bereits dargelegt, keinen Anhaltspunkt. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen arbeitsfähigen, nicht an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidenden Mann im erwerbsfähigen Alter mit mehrjährige Schulbildung und eine abgeschlossene Berufsausbildung als Florist, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Entsprechende Berufsmöglichkeiten – übergangsweise gegebenenfalls auch einfache Tätigkeiten – sind gegeben, zudem sind seine Familienangehörigen in und um Damaskus aufhältig, die ihn anfänglich unterstützten könnten. Als Palästinenser, dessen Familie vor 1956 nach Syrien gekommen ist, genießt der Beschwerdeführer nahezu die selben Rechte wie ein syrischer Staatsbürger, mit vollem Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung und dem Recht sich legal in Syrien aufzuhalten. Die medizinische Versorgung ist in Damaskus gewährleistet und eine Vielzahl an öffentlichen Krankenhäusern voll funktionsfähig bzw. die medizinische Versorgung der Bevölkerung generell zugänglich. Gegenständlich ist damit jedenfalls davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer in Syrien wird ansiedeln können und ein in Damaskus vor dem Hintergrund der aktuellen Länderberichte auch grundlegend gewährleisteter Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung und gesundheitlicher Versorgung, zur Verfügung stehen wird vergleiche dazu insbesondere die Ausführungen unter Punkt römisch II. 1.3. bzw. 1.3.9. im Speziellen).
Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG als unbegründet abzuweisen.
3.4. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides):
3.4.1. Rechtslage
Gemäß Paragraph 58, Absatz eins, AsylG hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Ziffer 2,). Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen (Paragraph 58, Absatz 3, AsylG).
3.4.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die belangte Behörde unter Zitierung des Paragraph 57, AsylG zwar ausgesprochen hat, dass ein „Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt werde, sich aus der Begründung des angefochtenen Bescheides jedoch unzweifelhaft ergibt, dass die belangte Behörde tatsächlich rechtsrichtig über eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" gemäß Paragraph 57, AsylG abgesprochen und eine solche nicht erteilt hat.
Indizien dafür, dass der Beschwerdeführer einen Sachverhalt verwirklicht, bei dem ihm ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) zu erteilen wäre, sind weder vorgebracht worden, noch hervorgekommen: Weder war der Aufenthalt des Beschwerdeführers seit mindestens einem Jahr im Sinne des Paragraph 46, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer eins a, FPG geduldet, noch ist dieser zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig, noch ist der Beschwerdeführer Opfer von Gewalt im Sinne des Paragraph 57, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG.
3.5. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheides):
3.5.1 Rechtslage
Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, nicht erteilt wird.
Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.
Gemäß Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere die in Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer eins bis 9 BFA-VG aufgezählten Gesichtspunkte zu berücksichtigen (die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist).
3.5.2 Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Wie oben ausgeführt, war ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) nicht zu erteilen. Zu prüfen ist daher, ob eine Rückkehrentscheidung mit Artikel 8, EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach Paragraph 55, AsylG überhaupt in Betracht käme. Die Vereinbarkeit mit Artikel 8, EMRK ist aus folgenden Gründen gegeben:
Zwar hat sich der Beschwerdeführer in Anbetracht des Bescheides vom 28.06.2017, Zahl: römisch 40 , mit dem dem Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 30.07.2015 stattgegeben, ihm der Status des Asylberechtigten zuerkannt und festgestellt wurde, dass ihm kraft Gesetztes die Flüchtlingseigenschaft zukommt, rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Es bleibt jedoch in diesem Zusammenhang – wie unter Punkt römisch II. 3.1. im Detail erörtert – festzuhalten, dass diese Zuerkennung nur aufgrund der Angabe objektiv unrichtiger Angaben betreffend seinen Fluchtgrund erschlichen wurde.
Zumal sich aufggrund der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung gezeigt hat, dass der Beschwerdeführer im Bundesgebiet kein Familienleben führt, ist ein Eingriff in dasselbe zu verneinen und eine diesbezügliche Prüfung obsolet.
Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen eines Menschen zu verstehen vergleiche EGMR 15.01.2007, Sisojeva ua. gegen Lettland, Appl. 60654/00). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst der verstrichene Zeitraum im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt vergleiche dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK, ÖJZ 2007, 852 ff). Dabei kommt selbst einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu vergleiche VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289) und ist erst bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen vergleiche etwa VwGH 16.08.2022, Ra 2022/21/0084). Diese Rechtsprechungslinie betrifft jedoch nur Konstellationen, in denen der Inlandsaufenthalt bereits über zehn Jahre dauerte und sich aus dem Verhalten des Fremden - abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich - sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab (VwGH 02.09.2021, Ra 2021/21/0209 mit Hinweis auf VwGH 25.04.2014, Ro 2014/21/0054; VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001). Ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale könne daher gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden (VwGH 25.04.2019, Ra 2018/22/0251 mit Hinweis auf VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005). Dazu zählen das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung, Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften (zB AuslBG), eine zweifache Asylantragstellung, unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren, sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (VwGH 20.12.2021, Ra 2021/20/0437 mit Hinweis auf VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0165; VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001; VwGH 03.09.2015, Ra 2015/21/0121; VwGH 25.04.2014, Ro 2014/21/0054; VwGH 16.10.2012, 2012/18/0062; VwGH 25.04.2014, Ro 2014/21/0054; VwGH 20.07.2016, Ra 2016/22/0039; VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082; VwGH 04.08.2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253; VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0165; VwGH 31.01.2013, 2012/23/0006). Es ist daher selbst in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer (VwGH 29.08.2018, Ra 2018/22/0180).
Prinzipiell ist der über achteinhalbjährige Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers an sich damit jedenfalls nicht als kurz, jedoch auch nicht als besonders lange anzusehen. Zudem hat diese aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers noch in Anbetracht der zuvor genannten Rechtsprechung erhebliche Relativierungen zu erfahren: Insbesondere die Verwirklichung des Tatbestandes der Schlepperei fällt erheblich ins Gewicht, zumal der Bekämpfung der Schlepperei hinsichtlich des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - auch aus unionsrechtlicher Sicht - ein hoher Stellenwert zukommt vergleiche VwGH 25.05.2023, Ra 2023/19/0099 mit Hinweis auf VwGH 13.02.2020, Fe 2019/01/0001, mwN). Bei einer im Rahmen einer kriminellen Vereinigung – wie entsprechend Punkt römisch II. 1.1. festgestellt – begangenen Schlepperei handelt es sich um ein unter fremdenrechtlichen Aspekten besonders verpöntes Verhalten vergleiche 03.10.2022, Ra 2022/19/0221 mit Hinweis auf VwGH 20.05.2021, Ra 2021/21/0146, mwN). Schließlich sind auch die weiteren beiden Verurteilungen, nämlich die gefährliche Drohung sowie seine falsche Beweisaussage zulasten des Beschwerdeführers in Anschlag zu bringen.
Seine Aufenthaltsdauer hat somit neben dem Umstand, dass er sich seinen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet durch objektiv unrichtige Angaben erschlichen hat, auch aufgrund der drei strafgerichtlichen Verurteilungen – worauf letztlich ein über einjähriger Aufenthalt in Haftanstalten fußte – eine maßgebliche Relativierung zu erfahren.
Weiters ist auch darauf, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren vergleiche VwGH 06.05.2020, Ra 2020/20/0093), einzugehen. Zugunsten des Beschwerdeführers im Sinne eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte sind keine Aspekte der sprachlichen, beruflichen oder sozialen Integration zu berücksichtigen. In beruflicher Hinsicht ist wesentlich, dass eine berufliche Integration bis dato nicht stattgefunden hat und die Erwerbshistorie des Beschwerdeführers von unsteten, meist nur tageweisen oder weniger als zwei Monate andauernden Arbeitsverhältnissen und ansonsten vom Bezug von Arbeitslosengeld bzw. auch Notstands- und Überbrückungshilfe geprägt ist. Hinweise auf eine soziale oder kulturelle Integration haben sich ebensowenig ergeben.
Gleichzeitig hat der Beschwerdeführer in Syrien sprachliche und kulturelle Verbindungen; er ist in Syrien aufgewachsen, hat dort seine Sozialisierung erfahren und bis zu seiner Ausreise gelebt sowie über mehrere Jahre hinweg die Schule besucht und als Florist in Damaskus gearbeitet. Er spricht nach wie vor seine Muttersprache und ist mit den regionalen Gebräuchen und Eigenheiten der syrischen Kultur vertraut. Es wird dem Beschwerdeführer daher – auch in Anbetracht der familiären Anknüpfungen in und um Damaskus – ohne unüberwindliche Probleme möglich sein, sich wieder in die syrische Gesellschaft zu integrieren, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Allfällige mit der Rückkehrentscheidung verbundene Schwierigkeiten bei der Gestaltung seiner Lebensverhältnisse sind im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen und an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hinzunehmen vergleiche VwGH 29.06.2017, Ra 2016/21/0338).
Es sind – unter der Schwelle des Artikel 2 und 3 EMRK – aber auch die Verhältnisse im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens zu betrachten, so sind etwa Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder auch Behandlungsmöglichkeiten bei medizinischen Problemen bzw. eine etwaigen wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung psychischer Probleme auch in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessensabwägung nach Paragraph 9, BFA-VG miteinzubeziehen vergleiche dazu VwGH, 16.12.2015, Ra 2015/21/0119). Eine diesbezüglich besonders zu berücksichtigende Situation liegt gegenständlich nicht vor; beim Beschwerdeführer sind keine besonderen Vulnerabilitäten gegeben bzw. Insulinprodukte sowohl verfügbar als auch finanzierbar vergleiche Punkt römisch II. 2.2.).
Durch die Rückkehrentscheidung wird Artikel 8, EMRK damit im Ergebnis nicht verletzt und ist im Sinne von Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG nicht als unzulässig anzusehen, weshalb auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Paragraph 55, AsylG 2005 nicht in Betracht kommt.
Die sonstigen Voraussetzungen einer Rückkehrentscheidung nach Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 und Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG sind erfüllt. Sie ist auch sonst nicht (zB vorübergehend nach Artikel 8, EMRK, vergleiche Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG und VwGH 28.04.2015, Ra 2014/18/0146) unzulässig. Der Beschwerdeführer verfügt auch über kein sonstiges Aufenthaltsrecht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes römisch fünf. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG in Verbindung mit Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG und Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG als unbegründet abzuweisen war.
3.6. Zur Zulässigkeit der Abschiebung in die Arabische Republik Syrien (Spruchpunkt römisch VI. des angefochtenen Bescheides):
3.6.1 Rechtslage
Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG ist mit der Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellungen des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß Paragraph 50, Absatz eins, FPG unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 EMRK oder deren 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Gemäß Paragraph 50, Absatz 2, FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG ist die Abschiebung unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.6.2 Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Im gegenständlichen Fall trifft keine der Voraussetzungen des Paragraph 50, FPG zu, die eine Abschiebung in den Herkunftsstaat unzulässig machen würden.
Ein inhaltliches Auseinanderfallen der Entscheidungen nach Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 (zur Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz) und nach Paragraph 52, Absatz 9, FPG (zur Frage der Zulässigkeit der Abschiebung) ist ausgeschlossen. Damit ist es unmöglich, die Frage der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Rahmen der von Amts wegen zu treffenden Feststellung nach Paragraph 52, Absatz 9, FPG neu aufzurollen und entgegen der getroffenen Entscheidung über die Versagung von Asyl und subsidiärem Schutz anders zu beurteilen vergleiche dazu etwa VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 und auch die Beschlüsse VwGH 19.02.2015, Ra 2015/21/0005 und 30.06.2015, Ra 2015/21/0059 – 0062).
Die Abschiebung ist auch nicht unzulässig im Sinne des Paragraph 50, Absatz 2, FPG, da dem Beschwerdeführer keine Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Weiters steht keine Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der Abschiebung entgegen.
Die in dem angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen der Zulässigkeit der Abschiebung in die Arabische Republik Syrien erfolgte daher zu Recht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes römisch VI. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG in Verbindung mit Paragraph 52, Absatz 9, FPG abzuweisen war.
3.7. Zur Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise und zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung (Spruchpunkte römisch VII. und römisch VIII. des angefochtenen Bescheides):
3.7.1. Rechtslage
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins a, FPG besteht eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß Paragraph 68, AVG sowie, wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß Paragraph 18, BFA-VG durchführbar wird.
Gemäß Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 2, BFA-VG kann das Bundesamt einer Beschwerde gegen eine abweisende Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung aberkennen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Asylwerber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt. Nach Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 5, BFA-VG kann die aufschiebende Wirkung weiters aberkannt werden, wenn das Vorbringen des Asylwerbers zu seiner Bedrohungssituation offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht.
Nach Paragraph 18, Absatz 5, BFA-VG hat das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung vom Bundesamt aberkannt wurde, binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde von Amts wegen die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK, Artikel 8, EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. In der Beschwerde gegen den in der Hauptsache ergangenen Bescheid sind die Gründe, auf die sich die Behauptung des Vorliegens einer realen Gefahr oder einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit gemäß Satz 1 stützt, genau zu bezeichnen. Paragraph 38, VwGG gilt.
Zur Begründung einer Notwendigkeit der sofortigen Ausreise eines Fremden genügt es nicht, dafür auf eine - die Aufenthaltsbeendigung als solche rechtfertigende - Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den Fremden zu verweisen, sondern es ist darüber hinaus darzutun, warum die Aufenthaltsbeendigung sofort - ohne Aufschub und unabhängig vom Ergebnis des Beschwerdeverfahrens - zu erfolgen hat; dazu ist es nicht ausreichend, jene Überlegungen ins Treffen zu führen, die schon bei der Entscheidung über die Verhängung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme selbst maßgeblich waren. Die Notwendigkeit der sofortigen Ausreise als gesetzliche Voraussetzung für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung betreffend die Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung erfordert also das Vorliegen besonderer Umstände, die mit den Voraussetzungen für die Aufenthaltsbeendigung als solche nicht gleichzusetzen sind (VwGH 27.08.2020, Ra 2020/21/0172 mit Hinweis auf 12.09.2013, 2013/21/0094; VwGH 03.07.2018, Ro 2018/21/0007)
3.7.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Wie die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid zutreffend ausgeführt hat, erweist sich die sofortige Ausreise des Beschwerdeführers im Interesse der öffentlichen Ordnung (zur Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens) und Sicherheit (Verhinderung von weiteren Straftaten im Bereich der Schlepperei, die gerade im Rahmen einer kriminellen Vereinigung ein besonders verpöntes Verhalten darstellt, deren Bekämpfung ein hoher Stellenwert zukommt) als erforderlich, dies aufgrund des an den Tag gelegten Gesamtverhaltens des Beschwerdeführers, welches eine massive Beeinträchtigung der Grundinteressen erkennen lässt. Der Beschwerdeführer hat durch sein bisheriges Verhalten – worauf letztlich auch die Verurteilungen der gefährlichen Drohung, der Schleppung im Rahmen einer kriminellen Vereinigung und der falschen Beweisaussage fußen – unzweifelhaft gezeigt, dass er bislang nicht gewillt war, sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten, wie auch das Erschleichen des Status des Asylberechtigten zeigt. Daneben kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass er aufgrund finanzieller Erwägungen in Ermangelung einer beruflichen Verfestigung wieder Verbrechen in Zusammenhang mit Schleppung begehen würde. Auch betonte der Beschwerdeführer, gleich illegal nach Kanada gehen zu wollen, weshalb auch das Risiko einer Fluchtgefahr gegeben ist.
In Zusammenschau mit dem persönlichen Verhalten des Beschwerdeführers, seinem strafrechtlich relevanten Verhalten und der dadurch gezeigten kriminellen Energie erscheint seine sofortige Ausreise im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit jedenfalls notwendig. Im Ergebnis war damit der belangten Behörde zuzustimmen und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung gemäß Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 2, BFA-VG abzuerkennen.
Neben einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung hat das BFA auch die Bestimmung des Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 5, BFA-VG angeführt, der inhaltlich Paragraph 6, Absatz eins, Ziffer 4, AsylG in der Fassung AsylG 1997 Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 101 aus 2003, entspricht; dieser wiederum entspricht Paragraph 6, Ziffer 3, AsylG 1997 in der Stammfassung des AsylG 1997.
Zur Anwendung dieser Bestimmung muss es unmittelbar offensichtlich sein, dass die abgegebene Schilderung tatsächlich wahrheitswidrig ist. Die erforderliche qualifizierte Unglaubwürdigkeit setzt voraus, dass es weder weitwendiger Überlegungen noch einer langen Argumentationskette bedarf, um zu erkennen, dass das Vorbringen eines Asylwerbers nicht den Tatsachen entspricht (VwGH 21.08.2001, 2000/01/0214; VwGH 31.01.2002, 2001/20/0381; VwGH 11.06.2002, 2001/01/0266; VwGH 06.05.2004, 2002/20/0361).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zu den entsprechenden Vorfassungen dieses Tatbestandes ausgeführt, dass Paragraph 6, Ziffer 3, AsylG 1997 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 76 aus 1997, (nunmehr Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 5, BFA-VG) lediglich dann anwendbar ist, wenn das gesamte Vorbringen zu einer Bedrohungssituation den Tatsachen offensichtlich nicht entspricht. Die Anwendbarkeit scheidet aus, wenn das Vorbringen auch nur in einem Punkt möglicherweise auf eine wahre Tatsache gestützt wird; auf Einzelaspekte gestützte Erwägungen erweisen sich somit für die Anwendung des Tatbestandes der offensichtlichen Tatsachenwidrigkeit des Vorbringens zur Bedrohungssituation als nicht tragfähig vergleiche dazu VwGH 21.08.2001, 2000/01/0214).
Das Bundesverwaltungsgericht erachtet im konkreten Fall Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 5, BFA-VG gegenständlich tatsächlich als erfüllt, da das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner angeblichen Bedrohungs- und Fluchtsituation, wie in der Beweiswürdigung unter Punkt römisch II. 2.2.1. ausführlich dargelegt, aufgrund seiner diametralen Angaben offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht bzw. gar nicht entsprechen kann.
Für das Bundesverwaltungsgericht steht zudem fest, dass dem Beschwerdeführer bei Rückkehr in die Arabische Republik Syrien, wie vorhin ausführlich dargelegt, keine reale Gefahr einer Menschenrechtsverletzung bzw. keine Gefahr, dass diesem die Todesstrafe, die Folter, eine unmenschliche Behandlung oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes drohen. Er bedarf daher nicht des Schutzes Österreichs. Es ist somit im konkreten Fall davon auszugehen, dass die sofortige Umsetzung der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen im Interesse eines geordneten Fremdenswesens geboten ist. Ein von Artikel 8, EMRK geschützter Eingriff in sein Privat- und Familienleben ist ebenfalls mangels Bestehens eines schützenswerten Familienlebens bzw. nicht maßgeblichen Privatlebens in Österreich nicht zu befürchten. Die nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes durchzuführende Interessensabwägung zwischen den Interessen des Beschwerdeführers und jenen Österreichs ergibt – wie bereits oben ausgeführt – einen Überhang der Interessen Österreichs an der unverzüglichen Vollstreckung des bekämpften Bescheides. Damit waren keine Gründe für die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß Paragraph 18, Absatz 5, BFA-VG gegeben.
Im Ergebnis war damit der belangten Behörde zuzustimmen und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung gemäß Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 2 und Ziffer 5, BFA-VG abzuerkennen sowie von der Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise nach Paragraph 55, Absatz eins a, FPG abzusehen.
Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich der Spruchpunkte römisch VII. und römisch VIII. des angefochtenen Bescheides abzuweisen.
3.8. Zum Einreiseverbot (Spruchpunkt römisch IX. des angefochtenen Bescheides):
3.8.1. Rechtslage
Der mit „Einreiseverbot“ titulierte Paragraph 53, FPG lautet in seinen wesentlichen Auszügen:
„§ 53 (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
[…]
(3) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Ziffer 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;
[…]
(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.
(5) Eine gemäß Absatz 3, maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. Paragraph 73, StGB gilt.
[…]“
3.8.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Das Einreiseverbot soll bestimmte, mit dem Aufenthalt des betroffenen Fremden potentiell verbundene Gefährdungen öffentlicher Interessen hintanhalten. Dabei ist im Rahmen einer Interessensabwägung zu prüfen, inwiefern private und familiäre Interessen des Fremden der Verhängung des Einreiseverbots in der konkreten Dauer allenfalls entgegenstehen. Ein Einreiseverbot ist dann zu verhängen, wenn die Gefährdungsprognose eine zukünftige Gefährdung relevanter öffentlicher Interessen ergibt und eine Interessensabwägung nach Artikel 8, EMRK zu Lasten des betroffenen Drittstaatsangehörigen ausgeht (VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0062).
Die belangte Behörde sprach gegenständlich mit der Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren aus und stützte ihre Entscheidung auf Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins, FPG.
Wie unter Punkt römisch II. 1.1. festgestellt, wurde der Beschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt wegen des Verbrechens der Schlepperei nach Paragraph 114, Absatz eins,, Absatz 3, Ziffer 2,, Absatz 4, erster Fall FPG und hierfür nach dem Strafsatz des Paragraph 114, Absatz 4, FPG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 20 Monaten verurteilt. Mildernd wurde beim Beschwerdeführer das reumütige Geständnis, erschwerend hingegen die mehrfache Deliktsqualifikation bewertet.
In Anbetracht der über ihn verhängten Haftstrafe von 20 Monate ist der Tatbestand des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins, FPG damit objektiv erfüllt.
Neben der Feststellung der objektiven Verwirklichung einer derartigen Verurteilung an sich gilt es nun, auch eine Gefährdungsprognose anzustellen. Hierbei ist in Bezug auf die für ein Einreiseverbot zu treffende Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme (hier: "schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit") gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen vergleiche etwa VwGH 16.11.2022, Ra 2022/20/0002 mit Hinweis auf VwGH 24.03.2015, Ra 2014/21/0049).
Gegenständlich ist beachtlich, dass der Beschwerdeführer, obgleich erwerbsfähig, seine finanzielle Situation mit der Begehung von Straftaten – nämlich Schleppung im Rahmen einer kriminellen Vereinigung – zu begegnen und sich am Leid und der Notsituation anderer Menschen unrechtmäßig zu bereichern versuchte. Erneut bleibt festzuhalten, dass der Bekämpfung der Schlepperei hinsichtlich des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - auch aus unionsrechtlicher Sicht - ein hoher Stellenwert zukommt vergleiche VwGH 25.05.2023, Ra 2023/19/0099 mit Hinweis auf VwGH 13.02.2020, Fe 2019/01/0001, mwN) und es sich bei einer im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangenen Schlepperei um ein unter fremdenrechtlichen Aspekten besonders verpöntes Verhalten handelt vergleiche 03.10.2022, Ra 2022/19/0221 mit Hinweis auf VwGH 20.05.2021, Ra 2021/21/0146, mwN). Der bei dieser Verurteilung berücksichtigte Milderungsgrund des „reumütigen Geständnisses“ ist zudem vor dem Hintergrund zu betrachten, dass der Beschwerdeführer vor dem BFA zwar die gegen ihn im Strafurteil erhobenen Vorwürfe einräumte, jedoch die Verantwortung zur Tatbegehung seiner Freundin zuschob und ausführte, diese hätte ihn verleitet. Dieser war jedoch entsprechend dem rechtskräftigen Strafurteil im Gegensatz zum Beschwerdeführer nicht bewusst, dass hinter den Schleppungen ein auf längere Zeit, nämlich von zumindest mehreren Wochen, angelegter länderübergreifend agierender Zusammenschluss von mehr als zwei Personen stand, der arbeitsteilig und organisiert auftrat und darauf ausgerichtet war, gegen Entgelt Schleppungen von Fremden nach oder durch Länder der Europäischen Union durchzuführen und dadurch Geld für den Lebensunterhalt seiner Mitglieder zu lukrieren. Vor diesem Hintergrund ist eine tatsächliche Verantwortung des Beschwerdeführers nicht zu erkennen. Schließlich vermochte ihn auch seine vorangegangene strafgerichtliche Verurteilung nicht vor der Begehung dieser weiteren Straftat abzuhalten und machte er selbst während seines Haftaufenthaltes, somit während des Verspürens des Haftübels, in einer Justizanstalt noch eine falsche Beweisaussage, worauf letztlich seine dritte Verurteilung fußte.
Es gilt in weiterer Folge zu prüfen, ob beim Beschwerdeführer allenfalls ein Gesinnungswandel stattgefunden hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich – nach dem Vollzug einer Haftstrafe – in Freiheit wohlverhalten hat; für die Annahme eines Wegfalls der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit eines Fremden ist somit in erster Linie das Verhalten in Freiheit maßgeblich. Dabei ist der Beobachtungszeitraum umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden in der Vergangenheit manifestiert hat vergleiche VwGH 03.08.2023, Ra 2023/17/0093, mwN). Der Beschwerdeführer wurde am 20.10.2023 aus der Strafhaft entlassen und bis 01.12.2023 in ein Polizeianhaltezentrum überstellt. Der seither verstrichene Beobachtungszeitraum von lediglich knapp zwei Monaten ist in Anbetracht seiner gravierenden Verurteilung in Zusammenhang mit Schlepperei im Rahmen einer kriminellen Vereinigung und auch dem während seiner Haft gesetzten strafrechtlichen Verhalten, nämlich der falschen Beweisaussage, zu kurz, um von einem Gesinnungswandel des Beschwerdeführers, der sich zudem in offener Probezeit befindet, auszugehen. Daran mag auch der maximal knapp zwei Monate umfassende Bericht des Vereins Neustart nichts zu ändern (AS 985). Positive Schritte, wie etwa die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, hat der Beschwerdeführer bis dato jedenfalls nicht gesetzt.
Aufgrund dieser Erwägungen ist somit eine positive Zukunftsprognose ausgeschlossen, vielmehr unter Berücksichtigung aller zuvor genannten Umstände und in Ansehung des bisherigen Fehlverhaltens und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des Beschwerdeführers eine schwerwiegende Gefährdung von öffentlichen Interessen als anzunehmen (VwGH 19.05.2004, 2001/18/0074).
Zum – nicht vorhandenen – Familienleben des Beschwerdeführers in Österreich bzw. dem nicht maßgeblichen Privatleben wird auf die bereits vorgenommene Interessensabwägung unter Pkt. römisch II. 3.5.2. verwiesen.
Es kann der belangten Behörde daher nicht vorgeworfen werden, wenn sie im vorliegenden Fall von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausging und erweist sich das gegen den Beschwerdeführer gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG verhängte Einreiseverbot somit dem Grunde nach als gerechtfertigt, weshalb eine Aufhebung nicht in Betracht kommt.
Was die gewählte Dauer des Einreiseverbotes betrifft, bewegt sich diese innerhalb des der belangten Behörde zur Verfügung stehenden Rahmens, wobei Paragraph 53, Absatz 3, erster Teilsatz FPG ein Einreiseverbot für die Dauer von bis zu zehn Jahren für zulässig erachtet.
Gegenständlich verhängte das BFA gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot, womit die mögliche Maximaldauer ausgeschöpft wurde. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes erscheint diese Dauer – auch unter Berücksichtigung dessen, dass sich die gegen den Beschwerdeführer unbedingt verhängte Freiheitsstrafe auf weniger als ein Fünftel des zulässigen Strafrahmens beläuft, als zu hoch angesetzt und hat daher eine Reduzierung zu erfahren. Unter Berücksichtigung des konkreten Unrechtsgehalts der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat unter Miteinbeziehung der konkreten Strafzumessungsgründe sowie unter Beachtung, dass über den Beschwerdeführer während der Verbüßung seiner Haftstrafe und damit während dem Verspüren des Haftübels noch einmal eine achtmonatige, bedingte Freiheitsstrafe verhängt wurde, erscheint ein achtjähriges Einreiseverbot ausreicht, um der von ihm ausgehenden Gefährlichkeit wirksam zu begegnen und ihn zu einem Umdenken hin zu einem rechtskonformen Verhalten zu veranlassen. Mit dieser verhängten Dauer des Einreiseverbotes bleibt letztlich auch noch ein entsprechender Spielraum für eventuelle weitere strafgerichtliche Verurteilungen.
Das Einreiseverbot laut Spruchpunkt römisch IX. des angefochtenen Bescheids war somit beschwerdegemäß herabzusetzen, im Konkreten auf acht Jahre.
Während dieser Gültigkeitsdauer des Einreiseverbots wird es dem Beschwerdeführer möglich sein, seinen Gesinnungswandel durch die Vermeidung eines Rückfalls zu untermauern. Diese Dauer ist ausreichend, aber auch notwendig, um eine nachhaltige Änderung seines Verhaltens und seiner Einstellung zu den rechtlich geschützten Werten zu bewirken.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder fehlt es an einer Rechtsprechung zur Glaubhaftigkeit eines Fluchtvorbringens; noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.
ECLI:AT:BVWG:2024:I413.2284312.1.00