Bundesverwaltungsgericht
01.02.2024
W191 2180672-2
W191 2180672-2/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde der minderjährigen römisch 40 , geboren am römisch 40 , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter römisch 40 , geboren am römisch 40 , diese vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.09.2023, Zahl 1109736300/223676979, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.12.2023 zu Recht:
A)
römisch eins. Der Beschwerde wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer 2, Asylgesetz 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
römisch II. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Vorverfahren:
1.1.1. Die Beschwerdeführer (in der Folge BF), römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF1), ihr Ehemann römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF2), und ihre gemeinsamen Kinder römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF3), römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF4), und römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF5), reisten gemeinsam in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 20.10.2015 jeweils einen – ersten – Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.1.2. In der Erstbefragung der BF1 und des BF2 am 21.10.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, gaben die BF an, sie seien sunnitische Moslems, Angehörige der Volksgruppe der Usbeken und stammten aus Kunduz, Afghanistan. Der BF2 gab an, dass es der Familie in Afghanistan finanziell sehr schlecht gegangen und die Situation nicht mehr auszuhalten gewesen sei. Finanziell würde die Familie eine Rückkehr nach Afghanistan nicht überleben und außerdem herrsche überall Krieg. Die BF1 wiederholte bei ihrer Erstbefragung im Wesentlichen die Fluchtgründe des BF2.
1.1.3. Am römisch 40 wurde römisch 40 (BF6) als weitere Tochter der BF1 und des BF2 in Österreich nachgeboren. Ihre Mutter stellte als gesetzliche Vertreterin für die BF6 am 18.01.2016 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.1.4. Am 16.10.2017 erfolgte die Einvernahme von BF1 und BF2 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi. Dabei gab der BF2 als Fluchtgrund an, dass er von drei bewaffneten Personen angehalten worden wäre und ihm diese seinen Lehrausweis weggenommen und ihn zu einem Stützpunkt mitgenommen hätten. Dort wäre er geschlagen worden. Die BF1 wiederholte bei ihrer Einvernahme im Wesentlichen die Fluchtgründe des BF2.
1.1.5. Mit in den wesentlichen Punkten gleichlautenden Bescheiden des BFA vom 17.11.2017 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz vom 20.10.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG (Spruchpunkt römisch eins) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihnen gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-Verfahrensgesetz (in der Folge BFA-VG) wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG) erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß Paragraph 46, FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt römisch VI.).
1.1.6. Am römisch 40 wurde römisch 40 (BF7) als weitere Tochter der BF1 und des BF2 in Österreich nachgeboren. Ihre Mutter stellte als gesetzliche Vertreterin für die BF7 am 16.01.2018 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.1.7. Mit Bescheid vom 09.03.2018 wies das BFA den Antrag der BF7 auf internationalen Schutz gemäß Paragraphen 3 und 8 AsylG ab, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei.
1.1.8. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes (in der Folge BVwG) vom 08.02.2019 jeweils hinsichtlich der Spruchpunkte römisch eins. als unbegründet abgewiesen. Im Übrigen wurde den Beschwerden stattgegeben und den BF1 bis BF7 gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG jeweils der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG wurden den BF befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von einem Jahr erteilt.
1.2. Gegenständliches Verfahren:
1.2.1 Am 18.11.2022 stellten die BF gegenständliche Folgeanträge auf internationalen Schutz. Die Erstbefragung der BF1 bis BF4 erfolgte am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi. Die BF1 gab an, dass die Familie Afghanistan verlassen hätte, es sei kein sicheres Land und Frauen hätten dort keine Rechte. Für Kinder sei es auch unsicher.
Der BF2 gab an, dass die Taliban die Regierung übernommen hätten und die Familie nicht mehr zurück könne, weil sie lange in Europa gewesen sei.
Der BF3 gab an, dass er damals zu jung gewesen sei, um sich zu erinnern, warum und wie die Familie Afghanistan verlassen habe. Er sei mit seinen Eltern unterwegs gewesen. Afghanistan sei ein unsicheres Land und er wolle nicht mehr zurück.
Die BF4 gab an, dass sie damals zu jung gewesen sei, um sich zu erinnern, warum und wie die Familie Afghanistan verlassen habe. Sie sei mit ihren Eltern unterwegs gewesen. Afghanistan sei für Frauen ein sehr gefährliches Land. Sie wolle in Österreich studieren und arbeiten. Zudem habe sie mit Afghanistan überhaupt nichts zu tun.
1.2.2. Die BF1 bis BF4 wurden am 30.08.2023, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, vor dem BFA einvernommen. Die BF1 gab zur Antragsbegründung an, dass die Sicherheitslage in Afghanistan schlecht sei und sie wolle, dass ihre Kinder die Schule besuchen können. Sie selbst könne hier auch lernen, in Afghanistan gäbe es keine Schule für Mädchen und Frauen, sie hätten keine Rechte. Dort könne man nicht in Ruhe leben und ihr Leben wäre dort in Gefahr.
Der BF2 gab zur Antragsbegründung an, dass er sich auf die allgemeine Lage in Afghanistan berufe, dass Frauen dort nicht so gute leben könnten und dass seine Kinder in Österreich geboren seien und sich eingelebt hätten. Zudem spreche die Familie kein Paschtu.
Der BF3 gab zur Antragsbegründung an, dass man in Afghanistan als Ungläubiger angesehen werden würde, wenn man in Europa lebe. Die Taliban seien jetzt an der Macht. Zudem sei er in Österreich aufgewachsen könne Paschtu nicht lesen und schreiben und kenne die Kultur nicht. In Österreich habe er viele Freunde.
Die BF4 gab zur Antragsbegründung an, dass sie in Österreich bleiben wolle. Hier fühle sie sich frei und sicher. Hier könne sie machen, was sie wolle. Österreich sei ein gutes Land. Frauen würden in Afghanistan keinen Wert haben. In Österreich habe man als Frau einen Wert, das gefalle ihr.
1.2.3. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit im Wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom 21.09.2023 die Anträge der BF auf internationalen Schutz vom 18.11.2022 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG ab.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat.
Es hätte nicht festgestellt werden können, dass die BF in Afghanistan einer Verfolgung im Sinne des AsylG ausgesetzt seien.
Beweiswürdigend führte das BFA zusammengefasst aus, dass die BF1 bis BF4 keine asylrelevanten Fluchtgründe vorgebracht hätten, sondern sich lediglich auf die allgemeine Sicherheitslage und die gesellschaftliche Situation in Afghanistan gestützt hätten und eine Verfolgung von Usbeken den Länderinformationen nicht zu entnehmen sei.
Hinsichtlich der BF5 bis BF7 führte das BFA aus, dass das Vorbringen ihrer gesetzlichen Vertretung keine asylrelevanten Fluchtgründe enthalten hätte.
1.2.4. Gegen diese Bescheide brachten die BF mit Schreiben ihres Vertreters vom 24.10.2023 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG ein.
In der Beschwerdebegründung wurde zusammengefasst vorgebracht, dass die BF1 und die BF4 als „westlich orientierte Frauen“ bezeichnet werden könnten. Die BF1 besuche die Pflichtschule und wolle nach Abschluss dieser eine Ausbildung zur Kindergartenassistentin machen. Sie hätte diesbezüglich einen Termin, um sich näher zu informieren. Zudem mache sie derzeit ihre Führerscheinprüfung. Den theoretischen Teil habe sie bereits bestanden, der praktische Teil sei noch ausständig. Sie führe in Österreich ein selbstbestimmtes Leben und mit dem BF2 eine gleichberechtigte Ehe. Sie würden die Aufgaben innerhalb der Familie fair aufteilen und wichtige Entscheidungen gemeinsam treffen. Für den BF2 würden Menschen- und Frauenrechte eine große Rolle spielen und er würde sich nicht an die Vorschriften der Taliban halten wollen.
Der BF3 und die BF4 hätten in Österreich die Pflichtschule ohne Matura absolviert und würden sehr gut Deutsch sprechen. Der BF3 wolle seine Matura nachholen und sei derzeit um eine Lehrstelle bemüht. In seiner Freizeit gehe er ins Fitnessstudio, welches Männer und Frauen besuchen würden. Die BF4 habe sich auf eine Lehrstelle im Hotel- und Gasgewerbe beworben und hoffe auf eine baldige Zusage. Sie wolle später auch studieren und interessiere sich derzeit für das Studium der Anglistik. Zudem würde sie sich in ihrer Freizeit mit Freundinnen treffen und wolle in Zukunft viel reisen. Kürzlich sei sie mit einer Freundin in Budapest gewesen. BF3 und BF4 seien sehr jung gewesen, als sie Afghanistan verlassen hätten, und würden sich mit der dortigen Lebensweise überhaupt nicht identifizieren können.
Auch dem BF5 und den BF6 und BF7 sei eine andere, konservativere Lebensweise als jene in Österreich gar nicht bekannt.
Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.
1.2.5. Das BVwG führte am 01.12.2023 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, zu der die BF1 bis BF7 persönlich erschienen. Das BFA wurde geladen und ist unentschuldigt nicht erschienen.
Die BF machten auf richterliche Befragung Angaben, die im Wesentlichen mit ihren bisher im Verfahren gemachten Angaben über ihre Herkunft, ihre Lebensverhältnisse und ihre Fluchtgründe übereinstimmten. Dabei machte die BF1 Angaben zu ihrem Leben in Österreich und führte aus, dass sie sich an die Gegebenheiten der österreichischen Gesellschaft angepasst habe. Sie habe ihren Pflichtschulabschluss nachgeholt. Die BF1 gab an, Frauen hätten in Afghanistan keine Rechte, sie würden nicht arbeiten und nicht lernen dürfen. Frauen würden unterdrückt werden. Zudem hätten sie keine Freiheiten und würden nicht als freie Menschen gesehen werden. Die BF4 ergänzte, dass sie in Österreich keine Angst haben müsse, wenn sie einen Freund treffe, denn es sei ein sicheres Land. Der BF3 gab an, in Afghanistan nicht lesen und schreiben zu können und dass er aus dem Internet wisse, dass die Lage in Afghanistan schlecht sei und er Angst hätte. Der BF2 führte die Gründe für seine Flucht nicht weiter aus und schloss sich dem Vorbringen der BF1 an.
Die BF legten diverse Unterlagen zu ihren Integrationsbemühungen in Österreich vor.
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat dazu keine Stellungnahme abgegeben.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
● Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten und Vorakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragungen am 18.11.2022 (BF1, BF2, BF3 und BF4) und der Einvernahmen vor dem BFA am 30.08.2023 (BF1, BF2, BF3 und BF4), die angefochtenen Bescheide sowie die gegenständliche Beschwerde
● Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat der BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA, Aktenseiten 58 bis 96 im Verwaltungsakt der BF1)
● Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Bescheinigungsmittel (diverse Teilnahmebestätigungen, Arbeitnehmerbestätigung des BF2, Abschusszeugnisse des BF3 und der BF4 u. a. m.)
● Einvernahme der BF1, des BF2 und BF3 sowie der BF4 im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 01.12.2023 sowie Einsicht in die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Belege (diverse Sprachurkunden und Teilnahmebestätigungen, eine Praktikumsbestätigung des BF3)
● Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 01.12.2023 zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF:
o Feststellungen und Berichte betreffend Afghanistan (Auszüge aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in Nord-Afghanistan, die Lage der Usbeken, die Lage der Frauen und Kinder)
o UNHCR-Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen – Update römisch eins, von Februar 2023
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person der BF:
Die BF führen die Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF1), ihr Ehemann römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF2), und ihre gemeinsamen Kinder römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF3), römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF4), römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF5), und römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF6), römisch 40 , geboren am römisch 40 (BF7). Die BF sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Usbeken und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF ist Usbekisch, darüber hinaus sprechen BF1 und BF2 Dari bzw. Farsi und etwas Deutsch. Die BF3 bis BF7 sprechen gut Deutsch.
3.2. Lebensumstände der BF:
3.2.1. Die BF1 wurde in Teheran, Iran und der BF2 in Kunduz, Afghanistan geboren. Beide besuchten für einige Jahre im Iran die Schule, heirateten und zogen nach Afghanistan. Die BF3, BF4 und BF5 wurden in den Jahren 2004 bis 2014 geboren. Die zwei jüngsten Kinder wurden in Österreich geboren. Der BF3 und die BF4 schlossen in Österreich die Pflichtschule ab. BF5 und BF6 gehen in die Schule, die BF7 in den Kindergarten. Vor der Ausreise aus Afghanistan arbeitete der BF2 an einer Grundschule für Buben und Mädchen als Lehrer für Erstklässler und bestritt den Lebensunterhalt für sich und die Familie. Die BF1 bis BF5 haben Afghanistan spätestens im September 2015 verlassen. Der Großteil der Verwandten lebt im Iran und in der Türkei.
3.2.2. Die BF1 bis BF4 sind strafgerichtlich unbescholten, die BF5 bis BF7 sind strafunmündig. Strafrechtlich relevante Verfehlungen sind nicht bekannt.
3.2.3. Die BF1 ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert ist, sodass sie aufgrund ihres Verhaltens in Österreich in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Dies hat die BF1 durch das Nachholen ihres Pflichtschulabschlusses sowie ihre Aussagen bezüglich ihres Lebens in Österreich und ihr Auftreten hinreichend glaubhaft gemacht. Sie gab an, als Kindergartenassistentin arbeiten zu wollen, und legte zur Unterstützung dieses Vorbringens Zertifikate über die Teilnahme an diversen Workshops zum Thema Kindererziehung vor. In ihrer Freizeit geht sie manchmal mit Freundinnen laufen. Zudem macht sie gerade den Autoführerschein und hat die theoretische Prüfung bereits bestanden. Ihre persönliche Glaubwürdigkeit wird in diesem Zusammenhang durch ihr Erscheinungsbild (in „westlich“-legerer Kleidung) und ihr selbstbewusstes Auftreten in der mündlichen Beschwerdeverhandlung verstärkt.
3.2.4. Die BF4 ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Teenagerin und in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert, weshalb sie aufgrund ihres Verhaltens in Österreich in Afghanistan einer konkreten, individuellen und asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Dies hat sie durch ihre Aussagen bezüglich ihres Lebens in Österreich und ihr Auftreten hinreichend glaubhaft gemacht. Die BF4 trifft sich in ihrer Freizeit mit Freundinnen und Freunden und interessiert sich für Fremdsprachen (Englisch und Koreanisch). Bis vor zwei Jahre hat sie Fußball gespielt. Zudem reist sie in ihrer Freizeit gerne und war mit einer Freundin alleine in Budapest. Sie bewirbt sich um einen Lehrplatz im Hotel- und Gastgewerbe, möchte später jedoch einmal Englischlehrerin werden. Die BF4 hat einen Großteil ihres Lebens in Österreich verbracht und ist mit den hier vorherrschenden sozialen Begebenheiten und Freiheiten aufgewachsen. Wie bei der BF1 wird ihre persönliche Glaubwürdigkeit in diesem Zusammenhang durch ihr – ihrem Alter entsprechenden – Erscheinungsbild (in „westlich“-legerer Kleidung) und ihr selbstbewusstes Auftreten in der mündlichen Beschwerdeverhandlung verstärkt.
Die BF1 und BF4 lehnen die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und können sich nicht vorstellen, nach dem konservativ afghanischen Wertebild zu leben. Die Einstellung und der Lebensstil der BF1, insbesondere ihr Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben für sich und ihre Kinder, das ihr eine Berufswahl und -tätigkeit ermöglicht, stehen im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden, traditionalistisch religiös geprägten gesellschaftlichen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind.
Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden und auch entsprechend verfestigten Änderung ihrer Lebensführung würden die BF1 sowie auch die BF4 im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.
Die angeführten Umstände lassen darauf schließen, dass die BF1 und die BF4 in Österreich bereits in einem solchen Maße eine („westliche“) Lebensweise führen und diese verfestigt haben, dass diese einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen.
Die BF1 und BF4 haben aufgrund ihres „westlichen“ Lebensstils mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine aktuelle, konkret gegen ihre Person gerichtete Bedrohung durch die nunmehr ganz Afghanistan kontrollierenden Taliban zu erwarten.
3.2.5. Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF von der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten auszuschließen wären.
3.2.6. Es konnte von der BF1 und der BF4 glaubhaft vermittelt werden, dass sie im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen im Sinne des Punktes 3.2.3. ausgesetzt wären.
3.2.7. Bezüglich des BF2, des BF3 und der minderjährigen BF5 bis BF7 wurde eine eigene asylrelevante Verfolgung nicht vorgebracht und somit nicht glaubhaft gemacht.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:
3.3.1. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Stand 28.09.2023, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[…] 3 Politische Lage
Letzte Änderung 2023-09-21
Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.06.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 01.06.2023). Sie bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USIP 17.08.2022; vergleiche VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem „islamischen Recht und den afghanischen Werten“ regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweisen bestimmen (USIP 17.08.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.06.2023).
Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.08.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 07.07.2022a; vergleiche REU 07.09.2021a; VOA 19.08.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 08.09.2021; vergleiche DIP 04.01.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 01.06.2023) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.06.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansäßige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 01.06.2023). Innerhalb weniger Wochen kündigten die Taliban „Interims“-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.08.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.08.2022; vergleiche HRW 04.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge „Sittenpolizei“ berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.08.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.08.2021; vergleiche USDOS 12.04.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.09.2021; vergleiche GD 20.09.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.06.2023).
Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 20.06.2023) […].
Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 08.09.2021; vergleiche REU 07.09.2021b, Afghan Bios 18.07.2023a).
Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 07.09.2021; vergleiche REU 07.09.2021b, Afghan Bios 16.02.2022) der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.02.2021 unterzeichnete (AJ 07.09.2021; vergleiche VOA 29.02.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 07.09.2021b; vergleiche Afghan Bios 07.07.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 07.07.2022b; vergleiche UNSC o. D. a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 18.07.2023b; vergleiche 8am 05.10.2021, UNGA 28.01.2022).
Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 04.03.2023; vergleiche JF 05.11.2021) als Innenminister (REU 07.09.2021b; vergleiche Afghan Bios 04.03.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 07.09.2021b; vergleiche Afghan Bios 01.03.2023) welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 01.03.2023; vergleiche UNSC o. D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 07.09.2021b; vergleiche Afghan Bios 04.05.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 04.05.2023; vergleiche RFE/RL 29.08.2020). Auch hohe Beamte auf subnationaler Ebene, darunter Provinzgouverneure, Polizeichefs, Abteilungsleiter, Bürgermeister und Distriktgouverneure, wurden in weiterer Folge ernannt (UNGA 28.01.2022; vergleiche 8am 05.10.2021).
Nach ihrer Machtübernahme kündigten hochrangige Taliban-Führer eine weitreichende Generalamnestie an, die Repressalien für Handlungen vor der Machtübernahme durch die Taliban untersagte, auch gegen Beamte und andere Personen, die mit der Regierung vor dem 15.08.2021 in Verbindung standen (USDOS 12.04.2022a; vergleiche UNGA 28.01.2022). Es wird jedoch berichtet, dass diese Amnestie nicht konsequent eingehalten wurde, und es kam zu willkürlichen Verhaftungen, gezielten Tötungen und Angriffen auf ehemalige afghanische Regierungsmitarbeiter (ANI 20.07.2022; vergleiche USDOS 20.03.2023, UNGA 28.01.2022).
Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.08.2022). Diese Dynamik wurde am 23.03.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.08.2022; vergleiche RFE/RL 24.03.2022, UNGA 15.06.2022), was Experten als ein Zeichen für eine Spaltung der Gruppe in Bezug auf die künftige Ausrichtung der Herrschaft in Afghanistan bezeichnen (GD 06.07.2022). Seitdem sind die Mädchenbildung und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von „duellierenden Machtzentren“ zwischen den in Kabul und Kandahar ansäßigen Taliban zu sprechen (USIP 17.08.2022), und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 03.06.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.08.2022).
In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eidal-Fitr sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet habe, und „die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung“ seien dabei, zu Ende zu gehen(AnA 18.04.2023; vergleiche BAMF 30.06.2023).
Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wird als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mudschahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 05.06.2023; vergleiche BAMF 30.06.2023).
Bisher hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 30.10.2022; vergleiche REU 15.06.2023), dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder, unter anderem Iran, Türkei, Pakistan, Russland, China und Kazakhstan, entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.03.2023; vergleiche OI 25.03.20232).
Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban, Khan Muttaqi, mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (OPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 05.05.2023; vergleiche VOA 06.05.2023). […]
4 Sicherheitslage
Letzte Änderung 2023-09-15
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.08.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.01.2022, vergleiche UNAMA 27.06.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.01.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.06.2023; vergleiche UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.06.2023).
UNAMA registrierte zwischen dem 15.08.2021 und dem 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.06.2023; vergleiche AA 26.06.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote, gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.06.2023).
Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:
• 19.08.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)
• 01.01.2022 - 21.05.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)
• 22.05.2022 - 16.08.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)
• 17.08.2022 - 13.11.2022: 1,587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)
• 14.11.2022 - 31.01.2023: 1,088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)
• 01.02.2023 - 20.05.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.06.2023)
Ende 2022 und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.02.2023; vergleiche UNGA 20.06.2023). Die Nationale Widerstandsfront, die Afghanische Freiheitsfront und die Bewegung zur Befreiung Afghanistans (ehemals Afghanische Befreiungsfront) bekannten sich zu Anschlägen in den Provinzen Helmand, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan und Panjsher (UNGA 27.02.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.04.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront im Bezirk Salang in der Provinz Parwan, bei der Berichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.06.2023).
Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.07.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlichTTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und ISKP (Islamic State Khorasan Province) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.07.2023).
Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.01.2022; vergleiche UNGA 15.06.2022, UNGA 14.09.2022, UNGA 07.12.2022) so nahmen die im Lauf des Jahres 2022 (UNGA 07.12.2022; vergleiche UNGA 27.02.2023) und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 wieder ab (UNGA 20.06.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.01.2023). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.06.2023).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3% der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind, und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7% bzw. 70,7% der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.01.2022).
Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 03.02.2023). […]
4.1 Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Letzte Änderung 2023-03-21
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen (AA 20.07.2022; vergleiche USDOS 12.04.2022a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.08.2021a; vergleiche DW 20.08.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 01.11.2021; vergleiche NYT 29.08.2021) unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.08.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.03.2022).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung [nutzt] soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.08.2021; vergleiche BBC 20.08.2021a, 8am 14.11.2022). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 09.01.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.08.2021). […]
5 Regionen Afghanistans
Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 23.08.2023) leben ca. 34,3 (NSIA 4.2022) bis 39,2 Millionen Menschen (CIA 23.08.2023). Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (ICG 12.08.2022; vergleiche AA 26.06.2023) und grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 23.08.2023).
Nord-Af | West-Af | Zentral- | Ost-Af | Süd-Af | |||||
ghanistan | ghanistan | Afghanistan | ghanistan | ghanistan | |||||
Badakhshan | Badghis | Bamyan | Khost | Helmand | |||||
Baghlan | Farah | Daikundi | Kabul | Kandahar | |||||
Balkh | Herat | Ghazni | Kapisa | Zabul | |||||
Faryab | Nimroz | Ghor | Kunar |
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Jawzjan |
| Maidan Wardak | Laghman |
| |||||
Kunduz |
| Parwan | Logar |
| |||||
Nuristan |
| Uruzgan | Nangarhar |
| |||||
Panjsher |
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| Paktia |
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Samangan |
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| Paktika |
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Sar-e Pul |
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|
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Takhar |
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|
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[...]
5.2 Nord-Afghanistan
Letzte Änderung 2023-09-21
[…] Im Norden Afghanistans beginnt die zentralasiatische Steppe - grasbewachsene Ebenen, die bis nach Russland reichen. Bis zur Fertigstellung desSalang-Tunnels Mitte der 1960er-Jahre war diese Region durch den Hindukusch vom übrigen Afghanistan relativ isoliert. Mazar-e Sharif ist die größte Stadt in Nordafghanistan. In der Region leben u. a. viele Usbeken, Tadschiken und Turkmenen (NPS o. D.b).
Provinz | Provinzhauptstadt | Bevölkerungszahl* |
Badakhshan | Fayz Abad | 1,091.760 |
Baghlan | Pul-i-Khumri | 1,053.200 |
Balkh | Mazar-e Sharif | 1,578.510 |
Faryab | Maimana | 1,150.150 |
Jawzjan | Sheberghan | 625.070 |
Nuristan | Paroon | 169.580 |
Kunduz | Kunduz | 1,184.020 |
Samangan | Aybak | 446.100 |
Panjsher | Bazarak | 175.910 |
Sar-e Pul | Sar-e Pul | 643.530 |
Takhar | Taluqan (Taloqan) | 1,133.57 |
Quelle: NSIA4.2022 *geschätzte Bevölkerungszahl 2022-23
Distrikte nach Provinz (NSIA 4.2022)
Badakhshan: Arghanj Khwah, Argo, Baharak, Darayim, Darwaz-e-Bala (Nesay), Darwaz-e-Payin (Mamay), Eshkashim, FaizAbad, Jurm, Kishm, Khash, Khwahan, Kufab, Kohistan, Kiran wa Menjan, Raghistan, Shar-e-Buzorg, Shignan, Shiki, Shuhada, Tagab, Tashkan, Wakhan, Warduj, Yaftal-e-Sufla, Yamgan (Girwan), Yawan, Zebak.
Baghlan: Andarab, Baghlan-e-Jadeed (auch Baghlan-e-Markazi), Burka, Dahana-e-Ghuri, Deh Salah, Dushi, Firing Wa Gharu, Gozargah-e-Noor, Khinjan, Khost Wa Firing, Khwaja hejran (Jalga), Nahreen, Pul-e-Hisar, Pul-i-Khumri, Tala Wa Barfak.
Balkh: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa, Zari
Faryab: Almar, Andkhoy, Bilchiragh, Dawlat Abad, Gurziwan, Khani Charbagh, Khwaja Sabz Posh-i Wali, Kohistan, Maimana, Pashtun Kot, Qaram Qul, Qaisar, Qurghan, Shirin Tagab
Jawzjan: Aqchah, Darzab, Faizabad, Khamyab, Khanaqa, Khwaja Dukoh, Mardyan, Mingajik, Qarqin, Qush Tepa, Sheberghan
Kunduz: Ali Abad, Chahar Darah (Chardarah), Dasht-e-Archi, (Hazrati) Imam Sahib, Khan Abad, Kunduz, Qala-e-Zal sowie die temporären Distrikte Aqtash, Calbad (Gulbad) und Gultipa
Nuristan: Bargi Matal, Duab, Kamdesh, Mandol, Noor Gram, Paroon, Wama, Waygal
Panjsher: Bazarak, Darah (auch Hes-e-Duwumi), Hissa-e-Awal (auch Khinj), Unaba (auch Anawa), Paryan, Rukha und Shutul sowie der temporäre Distrikt Ab Shar
Samangan: Aybak, Dara-e-Soof-e-Payin [Unter-Dara-e-Soof], Dara-e-Soof-e-Bala [Ober-Dara-e-Soof], Feroz Nakhcheer, Hazrat-e-Sultan, Khuram Wa Sarbagh, Rui-Do-Ab
Sar-e Pul: Balkhab, Gosfandi, Kohistanat, Sancharak, Sar-e Pul, Sayyad, Sozma Qala
Takhar: Baharak, Bangi, Chahab, Chal, Darqad, Dasht-e-Qala, Eshkamesh, Farkhar, Hazar Sumuch, Kalafgan, Khwaja Bahawuddin, Khwaja Ghar, NamakAb, Rustaq, Taluqan (Taloqan), Warsaj, Yangi Qala [...]
5.2.1 Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
Letzte Änderung 2023-09-18
2022
In der Provinz Faryab kam es im Januar 2022 zu Kämpfen innerhalb der Taliban entlang ethnischer Trennlinien zwischen usbekischen und paschtunischen Kämpfern (BAMF 01.07.2022; vergleiche ANI 02.02.2022). Im Januar 2022 kam es außerdem nach Protesten wegen der Verhaftung eines lokalen Taliban-Kommandanten, die Berichten zufolge vom stellvertretenden Verteidigungsminister der Taliban vorgenommen worden war, zu Kampfhandlungen (RFE/RL 29.01.2022; vergleiche BAMF 01.07.2022). Nach viertägigen Verhandlungen wurde die Pattsituation beendet, die jedoch als Beispiel für zunehmende Spannungen zwischen den usbekischen, turkmenischen und tadschikischen Gemeinschaften in Teilen Nordafghanistans und den hauptsächlich paschtunischen Taliban-Kämpfern, die in den letzten Monaten in das Gebiet gezogen sind, gesehen wird (RFE/RL 29.01.2022).
Am 18.01.2022 explodierte im Panjsher-Tal eine an einem Taliban-Fahrzeug angebrachte Magnetmine, wobei sieben Taliban-Kämpfer getötet und mehrere weitere verletzt wurden. Die NRF unter Führung von Ahmad Massoud bekannte sich zu dem Anschlag (BAMF 01.07.2022 vergleiche 8am 25.05.2022). Sie hatte nach eigenen Angaben bereits am 16.01.2022 einen Kontrollpunkt der Taliban in der Provinz Takhar angegriffen und drei Menschen getötet (BAMF 01.07.2022; vergleiche 8am 17.01.2022). Die Taliban bestätigten einen Angriff, gaben aber an, es habe keine Opfer gegeben (BAMF 01.07.2022).
Am 28.01.2022 wurden bis zu zwei ehemalige Soldaten durch Unbekannte in der Provinz Kunduz getötet. Die Kriminalitätsrate war in der Provinz zuvor gestiegen (BAMF 01.07.2022; vergleiche 8am 28.01.2022).
Berichten zufolge waren am 30.01.2022 Polizei- oder Regierungsgebäude in Panjsher und Parwan von Raketen getroffen worden. Der Taliban-Polizeichef aus Parwan machte die NRF für die Angriffe verantwortlich. Lokale Taliban-Vertreter in der Provinz Panjsher haben die beiden Vorfälle jedoch bestritten (BAMF 01.07.2022; vergleiche 8am 30.01.2022).
Berichten zufolge wurden eine Frau und ein Mann am 14.02.2022 in Badakhshan öffentlich von den Taliban gesteinigt, weil sie „illegale Beziehungen“ hatten (BAMF 01.07.2022; vergleiche Rukhshana 20.02.2022).
Am 24.02.2022 wurden in den Provinzen Kunduz und Takhar acht Impfhelfer bei ihrer Arbeit von Unbekannten gezielt getötet (USAID 28.02.2022; vergleiche WHO 06.03.2022).
Die Taliban führten nach Medienberichten in Panjsher (BAMF 01.07.2022), Faryab (BuS 05.03.2022) und Balkh umfangreiche Hausdurchsuchungen durch und beschlagnahmen dabei u. a. Waffen. Die Taliban gaben an, dass sie es dabei auf Kriminelle und Terroristen abgesehen haben (BAMF 01.07.2022; vergleiche TN 2.3.2022).
In der ersten Hälfte von 2022 kam es zu mehreren Zusammenstößen zwischen der NRF und den Taliban in Baghlan, Panjsher, Takhar und Badakhshan (RY 10.5.2022; vergleiche BAMF 1.7.2022). In Baghlan wurden zum Beispiel elf bis 13 Taliban getötet und 18 weitere verletzt; zwei Widerstandskämpfer wurden ebenfalls getötet (BAMF 1.7.2022; vergleiche 8am 29.3.2022). In Panjsher wurden Anfang März 2022 drei Taliban getötet und fünf weitere Kämpfer verletzt. Es liegen keine Informationen über NRF-Opfer vor (BAMF 01.07.2022). Einer anderen Quelle zufolge wurden acht Taliban-Mitglieder und acht NRF-Kämpfer bei Zusammenstößen getötet (ACLED 03.03.2022).
Bei einem Angriff auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif am 21.04.2022 sind Dutzende von Menschen getötet oder verletzt worden. Eine Bombe explodierte in der Moschee, als die Gläubigen während des heiligen Fastenmonats Ramadan beteten. Am selben Tag kam es zu einem Bombenangriff auf ein Auto vor einer Polizeistation in Kunduz. Zu beiden Anschlägen bekannte sich der Islamische Staat Provinz Khorasan (ISKP) (DW 21.04.2022; vergleiche BBC 21.04.2022).
Am 22.04.2022 wurden bei einem Bombenanschlag auf eine sunnitische Moschee in der Stadt Kunduz 33 Menschen getötet und 43 weitere verletzt, darunter auch Kinder (PAN 23.04.2022; vergleiche BBC 22.04.2022a).
Am 28.04.2022 wurden bei zwei Explosionen in Mazar-e Sharif mindestens neun Menschen getötet und 13 verwundet. Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag. Taliban-Sicherheitskräfte riegelten das Gebiet ab, und Anwohner sagten, Angehörige der schiitischen Minderheit der Hazara seien offenbar das Ziel des Anschlags gewesen (AJ 28.04.2022; vergleiche VOA 28.04.2022a).
Anfang Mai 2022 nahm die NRF zehn Dörfer in der Provinz Takhar ein, nachdem sie lokalen Quellen zufolge mehrere Angriffe auf Taliban-Stützpunkte durchgeführt hatten (8am 05.05.2022; vergleiche BAMF 01.07.2022).
Am 16.05.2022 berichteten lokale Quellen in der Provinz Kunduz von Zusammenstößen zwischen tadschikischen Grenzsoldaten und Taliban-Kräften an der Grenze zwischen den beiden Ländern (KP 16.05.2022; vergleiche ANI 17.05.2022).
Tahreek-e-Azadi Afghanistan (die Afghanische Freiheitsbewegung) hat sich am 19.05.2022 zu einem Anschlag auf einen Konvoi des 209. Al-Fath-Taliban-Korps in Mazar-e Sharif bekannt (BAMF 01.07.2022; vergleiche KP 20.05.2022).
Am 25.05.2022 wurden mindestens zehn Menschen getötet, als in Mazar-e Sharif drei an Bord von Kleinbussen platzierte Bomben explodierten (FR24 25.05.2022; vergleiche AJ 25.05.2022).
Im Juni 2022 berichtet HRW, dass die Sicherheitskräfte der Taliban in der Provinz Panjsher Einwohner, die beschuldigt wurden, mit einer bewaffneten Oppositionsgruppe in Verbindung zu stehen, unrechtmäßig inhaftiert und gefoltert haben (HRW 10.06.2022; vergleiche AI 16.06.2022).
Mit Juni 2022 nahmen die Kämpfe in den Provinzen Baghlan und Panjsher zwischen den Taliban und der NRF weiter zu. Auf beiden Seiten gibt es Tote und Verletzte. Viele Einwohner wurden in den umkämpften Gebieten von den Taliban aus ihren Häusern vertrieben, um diese als Basen zu benutzen. Einige von ihnen wurden aufgrund möglicher Verbindungen zur NRF von den Taliban verhaftet, gefoltert oder auch getötet (BAMF 01.07.2022; vergleiche RFE/RL 07.06.2022). Die Taliban sollen zudem mit biometrischen Geräten an Checkpoints in Panjsher unter den Passierenden nach ehemaligen Soldaten suchen (BAMF 01.07.2022; vergleiche 8am 05.06.2022).
Bei einer Explosion in einer Moschee am 17.06.2022 in der Provinz Kunduz wurde mindestens ein Gläubiger getötet und sieben weitere verletzt (HiT 17.06.2022; vergleiche AJ 17.06.2022).
Im Juni 2022 hat sich der bisher einzige Taliban-Kommandeur aus der Ethnie der Hazara, Maulawi Mehdi, laut Meldungen von den Taliban losgesagt und ist in seinen Heimatdistrikt Balkhab in der Provinz Sar-e Pul zurückgekehrt (dort war er vor der Machtübernahme seit 2018 Schattengouverneur der Taliban gewesen). Er hatte sich laut lokalen Beobachtern mit ca. 500-1.000 Soldaten in Balkhab verschanzt und wurde von ca. 3.000 Taliban belagert. Mit Ende Juni nahmen die Kämpfe an Intensität zu (BAMF 01.07.2022). Maulawi Mehdi wurde Mitte August von Talibankräften nahe der iranischen Grenze erschossen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums der Taliban versuchte er, aus dem Land zu fliehen (VOA 17.08.2022; vergleiche REU 17.08.2022).
Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 gehen die Kämpfe zwischen NRF und den Taliban weiter. Zusammenstöße gibt es vor allem in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.08.2022; vergleiche AJ 14.09.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022), Takhar (8am 14.08.2022; vergleiche AaNe 21.08.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.08.2022; vergleiche KP 21.08.2022, Afintl 12.12.2022) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022a; vergleiche AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).
Im Oktober konnte die NRF laut Medienberichten erstmals einen Distrikt in der Provinz Badakhshan erobern (Afintl 11.10.2022a; vergleiche AaNe 10.10.2022), wobei anderen Berichten zufolge die Taliban die Kontrolle über den Distrikt kurz danach wieder übernehmen konnten (AMU 04.10.2022), bzw. nach Angaben der Taliban sie diesen nie verloren (Afintl 04.10.2022).
Am 15.11.2022 wurden in Mazar-e Sharif fünf Menschen bei einer Explosion getötet (PAN 16.11.2022).
Am 30.11.2022 wurden bei einem Anschlag auf eine Koranschule in Samangan mindestens 15 Menschen getötet und weitere verletzt (die meisten waren Studenten). Niemand bekannte sich zu der Tat (AJ 30.11.2022; vergleiche BBC 30.11.2022).
Am 06.12.2022 wurden sieben Angestellte eines Erdölunternehmens bei einem Bombenanschlag auf einen Bus in Mazar-e Sharif getötet (8am 06.12.2022; vergleiche AJ 06.12.2022).
2023
Weiterhin werden viele Personen aus der Provinz Panjsher dem Widerstand zugeordnet und sehen sich in Kabul und anderen Landesteilen einer fortgesetzten Verfolgung bzw. Diskriminierung durch Sicherheitskräfte ausgesetzt (AA 26.06.2023).
Am 08.02.2023 wurde ein Bombenanschlag auf eine Moschee in der Provinz Faryab verübt. Niemand hat sich zu dem Anschlag bekannt (ATN 08.02.2023; vergleiche Afintl 08.02.2023).
Am 23.02.2023 wurde eine Explosion in Taluqan, dem Zentrum der Provinz Takhar, gemeldet (KP 23.02.2023; vergleiche Crisis24 23.02.2023). In der darauffolgenden Woche führten die NRF laut einer Pressemitteilung vom 28.02.2023 einen Angriff auf das Taliban-Hauptquartier in Takhar durch (8am 28.02.2023; vergleiche BAMF 30.06.2023).
In Mazar-e Sharif kam es am 07.03.2023 zu einem Schusswechsel zwischen unbekannten Bewaffneten und den Taliban. Dabei wurden insgesamt acht Menschen getötet und zwei weitere verletzt (BAMF 30.06.2023; vergleiche kann 08.03.2023).
Am 09.03.2023 wurde der Taliban-Gouverneur der Provinz Balkh bei einem Selbstmordattentat getötet, zu dem sich der ISKP bekannte. Er hatte in seiner vorherigen Funktion als Gouverneur der östlichen Provinz Nangarhar den Kampf gegen den ISKP angeführt (BBC 09.03.2023; vergleiche GD 09.03.2023).
Am 11.03.2023 explodierte während einer Preisverleihung für Journalisten in Mazar-e Sharif eine Bombe, wobei mindestens eine Person getötet und acht verletzt wurden (AP 11.03.2023; vergleiche VOA 11.03.2023), während eine andere Quelle von mindestens zwei toten Journalisten und einem toten Sicherheitsbeamten sprach (RSF 14.03.2023). Einige Tage später übernahm der ISKP die Verantwortung für den Bombenanschlag (AJ 12.03.2023; vergleiche RSF 14.03.2023).
Lokalen Quellen zufolge wurden am 16.03.2023 acht Taliban-Kämpfer und zwei Mitglieder der NRF bei Zusammenstößen zwischen den beiden Gruppen in Baghlan getötet (8am 15.03.2023; vergleiche Afintl 15.03.2023).
Am 27.03.2023 wurden nach Angaben der Taliban bei einer nächtlichen Razzia in der Provinz Balkh drei hochrangige ISKP-Mitglieder getötet (kann 27.03.2023; vergleiche ExT 27.03.2023).
Am 11.04.2023 wurden mindestens sechs Personen, darunter zwei Kommandanten, von den Taliban bei Kämpfen mit der Afghanistan-Freedom-Front (AFF) in Parwan getötet (kann 12.04.2023; vergleiche 8am 14.04.2023). Die Taliban hinderten die Menschen gewaltsam daran, an ihren Beerdigungen teilzunehmen. Berichten zufolge wurden in der Provinz etwa 100 Personen festgenommen. In Parwan, Panjsher sowie in anderen Provinzen wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt (8am 14.04.2023; vergleiche kann 14.04.2023).
Am 07.05.2023 kam es zu Zusammenstößen zwischen den Taliban und den NRF in Baghlan (KaN 09.05.2023; vergleiche 8am 07.05.2023).
Bei einer Explosion in der Nähe einer Moschee in Badakhshan am 08.06.2023 wurden mindestens elf Menschen getötet und mehr als 30 weitere verletzt. Die Explosion ereignete sich bei einer Gedenkfeier für den stellvertretenden Taliban-Gouverneur der Provinz, der Anfang der Woche bei einem Anschlag ums Leben gekommen war (AJ 08.06.2023; vergleiche BBC 08.06.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (kann 10.06.2023). […]
6 Zentrale Akteure
6.1 Taliban
Letzte Änderung 2023-03-21
Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe, die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.08.2022; vergleiche USDOS 12.04.2022a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USIP 17.08.2022; vergleiche VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.08.2022).
Nach der US-geführten Invasion, mit der das ursprüngliche Regime 2001 gestürzt wurde, gruppierten sich die Taliban jenseits der Grenze in Pakistan neu und begannen weniger als zehn Jahre nach ihrem Sturz mit der Rückeroberung von Gebieten (CFR 17.08.2022). Nachdem die Vereinigten Staaten ihre verbleibenden Truppen im August 2021 aus Afghanistan abzogen, eroberten die Taliban mit einer raschen Offensive die Macht in Afghanistan (CFR 17.08.2022; vergleiche USDOS 12.04.2022a). Am 15.08.2021 floh der bisherige afghanische Präsident Ashraf Ghani aus Afghanistan, und die Taliban nahmen Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (BBC 15.08.2022; vergleiche AI 29.03.2022).
Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.08.2022; vergleiche Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 07.07.2022a; vergleiche CFR 17.08.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022a; vergleiche Afghan Bios 07.07.2022a, REU 07.09.2021a).
Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 unterstand die militärische Befehlskette der Kommission für militärische Angelegenheiten der Taliban. Diese Einrichtung wurde von Mullah Yaqoob, der 2020 zum Leiter der militärischen Operationen der Taliban ernannt wurde, sowie Sirajuddin Haqqani, dem Anführer des Haqqani-Netzwerks, dominiert (EUAA 8.2022a, RFE/RL 06.08.2021). Die Kommission für militärische Angelegenheiten funktionierte ähnlich wie ein Ministerium, mit „Vertretern auf Zonen-, Provinz- und Distriktebene“ (VOA 05.09.2021; vergleiche EUAA 8.2022a).
In der Befehlskette von der untersten Ebene aufwärts untersteht jeder Taliban-Befehlshaber auf Distriktebene einem Provinzkommando. Drei oder mehr Provinzkommandos bilden Berichten zufolge einen von sieben regionalen „Kreisen“. Diese „Kreise“ werden von zwei stellvertretenden Leitern der Kommission für militärische Angelegenheiten beaufsichtigt, von denen einer für die „westliche Zone“ der militärischen Führung der Taliban (die 21 Provinzen umfasst) und der andere für die „östliche Zone“ (13 Provinzen) zuständig war (RFE/RL 06.08.2021; vergleiche EUAA 8.2022a). Nach Einschätzung des United States Institute of Peace (USIP) wurde diese Aufteilung der Zuständigkeiten für militärische Angelegenheiten zwischen Yaqoob und Haqqani offenbar durch ihre jeweilige Ernennung zum Innen- und Verteidigungsminister der Taliban im September 2021 gefestigt (USIP 09.09.2021; vergleiche EUAA 8.2022a).
Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban, sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln (EUAA 8.2022a; vergleiche NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022a; vergleiche DW 11.10.2021), und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022a; vergleiche REU 10.09.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022a; vergleiche DW 11.10.2021).
Haqqani-Netzwerk
Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks, eine Beziehung zum Führer von Al-Qaida, Usama bin Laden (UNSC o. D.c; vergleiche FR24 21.08.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o. D.c; vergleiche ASP 01.09.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o. D.c). Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o. D.c, vergleiche VOA 04.08.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.08.2021; vergleiche UNSC o. D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom, auch wenn es den Taliban angehört (FR24 21.08.2021).
Es befehligt eine Truppe von 3.000 bis 10.000 traditionellen bewaffneten Kämpfern in den Provinzen Khost, Paktika und Paktia (VOA 30.08.2022). Berichten zufolge kontrolliert die Gruppe inzwischen auch mindestens eine Eliteeinheit und überwacht die Sicherheit in Kabul und in weiten Teilen Afghanistans (VOA 30.08.2022; vergleiche UNSC 26.05.2022).
Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu Al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.08.2022; vergleiche UNSC 26.05.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.05.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.08.2022; vergleiche DT 07.05.2022) und den Tehreek-e Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.05.2022). [...]
6.2 Anti-Taliban-Widerstandsgruppen / Opposition
Letzte Änderung 2023-03-21
Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 20.07.2022; vergleiche FH 24.02.2022a). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland. Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt. Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 20.07.2022).
Der Informationsfluss in Afghanistan ist insbesondere im Hinblick auf oppositionelle Bewegungen stark eingeschränkt, und die Taliban zensieren die Berichterstattung. Dies macht die Einschätzung eines definitiven Bildes der Situation oft sehr schwierig (BAMF 10.2022; vergleiche RFE/RL 13.05.2022a).
In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen, wobei sich deren Führung oft im Ausland aufhält (Migrationsverket 29.04.2022; vergleiche EUAA 8.2022a). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen würden, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (Migrationsverket 29.04.2022; vergleiche SIGA 07.04.2022, VOA 28.04.2022b). Auch gibt es zwischen den Gruppierungen Rivalitäten darüber, welche Gruppierung „am fähigsten ist, den Anti-Taliban-Widerstand anzuführen“ (SIGA 07.04.2022).Aktuell gehen Experten nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (FR24 15.08.2022; vergleiche BAMF 10.2022, SIGA 07.04.2022, AA 20.07.2022). Auch wenn die Unterstützung der Taliban innerhalb der Bevölkerung Afghanistans eher gering ist, so wird Stabilität bewaffneten Auseinandersetzungen vorgezogen, womit auch die Unterstützung der bewaffneten Gruppen als mäßig einzuschätzen ist (FR24 15.08.2022; vergleiche BAMF 10.2022).
6.2.1 National Resistance Front (NRF)
Letzte Änderung 2023-09-21
Im Panjsher-Tal, rund 145 km von Kabul entfernt (DIP 20.08.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF) (AA 20.07.2022; vergleiche LWJ 06.09.2021, ANI 06.09.2021), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anmerkung: NDS, afghanischer Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird (LWJ 06.09.2021; vergleiche ANI 06.09.2021). Die NRF erklärt, dass sie demokratische Wahlen anstreben und das afghanische Volk selbst über die Zukunft des Landes entscheiden soll (REU 30.11.2022; vergleiche Afintl 30.06.2022).
Die NRF besteht Berichten zufolge aus Zivilisten, ehemaligen ANDSF-Mitarbeitern (SIGAR 30.04.2022; vergleiche RFE/RL 13.05.2022b) und ehemaligen Mitgliedern der Regierung sowie politischen Opposition (UNGA 28.01.2022). Die meisten Mitglieder der Gruppe sind ethnische Tadschiken (RFE/RL 19.05.2022; vergleiche AJ 17.10.2022). Auch wenn Berichten zufolge die NRF die bekannteste bzw. die am weitesten entwickelte Anti-Taliban-Widerstandsgruppe ist (VOA 28.04.2022b; vergleiche ISW 13.01.2023), herrscht weiterhin Unklarheit darüber, welche Gruppen mit ihr verbündet sind (Migrationsverket 29.04.2022). Im April 2022 wurde geschätzt, dass die Gruppierung über einige Tausend Kämpfer verfügt (VOA 28.04.2022b), wobei die NRF im August verkündete, dass über 4.000 Kämpfer unter ihrem Kommando stehen (8am 31.08.2022; vergleiche BAMF 10.2022). Die NRF besteht auch aus mehreren regionalen Einheiten, deren Kommandeure loyal zu Massoud sind(VOA 28.04.2022b; vergleiche REU 30.11.2022). Unter den Kämpfern sind auch Einheiten der ehemaligen afghanischen Armee (BBC 16.05.2022; vergleiche BAMF 10.2022). So soll sich beispielsweise die Spezialeinheit „Afghan National Army Special Operations Command“ (ANASOC) der NRF angeschlossen haben (BAMF 10.2022). Eine afghanische NGO und ein Analyst aus Kabul weisen jedoch darauf hin, dass die große öffentliche Aufmerksamkeit, welche die NRF in den Medien und auf anderen Kanälen erfährt, nicht die begrenzte Anzahl von Anhängern widerspiegelt, die die Gruppe in Afghanistan hat (Migrationsverket 29.04.2022; vergleiche EUAA 8.2022a).
Auch wenn der NRF international gut vernetzt ist, vor allem in den USA (BAMF 10.2022; vergleiche VOA 01.11.2021), beschwert sich Massoud über fehlende internationale Unterstützung (BAMF 10.2022; vergleiche BBC 12.7.2022, AC 11.08.2022). In einer nicht zu bestätigenden Erklärung Ende März 2022 erklärte die NRF, dass sie in mehr als zwölf Provinzen aktiv sei, auch im Süden und Osten des Landes (SIGA 07.04.2022; vergleiche NYSUN 16.01.2023, ObRF 17.06.2022), unter anderem in den Provinzen Panjsher, Baghlan, Takhar, Nangarhar, Kapisa, (ObRF 17.06.2022) Parwan und Badakhshan (SE 20.12.2022). Im Juni gab ein Sprecher der NRF an, dass sie hauptsächlich Waffen verwenden, die aus Tadschikistan und Usbekistan über die Grenze geliefert werden würden, jedoch litt die Gruppierung Berichten zufolge unter einen Mangel an Munition (Afintl 31.12.2022; vergleiche EUAA 8.2022a).
Medien berichten von mehreren Angriffen, die vor allem auf Kontrollpunkte und Außenposten der Taliban abzielen und dem NRF zugeschrieben werden (NYT 04.03.2022), wobei von verstärkten Kämpfen im Jänner/Februar (ACLED/APW 4.2022; vergleiche 8am 25.05.2022, 8am 17.01.2022) sowie im Mai 2022 berichtet wurde (RFE/RL 19.05.2022; vergleiche 8am 05.05.2022). Aus dem Panjsher-Tal wurde berichtet, dass Angriffe auf Taliban-Stellungen regelmäßig stattfanden und Dutzende von Menschen, sowohl Taliban-Kämpfer (VOA 14.09.2022; vergleiche Telegraph 12.05.2022) als auch Mitglieder der Widerstandsbewegung, getötet worden waren (VOA 14.09.2022; vergleiche AMU 14.09.2022, AN 18.10.2022).
Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 gehen die Kämpfe zwischen NRF und den Taliban weiter. Zusammenstöße gibt es in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.08.2022; vergleiche AJ 14.09.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022),Takhar (8am 14.08.2022; vergleiche AaNe 21.08.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.08.2022; vergleiche KP 21.08.2022, Afintl 12.12.2022), Khost (8am 13.08.2022), Kapisa (AaNe 24.08.2022; vergleiche 8am 21.11.2022a) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022a; AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).
Im Oktober konnte die NRF laut Medienberichten erstmals einen Distrikt in der Provinz Badakhshan erobern (Afintl 11.10.2022a; vergleiche AaNe 10.10.2022), wobei anderen Berichten zufolge die Taliban die Kontrolle über den Distrikt kurz danach wieder übernehmen konnten (AMU 04.10.2022), bzw. nach Angaben der Taliban sie diesen nie verloren (Afintl 04.10.2022). [...]
6.2.2 Weitere Widerstandsbewegungen
Letzte Änderung 2023-03-01
Afghanistan Islamic National and Liberation Movement
Das „Afghanistan Islamic National and Liberation Movement“ gab seine Gründung Mitte Februar 2022 bekannt. Es wird angenommen, dass es die bislang einzige Anti-Taliban-Bewegung ist, die zum größten Teil aus Paschtunen besteht. Sie wird von Abdul Matin Suleimankhel angeführt, einem Kommandeur der ehemaligen ANA Special Operations Corps (SIGA 07.04.2022; vergleiche VOA 14.09.2022). Mitte März gab die Gruppierung an, dass sie über „Tausende Kämpfer“ in mehr als zwei Dutzend Provinzen verfügen würde, wobei sich ihre Aktivitäten offenbar hauptsächlich auf die von Paschtunen bewohnten südlichen und östlichen Teile des Landes konzentrieren (Helmand, Kandahar, Paktika und Nangarhar) (SIGA 07.04.2022). Experten zufolge sind die Kapazitäten und Fertigkeiten der Gruppe begrenzter als von ihr behauptet (SIGA 07.04.2022; vergleiche VOA 28.04.2022b). Eine Explosion, die sich am 27.03.2022 in Helmand ereignete, wird der Gruppierung zugeschrieben (SIGA 07.04.2022).
Afghanistan Freedom Front (AFF)
Die AFF erklärte ihre Gründung am 11.03.2022 (SIGA 07.04.2022; vergleiche VOA 28.04.2022b). Zwar gab die Gruppierung ihre Führungspersönlichkeiten nicht offiziell bekannt, jedoch wird vermutet, dass General Yasin Zia, ein ehemaliger Verteidigungsminister und Generalstabschef, zu den Anführern der Gruppe gehört (VOA 28.04.2022b). Eigenen Angaben zufolge zählt die AFF „Tausende Kämpfer“ und ist „in allen 34 Provinzen Afghanistans aktiv“, wobei diese Behauptungen nicht durch andere Quellen belegt werden können. Die Gruppe veröffentliche regelmäßig Videos von Anschlägen, die sie für sich reklamiert, unter anderem in den Provinzen Kapisa, Parwan, Takhar, Baghlan, Sar-e Pul, Badakhshan und Kandahar, wobei auch hier eine unabhängige Überprüfung dieser Behauptungen schwierig ist (SIGA 07.04.2022). Die AFF scheint aus einzelnen Milizen zu bestehen, die sich an der Front zusammengeschlossen haben (BAMF 10.2022). So wurden im August 2022 Videos von drei Gruppen in den Provinzen Farah (BAMF 10.2022; vergleiche 8am 20.08.2022), Ghor und Faryab gepostet, die ihren Kampf gegen die Taliban als Teil der AFF ankündigten (BAMF 10.2022). Ein Angriff derAFF auf eine Polizeistation in Takhar am 23.03.2022 wurde von den Taliban bestätigt (SIGA 07.04.2022).
Weitere Gruppierungen
Zu den anderen Widerstandsgruppen, die ihre Präsenz angekündigt haben, gehören die Turkestan Freedom Tigers, die Berichten zufolge am 07.02.2022 einen kleinen Angriff auf einen Kontrollpunkt der Taliban in der Nähe der Stadt Sheberghan (Provinz Jawzjan) verübt haben (ISW 13.01.2023), der National Resistance Council (dem angeblich eine Reihe prominenter Anti-Taliban-Persönlichkeiten aus dem Exil wie Ata Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum angehören), die Liberation Front of Afghanistan, die Unknown Soldiers of Hazaristan, die angeblich auf aus Hazara bestehende Freedom and Democracy Front und eine Gruppe namens Freedom Corps (angeblich in Teilen der Provinz Takhar aktiv) (SIGA 07.04.2022; vergleiche VOA 28.04.2022b). Über die Führung und die Fähigkeiten dieser Gruppen ist wenig bekannt (VOA 28.04.2022b). Andere Gruppen schienen in der Zwischenzeit aktiv zu sein und zu operieren, obwohl von ihnen reklamierte Angriffe und Fähigkeiten zuweilen infrage gestellt wurden (SIGA 07.04.2022). [...]
6.3 Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Letzte Änderung 2023-09-15
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf die Jahre 2014/2015 zurück (AAN 17.11.2014; vergleiche LWJ 05.03.2015, MEE 27.08.2021). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei „Khorasan“ die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst (EB 03.01.2023; vergleiche MEE 27.08.2021). Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.08.2021; vergleiche AAN 01.08.2017).
Die Vereinten Nationen und das United States Institute of Peace bewerten den ISKP aktuell als die schwerwiegendste terroristische Bedrohung in Afghanistan und der gesamten Region (UNSC 25.07.2023; vergleiche USIP 07.06.2023). Der ISKP hat schätzungsweise 4.000 bis 6.000 Mitglieder, einschließlich Familienangehörige. Sanaullah Ghafari (alias Shahab al-Muhajir) wird als der ehrgeizigste Anführer des ISKP angesehen (UNSC 25.07.2023). Im Juni 2023 wurde berichtet, dass Ghafari inAfghanistan getötet wurde (VOA 09.06.2023; vergleiche UNSC 25.07.2023). Dies muss noch bestätigt werden. Mawlawi Rajab ist der Leiter der externen Operationen des ISKP (UNSC 25.07.2023).
Das „Kerngebiet“ des ISKP bleibt Afghanistan und Pakistan. Obwohl der ISKP zunächst als ein von Pakistan dominiertes Netzwerk auftrat, konzentrierte es sich bald auf Afghanistan. Dort hat es seine Strategie von der Kontrolle des Territoriums auf die Führung eines urbanen Krieges umgestellt. Es stellte eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die frühere afghanische Regierung dar und versucht nun, die Regierungsbemühungen der Taliban zu stören (USIP 07.06.2023). Die Kernzellen des ISKP in Afghanistan befinden sich vor allem in den östlichen Provinzen Kunar, Nangarhar und Nuristan inAfghanistan, wobei eine große Zelle in Kabul und Umgebung aktiv ist. Kleinere Gruppen wurden in den nördlichen und nordöstlichen Provinzen Badakhshan, Faryab, Jawzjan, Kunduz, Takhar und Balkh entdeckt. Da Balkh eine der wirtschaftlich am weitesten entwickelten Provinzen im Norden ist, ist sie für den ISKP nach wie vor von vorrangigem Interesse in Hinblick auf die Erzielung von Einnahmen. Es wird berichtet, dass der ISKP mit dem Schmuggel von Rauschgift begonnen hat, was eine neue Entwicklung darstellt (UNSC 13.02.2022).
Auch in anderen Teilen des Landes wurden ISKP-Aktivitäten registriert (UNGA 14.09.2022; vergleiche UNGA 07.12.2022). Einer Quelle zufolge liegt ein Grund für die größere geografische Reichweite des ISKPdarin, dass es für den ISKP angesichts der schwachen Taliban-Präsenz entlang des Straßennetzes des Landes nun einfacher sei, auf den Straßen zu reisen, ohne kontrolliert zu werden (Migrationsverket 29.04.2022; vergleiche EUAA 8.2022a). Darüber hinaus war die Gruppe nicht mehr mit Anti-Terror-Operationen unter der Führung externer Kräfte konfrontiert und konnte die begrenzten Ressourcen und die schwache Kontrolle der Taliban in einigen Teilen Afghanistans ausnutzen (CTC Sentinel 1.2022; vergleiche EUAA 8.2022a).
Einem Analysten zufolge hat der ISKP klare Ambitionen, sich weiter in Gebiete im Norden des Landes auszudehnen, um die dort vorherrschenden ethnischen Spannungen auszunutzen (EUAA 8.2022a; vergleiche Migrationsverket 29.04.2022, Landinfo 09.03.2022). Derselbe Analyst erklärte im März 2022 außerdem, dass es keine Anzeichen dafür gäbe, dass der ISKP in der Lage sei, die Taliban kurzfristig herauszufordern (EUAA 8.2022a; vergleiche Landinfo 09.03.2022).
Die Gruppe geht bei ihren Anschlägen gegen die Taliban und internationale Ziele immer raffinierter vor und konzentriert sich auf die Durchführung einer Strategie mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen, um die Fähigkeit der Taliban zur Gewährleistung der Sicherheit zu untergraben. Insgesamt zeigten die Angriffe des ISKP starke operative Fähigkeiten in den Bereichen Aufklärung, Koordination, Kommunikation, Planung und Ausführung. Darüber hinaus haben die Anschläge gegen hochrangige Taliban-Persönlichkeiten in den Provinzen Balkh, Badakhshan und Baghlan die Moral des ISKP gestärkt und die Rekrutierung gefördert (UNSC 25.07.2023).
Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban folgend:
• 19.08.2021 - 31.12.2021:152 Angriffe in 16 Provinzen (20 Angriffe in 5 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 28.1.2022)
• 01.01.2022 - 21.05.2022: 82 Angriffe in 11 Provinzen (192 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 15.6.2022)
• 22.05.2022 - 16.08.2022: 48 Angriffe in 11 Provinzen (113 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 14.9.2022)
• 17.08.2022 - 13.11.2022: 30 Angriffe in 6 Provinzen (121 Angriffe in 14 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 7.12.2022)
• 14.11.2022 - 31.01.2023: 16 Angriffe in 4 Provinzen (53 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 27.2.2023)
• 01.02.2023 - 20.05.2023: 11 Angriffe in 5 Provinzen (62 Angriffe in 12 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 20.6.2023)
Seit Mitte 2022 gehen die Angriffe des ISKP zurück (UNGA 07.12.2022), ein Trend, der sich auch in der ersten Hälfte des Jahres 2023 fortsetzt (UNGA 27.02.2023; vergleiche UNGA 20.06.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (UNGA 14.09.2022; vergleiche HRW 12.01.2023, UNGA 27.02.2023).
Beispiele für Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban
Der ISKP bekannte sich zu Selbstmordanschlägen auf eine sunnitische Moschee in Kabul am 03.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vgl, REU 04.10.2021) und auf zwei schiitische Moscheen in den Städten Kunduz am 08.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vergleiche TN 09.10.2021) und Kandahar am 15.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vergleiche KP 16.10.2021) sowie zu einem Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul am 02.11.2021 (UNGA 28.01.2022; vergleiche 8am 03.11.2021).
Im April 2022 führte der ISKP Anschläge in einem Erholungsgebiet in Herat (UNGA 15.06.2022), auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif (UNGA 15.06.2022; vergleiche DW 21.04.2022) sowie auf eine Madrassa in Kunduz durch (UNGA 15.06.2022; vergleiche PAN 23.04.2022). Außerdem gab es Angriffe auf zwei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 15.06.2022; vergleiche AJ 28.04.2022) und auf einen Kleinbus in Kabul (UNGA 15.06.2022; vergleiche FR24 01.05.2022).
Am 22.05.2022 kam zu Anschlägen auf eine Zeremonie zum Jahrestag des Todes von MullahAkhtar Mohammad Mansour Kabul und am 25.05.2022 auf drei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 14.09.2022; vergleiche AJ 25.05.2022). Am 18.06.2022 griff der ISKP einen Sikh-Tempel in Kabul an (UNGA 14.09.2022; vergleiche TN 18.06.2022) und am 04.07.2022 einen Bus mit Taliban-Sicherheitskräften in Herat (UNGA 14.09.2022; vergleiche Afintl 05.07.2022).
Im August kam es zu einer Reihe von Angriffen durch den ISKP in Kabul. Am 08.08.2022 beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul mindestens acht Menschen getötet (VOA 05.08.2022; vergleiche REU 05.08.2022). In der Vorwoche führten die Sicherheitskräfte der Taliban eine Razzia gegen eine ISKP-Zelle in der afghanischen Hauptstadt durch, bei der sie vier Kämpfer töteten und einen weiteren bei dem anschließenden Feuergefecht gefangen nahmen. Die Taliban sagten in einer Erklärung nach der Razzia, dass der ISKP „Anschläge auf unsere schiitischen Landsleute während der laufenden Muharram-Rituale“ geplant hatten (VOA 05.08.2022). Am 11.08.2022 wurde ein prominenter afghanischer Geistlicher bei einem Selbstmordanschlag durch den ISKP getötet (BBC 11.08.2022; vergleiche VOA 11.08.2022). Am 18.08.2022 kam es zu einem weiteren Anschlag auf eine Moschee in Kabul, bei dem mindestens 21 Personen getötet und 33 verletzt wurden. Auch hier war ein prominenter afghanischer Geistlicher unter den Opfern (AP 18.08.2022; vergleiche BBC 18.08.2022).
Des Weiteren beansprucht der ISKP einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul am 05.09.2022 für sich (UNGA 07.12.2022; vergleiche KP 06.09.2022). Zu Angriffen auf Sicherheitskräfte der Taliban, bei denen auch Zivilisten getötet wurden, kam es am 10.10.2022 in Laghman (UNGA 07.12.2022; vergleiche Afintl 11.10.2022b) und am 27.10.2022 in Herat (UNGA 07.12.2022; vergleiche 8am 27.10.2022).
Am 22.10.2022 haben die Taliban eine Zelle des ISKP in Kabul ausgehoben, dabei gab es mehrere Explosionen und Schusswechsel. Sechs Mitglieder des ISKP wurden dabei getötet. Nach Angaben der Taliban waren sie in die Anschläge auf die Wazir Akbar Khan Moschee und die Bildungseinrichtung im September beteiligt (REU 22.10.2022; vergleiche VOA 22.10.2022).
Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 01.01.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 01.01.2023; vergleiche RFE/RL 01.01.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff der ISKP verantwortlich. Am 05.01.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 05.01.2023; vergleiche AJ 05.01.2023).
Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Außenministerium am 27.03.2023 in Kabul mindestens sechs Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt (VOA 27.03.2023; vergleiche AJ 27.03.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (VOA 27.03.2023).
Abgesehen von öffentlichkeitswirksamen Anschlägen verübt der ISKP fast täglich Anschläge auf niedriger Ebene, die in den lokalen Gemeinschaften Angst auslösen, schiitische Minderheiten ins Visier nehmen, um die Autorität der paschtunischen Taliban zu untergraben, und die entstehenden Sicherheitsbehörden herausfordern (UNSC 13.02.2023). [...]
6.4 Al-Qaida und weitere bewaffnete Gruppierungen
Letzte Änderung 2023-03-02
Al-Qaida
Laut einem Bericht der Vereinten Nationen vom Mai 2022 bleiben die Verbindungen zwischenAl- Qaida und den Taliban eng (UNSC 26.05.2022). Am 01.08.2022 gab der US-Präsident bekannt, dass der Anführer von Al-Qaida, Ayman Mohammed Rabie al-Zawahiri, bei einem Drohnenangriff in der Innenstadt von Kabul getötet wurde (BBC 02.08.2022; vergleiche VOA 02.08.2022). Die TalibanFührung gab an, sie habe keine Informationen darüber, dass al-Zawahiri nach Kabul gezogen sei und sich dort aufgehalten habe, während er sich nach Angaben von US-Beamten in einer Wohnung von Sirajuddin Haqqani [Anmerkung: dem Innenminister der Taliban-Übergangsregierung] aufhielt (FR24 04.08.2022; vergleiche GD 05.08.2022). Es wird berichtet, dass Al-Qaida Verbindungen zum Haqqani-Netzwerk unterhält (VOA 30.08.2022; vergleiche UNSC 26.05.2022). Experten sind der Ansicht, dass die Verbindungen der Taliban zu Al-Qaida offenbar hauptsächlich auf individuellen Verbindungen beruhen, was jedoch nicht bedeutet, dass es keine Verbindungen auf der Ebene der Taliban-Führung gibt (ODI/Rahmatullah, A./Jackson, A 9.2022).
Nach Angaben der Vereinten Nationen agiert Al-Qaida vor allem in ihren historischen Verbreitungsgebieten im Süden und Osten Afghanistans, wobei sich Berichten zufolge einige Mitglieder in weiter westliche Gebiete (Farah und Herat) verlegt haben. Al-Qaida verfügte über „einige Dutzend“ Kämpfer, die ihrer Kernorganisation angehörten, und ihre operativen Fähigkeiten beschränkten sich auf die Beratung und Unterstützung der Taliban (UNSC 26.05.2022).
Berichten zufolge hält sich „Al-Qaeda in the Indian Subcontinent“ (AQIS), eine der Kernorganisation von Al-Qaida untergeordnete Organisation, auch innerhalb Afghanistans auf (UNSC 26.05.2022), wobei die Anzahl ihrer Kämpfer auf ca. 180 bis 400 geschätzt wird (UNSC 26.05.2022; vergleiche CRS 19.04.2022), die in Helmand, Kandahar, Ghazni, Nimroz, Paktika und Zabul stationiert sein sollen und Personen aus mehreren süd- und südostasiatischen Ländern umfasst (UNSC 26.05.2022; vergleiche VOA 20.03.2022). Ihr Anführer Osama Mahmood und sein Stellvertreter Atif Yahya Ghouri sollen sich beide in Afghanistan aufhalten (VOA 20.03.2022).
Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP)
Die TTP, auch bekannt als pakistanische Taliban, ist eine militante Gruppe, deren Ziele sich gegen die pakistanische Regierung richten. Sie hat sich jedoch auch in der Vergangenheit mit den afghanischen Taliban an Operationen gegen die afghanische Regierung in Afghanistan beteiligt (CRS 19.04.2022). Die Vereinten Nationen schätzten im Mai 2022, dass die Gruppe über 3.000 bis 4.000 bewaffnete Kämpfer in den afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten verfügt (UNSC 26.05.2022), während ein unabhängiger afghanischer Analyst schätzte, dass die TTP rund 10.000 Mitglieder in Afghanistan hat (EUAA 8.2022a). Die Gruppe operiert von Stützpunkten in Afghanistan aus und ist zunehmend in Pakistan präsent; im Jahr 2021 eskalierte sie ihre Angriffe gegen pakistanische Sicherheitskräfte und chinesische Einrichtungen in Pakistan. Nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan erneuerte der TTP-Führer Noor Wali Mehsud öffentlich sein Treuegelöbnis gegenüber dem obersten Führer der afghanischen Taliban. Darüber hinaus signalisierte Al-Qaida, dass sie weiterhin mit der TTP zusammenarbeitet (CRS 19.04.2022). Nach dem Treuegelöbnis der Gruppe konnte man, nach Angaben eines unabhängigen afghanischen Analysten, beobachten, dass sich die TTP-Mitglieder in den afghanischen Großstädten „frei bewegen“ konnten, im Gegensatz zur Situation vor der Machtübernahme, als die TTP Zufluchtsorte in abgelegenen Gebieten hatte (EUAA 8.2022a). Auch ein weiterer Experte stellte fest, dass die Rückkehr der afghanischen Taliban die Macht die Gruppierung gestärkt hat. Nachdem die afghanischen Taliban Hunderte von TTP-Mitgliedern aus den Gefängnissen in Kabul freigelassen hatten (CEIP 21.12.2021), startete die TTP zahlreiche Anschläge und Operationen in Pakistan (UNSC 26.05.2022). Mitte Februar 2022 griff das pakistanische Militär mit Artillerie TTP-Stellungen in den Distrikten Naray und Sarkano (Provinz Kunar) an, nachdem TTP-Mitglieder pakistanische Grenzposten angegriffen hatten. Nach den pakistanischen Angriffen schickte die Taliban-Regierung Berichten zufolge Verstärkung in das Gebiet (ISW 13.01.2023). Anfang Juni 2022 kündigte die TTP nach geheimen Gesprächen zwischen TTP und pakistanischen Militärvertretern einen Waffenstillstand mit Pakistan für die Dauer von drei Monaten an. Diese Gespräche waren von den afghanischen Taliban vermittelt worden (USIP 21.06.2022).
Eastern Turkistan Islamic Movement
Das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM), auch bekannt als „Turkistan Islamic Party“ (TIP), strebt die Schaffung eines unabhängigen islamischen Staates für die turksprachigen Uiguren an, die im Westen Chinas leben (CRS 19.04.2022). Laut einem Bericht der Vereinten Nationen ist die ETIM weiterhin in Afghanistan aktiv, und die Schätzungen zur Größe der Gruppe reichen von einigen Dutzend bis zu 1.000 Mitgliedern (UNSC 26.05.2022). Nach der Machtübernahme durch die Taliban wurden Berichten zufolge einige ETIM-Mitglieder aus der Provinz Badakhshan in Provinzen verlegt, die weiter von der chinesischen Grenze entfernt sind (UNSC 26.05.2022; vergleiche RFE/RL 05.10.2021), unter anderem in die Provinz Nangarhar (RFE/RL 05.10.2021), als Teil der Versuche der Taliban, einerseits die Gruppe zu schützen und andererseits ihre Aktivitäten einzuschränken (UNSC 26.05.2022).
Jamaat Ansarullah
Jamaat Ansarullah ist eine Gruppe, die eng mit Al-Qaida verbunden ist. Im Jahr 2021 kämpfte sie an der Seite der Taliban in der Provinz Badakhshan. Als sich die Beziehungen zwischen Tadschikistan und der Taliban-Regierung im Herbst 2021 verschlechterten, wurden Ansarullah-Kämpfer an der Seite von Taliban-Spezialkräften entlang der tadschikischen Grenze in den Provinzen Badakhshan, Takhar und Kunduz eingesetzt. Nach Angaben der Vereinten Nationen soll die Gruppe aus 300 Kämpfern bestehen, die zumeist tadschikische Staatsangehörige sind. Die Jamaat Ansarullah ist in den Provinzen Badakhshan und Kunduz präsent. Ihr Anführer ist Sajod, der Sohn des ehemaligen Anführers der Gruppe, Damullo Amriddin (UNSC 26.05.2022). [...]
7 Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung 2023-03-21
Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (Hakimi A./Sadat M. 2020). Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren (FH 24.02.2022a).
Nachdem sie die gewählte Regierung im August 2021 abgesetzt hatten, übernahmen die Taliban die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes (FH 24.02.2022a) und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft (UNGA 28.01.2022). Viele Richter wurden aus ihren Ämtern entlassen, und Angehörige des Islamischen Emirats Afghanistan (IEA) mit unterschiedlichem Hintergrund praktizieren nun Rechtsstaatlichkeit (IOM 12.01.2023; vergleiche FH 24.02.2022a). Es wurden ein Justizminister und ein Oberster Richter und Leiter des Obersten Gerichtshofs durch die Taliban ernannt. Am 16.12.2021 erließ die Taliban-Führung ein Dekret zur Ernennung von 32 Direktoren, Abteilungsleitern, Richtern und anderen wichtigen Beamten im Zusammenhang mit dem Obersten Gerichtshof. Am 25.12.2021 wurde ein Generalstaatsanwalt ernannt, der sich zur Rechenschaftspflicht und Unabhängigkeit seines Amts nach der Scharia verpflichtet (UNGA 28.01.2022).
Im Jahr 2022 setzt sich die Umstellung des Justizwesens und des Rechtsrahmens der ehemaligen Republik weiter fort, wobei Bedenken hinsichtlich der vorherrschenden Unklarheit über die anwendbaren Gesetze bestehen. Am 21.08.2022 wies der Taliban-Generalstaatsanwalt die Staatsanwälte an, laufende Ermittlungen an Taliban-Gerichte zu übertragen; der stellvertretende Oberste Richter für die Verwaltung des Obersten Gerichtshofs gab an, dass die Richter auch Ermittlungsaufgaben nach dem Scharia-Recht übernehmen würden. Diese Maßnahme führt zu einer höheren Arbeitsbelastung der Gerichte, zu Verzögerungen bei Gerichtsverfahren und zu einer Verlängerung der ohnehin schon langen Untersuchungshaftzeiten. Angesichts der damit einhergehenden Zunahme der Gefangenenpopulation und eines Ersuchens des Büros für Gefängnisverwaltung im Juni 2022 wies Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada Ende September 2022 den Obersten Gerichtshof an, Richtergruppen für jede Provinz zu ernennen, um die Prüfung der Fälle von Untersuchungshäftlingen zu beschleunigen (UNGA 07.12.2022).
Die Zulassung von Strafverteidigern ist noch nicht abgeschlossen, und Frauen sind nach wie vor von diesem Verfahren ausgeschlossen. Das Taliban-Justizministerium teilte mit, dass bis zum 10.11.2022 1.275 von 1.332 geprüften Anwälten die Anforderungen erfüllt hätten und 947 eine neue Zulassung erhalten hätten, während vor August 2021 schätzungsweise 6.000 Strafverteidiger, darunter 1.500 Frauen, praktiziert hatten. Nach Angaben der Taliban-Justizbehörden haben die Gerichte über 13.000 Fälle verhandelt, und bei den Justizministerien im ganzen Land sind 97.700 Zivilklagen eingegangen, von denen seit August 2021 nur 2.339 von Gerichten bearbeitet wurden (UNGA 07.12.2022).
Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung sollen nach Angaben der Taliban-Führung weiterhin gelten, unterliegen aber einem Islamvorbehalt (d. h., sie werden auf die Vereinbarkeit mit dem islamischen Recht überprüft); sie werden in der Praxis nicht oder nur in Teilen angewendet. So wird u. a. in von Taliban veröffentlichten Dekreten darauf Bezug genommen. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften wurden mit den Taliban nahestehenden Rechtsgelehrten besetzt, die weder die Voraussetzungen noch das Ziel haben, die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung anzuwenden. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Taliban-Regierung in Kabul auf die Verwaltungen und Sicherheitskräfte der Provinz- und Distriktebene. Umfang und Qualität des repressiven Verhaltens der Taliban gegen die Bevölkerung hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 20.07.2022). Sowohl das afghanische Zivilgesetzbuch wie auch das schiitische Personenstandsrecht sind nominell weiterhin in Kraft, auch wenn es Änderungen gibt. Während beispielsweise Fälle des schiitischen Personenstandsrechts früher von den Gerichten der Regierung behandelt wurden, verweisen die Taliban diese Fälle an die schiitischen Religionsämter, die unabhängig und nicht von der Regierung geleitet werden (IOM 12.01.2023).
Nach Angaben eines in Afghanistan praktizierenden Rechtsanwaltes stellt sich die Lage der Gesetze in Afghanistan als schwierig und uneinheitlich dar. Auch wenn die Taliban stets behaupteten, dass die afghanischen Gesetze unislamisch wären, so haben sie nicht im Detail erklärt, welche Bestimmungen welcher Gesetze gegen die Grundsätze der Scharia verstoßen würden. Sie haben weder erklärt, dass alle früheren Gesetze nicht mehr gelten, noch dass diese weiterhin in Kraft sind und gelten. Auch in der Praxis gibt es unterschiedliche Standards in den verschiedenen Instanzen. Einige Gerichte wenden die früheren Gesetze, einschließlich des Zivilgesetzbuches an, andere wiederum nicht (RA KBL 04.10.2022).
Aus verschiedenen Provinzen gibt es anhaltende, im Einzelfall nur schwer verifizierbare Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen, die auch Körperstrafen wie Steinigung und Auspeitschung einschließen. Vereinzelt kommt es auch zur Zurschaustellung von Kriminellen sowie Personen, die den moralischen Vorstellungen der Taliban zuwiderhandeln (keine Teilnahme am Gebet, Vorwurf des Ehebruchs). Auf nationaler Ebene wurde im April 2022 erstmals eine Körperstrafe (Peitschenhiebe) wegen Drogen- und Alkohol-Konsums durch den Obersten Gerichtshof verhängt. Das von den Taliban neu-gegründete Ministerium für die Förderung von Tugend und Verhinderung von Laster (sog. Tugendministerium) spielt mit quasi-polizeilichen Befugnissen eine besondere Rolle bei der Einschränkung von zahlreichen Persönlichkeitsrechten im Alltag (AA 20.07.2022). Am 07.12.2022 kam es zur ersten öffentlichen Hinrichtung durch die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan (AI 07.12.2022). [...]
8 Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung 2023-03-21
Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Miliz-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen wollen. Der Geheimdienst (General Directorate for [Anmerkung: auch „of“] Intelligence, GDI) (AA 20.07.2022; vergleiche CPJ 01.03.2022), ein Nachrichtendienst, der früher als „National Directorate of Security“ (NDS) bekannt war (CPJ 01.03.2022), wurde dem Innenministerium der Taliban unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen (AA 20.07.2022).
Die Institutionalisierung des Sicherheitsapparats nahm im Jahr 2022 zu. Ende August berichteten die Vereinten Nationen, dass 150.000 Armeeangehörige und fast 200.000 Polizisten in Afghanistan rekrutiert worden seien (UNGA 07.12.2022). Sprecher des Taliban-Innenministeriums gaben die Größe der Armee im August mit 100.000 bis 150.000 (Afintl 23.08.2022) bzw. im Oktober mit 150.000 Mann an (ATN 28.10.2022), mit weiterem Ausbaupotenzial (ATN 28.10.2022; vergleiche Afintl 23.08.2022).
Im Oktober 2022 wurden mehrere Sicherheitskommissionen eingesetzt, darunter eine Reformkommission des Taliban-Innenministeriums mit neun Unterausschüssen, die Mitarbeiter mit kriminellem Hintergrund ausschließen sollen, sowie eine Kommission für die Einstufung von Militärangehörigen, die den „Dschihad“- und Bildungshintergrund von Armeeangehörigen bewerten soll (UNGA 07.12.2022). Bereits im März gab eine von den Taliban eingerichtete „Säuberungskommission“ bekannt, dass insgesamt ca. 4.000 Taliban-Kämpfer aufgrund krimineller Aktivitäten, Verbindungen zum Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) oder anderen Vergehen entlassen wurden (AA 20.07.2022). Darüber hinaus wurden mindestens 52 Ernennungen in den Taliban-Sicherheitsministerien bekannt gegeben, bei denen es sich größtenteils um Umbesetzungen handelte, darunter vier stellvertretende Minister, ein neuer Luftwaffenkommandeur, sieben Korpskommandeure und 13 Provinzpolizeichefs; 27 Ernennungen im Verteidigungsbereich, die am 26.10.2022 bekannt gegeben wurden, folgten auf den Besuch des Taliban-Verteidigungsministers Yaqoob in Kandahar (UNGA 07.12.2022).
Mitglieder der ehemaligen Streitkräfte
Die Taliban haben offiziell eine „Generalamnestie“ für Angehörige der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte angekündigt (AA 20.07.2022; USDOS 12.04.2022a). Hochrangige Taliban, auch das Oberhaupt der Bewegung, Emir Haibatullah Akhundzada, haben die Taliban-Kämpfer wiederholt zur Einhaltung der Amnestie aufgefordert und angeordnet, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen (AA 20.07.2022). Während zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen bislang nicht nachgewiesen werden konnten (AA 20.07.2022), berichten Menschenrechtsorganisationen allerdings über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 20.07.2022; vergleiche HRW 12.01.2023). Diese Fälle lassen sich zumindest teileise eindeutig Taliban-Sicherheitskräften zuordnen. Inwieweit diese Taten politisch angeordnet wurden, ist nicht zu verifizieren. Sie wurden aber durch die Taliban-Regierung trotz gegenteiliger Aussagen mindestens toleriert bzw. nicht juristisch verfolgt (AA 20.07.2022). Die Vereinten Nationen haben bis Mitte Februar 2022 130 Fälle geprüft und die Vorwürfe gegenüber den Taliban für begründet befunden, in denen Angehörige der ehemaligen Sicherheitskräfte und Regierung ermordet wurden. Bei rund 100 dieser Fälle handelt es sich um extralegale Hinrichtungen, die Taliban-Kräften zugeordnet werden konnten (AA 20.7.2022; vergleiche UNHCR 30.03.2022, HRW 30.03.2022). Laut einer im April erschienenen Medienrecherche der New York Times konnten seit August 2021 ca. 500 Fälle verifiziert werden, in denen Angehörige der ehemaligen Regierung verschleppt, gefoltert oder ermordet wurden bzw. weiterhin verschwunden sind (NYT 27.05.2022). UNAMA und Human Rights Watch (HRW) halten diese Untersuchung für glaubwürdig (AA 20.07.2022). [...]
9 Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 2023-03-09
Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 20.07.2022, vergleiche HRW 12.01.2023). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von Personen, denen vorgeworfen wird, den ehemaligen Sicherheitskräften bzw. der ehemaligen Regierung, der Nationalen Widerstandsfront (NRF) oder dem Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) anzugehören. Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (UNAMA 7.2022) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten wird berichtet (AA 20.07.2022 vergleiche HRW 12.01.2023). Vier junge Männer (darunter drei Minderjährige), die im Zusammenhang mit der Ermordung von acht Mitgliedern einer Polio-Impfkampagne festgenommen wurden, sollen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen gefoltert worden sein (AA 20.07.2022). [...]
10 Korruption
Letzte Änderung 2023-03-21
Mit einer Bewertung von 16 Punkten (von 100 möglichen Punkten - 0= highly corrupt und 100 = very clean), belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2021 von Transparency International von 180 untersuchten Ländern den 174. Platz, was eine Verschlechterung um neun Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI o. D.a, TI o. D.b).
Die ehemalige Regierung setzte Maßnahmen gegen Korruption nicht effektiv um, während Beamte häufig ungestraft korrupte Praktiken ausübten. Berichte deuten an, dass Korruption innerhalb der Gesellschaft endemisch ist - Geldflüsse von Militär, internationalen Gebern und aus dem Drogenhandel verstärken das Problem (USDOS 12.04.2022a). Die weitverbreitete Korruption und Misswirtschaft schwächten in weiterer Folge die staatlichen Strukturen. Das gilt für die Sicherheitskräfte ebenso wie für das Parlament und die Gerichte (NZZ 11.08.2021). Im Laufe des Jahres 2021 gab es Berichte über „land grabbing“ durch private und öffentliche Akteure, einschließlich der Taliban (USDOS 12.04.2022a).
Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung an, darunter die Einrichtung von Kommissionen in Kabul und auf Provinzebene, die korrupte oder kriminelle Beamte aufspüren und eine harte Haltung gegen Bestechung zeigen sollen. Die Taliban richteten über das Verteidigungsministerium eine Kommission ein, die Mitglieder ausfindig machen sollte, die sich über die Richtlinien der Bewegung hinwegsetzten. Ein Sprecher des Ministeriums erklärte, dass 2.840 Taliban-Mitglieder wegen Korruption und Drogenkonsums entlassen worden seien. Aus Berichten mehrerer lokaler Geschäftsleute ging hervor, dass der grenzüberschreitende Handel unter der Führung der Taliban viel einfacher geworden war, da die „Geschenke“, die normalerweise für Zollbeamte erforderlich sind, abgeschafft wurden. Örtliche Taliban-Führer in Balkh leiteten Ermittlungen wegen Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit Invaliditätsleistungen ein, und in Nangarhar richteten sie Sondereinheiten ein, um illegale Landbesetzungen und Abholzungen zu verhindern (USDOS 12.04.2022a).
Internationale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die unter der Bedingung der Anonymität sprachen, weil sie nicht befugt waren, mit den Medien zu sprechen, sagten, die Taliban hätten die Korruption in den letzten sechs Monaten reduziert. Das hat zu höheren Einnahmen in einigen Sektoren geführt, auch wenn die Geschäfte rückläufig sind. So seien beispielsweise die Zolleinnahmen gestiegen, obwohl die neue Taliban-Regierung weniger Geschäfte mache (AP 15.02.2022). Es wird jedoch weiterhin von Korruption und Bestechung berichtet, beispielsweise an den Grenzübergängen nach Pakistan und Iran, wo Schlepper durch Bestechung von Grenzbeamten Personen außer Landes schmuggeln (RFE/RL 03.06.2022b; vergleiche RFE/RL 27.05.2022).
Im Juli 2022 kündigten die Taliban an, dass sie ehemalige afghanische Beamte nicht für die massive Korruption zur Rechenschaft ziehen werden, die in Zusammenhang mit Entwicklungshilfeprojekten stehen. Ehemalige Beamte, die der Korruption verdächtigt werden, müssen sich nur dann vor Gericht verantworten, wenn sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten Privateigentum oder öffentliches Vermögen an sich gerissen haben (VOA 06.07.2022). [...]
11 NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung 2023-03-21
Die Lage von Menschenrechtsaktivisten in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme durch die Taliban verschlechtert (FH 1.2023; vergleiche USDOS 12.04.2022a, AA 20.07.2022). Sie sind unter den Taliban nicht nur in ihrer Arbeit eingeschränkt, sondern müssen auch aktiv um ihr Überleben im Land kämpfen, da das Taliban-Regime und andere Akteure sie mit Gewalt, Diskriminierung und Propaganda bedrohen. Menschenrechtsverteidiger im ganzen Land sind mehrfachen Risiken und Bedrohungen ausgesetzt, wie z. B. Entführung und Inhaftierung, körperliche und psychische Gewalt, Diffamierung, Hausdurchsuchungen, willkürliche Verhaftung und Folter, Androhung von Einschüchterung und Schikanen sowie Gewalt gegen Aktivisten oder Familienmitglieder durch die Taliban, einschließlich Mord (FH 1.2023; vergleiche FIDH 12.08.2022, AA 20.07.2022). Anfang Februar 2022 führten die Taliban beispielsweise flächendeckend Hausdurchsuchungen zunächst in Kabul, anschließend auch in angrenzenden Provinzen durch. Davon waren auch nationale und internationale NGOs betroffen. Dies finden weiterhin statt, u. a. in den Großstädten Mazar-e Sharif, Herat und Kunduz (AA 20.07.2022).
Einige afghanische Menschenrechtsorganisationen wollen ihre Arbeit aus dem Ausland fortsetzen und bauen zu diesem Zweck ihre oftmals zusammengebrochenen Informationsnetzwerke wieder auf (AA 20.07.2022). Die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC), deren Rolle in der Verfassung aus Zeiten der Republik verankert ist, war seit August 2021 faktisch aufgelöst. Im Mai 2022 ist per Dekret die rückwirkende Auflösung auch formell beschlossen worden, der von der Taliban-Regierung beschlossene Haushalt sieht keine Mittel für die Institution vor. Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Menschenrechtskommission bauen ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut im Exil auf (AA 20.07.2022; vergleiche AIHRC 26.05.2022).
Ab Mitte Jänner 2022 werden Aktivistinnen der seit August 2021 vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen (AA 20.07.2022; vergleiche HRW 12.01.2023), und es gibt Berichte über Haftbedingungen, u. a. zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 20.07.2022). Die Taliban-Behörden reagierten auch vermehrt mit Gewalt auf Demonstranten und setzten scharfe Munition ein, um diese aufzulösen (HRW 12.10.2022; vergleiche GD 02.10.2022). Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen setzten sich über das Jahr 2022 hindurch fort (AI 16.11.2022; vergleiche HRW 20.10.2022, Rukhshana 04.08.2022, VOA 21.01.2022). So wurden beispielsweise Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an Protesten gegen das Universitätsverbot verhaftet (BBC 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022).
Am 24.12.2022 erließen die Taliban-Behörden ein Dekret, das Frauen die Arbeit in NGOs verbietet (OHCHR 27.12.2022; vergleiche GD 26.12.2022). Fünf führende NGOs haben daraufhin ihre Arbeit in Afghanistan eingestellt. Care International, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) und Save the Children erklärten, sie könnten ihre Arbeit „ohne unsere weiblichen Mitarbeiter“ nicht fortsetzen. Auch das International Rescue Committee stellte seine Dienste ein, während Islamic Relief erklärte, es stelle den Großteil seiner Arbeit ein (BBC 26.12.2022; vergleiche GD 26.12.2022). [...]
12 Wehrdienst und Zwangsrekrutierung
Letzte Änderung 2023-03-09
Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022), und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Miliz-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen wollen (AA 20.07.2022; vergleiche CPJ 01.03.2022). Ende August 2022 berichteten die Vereinten Nationen, dass 150.000 Armeeangehörige und fast 200.000 Polizisten in Afghanistan rekrutiert worden seien (UNGA 07.12.2022). Sprecher des Taliban-Innenministeriums gaben die Größe der Armee im August mit 100.000 bis 150.000 (Afintl 23.08.2022) bzw. im Oktober mit 150.000 Mann an (ATN 28.10.2022), mit weiterem Ausbaupotenzial (ATN 28.10.2022; vergleiche Afintl 23.08.2022).
Berichten zufolge kam es im Sommer 2022 in der Provinz Badakhshan zu Zwangsrekrutierungen seitens der Taliban (8am 01.06.2022; vergleiche ACLED 09.06.2022). Die Vereinten Nationen gehen mit Sommer 2022 davon aus, dass auch Kinder weiterhin rekrutiert werden (OHCHR 09.09.2022) wobei nach dem Taliban-Layeha (Verhaltenskodex) „Jugendliche (deren Bärte aufgrund ihres Alters nicht sichtbar sind) nicht von Mudschahedin in Wohn- oder Militärzentren gehalten werden“ dürfen (EUAA 8.2022b; vergleiche AAN 04.07.2011). Am 27.03.2022 erließ der Oberste Führer der Taliban Berichten zufolge einen Erlass, der Taliban-Militärs anweist, keine Minderjährigen zu rekrutieren (Bakhtar 27.03.2022). [...]
13 Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2023-09-19
Die Verfassung der afghanischen Republik von 2004 ist zwar formell nicht aufgehoben worden, besteht jedoch nur noch auf dem Papier. Im September 2022 betonte der Taliban-Justizminister, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht. Nach wie vor ist unklar, ob die von Taliban-Außenminister Amir Khan Mottaqi im Februar 2022 angekündigte Reformkommission etabliert wurde. Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.06.2023).
Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 09.08.2022; vergleiche AA 26.06.2023).
Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.06.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 12.01.2023; vergleiche AA 26.06.2023, USDOS 20.03.2023), darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.06.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 12.01.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vergleiche FIDH 12.08.2022, AA 26.06.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 12.01.2023; vergleiche AA 26.06.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 12.01.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.06.2023).
Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 12.10.2022, GD 02.10.2022), und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.02.2022a, AI 15.08.2022). [...]
14 Meinungs- und Pressefreiheit
Letzte Änderung 2023-09-21
Die Taliban haben zwar wiederholt Presse- und Meinungsfreiheit in allgemeiner Form zugesichert (AA 20.07.2022), jedoch hat sich die Situation der Medienlandschaft seit dem 15.08.2021 drastisch verschlechtert (AA 20.07.2022; vergleiche RSF 02.12.2022). Berichten zufolge hatten bis Dezember 2021 insgesamt 43% der afghanischen Medienunternehmen ihren Betrieb eingestellt (AA 20.07.2022; vergleiche ANI 01.05.2022), auch aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. 6.400 Medienschaffende hatten ihre Anstellung verloren (AA 20.07.2022; vergleiche RSF 02.12.2022), was vor allem Frauen betraf (ca. 80% aller Journalistinnen) (AA 20.07.2022; vergleiche HRW 12.01.2023, RSF 02.12.2022). Etablierte Journalisten sind zu einem großen Teil ins Ausland gegangen (RSF 02.12.2022; vergleiche AA 20.07.2022) oder halten sich versteckt (AA 20.07.2022). Ankündigungen der Taliban-Regierung, das bisherige Mediengesetz umzusetzen und eine Beschwerdekommission einzurichten, ist das Informations- und Kulturministerium nicht nachgekommen. Fernsehsender wurden nach eigenen Angaben wiederholt durch den Taliban-Geheimdienst unter Druck gesetzt, Unterhaltungsprogramme den moralisch-religiösen Vorgaben der Taliban anzupassen (AA 20.07.2022).
Die Taliban haben verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Medien in Afghanistan zu kontrollieren, angefangen von der Aufstellung restriktiver Richtlinien bis hin zur Entsendung von Geheimdienstmitarbeitern, die sich mit Medienmitarbeitern treffen und Medienschaffende zwingen, Straftaten zu gestehen. So kommt es zu umfassender Zensur der afghanischen Medien in ganz Afghanistan (HRW 12.01.2023), und der Zugang zu Informationen ist sehr eingeschränkt (AA 20.07.2022). In vielen Provinzen haben die Taliban Journalisten angewiesen, nicht über bestimmte Themen zu berichten (RSF 02.12.2022; vergleiche HRW 12.01.2023). Die Taliban gehen mit Drohungen, Einschüchterungen und Gewalt gegen Medienvertreter vor (RSF 02.12.2022; vergleiche HRW 12.01.2023), es kam zu Verhaftungen von Medienwirkenden (BBC 22.12.2022; TN 10.03.2022b, RSF 02.12.2022, AIJA 11.10.2022), und der Geheimdienst der Taliban war Berichten zufolge für gezielte Tötungen von Journalisten verantwortlich. Die Behörden untersagten den Sendern in Afghanistan auch die Ausstrahlung internationaler Nachrichtensendungen. Journalisten, die unter anderem über willkürliche Verhaftungen, steigende Lebensmittelpreise und Proteste für die Rechte der Frauen oder gegen die Taliban berichteten, wurden misshandelt. Die Taliban schalteten auch die Websites von zwei Medienunternehmen ab (HRW 12.01.2023). Die Taliban haben auch wiederholt Personen verhaftet, die sie öffentlich kritisiert haben. Beispielsweise wurde ein Kabuler Universitätsprofessor nach kritischen Aussagen in einer politischen Talkshow am 08.02.2022 verhaftet und erst nach internationalem Protest am 11.02.2022 wieder freigelassen (AA 20.07.2022). [...]
Elf am 19.09.2021 vorgestellte Handlungsempfehlungen der Taliban-Regierung für Printmedien, TV und Radio fordern u. a. dazu auf, keine Inhalte zu veröffentlichen, die der Scharia widersprechen. Diese Empfehlungen werden landesweit unterschiedlich umgesetzt. Menschenrechtsorganisationen beobachten insbesondere in den Provinzen eine deutlich stärkere Einschränkung der Pressefreiheit. Medienschaffende berichten über ein aktives Monitoring und werden aufgfordert, ihre Arbeit vorab mit den lokal zuständigen Behörden zu teilen. Mancherorts müssen Medienschaffende vor Beginn ihrer Recherchen eine Erlaubnis bei den lokalen Behörden einholen. In mindestens 14 von 34 Provinzen gibt es keine weiblichen Medienschaffenden mehr, in einigen Provinzen wurde es Journalistinnen verboten, bei ihrer Arbeit in Erscheinung zu treten (AA 20.07.2022).
Internet und Mobiltelefonie
Die Zahl der Internetnutzer in Afghanistan ist in den letzten Jahren zusammen mit der jugendlichen Bevölkerung rapide angestiegen und liegt mit April 2022 bei etwa neun Millionen Nutzern (BBC 22.04.2022b). Im Jahre 2021 wurde die Anzahl der Mobiltelefonnutzer auf ca. 23 Millionen geschätzt (GBL 26.11.2021).
Derzeit bieten mehrere Kommunikations- und Internetunternehmen in Afghanistan Dienstleistungen im ganzen Land an, darunter Afghan Telecom, Afghan Wireless, Etisalat, MTN Group, Roshan, Salaam Network, Wasel Telecom, Fiber Noori und andere (IOM 12.01.2023). Beispielsweise nach Angaben der Afghan Wireless Comunication Company (AWCC) bietet das Unternehmen Kommunikations- und Internetdienste mit August 2022 in mehr als 280 Distrikten an, mit dem Ziel, ihre Dienste auch in den ländlichen Gebieten des Landes auszuweiten (TN 05.08.2022). Seit der Machtübernahme durch die Taliban gab es keine Berichte über größere Einschränkungen beim Zugang zu Telekommunikationsdiensten. In den Provinzen, die Widerstand gegen das Taliban-Regime leisteten (z. B.: Provinz Panjsher), kam es jedoch in der Vergangenheit zu Abschaltungen von Telekommunikations- und Internetdiensten (IOM 12.01.2023). Auch in der afghanischen Hauptstadt Kabul kam es im Sommer 2022 zu Unterbrechungen der Telekommunikationsdienste in einigen Gebieten der Stadt (KP 08.08.2022).
Im April 2022 haben die Taliban ein Verbot der Video-Sharing-App TikTok und des Online-Multi- player-Spiels PUBG verhängt, da sie die afghanische Jugend „in die Irre“ führen würden (BBC 22.04.2022b). [...]
15 Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit
Letzte Änderung 2023-03-21
Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurde seit der Machtübernahme der Taliban entgegen allgemeinen Zusicherungen deutlich eingeschränkt (AA 20.07.2022 vergleiche USDOS 12.04.2022a, FH 24.02.2022a). Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition und Wasserwerfern (AA 20.07.2022; vergleiche HRW 12.10.2022, GD 02.10.2022), und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (AA 20.07.2022; vergleiche FH 24.02.2022a, AI 15.08.2022). Ab Mitte Jänner 2022 wurden sukzessive Vertreterinnen der vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen, und es gibt Berichte zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 20.07.2022). Diese gewalttätigen Zwischenfälle und die Androhung von Verhaftungen (und das Verschwinden in einem undurchsichtigen Gefängnissystem ohne ordnungsgemäße Verfahren) haben zunächst dazu geführt, dass die großen Anti-Taliban-Proteste eingedämmt wurden, obwohl es weiterhin kleinere Versammlungen gab (AI 15.08.2022). Gegen Ende des Jahres 2022 kam es wieder vermehrt zu Protesten, nachdem die Taliban Frauen vom Universitätsbesuch ausgeschlossen hatten (RFE/RL 29.12.2022; vergleiche BBC 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022) und NGO-Mitarbeiterinnen verboten, ihrer Arbeit nachzugehen (FR24 02.01.2023). Den Protesten schlossen sich auch Hunderte männliche Professoren, Studierende und Väter an (RFE/RL 29.12.2022; vergleiche ABC 30.12.2022).
Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivisten und Journalisten setzten sich über das Jahr 2022 hindurch fort (AI 16.11.2022; vergleiche HRW 20.10.2022, Rukhshana 04.08.2022, VOA 21.01.2022). So wurden beispielsweise allein im Mai zwölf Journalisten verhaftet (RSF 10.06.2022) oder Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an den Protesten gegen das Universitätsverbot für Frauen verhaftet (BBC 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022). [...]
16 Haftbedingungen
Letzte Änderung 2023-03-21
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Gefängnisse, Jugendrehabilitationszentren und andere Haftanstalten von unterschiedlichen Organisationen verwaltet: Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (Mol), war verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das Mol und das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) waren verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren und Zivilhaftanstalten. Das National Directorate of Security (NDS) war verantwortlich für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Distriktebene, die in der Regel mit den jeweiligen Hauptquartieren zusammenarbeiten. Das Verteidigungsministerium betrieb die Nationalen Haftanstalten Afghanistans in Parwan (USDOS 12.04.2022a). Die Überbelegung der Gefängnisse war auch unter der ehemaligen Regierung ein ernstes und weitverbreitetes Problem. Nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban haben sich viele Gefängnisse geleert, da fast alle Gefangenen entkamen oder freigelassen wurden (USDOS 12.04.2022a; vergleiche UNHRC 08.03.2022).
Seit August 2021 hat der allgemeine Geldmangel die Haftbedingungen jedoch weiter verschlechtert, was zu einer weiteren Verknappung von Lebensmitteln, medizinischer Versorgung, Kleidung und Heizmaterial führte. Das eingeschränkte Funktionieren des Justizsystems, insbesondere in den ersten Monaten nach der Machtübernahme im August, führte zu einer verlängerten Untersuchungshaft. Im Januar 2022 erließen die Taliban-Behörden einen Leitfaden, der vorschreibt, dass die Inhaftierten nach islamischem Recht behandelt werden müssen (UNHRC 08.03.2022). Am 04.01.2022 setzte das Taliban-Kabinett eine hochrangige Kommission unter der Leitung des Obersten Gerichtshofs ein, um „die Gefängnisse und Haftanstalten zu inspizieren und eine dringende Entscheidung über die Freilassung unschuldiger Gefangener zu treffen“ (UNHRC 08.03.2022; vergleiche ATN 04.01.2022). Seitdem wurde eine Reihe von Gefangenen an verschiedenen Orten in Afghanistan freigelassen, einige offenbar auf Empfehlung dieser Kommission, andere auf Beschluss der örtlichen Behörden. Es gibt Berichte über Verhaftung, Isolationshaft und angebliche Folter und Misshandlung von Personen, die verdächtigt werden, mit der früheren Regierung, den ANSDF oder dem Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) in Verbindung zu stehen (UNHRC 08.03.2022).
Nach Angaben einer anonymen internationalen Quelle, die von Landinfo befragt wurde, gab es kein Geld für die Verpflegung der Gefangenen, sodass die meisten schnell entlassen wurden. Auch die Familie des Gefangenen konnte aufgefordert werden, für Essen zu sorgen, aber wenn sie nicht über die Mittel verfügte (z. B. aufgrund von Armut), wurde der Gefangene freigelassen. Der Quelle lagen außerdem Berichte über Opfer vor, die aufgefordert wurden, den Täter mit Lebensmitteln zu versorgen, damit er verhaftet werden konnte. Verdächtige ISKP-Mitglieder wurden der Quelle zufolge nicht freigelassen (Landinfo 09.03.2022; vergleiche EUAA 8.2022b).
Im Februar 2022 berichtete Sky News über die Lebensbedingungen im Hauptgefängnis in Herat City. Das Gefängnis wurde als „vollgestopft“ beschrieben, mit etwa 40 Männern in jeder Zelle, und viele von ihnen waren noch nicht von einem Taliban-Gericht verurteilt worden. Ein Häftling behauptete, dass viele Insaßen ehemalige Regierungsmitarbeiter seien, die ohne Gerichtsverfahren und ohne Beweise inhaftiert wurden. Dem Bericht zufolge wurden auch Kinder ab zwölf Jahren inhaftiert (Sky News 07.02.2022).
Der „Verhaltenskodex der Taliban zur Reform des Systems in Bezug auf Gefangene“ verbietet Berichten zufolge die Anwendung von Folter „zu jedem Zeitpunkt der Verhaftung, Überstellung oder Inhaftierung“ und sieht Strafen für diejenigen vor, die auf Folter zurückgreifen (EUAA 8.2022b; vergleiche UNAMA 7.2022). Dennoch gibt es Berichte über Folter an Gefangenen (UNAMA 7.2022), beispielsweise am Bruder eines ehemaligen Polizeikommandanten (TN 21.02.2022b) oder an einer Familie in der Provinz Kabul (TN 14.03.2022). UNAMA verzeichnete verschiedene Formen der Folter und Misshandlung von Gefangenen durch die Taliban, wobei zu den häufigsten Methoden „Tritte, Schläge und Ohrfeigen, Schläge mit Kabeln und Rohren sowie der Einsatz mobiler Elektroschockgeräte“ gehörten (UNAMA 30.09.2022).
Seit der Machtübernahme haben Taliban-Kämpfer in ganz Afghanistan Drogenabhängige zusammengetrieben und sie zur Behandlung in Kliniken oder Gefängnisse gebracht. Sie setzten Gewalt ein, manchmal mit Peitschen und Gewehrläufen, und bei der anschließenden Behandlung fehlte es an Methadon und oft auch an Beratung (RFE/RL 10.04.2022). [...]
17 Todesstrafe
Letzte Änderung 2023-03-10
Die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban im August 2021 sehen die Verhängung der Todesstrafe in bestimmten Fällen vor. Diese wurden in den vergangenen Jahren jedoch nicht umgesetzt (AA 20.07.2022).
Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen. Die sowohl während des ersten Taliban-Regimes, als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis auf Grundlage ihrer Auslegung der Scharia sieht die Todesstrafe vor (AA 20.07.2022). Ende November 2022 ordnete der oberste Führer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, allerdings Richtern an, Strafen zu verhängen, die öffentliche Hinrichtungen, öffentliche Amputationen und Steinigungen umfassen können (BBC 14.11.2022; vergleiche GD 14.11.2022).
Am 07.12.2022 fand die erste öffentliche Hinrichtung der Taliban in Afghanistan seit der Machtübernahme im August 2021 statt. Der Hingerichtete soll gestanden haben, vor fünf Jahren bei einem Raubüberfall einen Mann mit einem Messer getötet und dessen Motorrad und Telefon gestohlen zu haben (RFE/RL 07.12.2022; vergleiche BBC 07.12.2022, REU 07.12.2022). [...]
19 Ethnische Gruppen
Letzte Änderung 2023-03-21
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.03.2022; vergleiche CIA 29.12.2022). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vergleiche CIA 29.12.2022), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamt¬bevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 05.01.2022).
Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42%), Tadschiken (ca. 27%), Hazara (ca. 9-20%) und Usbeken (ca. 9%), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2%) (AA 20.07.2022).
Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 12.04.2022a).
Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 20.07.2022).
Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind (AA 20.07.2022). So waren zum Beispiel am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure überwiegend Paschtunen, während andere ethnische Gruppen kaum vertreten waren (UNGA 28.01.2022). Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 20.07.2022). [...]
19.4 Usbeken
Letzte Änderung 2023-03-09
Die usbekische Minderheit ist die viertgrößte Minderheit Afghanistans und umfasst etwa 9% der Gesamtbevölkerung (MRG 05.02.2021c; vergleiche AA 20.07.2022). Usbeken sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes, wo sie gemeinsam mit den Turkmenen den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens kontrollieren (MRG 05.02.2021c). Sie siedeln sowohl im ländlichen Raum, wie auch in urbanen Zentren (Mazar-e Sharif, Kabul, Kandahar, Lashkargah u. a.), wo ihre Wirtschafts- und Lebensformen kaum Unterschiede zu Dari-sprachigen Gruppen aufweisen. In den Städten und in vielen ländlichen Gegenden beherrschen Usbeken neben dem Usbekischen in der Regel auch Dari auf nahezu muttersprachlichem Niveau. Heiratsbeziehungen zwischen Usbeken und Tadschiken sind keine Seltenheit (STDOK 7.2016).
Die Usbeken haben Stammesidentitäten, die immer noch weitgehend die Strukturen innerhalb ihrer jeweiligen Gesellschaft bestimmen, was sich sowohl in ihrem sozialen als auch in ihrem politischen Leben widerspiegelt (MRG 05.02.2021c). [...]
20.1 Frauen
Letzte Änderung 2023-09-28
Bereits vor Machtübernahme der Taliban war die afghanische Regierung nicht willens oder in der Lage, die Frauenrechte in Afghanistan vollumfänglich umzusetzen, allerdings konnten Mädchen grundsätzlich Bildungseinrichtungen besuchen, Frauen studieren und weitgehend am Berufsleben teilnehmen, wenn auch nicht in allen Landesteilen gleichermaßen (AA 26.06.2023). Es gab eine Reihe von Gesetzen, Institutionen und Systemen, die sich mit den Rechten von Frauen und Mädchen in Afghanistan befassten. So hatte beispielsweise das Ministerium für Frauenangelegenheiten mit seinen Büros in der Hauptstadt und in jeder der 34 Provinzen des Landes die Aufgabe, „die gesetzlichen Rechte der Frauen zu sichern und zu erweitern und die Rechtsstaatlichkeit in ihrem Leben zu gewährleisten“ (AI 7.2022).
In den letzten zwei Jahren haben die Taliban Beschränkungen für Frauen eingeführt, die sie an der aktiven Teilnahme an der Gesellschaft hindern (HRW 26.07.2023; vergleiche UN Women 15.08.2022, ACLED 11.08.2023). Rechte von Frauen und Mädchen auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit wurden eingeschränkt (HRW 26.07.2023; vergleiche ACLED 11.08.2023, UN Women 15.08.2023) sowie das System zum Schutz und zur Unterstützung von Frauen und Mädchen, die vor häuslicher Gewalt fliehen, zerstört (HRW 26.07.2023). In den 15 Monaten seit ihrer Machtübernahme haben die Taliban auch eine Vielzahl an Dekreten und Anordnungen zur Kontrolle des Verhaltens und der Bewegungsfreiheit von Frauen erlassen (HRW 12.01.2023; vergleiche AA 26.06.2023, UN Women 15.08.2023). Die verschiedenen Anordnungen und Dekrete der Taliban werden willkürlich umgesetzt, einige wurden verschriftlicht, andere mündlich weitergegeben, und alle werden interpretiert, je nachdem wer das Sagen hat (Rukhshana 28.11.2022). Menschenrechtsorganisationen beschuldigen die Taliban, sie würden versuchen, Frauen aus dem öffentlichen Leben und in den häuslichen Bereich zu drängen (RFE/RL 03.01.2023; vergleiche UN Women 15.08.2023).
Darüber hinaus haben die Taliban Mechanismen zur Überwachung der Menschenrechte, wie die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission, aufgelöst (AIHRC 26.05.2022; vergleiche OHCHR 10.10.2022) und spezialisierte Gerichte für geschlechtsspezifische Gewalt und Unterstützungsdienste für die Opfer abgeschafft (OHCHR 10.10.2022).
Ab Mitte Jänner 2022 werden sukzessive Vertreterinnen der seit August 2021 vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 12.01.2023), und es gibt Berichte über Haftbedingungen, u. a. zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 26.06.2023). Kabul gilt als wichtiger Ort des zivilen Widerstands gegen die Taliban. Seit der Machtübernahme durch die Taliban verzeichnet ACLED in Kabul mehr Demonstrationen mit Beteiligung von Frauen als irgendwo sonst im Land (ACLED 11.08.2023). Die Taliban-Behörden reagierten auch vermehrt mit Gewalt auf Demonstranten und setzten scharfe Munition ein, um diese aufzulösen (HRW 12.10.2022; vergleiche GD 02.10.2022, ACLED 11.08.2023). Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen setzten sich über das Jahr 2022 hindurch fort (AI 16.11.2022; vergleiche HRW 20.10.2022, Rukhshana 04.08.2022). So wurden beispielsweise Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an Protesten gegen das Universitätsverbot verhaftet (BBC 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022) und Proteste gegen die Schließung von Schönheitssalons im Juli 2023 gewaltsam aufgelöst (RFE/RL 19.07.2023).
Im Mai 2022 erließen die Taliban beispielsweise einen neuen Erlass, der eine strenge Kleiderordnung für Frauen festschreibt. Sie dürfen das Haus nicht „ohne Not“ verlassen und müssen, wenn sie es dennoch tun, den sogenannten „Scharia-Hijab“ tragen, bei dem das Gesicht ganz oder bis auf die Augen bedeckt ist. Die Anordnung macht den Mahram (den „Vormund“) einer Frau - ihren Vater, Ehemann oder Bruder - rechtlich verantwortlich für die Überwachung ihrer Kleidung, mit der Androhung, ihn zu bestrafen, wenn sie ohne Gesichtsverschleierung aus dem Haus geht (AAN 15.06.2022; vergleiche USIP 23.12.2022, HRW 12.01.2023).
Die Taliban schränkten in weiterer Folge auch die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen zunehmend repressiv ein. Zunächst ordneten sie an, dass Frauen und Mädchen auf Langstreckenreisen von einem Mahram begleitet werden müssen (Rukhshana 28.11.2022; vergleiche AA 26.06.2023, HRW 12.01.2023). Während des Jahres 2022 untersagten die Taliban Frauen auch den Zutritt zu Turnhallen, öffentlichen Bädern und Parks (RFE/RL 16.12.2022). Frauen und Mädchen erklärten gegenüber Amnesty International, dass angesichts der zahlreichen und sich ständig weiterentwickelnden Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit jedes Auftreten in der Öffentlichkeit ohne einen Mahram ein ernsthaftes Risiko darstelle. Sie sagten auch, dass die Mahram-Anforderungen ihr tägliches Leben fast unmöglich machten (AI 7.2022; vergleiche Rukhshana 28.11.2022). Die zunehmende Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen hat ihre Möglichkeiten, Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung zu erhalten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, Schutz zu suchen und Gewaltsituationen zu entkommen, erheblich beeinträchtigt (OHCHR 10.10.2022; vergleiche DROPS/WPS 30.09.2022).
Die Taliban gehen auch 2023 immer härter gegen die Rechte von Frauen und Mädchen vor, wie jüngste Anordnungen zeigen, darunter die Entlassung von Frauen aus Kindergärten und die Schließung aller Schönheitssalons, die eine wichtige Quelle für die verbleibende Beschäftigung von Frauen und ein seltener Ort waren, an dem Frauen und Mädchen Gemeinschaft und Unterstützung außerhalb ihrer Häuser finden konnten (HRW 26.07.2023).
Anmerkung: Mahram kommt von dem Wort „Haram“ und bedeutet „etwas, das heilig oder verboten ist“. Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vergleiche GIWPS 8.2022). [...]
20.1.1 Politische Partizipation und Berufstätigkeit von Frauen
Letzte Änderung 2023-09-28
Nach der Machtübernahme der Taliban äußerten viele Experten ihre besondere Besorgnis über Menschenrechtsverteidigerinnen, Aktivistinnen und führende Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Richterinnen und Staatsanwältinnen, Frauen in den Sicherheitskräften, ehemalige Regierungsangestellte und Journalistinnen, die alle in erheblichem Maße Schikanen, Gewaltandrohungen und manchmal auch Gewalt ausgesetzt waren und für die der zivile Raum stark eingeschränkt wurde. Viele waren deshalb gezwungen, das Land zu verlassen (UNOCHA 17.01.2022; vergleiche HRW 24.01.2022). Frauen wurde jeder Posten im Kabinett der Taliban verweigert, das Ministerium für Frauenangelegenheiten ist nicht mehr tätig, und der frühere Sitz des Ministeriums in Kabul wurde in das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters umgewandelt, das in den 1990er-Jahren als „Sittenpolizei“ berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.08.2022) und für seine diskriminierende Behandlung von Frauen und Mädchen berüchtigt ist (AI 7.2022).
Die Beschäftigung von Frauen ist seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 stark zurückgegangen (ILO 07.03.2023; vergleiche FH 1.2023). Die International Labour Organization (ILO) schätzte, dass im vierten Quartal 2022 25% weniger Frauen einer Beschäftigung nachgingen als im zweiten Quartal 2021 (ILO 07.03.2023). Die Taliban erließen Dekrete, die es afghanischen Frauen untersagten, für NGOs (OHCHR 27.12.2022; vergleiche HRW 26.07.2023) und die Vereinten Nationen (NH 08.06.2023; vergleiche HRW 26.07.2023) zu arbeiten. Infolgedessen stellten fünf führende NGOs ihre Arbeit in Afghanistan ein. Care International, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) und Save the Children erklärten, sie könnten ihre Arbeit „ohne unsere weiblichen Mitarbeiter“ nicht fortsetzen. Auch das International Rescue Committee stellte seine Dienste ein, während Islamic Relief erklärte, es stelle den Großteil seiner Arbeit ein (BBC 26.12.2022; vergleiche GD 26.12.2022). Zwar konnten einige NGOs Ausnahmeregelungen für ihre weiblichen Mitarbeiter erwirken, und weibliche Beschäftigte des Gesundheits-, Bildungs- und Innenministeriums durften bisher weiterarbeiten, doch die Beschäftigungsaussichten von Frauen wurden stark eingeschränkt (NH 08.06.2023).
Viele der Frauen, die weiterhin arbeiten, empfinden dies aufgrund der von den Taliban vorgeschriebenen Einschränkungen in Bezug auf ihre Kleidung und ihr Verhalten als schwierig und belastend (AI 7.2022). So müssen seit Mai 2022 Nachrichtensprecherinnen vor der Kamera ihr Gesicht verhüllen, sodass nur noch ihre Augen zu sehen sind (AI 7.2022; vergleiche GD 19.05.2022). Mehrere Frauen, die im öffentlichen und privaten Sektor arbeiten, gaben an, dass sie stichprobenartig von Mitgliedern der Taliban in Hinblick auf ihre Kleidung und ihr Verhalten kontrolliert wurden (AI 7.2022). Auch die Vorgabe der Taliban, nach welcher sich Frauen in der Öffentlichkeit nur in Begleitung eines Mahram bewegen dürfen, hat Auswirkungen auf ihr Berufsleben (FH 1.2023; vergleiche WPS 26.09.2022).
Die von den Taliban verhängten Arbeitsbeschränkungen haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, welche die einzigen Lohnempfängerinnen ihrer Familien waren, was durch die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan noch verschärft wird (AI 7.2022).
Experten erwarten, dass die strengen Beschränkungen der Taliban für Frauen, die außerhalb ihres Hauses arbeiten, auch die verheerende wirtschaftliche und humanitäre Krise in Afghanistan verschärfen wird (RFE/RL 03.01.2023). So schätzt das United Nations Development Programme (UNDP), dass die Einschränkungen der Erwerbstätigkeit von Frauen zu wirtschaftlichen Verlusten von einer Milliarde USD führen werden, das entspricht rund 5% des afghanischen BIP (AA 26.06.2023; vergleiche UNDP 01.12.2021).
Viele Frauen arbeiten in der Heimarbeit, was einen weiteren Rückgang der Beschäftigung von Frauen verhindert hat (ILO 07.03.2023). Frauen, die von zu Hause aus arbeiten, z. B. in handwerklichen Berufen, werden von den Taliban oder anderen traditionellen religiösen und lokalen Führern in Afghanistan nicht eingeschränkt (NH 08.06.2023). [...]
20.1.2 Bildung für Frauen und Mädchen
Letzte Änderung 2023-09-28
Nachdem die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan übernommen hatten, verhängten sie ein Verbot der Sekundarschulbildung für Mädchen (USIP 13.04.2023; vergleiche AI 07.08.2023, AA 26.06.2023. Am 23.03.2022, als die Schülerinnen der weiterführenden Schulen zum ersten Mal nach sieben Monaten wieder in die Klassenzimmer zurückkehrten, gab die Taliban-Führung bekannt, dass die Mädchenschulen geschlossen bleiben würden (HRW 12.01.2023; vergleiche BBC 21.12.2022, HRW 20.12.2022). Aktuell sind weiterführende Schulen für Mädchen in sechs von 34 Provinzen teilweise geöffnet, die Mehrheit der Mädchen ist damit vom Zugang zu weiterführenden Schulen ausgeschlossen (AA 26.06.2023). In der Provinz Balkh blieben die weiterführenden Schulen für Mädchen jedoch geöffnet, allerdings wurde offenen Schulen in Balkh und anderswo mit der Schließung gedroht, wenn sie sich weigerten, die immer strengeren Kleidervorschriften einzuhalten (HRW 27.04.2022). Neben der Provinz Balkh blieben Mädchenschulen auch in den Provinzen Kunduz, Jawzjan, Sar-e-pul, Faryab und Daikundi geöffnet (AMU 01.01.2023).
Ende Dezember 2022 verkündeten die Taliban schließlich ein Verbot für Frauen, Universitäten zu besuchen (HRW 20.12.2022; vergleiche USIP 13.04.2023, FH 1.2023). Der Bildungsminister der Taliban verteidigte die Entscheidung und gab an, dass das Verbot notwendig sei, um eine Vermischung der Geschlechter an den Universitäten zu verhindern, und weil er glaube, dass einige der unterrichteten Fächer gegen die Grundsätze des Islam verstießen. Auch sagte er, dass die Studentinnen die islamischen Vorschriften ignoriert hätten, u. a. über die vorgeschriebene Kleidung, und auf Reisen nicht von einem männlichen Verwandten begleitet worden seien (RFE/RL 22.12.2022: vergleiche FR24 22.12.2022). Proteste gegen die Entscheidung der Taliban, den Frauen den Zugang zu Universitäten zu verwehren, wurden mit Gewalt beendet und mehrere Personen wurden festgenommen (RFE/RL 22.12.2022; vergleiche RFE/RL 24.12.2022, BBC 22.12.2022).
Im August 2023 hielten die Taliban afghanische Studentinnen davon ab, das Land zu verlassen, um in Dubai zu studieren. Die Taliban begründeten dies damit, dass die Studentinnen keinen Mahram dabei hatten (BBC 28.08.2023; vergleiche VOA 23.08.2023), wobei berichtet wurde, dass auch jene Studentinnen, die einen Mahram dabei hatten, nicht fliegen durften (VOA 23.08.2023). [Anmerkung: s. Überkapitel für eine Begriffserklärung von „Mahram“].
Damit kann ein afghanisches Mädchen höchstens die 6. Klasse, das letzte Jahr der Grundschule, absolvieren (NPR 22.12.2022, vergleiche UN Women 15.08.2023), abgesehen von den oben genannten Ausnahmen (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 27.04.2022). Bedenken wachsen, dass die Taliban die Bildung von Mädchen komplett verbieten könnten, da folgend auf das Verbot für Frauen, Universitäten zu besuchen, nun auch über Entlassungen von Lehrerinnen berichtet wird, die Mädchen in den ersten sechs Schuljahren unterrichten (NPR 22.12.2022). Die Taliban teilten in einem Brief des Taliban-Bildungsministers am 08.01.2023 jedoch mit, dass staatliche Mädchenschulen bis einschließlich der 6. Klasse und private Lernzentren für denselben Altersbereich weiterarbeiten sollen, ebenso alle Koranschulen (Madrassas) für Mädchen ohne Altersbeschränkung. Auch wies der Minister die Behörden in Provinzen an, wo solche Einrichtungen geschlossen wurden, diese wieder zu öffnen. Es wird jedoch auch darauf verwiesen, dass Mädchenschulen ab der 6. Klasse „bis auf weiteres“ nicht zugelassen sind (Ruttig T. 11.01.2023).
Anders als während der ersten Taliban-Herrschaft gibt es nicht mehr sehr viele geheime Mädchenschulen, da die Angst, entdeckt zu werden, zu groß ist. Manche Schulmädchen versuchten, mithilfe von Radio Azadi, dem afghanischen Ableger des US-Senders Radio Liberty, weiter zu lernen. Zu festen Uhrzeiten gebe es dort zum Beispiel Chemie- und Mathe-Unterricht, nach Klassenstufen unterteilt. Dies ist nach Meinung einer afghanischen Menschenrechtsaktivistin zwar eine Hilfe, jedoch keine Lösung (AI 07.08.2023). [...]
20.1.3 Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, Zwangsehe
Letzte Änderung 2023-09-28
Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein allgegenwärtiges Problem in Afghanistan. Sie ist das Ergebnis komplexer Ungleichheiten und kultureller Praktiken, die in Verbindung mit Armut und mangelndem Bewusstsein dazu führen, dass Frauen den Männern untergeordnet werden und keine Unterstützung erhalten oder selbst aktiv werden können (UNPF 27.12.2021). Seit dem Sommer 2021 werden in Afghanistan, einem Land mit einer der höchsten Raten von Gewalt gegen Frauen weltweit, viele der grundlegendsten Rechte von Frauen eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt. Afghanische Frauen haben auch eine deutliche Verschlechterung des Zugangs zu koordinierten, umfassenden und hochwertigen Dienstleistungen für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt zu verzeichnen. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach diesen Diensten höher als je zuvor (AI 7.2022; vergleiche UNAMA 29.12.2022, UNPF 24.10.2022). Zuvor hatten viele Frauen und Mädchen zumindest Zugang zu einem Netz von Unterkünften und Diensten, einschließlich kostenloser Rechtsberatung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung. Das System hatte zwar seine Grenzen, aber es half jedes Jahr Tausenden von Frauen und Mädchen. Diejenigen, die in die Schutzräume kamen, blieben je nach ihren besonderen Bedürfnissen oft monatelang oder jahrelang dort und erhielten eine Ausbildung in beruflichen Fähigkeiten oder andere Möglichkeiten, ein langfristiges Einkommen zu erzielen. In einigen Fällen wurden die Überlebenden auch dabei unterstützt, eine neue Unterkunft zu finden (AI 7.2022).
Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, brach das Netz zur Unterstützung von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt - einschließlich rechtlicher Vertretung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung - zusammen (AI 07.2022). Schutzräume für Frauen wurden geschlossen (AA 26.06.2023; vergleiche FH 1.2023, UNPF 24.10.2022), und viele wurden von Taliban-Mitgliedern geplündert und in Beschlag genommen. In einigen Fällen belästigten oder bedrohten Taliban-Mitglieder Mitarbeiter. Als die Unterkünfte geschlossen wurden, waren die Mitarbeiter gezwungen, viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken. Andere waren gezwungen, bei Mitarbeitern der Unterkünfte, auf der Straße oder in anderen schwierigen Situationen zu leben (AI 07.2022; vergleiche RFE/RL 06.09.2021). Die neue, von den Taliban geführte Regierung Afghanistans hat sich noch nicht zu ihrer Politik in Bezug auf Frauenhäuser geäußert. Da die Taliban die Frauenhäuser jedoch zuvor als „Bordelle“ gebrandmarkt hatten, befürchten Aktivisten, dass die militante islamistische Gruppe sie verbieten wird (RFE/RL 06.09.2021).
Anfang Dezember 2021 verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan (AP 03.12.2021; vergleiche AJ 03.12.2021, AI 07.2022). In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Die Taliban-Führung hat nach eigenen Angaben afghanische Gerichte angewiesen, Frauen gerecht zu behandeln, insbesondere Witwen, die als nächste Angehörige ein Erbe antreten wollen. Die Gruppe sagt auch, sie habe die Minister ihrer Regierung aufgefordert, die Bevölkerung über die Rechte der Frauen aufzuklären (AP 03.12.2021; vergleiche AJ 03.12.2021). Berichten zufolge sind Frauen und Mädchen allerdings einem erhöhten Risiko von Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung ausgesetzt (AA 26.06.2023; vergleiche AI 07.08.2023). NGOs führen dies auf Faktoren zurück, von denen viele direkt auf Einschränkungen durch bzw. das Verhalten der Taliban zurückzuführen sind. Zu den häufigsten Ursachen für Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung seit August 2021 gehören die wirtschaftliche und humanitäre Krise, fehlende Bildungs- und Berufsperspektiven für Frauen (AI 07.2022), das Bedürfnis der Familien, ihre Töchter vor der Heirat mit einem Taliban-Mitglied zu schützen (AI 07.2022; vergleiche RFE/RL 14.12.2022), Familien, die Frauen und Mädchen zwingen, Taliban-Mitglieder zu heiraten und Taliban-Mitglieder, die Frauen und Mädchen zwingen, sie zu heiraten (AI 07.2022). […]
20.2 Kinder
Letzte Änderung 2023-09-28
Ca. 40% (CIA 23.08.2023) bis 43% (UNFPA 2023) der afghanischen Bevölkerung (ca. 15,6 Millionen) ist unter 14 Jahren und das Bevölkerungswachstum liegt 2023 bei 2,26% (CIA 23.08.2023). Das Medianalter in Afghanistan liegt zwischen 17 (WoM 2023) und 19,5 Jahren (CIA 23.08.2023), und die Geburtenrate liegt im Jahr 2023 bei ca. 4,5 Kindern pro Frau (CIA 23.08.2023; vergleiche UNFPA 2023).
Weiterhin fortbestehende Probleme sind sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen sowie Kinderarbeit und Prostitution (AA 26.06.2023). Berichten zufolge sind Früh- und Zwangsverheiratungen weiterhin weit verbreitet (USDOS 20.03.2023; vergleiche AA 26.06.2023), obwohl die Taliban Anfang Dezember 2021 ein Verbot der Zwangsverheiratung in Afghanistan verkündeten (AP 03.12.2021; vergleiche AJ 03.12.2021, AI 07.2022). In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war (AP 03.12.2021; vergleiche AJ 03.12.2021). Berichten zufolge sind Mädchen allerdings einem erhöhten Risiko von Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung ausgesetzt (AA 26.06.2023; vergleiche USDOS 20.03.2023, UNDP 18.04.2023). NGOs führen dies auf Faktoren zurück, von denen viele direkt auf Einschränkungen durch und das Verhalten der Taliban zurückzuführen sind. Zu den häufigsten Ursachen für Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung seit August 2021 gehören die wirtschaftliche und humanitäre Krise, fehlende Bildungs- und Berufsperspektiven für Mädchen (AI 07.2022), das Bedürfnis der Familien, ihre Töchter vor der Heirat mit einem Taliban-Mitglied zu schützen (AI 07.2022; vergleiche RFE/RL 14.12.2022), Familien, die Frauen und Mädchen zwingen, Taliban-Mitglieder zu heiraten und Taliban-Mitglieder, die Frauen und Mädchen zwingen, sie zu heiraten (AI 07.2022).
Kinder litten bis zur Machtübernahme der Taliban besonders unter dem bewaffneten Konflikt und wurden Opfer von Zwangsrekrutierung, vor allem vonseiten der Taliban (AA 26.06.2023; vergleiche USDOS 20.03.2023). Die Taliban-Führung hat sich wiederholt gegen die Rekrutierung von Kindern ausgesprochen und nach eigenen Angaben im Rahmen der sog. „Säuberungskommission“ bis Juli 2022 155 Minderjährige aus den Reihen der Kämpfer entlassen (AA 26.06.2023). In den Jahren vor der Machtübernahme der Taliban haben bewaffnete Kräfte und Gruppen in Afghanistan Berichten zufolge Tausende von Kindern sowohl für Kampf- als auch für Unterstützungsaufgaben rekrutiert, darunter auch für sexuelle Zwecke (HRW 07.06.2021). Die Taliban rekrutierten Kindersoldaten aus Madrassas [Anmerkung: religiöse Schulen] in Afghanistan und in Pakistan, welche eine militärische Ausbildung und religiöse Indoktrination bieten, und boten Familien manchmal Geldzahlungen oder Schutz als Gegenleistung dafür, dass sie ihre Kinder in diese Schulen schicken. UNAMA verifizierte die Rekrutierung von 40 Jungen durch die Taliban, die [ehemalige] ANP und regierungsnahe Milizen in der ersten Jahreshälfte 2021 (USDOS 20.03.2023). Unbestätigten Berichten zufolge werden auch weiterhin Minderjährige als Wachpersonal und an Checkpoints eingesetzt (AA 26.06.2023). Berichten zufolge hat die Rekrutierung von Kindersoldaten durch die Taliban im Laufe des Jahres 2022 zugenommen, obwohl sie verboten ist (USDOS 20.03.2023).
Laut einem Bericht von Save the Children aus dem Jahr 2022 sind bis zu einem Fünftel der Familien in Afghanistan dazu gezwungen, ihre Kinder zur Arbeit zu schicken (STC 14.02.2023; vergleiche RFE/RL 17.05.2023), was bedeuten würde, dass, wenn jede dieser betroffenen Familien auch nur ein Kind zur Arbeit schickt, mehr als eine Million Kinder in Land von Kinderarbeit betroffen sind (STC 14.02.2023). Es wird vermutet, dass die Zahl der arbeitenden Kinder mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan noch steigen wird (RFE/RL 17.05.2023).
Im Jahr 2023 werden in Afghanistan schätzungsweise vier Millionen Menschen an akuter Unterernährung leiden, darunter 875.227 Kinder mit schwerer akuter Unterernährung bzw. 2,347.802 Kinder mit mittelschwerer akuter Unterernährung sowie 804.365 schwangere und stillende Frauen mit akuter Unterernährung. Nur 16% der Kinder im Alter von 6-23 Monaten erhalten ein Minimum an akzeptabler Nahrung (IPC 30.01.2023). Die Nachfrage nach Behandlungsmöglichkeiten für Unterernährung ist in den letzten Monaten des Jahres 2022 sprunghaft angestiegen (WB 10.11.2022). Die Zahl der gefährlich unterernährten Kinder, die in die mobilen Kliniken von Save the Children in Afghanistan eingeliefert werden, ist seit Januar 2022 um 47% gestiegen, wobei einige Babys sterben, bevor sie überhaupt behandelt werden können (STC 31.10.2022).
Bacha Bazi
Während das Eingestehen oder Diskutieren von Sex zwischen Männern in der heutigen Zeit ein großes Tabu ist und gleichgeschlechtliche Beziehungen illegal sind, ist Sex zwischen Männern ein offenes Geheimnis in Afghanistan. Die Einstellung zu Homosexualität - ebenso wie die sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen - ist stark von Bacha Bazi („Jungenspiel“) geprägt, einer seit Langem bestehenden Missbrauchspraxis - im Unterschied zu einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Beziehungen - bei der feminisierte, vorpubertäre Jungen von Kriegsherren, Polizeikommandeuren und anderen mächtigen Männern in einer Art sexueller Sklaverei gehalten werden (HRW 1.2022, vergleiche USDOL 28.09.2022).
Die Taliban hatten lange Zeit darauf bestanden, dass Bacha Bazi gegen das islamische Recht verstößt; mehrere Menschenrechtsgruppen berichteten jedoch, dass Bacha Bazi in vielen Teilen des Landes verbreitet ist, auch durch Taliban-Mitglieder. In mindestens vier Fällen im ganzen Land berichteten Jungen im Alter von 14-16 Jahren im Jahr 2022, dass sie von den Taliban missbraucht wurden. Berichten zufolge haben die Vorfälle im Zusammenhang mit Bacha Bazi im Laufe des Jahres 2022 zugenommen, obwohl die Praxis verboten ist (USDOS 20.03.2023).
Außerhalb dieser Praxis werden Jugendliche und vulnerable erwachsene Männer häufig zur Zielscheibe sexueller Gewalt, und die Behörden fügen den Opfern oft noch mehr Schaden zu und unternehmen kaum Anstrengungen, die Täter zu bestrafen. Aktivisten, die solche Gewalt anprangerten, waren manchmal Repressalien ausgesetzt (HRW 1.2022). Da es nicht genügend Heime für Jungen gab, nahmen die Behörden missbrauchte Jungen, darunter viele Opfer von Bacha Bazi, in Rehabilitationszentren für Jugendliche in Gewahrsam, weil ihnen Gewalt drohte, wenn sie zu ihren Familien zurückkehrten, und keine andere Unterkunft zur Verfügung stand (USDOS 20.03.2023). [...]
20.2.1 Schulbildung in Afghanistan
Letzte Änderung 2023-03-10
Hilfsorganisationen warnen davor, dass dem öffentlichen Bildungssektor in Afghanistan aufgrund der Geschlechterpolitik der Taliban und des Mangels an ausländischen Geldern der Zusammenbruch droht. Ausländische Geber lehnen die Bildungspolitik der Taliban, insbesondere den Ausschluss von Mädchen von höheren Schulen, ab. Nach Angaben der Vereinten Nationen hatte der jahrzehntelange Konflikt in Afghanistan verheerende Auswirkungen auf das Schulsystem. Im Jänner und Februar 2022 zahlte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) afghanischen Lehrern ein Unterstützungsgehalt von 100 Dollar pro Person, stellte die Zahlungen jedoch ein, nachdem die Taliban ihre Zusage, im März wieder Sekundarschulen für Mädchen zu eröffnen, nicht eingehalten hatten. Hochrangige Taliban-Vertreter, wie der Minister für höhere Bildung, haben sich öffentlich über moderne Bildung beschwert und eine strenge Islamisierung des afghanischen Bildungssystems versprochen (VOA 16.09.2022). Darüber hinaus wandeln die Taliban öffentliche Schulen zunehmend in religiöse Seminare um (VOA 16.09.2022; vergleiche RFE/RL 25.06.2022) und überarbeiten den Lehrplan (VOA 16.09.2022; vergleiche 8am 17.12.2022, DIP 21.12.2022).
Die Umgestaltung des afghanischen Bildungssystems ist eines der Hauptziele der Taliban, seit sie wieder an der Macht sind. Sie haben Mädchen den Besuch von höheren Schulen untersagt, die Geschlechtertrennung und eine neue Kleiderordnung an öffentlichen Universitäten durchgesetzt und versprochen, den nationalen Lehrplan zu überarbeiten (RFE/RL 25.06.2022). Später wurde Frauen der Besuch von Universitäten komplett verboten (HRW 20.12.2022; vergleiche RFE/RL 22.12.2022). Die Taliban haben außerdem Pläne für den Aufbau eines ausgedehnten Netzes von Madrassas in den 34 Provinzen des Landes bekannt gegeben. Kritiker sagen, das Ziel der Taliban sei es, alle Formen der modernen säkularen Bildung zu verbieten, die in Afghanistan nach dem Sturz des ersten Taliban-Regimes durch die US-geführte Invasion im Jahr 2001 aufgebaut wurden. Bereits während der ersten Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 verbot die Gruppe die säkulare Bildung und ersetzte sie durch eine religiöse Schulbildung. Mädchen durften nicht zur Schule gehen, und Frauen konnten keine Universität besuchen. Die von den Taliban geführten Koranschulen förderten militante Ideologien und lehrten Jungen, den Koran auswendig zu rezitieren. Während ihres fast 20-jährigen Aufstands haben die Taliban ihre Madrassas in den meisten ländlichen Gebieten unter ihrer Kontrolle wieder eingerichtet. Sie bombardierten oder verbrannten auch säkulare Schulen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten (RFE/RL 25.06.2022).
Das afghanische Medium Hasht-e Subh veröffentlichte im Dezember 2022 den endgültigen Plan der Taliban zur Änderung der Lehrpläne. Demzufolge werden nicht nur mehrere Lehrbücher und Fächer aus dem Lehrplan gestrichen, sondern auch zahlreiche Vorschläge unterbreitet, die den Inhalt der Lehrbücher weitgehend verändern und den Lehrplänen der früheren Taliban-Herrschaft in den späten 1990er-Jahren ähneln. In den Lehrbüchern sollen alle Bilder von Lebewesen entfernt werden; besonders bedenklich sind für die Taliban Darstellungen von kleinen Mädchen und Menschen beim Sport sowie Bilder von Anatomie in Biologie-Lehrbüchern. Ebenfalls verboten ist jede positive Erwähnung von Demokratie und Menschenrechten, die Förderung von Frieden, Frauenrechten und Bildung, die Vereinten Nationen (dem Bericht zufolge eine „böse Organisation“), die Erwähnung von Musik, Fernsehen, Partys und Feiern, einschließlich Geburtstagen, nicht-muslimische Persönlichkeiten wie Wissenschaftler oder Erfinder (Thomas Edison wird als Beispiel genannt), die Erwähnung von Minen und deren Gefahren (wegen ihrer Verbindung zu den Taliban), Radio („koloniale Medien“), Bevölkerungsmanagement und die Erwähnung von Wahlen. Selbst historische und literarische Persönlichkeiten Afghanistans, die die Taliban ablehnen, wie berühmte Dichter und schiitische Persönlichkeiten, werden aus dem Lehrplan gestrichen. Alte afghanische Kulturtraditionen, vom Attan-Tanz und Nawruz bis hin zu einheimischen Musikinstrumenten und der farbenfrohen traditionellen Kleidung der Frauen, sollen aus den Lehrbüchern gestrichen werden. Andere Traditionen können zwar erwähnt werden, aber nur, um zu erklären, warum sie schändlich sind; so sollen die Lehrer beispielsweise die „Hässlichkeit“ der riesigen Buddhas von Bamyan hervorheben und die Zerstörung solcher Idole durch die Taliban feiern. „Nicht-islamische Überzeugungen“ wie „Liebe zu allen Menschen“ sollten weggelassen werden. Mitglieder des Taliban-Revisionsausschusses erklären, dass der Zweck des Lehrplans darin besteht, „die ideologischen Interessen der Taliban aufrechtzuerhalten und zu erweitern“, und nach Einschätzung von Hasht-e Suhb „versuchen die Taliban, eine Ideologie zu kultivieren, die in Konflikt mit anderen Religionen und Kulturen steht“. In ihren eigenen Worten empfiehlt das Taliban-Komitee, dass die „Saat des Hasses gegen westliche Länder in die Köpfe der Schüler gepflanzt werden sollte“ (8am 17.12.2022; vergleiche DIP 21.12.2022). [...]
21 Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung 2023-09-21
Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen, „Ausweichmöglichkeiten“ im Land zu unterbinden (AA 26.06.2023).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 20.03.2023). Die Taliban setzen jedoch Kontrollpunkte ein, um den Verkehr innerhalb des Landes zu regeln, und es wird berichtet, dass sie Reisende durchsuchen und nach bekannten oder vermeintlichen Regimegegnern fahnden. Außerdem werden Mobiltelefone und Social-Media-Aktivitäten der Reisenden überprüft (FH 09.03.2023). So wird berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.05.2022; vergleiche NPR 09.06.2022). Seit Dezember 2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einen Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 20.03.2023). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.01.2022; vergleiche DW 26.12.2021). [...]
22 IDPs und Flüchtlinge
Letzte Änderung 2023-03-21
Die Zahl der Binnenvertriebenen stieg im Jahr 2021 aufgrund der Kampfhandlungen zwischen afghanischen Sicherheitskräften Taliban auf insgesamt mehr als 3,5 Millionen Menschen. Nach dem Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen in weiten Teilen des Landes kehrten im September und Oktober 2021 vor allem kürzlich Binnenvertriebene in ihre Heimatprovinzen zurück (AA 20.07.2022). Zwischen 2021 und 2022 sind über 1,2 Millionen Binnenvertriebene an ihre Herkunftsorte zurückgekehrt - über 1 Million Binnenvertriebene im Jahr 2021 und 211.807 im Jahr 2022 (UNHCR 22.12.2022). Binnenvertriebene wie auch Rückkehrende aus dem Ausland befinden sich laut UNHCR in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an (Einsparung von Lebensmitteln, Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit oder -verkauf) (AA 20.07.2022). Mit Stand Juni 2022 gibt es in Afghanistan weiterhin 3,4 Millionen Binnenvertriebe (UNHCR 22.12.2022).
Konflikte waren lange Zeit der Hauptauslöser für Vertreibungen in Afghanistan. Dies änderte sich mit der Machtübernahme der Taliban, da die Konfliktvorfälle und die damit verbundenen Vertreibungen landesweit stark zurückgingen (IDMC 15.08.2022). Unsicherheit ist jedoch nicht der einzige Faktor, der die Menschen zwingt, ihre Häuser zu verlassen (UNHCR 15.10.2021). Die Wirtschafts- und Liquiditätskrise seit der Machtübernahme durch die Taliban, die geringeren landwirtschaftlichen Erträge aufgrund der Dürre, die unzuverlässige Stromversorgung und die sich verschlechternde Infrastruktur sowie die anhaltende COVID-19-Pandemie haben die humanitäre Krise verschärft (USDOS 12.04.2022a). [...]
24 Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung 2023-09-19
Obwohl die letzten 20 Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 einem afghanischen Wirtschaftsexperten zufolge „eine goldene Zeit“ für das Wirtschaftswachstum in Afghanistan waren, konnten die Milliarden an US-Dollar, die Afghanistan aus dem Ausland erhielt, nicht nachhaltig eingesetzt werden. Gründe dafür waren vor allem Unsicherheit, Dürren und die weitverbreitete Korruption, die auch weitere Investitionen in Afghanistan verhinderten (WEA 17.07.2022).
Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv (AA 26.06.2023; vergleiche HRW 12.1.2023, UNDP 18.04.2023), was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt (WEA 17.07.2022; vergleiche UNDP 18.04.2023). Die humanitäre Lage bleibt aufgrund der Wirtschaftskrise, der Folgen der COVID-19-Pandemie und der Dürren der vergangenen Jahre extrem angespannt (AA 26.06.2023; vergleiche WEA 17.07.2022). Die Weltbank rechnete für 2022 mit einem Einbruch des Bruttosozialprodukts um ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Im Zuge der Wirtschaftskrise droht eine Verarmung der urbanen Mittelschicht. Viele Angestellte des öffentlichen Dienstes haben ihre Arbeit verloren. Tätigkeiten, die mit der internationalen Präsenz im Land verbunden waren, sind weggefallen (AA 26.06.2023; vergleiche WEA 17.07.2022). Während die Gesamtinflation von ihrem Höchststand im Juli 2022 bis Februar 2023 gesunken ist, bleibt das Preisniveau weiterhin hoch. Die extremen Winter führen zu einem Rückgang der Landwirtschaft, des Baugewerbes und der damit verbundenen Tätigkeiten. Infolgedessen ist die Beschäftigung von qualifizierten und ungelernten Arbeitskräften im Winter zurückgegangen, was darauf hinweist, dass afghanische Familien angesichts des Verlusts von Arbeitsplätzen und Geschäftsmöglichkeiten weiterhin unter erheblichem Druck stehen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (WB 04.04.2023). Aus einer Studie des United Nations Development Programme (UNDP) geht hervor, dass mehr als drei Viertel der afghanischen Bevölkerung im Jahr 2022 Lebensmittel oder Geld für den Kauf von Lebensmitteln liehen und den Rest, wenn überhaupt, für die grundlegende Gesundheitsversorgung und tertiäre Grundbedürfnisse ausgaben. Während im Jahr 2020 41% der Haushalte keine Bewältigungsmechanismen anwenden mussten, um die sozioökonomischen Härten zu bewältigen, benötigten im Jahr 2022 nur 8% der afghanischen Haushalte keine Bewältigungsstrategien. Da nur begrenzte Bewältigungsmechanismen zur Verfügung stehen, sehen sich viele Afghanen gezwungen, ihren Konsum (einschließlich der Nahrungsmittel) einzuschränken, hohe Kredite aufzunehmen, zu betteln oder extreme Maßnahmen ergreifen, um zu überleben. Während einige ihre Häuser, ihr Land oder Vermögenswerte verkaufen, sehen sich andere gezwungen, ihre Kinder arbeiten zu schicken oder junge Töchter zu verheiraten (UNDP 18.04.2023). Laut einem Bericht von Save the Children aus dem Jahr 2022 sind bis zu einem Fünftel der Familien in Afghanistan dazu gezwungen, ihre Kinder zur Arbeit zu schicken (STC 14.02.2023; vergleiche RFE/RL 17.05.2023), was bedeuten würde, dass, wenn jede dieser betroffenen Familien auch nur ein Kind zur Arbeit schickt, mehr als eine Million Kinder im Land von Kinderarbeit betroffen wären (STC 14.02.2023). Es wird vermutet, dass die Zahl der Kinderarbeiter mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan noch steigen wird (RFE/RL 17.05.2023).
Auch im Jahr 2022 hielten die meisten Geberländer die Kürzungen der Einkommenshilfen und der Löhne für Beschäftigte aufrecht, die für die Gesundheitsversorgung, das Bildungswesen und andere wichtige Dienstleistungen zuständig sind. Die daraus resultierenden weitverbreiteten Lohneinbußen fielen mit steigenden Preisen für Lebensmittel, Treibstoff und andere wichtige Güter zusammen. Auch die landwirtschaftliche Produktion ging im Jahr 2022 aufgrund der anhaltenden Dürre und des fehlenden Zugangs zu Düngemitteln, Treibstoff und anderen landwirtschaftlichen Betriebsmitteln zurück (HRW 12.01.2023).
Frauen und Mädchen sind unverhältnismäßig stark von der Krise betroffen und sehen sich größeren Hindernissen bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und finanziellen Mitteln gegenüber (HRW 12.01.2023). Die Politik der Taliban, Frauen von den meisten bezahlten Tätigkeiten auszuschließen, hat die Situation noch verschlimmert (HRW 12.01.2023; vergleiche UNDP 18.04.2023), vor allem für Haushalte, in denen Frauen die einzigen oder wichtigsten Lohnempfängerinnen waren. In den Fällen, in denen die Taliban Frauen die Arbeit erlaubten, wurde dies durch repressive Auflagen fast unmöglich gemacht, wie z. B., dass Frauen von einem männlichen Familienmitglied zur Arbeit begleitet werden und dort während des gesamten Arbeitstages beaufsichtigt werden müssen (HRW 12.01.2023).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90% der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben (ATR/STDOK 03.02.2023).
Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison (ACAPS 16.06.2023).
Naturkatastrophen
Afghanischen Haushalte sind nach wie vor stark von Naturkatastrophen betroffen und anfällig für Klimaschocks. Afghanistan hat unter den Ländern mit niedrigem Einkommen in den letzten 40 Jahren die meisten Todesopfer durch Naturkatastrophen zu beklagen und steht weltweit auf Platz 5 der klimatisch am stärksten gefährdeten Länder (UNDP 18.04.2023).
Afghanistan erlebte im Jahr 2022 Naturkatastrophen (UNOCHA 1.2023) von denen allein zwischen Jänner 2022 und Jänner 2023 mehr als 241.052 Menschen in 33 von 34 Provinzen betroffen waren. Afghanistan ist anfällig für Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, Erdrutsche und Lawinen. Mehr als drei Jahrzehnte Konflikt, gepaart mit Umweltzerstörung und unzureichenden Investitionen in Strategien zur Verringerung des Katastrophenrisikos, haben dazu beigetragen, dass die afghanische Bevölkerung immer schwerer mit Naturkatastrophen fertig wird. Im Durchschnitt sind jedes Jahr 200.000 Menschen von solchen Katastrophen betroffen (UNOCHA 02.02.2023).
Im Jahr 2022 gab es drei schwere Erdbeben, die Menschenleben forderten und Schäden an Häusern und Eigentum verursachten (UNOCHA 1.2023): in der Provinz Badghis im Jänner (AJ 22.06.2022; vergleiche AnA 22.06.2022), im Juni in den Provinzen Paktika und Khost (AJ 22.06.2022; vergleiche WHO 03.07.2022b) und in der Provinz Kunar im September (Bakhtar 05.09.2022; vergleiche Afintl 05.09.2022). Außerdem kam es zwischen Juli und September in vielen Provinzen zu Überschwemmungen (UNOCHA 1.2023; vergleiche AJ 30.08.2022), die die landwirtschaftlichen Existenzen erheblich beeinträchtigten. Insgesamt wird erwartet, dass schwere und unvorhersehbare Wetterereignisse, wie die Sommerüberschwemmungen von 2022, im Jahr 2023 und darüber hinaus aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels zunehmen werden, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Infrastruktur und die Landwirtschaft hat und zu Vertreibungen beitragen wird (UNOCHA 1.2023).
Die durch die Dürren von 2018 und 2021/22 verursachten akuten Bedürfnisse haben sich verschärft und erreichen nun einen Krisenpunkt. Mit Dezember 2022 erlebte Afghanistan zum ersten Mal seit 1998-2001 eine Periode mit mehrjähriger Dürre (UNOCHA 1.2023: vergleiche IFRC 03.02.2023). Eine mit dem Joint Intersectoral Analysis Framework (JIAF) durchgeführte Analyse zeigt, dass 25 von 34 Provinzen entweder schwere oder katastrophale Dürrebedingungen melden, von denen mehr als 50% der Bevölkerung betroffen sind. Es handelt sich überwiegend um ein ländliches Phänomen: 73% der ländlichen Haushalte gegenüber 24% der städtischen Haushalte sind davon betroffen, insbesondere das zentrale Hochland war Berichten zufolge eine der am stärksten von der Dürre betroffenen Regionen, gefolgt vom Süden und Norden Afghanistans. Die anhaltende Dürre führt zum Austrocknen von Oberflächenwasserquellen und zu einem erheblichen Rückgang des Grundwasserspiegels in handgegrabenen und flachen Brunnen. Die Grundwasserressourcen Afghanistans sind stark erschöpft (UNOCHA 1.2023).
Im März 2023 kam es zu einem schweren Erdbeben im Norden Afghanistans (REU 22.03.2023; vergleiche FR24 22.03.2023). Bis zu 35 Menschen wurden bei Überflutungen in den Provinzen Kabul und Maidan Wardak im Juli 2023 getötet. Die durch heftige saisonale Regenfälle verursachten Sturzfluten haben Häuser sowie Hunderte von Quadratkilometern landwirtschaftlicher Nutzfläche teilweise oder vollständig zerstört (UNHCR 01.08.2023; vergleiche AJ 24.07.2023). [...]
24.1 Armut und Lebensmittelunsicherheit
Letzte Änderung 2023-09-21
Afghanistan gehört zu den Ländern mit der weltweit höchsten Prävalenz von unzureichender Ernährung. Der Hunger ist in erster Linie auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen, die Afghanistan seit August 2021 erfasst hat. Hinzu kommen jahrzehntelange Konflikte, Klimaschocks und starke Einschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen auf Arbeit und Hochschulbildung (WFP 25.06.2023).
In den letzten Jahren hat die akute Ernährungsunsicherheit immer mehr zugenommen. Die IPC (Integrated Food Security Phase Classification) Analyse im Oktober 2022 ergab, dass sich 46% der Bevölkerung in der IPC-Phase 3 oder darüber befanden, was in etwa dem Wert der gleichen Saison im Jahr 2021 entspricht. Allerdings ist eine allmähliche Verschiebung der Ursachen für den Bedarf an humanitärer Hilfe im Ernährungsbereich festzustellen: Im Jahr 2022 waren Dürren und wirtschaftliche Gründe die von den Haushalten am häufigsten gemeldeten Ursachen, während im Jahr 2021 Konflikte und COVID-19 die wichtigsten Ursachen waren (IPC 30.01.2023) [...]
Dank der anhaltenden humanitären Hilfe konnte die Gesamtzahl der von Ernährungsunsicherheit betroffenen Menschen in Afghanistan von 20 Millionen während der Wintersaison inzwischen reduziert werden (WFP 25.06.2023). Nach Angaben von IPC leiden mit April 2023 rund 17,2 Millionen Afghanen (ca. 40% der Bevölkerung) unter einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit, die als Krise oder Notfall (IPC-Phase 3 oder 4) eingestuft wird. Darunter befinden sich fast 3,4 Millionen Menschen (rund 8%), die sich in einer Notsituation (IPC-Phase 4) befinden und von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (IPC 15.05.2023). Zwischen Mai und Oktober 2023 wird eine leichte saisonale Verbesserung erwartet, wobei die Zahl der Menschen, die sich in IPC-Phase 3 (Krise) oder darüber befinden, wahrscheinlich auf etwa 15,3 Millionen zurückgehen wird (IPC 15.05.2023; vergleiche WFP 25.06.2023), darunter knapp 2,8 Millionen Menschen, die sich in einer Notlage (IPC-Phase 4) befinden (IPC 15.05.2023).
Nach dem dritten Dürrejahr in Folge in Afghanistan wird für 2023 ein Weizendefizit von 30-35% erwartet. Die Prognosen deuten zwar darauf hin, dass sich die Weizenproduktion im Vergleich zu den Vorjahren insgesamt verbessern wird, aber die westlichen Provinzen werden wahrscheinlich weiterhin unterdurchschnittliche Ernten einfahren (WFP 25.06.2023).
Die Lebensmittelpreise sind seit der Machtübernahme durch die Taliban gestiegen (IOM 12.01.2023; vergleiche WEA 17.07.2022), was die prekäre Lebensmittelversorgung für einen Großteil der Bevölkerung verstärkt (AA 26.06.2023). Der afghanische Lebensmittelmarkt ist stark von einer kleinen Zahl von Akteuren besetzt, was ihn sehr anfällig für Preisschocks auf dem internationalen Markt macht. Steigen die Lebensmittelpreise, hat dies erhebliche Auswirkungen auf Haushalte, kleine Unternehmen und das gesamtwirtschaftliche Wachstum im Land. Die weltweiten Getreidepreise sind seit ihrem Höchststand im Mai 2022 weiter gesunken, blieben aber im Vergleich zu 2021 auf einem hohen Niveau, das weit unter den Mitte 2022 beobachteten Höchstpreisen liegt. Die Preise für die kasachischen Weizenexporte, die das wichtigste Grundnahrungsmittel für Afghanistan sind, haben sich seit ihrem Höchststand im Juni 2022 stabilisiert. Die nationalen Weizenmehlpreise sind zwar weiter gesunken, liegen aber immer noch 20% höher als im August 2021 (WB 05.07.2023). [...]
Laut dem vierteljährlichen Update der Weltbank zur Ernährungssicherheit in Afghanistan ist die Inflation bei Nahrungsmitteln weiter zurückgegangen, und zwar von 26% im Juni 2022 auf 3,2% im Januar 2023, und auch die Preise für grundlegende Haushaltsartikel sind im Jahresvergleich gesunken. Während die Kaufkraft der Haushalte aufgrund des insgesamt höheren Preisniveaus im Vergleich zum August 2021 geschwächt wurde, deutet der jüngste deflationäre Trend bei den Preisen für grundlegende Haushaltsartikel auf eine positive Entwicklung hin (WB 05.07.2023).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6% der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53% der Befragten in Herat, 26% in Balkh und 12% in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33% der Befragten in Herat und Balkh und 57% der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.01.2022). In der ein Jahr später durchgeführten Studie von ATR Consulting in Kabul gaben ca. 53% der Befragten an, dass sie kaum in der Lage sind, die Familie mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen (ATR/STDOK 03.02.2023).
Anmerkung: Die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) bietet eine gemeinsame Skala für die Einstufung des Schweregrads und des Ausmaßes von Ernährungsunsicherheit und akuter Unterernährung, welche die Genauigkeit, Transparenz, Relevanz und Vergleichbarkeit von Analysen zur Ernährungssicherheit und Ernährung für Entscheidungsträger verbessert (IPC 8.2021):
• Phase 1 (keine/minimale Mängel): Die Haushalte sind in der Lage, den Grundbedarf an Nahrungsmitteln und anderen Gütern zu decken, ohne atypische und nicht nachhaltige Strategien zur Beschaffung von Nahrungsmitteln und Einkommen anzuwenden.
• Phase 2 (Gestresst): Gestresste Haushalte haben einen minimal adäquaten Nahrungsmittelkonsum, können sich aber einige wesentliche Non-Food-Ausgaben nicht leisten, ohne Stressbewältigungsstrategien anzuwenden.
● Phase 3 (Krise): Krisenhaushalte entweder: - haben Lücken im Nahrungsmittelkonsum, die sich in einer hohen oder überdurchschnittlichen akuten Unterernährung widerspiegeln; oder - sind nur knapp in der Lage, den Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, aber nur unter Aufzehrung der wesentlichen Existenzgrundlagen oder durch Krisenbewältigungsstrategien.
● Phase 4 (Notfall): Nothaushalte entweder: - haben große Nahrungsmittellücken, die sich in einer sehr hohen akuten Unterernährung und einer hohen Sterblichkeitsrate niederschlagen; oder - sind in der Lage, große Nahrungsmittellücken auszugleichen, aber nur durch die Anwendung von Strategien zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Auflösung von Vermögenswerten.
● Phase 5(Katastrophe/Hungersnot): In den Haushalten herrscht ein extremer Mangel an Nahrungsmitteln und/oder anderen Grundbedürfnissen, selbst wenn die Bewältigungsstrategien voll ausgeschöpft werden. Hunger, Tod, Elend und ein extrem kritisches Maß an akuter Unterernährung sind offensichtlich. (Für eine Einstufung als Hungersnot muss ein Gebiet ein extrem kritisches Niveau an akuter Unterernährung und Sterblichkeit aufweisen). [...]
24.2 Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten
Letzte Änderung 2023-03-10
Wohnkosten sind eine der größten Pro-Kopf-Ausgaben in Afghanistan. Gemäß einer Umfrage von IOM Afghanistan bei 15 Unternehmen und fünf IOM-Mitarbeitern gibt eine afghanische Familie, die in einem städtischen Gebiet lebt, im Durchschnitt 28% ihres monatlichen Einkommens für Wohnen aus. In den Häusern fehlt es oft an grundlegenden Einrichtungen wie einer Wasserleitung im Haus, einem Bad mit warmem Wasser sowie Kühl- und Heizsystemen. Stadtwohnungen sind im Allgemeinen besser ausgestattet und daher teurer (IOM 12.01.2023).
Die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News hat bei Immobilienhändlern in den Kabuler Stadtteilen Shahr-i-Naw, Khoshal Khan und Qasaba Informationen über Kauf- und Verkaufspreise sowie Mietkosten eingeholt (PAN 19.09.2022). Demnach sind Mietpreise für Häuser und Grundstücke nach dem Regierungswechsel im vergangenen Jahr um 60% gesunken. In letzter Zeit sind die Preise jedoch wieder um 50% gestiegen. So lag die Miete für eine Dreizimmerwohnung vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 je nach Stadtteil zwischen 8.0000 AFN und 35.200 AFN. In den ersten Tagen des Talibanregimes sank der Preis auf zwischen 4.250 AFN und 25.400 AFN, und mit September 2022 liegt der Preis zwischen 5.000 AFN und 19.800 AFN (PAN 19.09.2022). Ein afghanischer Wirtschaftsexperte gab an, dass zwar die Preise für Wohnungen und Autos seit der Machtübernahme durch die Taliban stark gesunken wären, jedoch gleichzeitig auch die Kaufkraft der Menschen erheblich gesunken ist (WEA 17.07.2022). […]
In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66%) und Mazar-e Sharif (63%) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50% der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3% der Befragten in Kabul, 48,4% in Balkh und 8,7% in Herat an, dass sie 5.000 bis 10.000 AFN pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3% der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3% und in Balkh 48,4%. Nur 4,3% der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.01.2022).
Laut der Studie, die ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchführte, leben ca. 58% der Befragten in Mietwohngen bzw. -häusern, während der Rest Hausbesitzer sind. Von den Befragten, die in einer Mietwohnung leben, bezahlen ca. 60% weniger als 5.000 AFN im Monat an Miete und ca. 33% zwischen 5.000 und 10.000 AFN (ATR/STDOK 03.02.2023). Anmerkung: Ein Euro entspricht mit Stand Februar 2023 ca. 97 AFN [...]
24.3 Arbeitsmarkt
Letzte Änderung 2023-09-19
Nach Angaben von IOM nimmt die Höhe und Häufigkeit des Einkommens ab, und es gibt keine Anzeichen für eine Umkehrung dieser Entwicklung (IOM 12.01.2023; vergleiche UNDP 18.04.2023). Die Hauptgründe für die Schwäche des Arbeitsmarktes sind der Rückgang der Kaufkraft, die Sanktionen gegen Afghanistan, die Schließung der Bankensysteme und die Steuerpolitik der Taliban. Laut einer von IOM Afghanistan zwischen September und Oktober 2022 durchgeführten Arbeitsmarktbewertung gibt es neben diesen Faktoren noch weitere, weniger sichtbare Faktoren, deren Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft jedoch als ebenso groß eingeschätzt werden. Diese sind beispielsweise der Wegfall des früheren Regierungspersonals aus den staatlichen Einrichtungen oder das Verbot für Mitarbeiterinnen, ihren Arbeitsplatz aufzusuchen (IOM 12.01.2023). Ein afghanischer Wirtschaftsexperte schätzte im Sommer 2022, dass seit der Machtübernahme der Taliban etwa 1 Million Menschen ihre Arbeit verloren haben (WEA 17.07.2022), während nach Schätzungen der International Labour Organization (ILO) die Zahl der Beschäftigten im vierten Quartal 2022 um 450.000 niedriger liegt als im zweiten Quartal 2021, also vor der Machtübernahme der Taliban. Nach einer leichten Erholung unmittelbar nach dem ersten Schock stagnierte die Beschäftigung im vierten Quartal 2022 auf niedrigem Niveau (ILO 3.2023). Ab März 2023 gab es einen Anstieg der Beschäftigungsmöglichkeiten sowohl für qualifizierte als auch für ungelernte Arbeitskräfte, nachdem das Angebot in den Wintermonaten saisonbedingt zurückgegangen war. Die Verfügbarkeit von Arbeit für beide Kategorien war im Mai und Juni 2023 besser als in den gleichen Monaten des Jahres 2022. Die günstigen Wetterbedingungen im Jahr 2023 haben zu besseren Ernten und Einkommen geführt, was sich positiv auf die Nachfrage nach Arbeitskräften für beide Kategorien in der Landwirtschaft und im nicht-landwirtschaftlichen Sektor auswirkte. Infolgedessen hat sich die Verfügbarkeit von Arbeit, insbesondere für ungelernte Arbeitskräfte, verbessert (WB 31.07.2023).
Seit der Machtübernahme ist Berichten zufolge die Kinderarbeit und die Anzahl der Bettler deutlich gestiegen (IOM 12.01.2023; vergleiche AJ 26.09.2022, NPR 31.12.2022). Der Anstieg der Kinderarbeit könnte auch mit der Schließung von Schulen und Universitäten für Frauen sowie mit der vorherrschenden Konzentration auf religiöse Lehren in Schulen für Männer zusammenhängen. In Afghanistan ist Kinderarbeit vor allem in ländlichen Gebieten vorzufinden (IOM 12.01.2023). Kinder werden beispielsweise bei der Herstellung von Ziegeln (AJ 26.09.2022) oder in Kohleminen als Arbeiter eingesetzt (NPR 31.12.2022).
Die von den Taliban verhängten Arbeitsbeschränkungen haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, welche die einzigen Lohnempfängerinnen ihrer Familien waren (AI 7.2022), was durch die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan noch verschärft wird (AI 07.2022; vergleiche UNDP 18.04.2023). Die ILO schätzt, dass die Beschäftigungsrate von Frauen im vierten Quartal 2022 im Vergleich zum zweiten Quartal 2021 um schätzungsweise 25% niedriger war (ILO 3.2023), und Experten erwarten, dass die strengen Beschränkungen der Taliban für Frauen, die außerhalb ihres Hauses arbeiten, auch die verheerende wirtschaftliche und humanitäre Krise in Afghanistan verschärfen wird (RFE/RL 03.01.2023), was sich auch in einer niedrigen Beschäftigung von Jugendlichen niederschlägt (ILO 3.2023). So schätzt die UNDP, dass die Einschränkungen der Erwerbstätigkeit von Frauen zu wirtschaftlichen Verlusten von 1 Milliarde USD führen werden, das entspricht rund 5% des afghanischen BIP (AA 26.06.2023; vergleiche UNDP 01.12.2021).
Nach Angaben von IOM erhält ein Tagelöhner in Afghanistan mit Stand Oktober 2022 ca. 350 AFN für einen achtstündigen Arbeitstag. Im September 2020 und März 2021 war der Tageslohn eines ungelernten Arbeiters ca. 439 AFN. In Kabul, Mazar-e Sharif und Herat sind die Löhne für Tagelöhner ähnlich hoch, die Häufigkeit der Arbeit kann jedoch unterschiedlich sein. Ein Tagelöhner in Kabul kann etwa vier- bis fünfmal pro Woche Arbeit finden, während ein Tagelöhner in Herat und Mazar-e Sharif nur maximal dreimal pro Woche Arbeit findet. Die Befragten einer Umfrage von IOM gaben an, dass die meisten Tagelöhner auf Baustellen arbeiten. In Kabul, Herat und Mazar-e Sharif ist der Bau von neuen Häusern deutlich zurückgegangen. Da der Bau von Häusern erhebliche Auswirkungen auf andere Berufe hat, wie z. B. Zimmerleute, Installateure und Metallarbeiter, sind auch einige andere Sektoren von diesem Trend stark betroffen. Der monatliche Mindestlohn in Afghanistan beträgt 5.000 AFN für Staatsbedienstete. In der Privatwirtschaft gibt es keinen Mindestlohn, da das afghanische Arbeitsgesetz über Mindestlöhne derzeit nicht in Kraft ist (IOM 12.01.2023).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie mit 300 Befragten gaben 58,3% der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein (Männer: 35,3%, Frauen: 81,3%). Was die Art der Beschäftigung betrifft, so gaben 62% der Befragten an, entweder ständig oder gelegentlich eine Vollzeitstelle zu haben, während 25% eine Teilzeitstelle hatten, 9% als Tagelöhner arbeiteten und 2% mehrere Teilzeit- oder Saisonstellen hatten. Die Mehrheit der Befragten (89,1%) gaben an, ein Einkommensniveau von weniger als 10.000 AFN pro Monat zu haben. 8,7% der Befragten gaben an, ein Einkommensniveau zwischen 10.000 und 20.000 AFN pro Monat zu haben, und 2,2% stuften sich auf ein höheres Niveau zwischen 20.0 und 50.000 AFN pro Monat ein (ATR/STDOK 18.01.2022).
In einer Studie von ATR Consulting, die im Dezember 2022 in Kabul durchgeführt wurde, zeigen sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Beschäftigungsstatus von Männern und Frauen in der formellen/informellen Wirtschaft. Zum Zeitpunkt der Erhebung gaben 46% bzw. 153 Männer an, kontinuierlich beschäftigt zu sein, gegenüber 8% bzw. 13 Frauen bei einer Gesamtstichprobe von 506 Befragten (334 Männer, 172 Frauen). In Bezug auf die Art der Beschäftigung gaben 58% oder 109 Männer an, dass sie vollzeitbeschäftigt waren, während nur 44% oder sieben von 13 kontinuierlich beschäftigten Frauen angaben, vollzeitbeschäftigt zu sein. Die überwiegende Mehrheit der männlichen (85% oder 285 Männer) und weiblichen (79% oder 135 ) Befragten gab an, dass ihre Kinder nicht zum Familieneinkommen beitragen (ATR/STDOK 03.02.2023). [...]
24.4 Bank- und Finanzwesen
Letzte Änderung 2023-03-10
Bereits vor der Machtübernahme der Taliban zeichnete sich eine Finanzkrise ab. Die Bargeldreserven der afghanischen Zentralbank Da Afghanistan Bank (DAB) waren fast aufgebraucht (ICG 06.12.2021), und viele Filialen in den Provinzen transferierten ihre Geldreserven nach Kabul, um sie vor Plünderungen durch die Taliban zu schützen. So gab es an vielen Orten keine Möglichkeit, mehr Bargeld zu beheben (IRC 09.02.2022; vergleiche BAMF 12.2022).
Banküberweisungen aus und nach Afghanistan waren nach der Machtübernahme der Taliban zunächst nicht möglich und sind nach wie vor eingeschränkt. Da bei internationalen Überweisungen oft eine amerikanische Bank involviert ist, sind die amerikanischen Sanktionen auch für Überweisungen aus anderen Ländern relevant. Schon alleine aus Angst, gegen eine bestehede Sanktion zu verstoßen, stoppen Banken Überweisungen nach Afghanistan (BAMF 12.2022; vergleiche AP 19.10.2021, HRW 02.03.2022). Das Office of ForeignAssests Control (OFAC) hat seitdem mehrere Lizenzen erlassen, durch die Sanktionen gelockert und internationale Transaktionen ermöglicht werden. So erlaubt eine Lizenz vom Dezember 2021 Privatüberweisungen (WB 4.2022; vergleiche BAMF 12.2022). Für private Geldsendungen können beispielsweise Western Union und MoneyGram genutzt werden (NRC 1.2022). Dennoch hinderten die US-Sanktionen die DAB das ganze Jahr 2022 weiterhin daran, wichtige zentrale Bankdienstleistungen zu erbringen. Dies führte zu einer massiven und anhaltenden Liquiditätskrise sowie zu einer Verknappung von Banknoten sowohl in US-Dollar als auch in afghanischer Währung, was die legitimen Finanzaktivitäten von Unternehmen, humanitären Organisationen und einfachen Afghanen stark einschränkt (HRW 12.01.2023).
Der Mangel an Bargeld in Afghanistan trägt zur aktuellen Wirtschaftskrise bei (BAMF 12.2022; vergleiche REU 09.11.2022). Zusätzlich haben die Taliban die Verwendung von Fremdwährungen im November 2021 verboten (RFE/RL 03.11.2021). Da afghanische Banknoten in Europa gedruckt werden, konnten aufgrund der Sanktionen lange keine neuen Banknoten bestellt werden (WB 2.2022). Auch ist nur ein kleiner Teil des existierenden Bargelds in Umlauf, weil einzelne Privatpersonen und Unternehmen große Summen an Bargeld horten (NRC 1.2022). Nach einer Spezialgenehmigung konnte die DAB im November 2022 erstmals wieder neue Banknoten importieren. Insgesamt wurden 10 Milliarden AFN bestellt (REU 09.11.2022; vergleiche BAMF 12.2022).
Hawala-System
Wesentlich verbreiteter als Western Union oder MoneyGram wird für Geldsendungen von und nach Afghanistan das informelle Hawala-System verwendet (IOM 12.04.2022; vergleiche BAMF 12.2022).
Das System funktioniert ohne staatliche Regulierung und kann deswegen auch dort praktiziert werden, wo es entweder keine Staatlichkeit gibt oder die Beteiligten den Staat umgehen wollen (BAMF 12.2022). Es funktioniert fast weltweit, wird aber vor allem in muslimischen Ländern genutzt. Hawala wird von Geldwechslern, die Saraf oder Hawaladar genannt werden, betrieben, die über ein weit verflochtenes Netzwerk verfügen. Beispielsweise kann eine Person [Anmerkung: beispielsweise in Österreich] einem Saraf Geld geben. Dieser Saraf hat eine Handelsbeziehung zu einem Saraf in Afghanistan, den er anweisen kann, das Geld nach der Nennung eines vereinbarten Passworts an eine bestimmte Person auszuzahlen. Durch Netzwerke zwischen Sarafs kann das Geld auch über mehrere Stationen weitergeschickt werden und so aus dem Ausland über Kabul und gegebenenfalls eine Provinzhauptstadt bis in rurale Gegenden Afghanistans geschickt werden. Transaktionen können in wenigen Minuten bis maximal zwei Tagen abgeschlossen werden. Ähnlich wie bei Sendungen über Western Union oder MoneyGram entstehen Gebühren für das Senden und Wechseln des Geldes. Die Sarafs begleichen ihre Rechnungen durch Überweisungen in die andere Richtung, Banküberweisungen oder Bargeldsendungen (NRC 1.2022; vergleiche BAMF 12.2022). [...]
26. Rückkehr
Letzte Änderung 2023-09-19
[Anmerkung: Zur Situation rückkehrender Geflüchteter aus Österreich liegen nur vereinzelt Erkenntnisse vor, da Rückführungen aus Österreich und anderen EU-Mitgliedstaaten gegenwärtig ausgesetzt sind.]
Nach Angaben von UNHCR sind zwischen Jänner und August 2023 8.029 afghanische Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt (95% aus Pakistan, 4% aus Iran und 1% aus anderen Ländern). Die Zahl der Rückkehrer in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 ist fünfmal so hoch wie die Zahl der Rückkehrer im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 und die Gesamtzahl der Rückkehrer im Jahr 2022 (6.424) (UNHCR 01.08.2023). Als Hauptgründe für die Rückkehr aus Iran und Pakistan nannten die Rückkehrer die Lebenshaltungskosten und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern, die verbesserte Sicherheitslage in Afghanistan und die Wiedervereinigung mit der Familie. Im Jahr 2023 kehrten 57% der Flüchtlinge in fünf Provinzen zurück: Kabul (21%), Kunduz (13%), Kandahar (10%), Nangarhar (7%) und Jawzjan (6%). Außerdem hielten sich 72% der Rückkehrer seit mehr als zehn Jahren im Asylland auf, und 25% wurden im Asylland geboren (UNHCR 24.07.2023).
Eine Studie von IOM, bei der Afghanen interviewt wurden, die zwischen Jänner 2018 und Juli 2021 aus der Türkei oder der EU nach Afghanistan zurückkehrten, berichtet, dass die Rückkehrer weiterhin mit erheblichen wirtschaftlichen und ernährungsbedingten Herausforderungen konfrontiert sind. Der größte Anteil der Befragten (45%) gab an, arbeitslos zu sein, während 40% sagten, sie arbeiteten für einen Tageslohn, und fast 90% der Befragten gaben an, dass sich ihre wirtschaftliche Situation im ersten Halbjahr 2022 verschlechtert habe (IOM 05.09.2022).
Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaft ist in Folge der Machtübernahme der Taliban kollabiert. Rückkehrende dürften nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (AA 26.06.2023).
IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.08.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART römisch III unterstützt werden (IOM 12.01.2023). Das Reintegrations- und Entwicklungshilfeprojekt (RADA), das 2017 ins Leben gerufen wurde, hat das Ziel, „eine geordnete, sichere, regelmäßige und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen zu erleichtern, unter anderem durch die Umsetzung geplanter und gut verwalteter Maßnahmen“. Es unterstützt Gemeinden mit einer hohen Anzahl an Rückkehrern durch Projekte wie den Bau von Bewässerungskanälen. Die Beratungstätigkeit des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) durch IOM wurde mit der Machtübernahme der Taliban eingestellt. Auch ist die Bereitstellung von sofortiger Aufnahmeunterstützung am Flughafen Kabul derzeit ausgesetzt (IOM 12.01.2023).
Am 30.08.2021 gab Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid in einem Interview an, dass viele aus Angst aufgrund von Propaganda aus Afghanistan ausgereist wären und die Taliban nicht glücklich darüber seien, dass Menschen Afghanistan verlassen, obwohl jeder, der über Dokumente verfüge, zur Ausreise berechtigt sein sollte. Auf die Frage, ob afghanische Asylwerber in Deutschland oder Österreich mit abgelehnten Asylanträgen, die möglicherweise auch Straftaten begangen haben, wieder aufgenommen würden, antwortete Mujahid, dass sie aufgenommen würden, wenn sie abgeschoben und einem Gericht zur Entscheidung über das weitere Vorgehen vorgeführt würden (KrZ 30.08.2021). Es war nicht klar, ob sich Mujahid mit dieser Aussage auf Rückkehrer im Allgemeinen oder nur auf Rückkehrer bezog, die Straftaten begangen haben (EASO 01.01.2022). Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 26.06.2023).
Die Taliban haben am 16.03.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.06.2023).
Einem afghanischen Menschenrechtsexperten zufolge gab es unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten ein negatives Bild von Afghanen, die Afghanistan verlassen hatten. Menschen, die Afghanistan verlassen hatten, würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertraten oder auf der Flucht vor Dingen seien, die sie getan haben. Auf der anderen Seite haben die Taliban den Pässen für afghanische Arbeiter, die im Ausland arbeiten, Vorrang eingeräumt, da dies ein Einkommen für das Land bedeuten würde. Auf einer Ebene mögen die Taliban also den wirtschaftlichen Aspekt verstehen, aber sie wissen auch, dass viele derjenigen Afghanen, die ins Ausland gehen, nicht mit ihnen einverstanden sind. Ein afghanischer Rechtsprofessor beschrieb zwei Darstellungen der Taliban über Personen, die Afghanistan verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die Afghanistan aufgrund von Armut, nicht aus Angst vor den Taliban, verlassen und auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen. Die andere Darstellung bezog sich auf die „Eliten“ die das Land verließen. Sie würden nicht als „Afghanen“, sondern als korrupte „Marionetten“ der „Besatzung“ angesehen, die sich gegen die Bevölkerung stellten. Dieses Narrativ könnte beispielsweise auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle einschließen und nicht nur ehemalige Regierungsbeamte. Der Quelle zufolge sagten die Taliban oft, dass ein „guter Muslim“ nicht gehen würde und dass viele, die in den Westen gingen, nicht „gut genug als Muslime“ seien. Zwei Anthropologen an der Zayed-Universität [Anmerkung: öffentliche Universität mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten] beschrieben ein ähnliches Narrativ, nämlich dass Menschen, die das Land verlassen wollen, nicht als „die richtige Art von Mensch“ bzw. nicht als „gute Muslime“ wahrgenommen werden. Sie unterschieden jedoch die seit Langem bestehende Tradition der paschtunischen Männer, ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten, von anderen Afghanen, die weggehen und sich in nicht-muslimischen Ländern aufhalten - was nicht „der richtige Weg“ sei. Sie erklärten ferner, dass in ländlichen paschtunischen Gebieten eine Person, die nach Europa oder in die USA gehen will, im Allgemeinen mit Misstrauen betrachtet wird, ebenso wie Personen mit westlichen Kontakten (EASO 01.01.2022). [...]
26. Dokumente
Letzte Änderung 2023-09-28
Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.07.2020; vergleiche SEM 12.04.2023). Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Personenregister lückenhaft und nicht ausreichend miteinander vernetzt sind. Zudem sind viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden nicht ausreichend geschult im Umgang mit den Registern und der Ausstellung von Dokumenten. Aus diesen Gründen ist es den Behörden oft nicht möglich, die Angaben der Personen, die Dokumente beantragen, zuverlässig zu verifizieren. Stattdessen müssen sie sich auf die mündlichen Angaben der Antragsteller und der Zeugen verlassen. Außerdem besteht je nach Dokument eine unterschiedliche Praxis, Geburtsdatum, Geburtsort und Nachnamen einzutragen. Deshalb kommt es vor, dass die Personalien derselben Person in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich eingetragen sind (SEM 12.04.2023).
Besonders fälschungsanfällig sind Papier-Tazkira [Anmerkung: Tazkira ist ein nationales Personaldokument] (SEM 12.04.2023; vergleiche MBZ 3.2022). In Pakistan sind zahlreiche gefälschte Tazkira im Umlauf. Bei der schwarz-weißen Papier-Tazkira sind weder Layout noch Drucktechnik standardisiert. Die verwendeten Stempel sind aufgrund der großen Anzahl zuständiger Behörden nicht überprüfbar. Die Dokumente sind deshalb leicht fälschbar. In der Regel ist es unmöglich, die Authentizität solcher Dokumente zu prüfen. Reisepass und e-Tazkira haben ein einheitliches Layout mit zahlreichen Sicherheitsmerkmalen. Deshalb lässt sich die Authentizität dieser Dokumente am besten überprüfen. Es besteht aber auch hier die Möglichkeit, dass Inhalte manipuliert sind oder dass sie an nicht berechtigte Personen ausgestellt sind (SEM 12.04.2023).
Mit Stand August 2023 kann eine Tazkira in Papierform in allen Provinzen beantragt werden. Auch eine e-Tazkira ist in den meisten Provinzen zu erhalten, wobei in einigen, sehr dünn besiedelten Provinzen dies nicht möglich ist und Bewohner dieser Regionen in Nachbarprovinzen reisen müssen, um eine e-Tazkira zu bekommen (RA KBL 20.08.2023).
Seit der Machtübernahme der Taliban gab es immer wieder Probleme, wenn es um die Ausstellung von Reisepässen ging, und die Ausstellung von Reisepässen wurde für einige Monate ausgesetzt, da es, nach Angaben der Passdirektion, technische Schwierigkeiten gab (RA KBL 26.01.2023; vergleiche KP 08.10.2022, SEM 12.04.2023). Im Dezember 2022 riefen Bürger Kabuls die Taliban dazu auf, die Erstellung von Reisepässen wieder aufzunehmen, da es Kranken ohne Reisepässe nicht möglich war, ins Ausland zu reisen und sich behandeln zu lassen (TN 11.12.2022; vergleiche PAN 09.01.2023). Auch mit August 2023 gibt es Beschwerden über die langsame Bearbeitung von Passanträgen (TN 01.08.2023). Mit Stand August 2023 können Personen, die bereits früher einen Reisepass beantragt haben, diesen in allen Provinzen erhalten. Allerdings nimmt das Online-Passportal mit diesem Zeitpunkt nur neue Passanträge aus den Provinzen Kabul, Paktika, Uruzgan, Zabul und Nuristan entgegen (RA KBL 20.08.2023). Der Sprecher der Generaldirektion für Pässe gab im August 2023 an, dass es geplant ist, in den nächsten drei Monaten drei Passverteilungszentren in Kabul einzurichten (TNI 09.08.2023).
Laut einer Erklärung des Sprechers der Generaldirektion für Pässe werden keine Pässe an Personen mit Ausreiseverboten wegen beispielsweise unbezahlter Schulden oder laufenden Straf-, Zivil- oder Handelsverfahren oder an Kinder, die keinen gesetzlichen Vormund haben, ausgestellt (TN 01.08.2023). Laut Angaben eines lokalen Rechtsanwalts in Kabul ist es für Frauen möglich, in Afghanistan auch ohne Begleitung eines Mahram [Anmerkung: männl. Begleitperson] einen Reisepass zu erhalten, auch wenn die sich Behandlung der Antragsstellerinnen von Ort zu Ort unterscheiden kann. In Kabul ist es derzeit nicht vorgeschrieben. Der Erhalt eines Reisepasses für Frauen ist auch möglich, wenn sich der Ehemann der Frau zum Antragszeitpunkt im Ausland befindet (RA KBL 29.08.2023).
Um eine e-Tazkira zu erhalten, muss der Antragsteller das Online-Antragsformular ausfüllen. Benötigt wird dafür eine Tazkira in Papierform (falls der Antragsteller keine Tazkira in Papierform besitzt, ist eine Geburtsurkunde für Antragsteller unter 18 Jahren erforderlich. Für Personen über 18 Jahren ist die Tazkira (entweder elektronisch oder in Papierform) eines der Hauptverwandten des Antragstellers (Vater, Bruder, Schwester, Onkel, Cousin, Großvater) erforderlich. In diesem Fall müssen zwei andere Personen als die Hauptverwandten des Antragstellers die Identität des Antragstellers bescheinigen). Zusätzlich ist ein Lichtbild des Antragsstellers notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller zu einem bestimmten Termin im e-Tazkira-Ausstellungszentrum erscheinen, um die biometrischen Daten erfassen zu lassen und die Gebühr zu entrichten (RA KBL 26.01.2023; vergleiche RA KBL 20.08.2023). Die Gebühr für den Erhalt einer e-Tazkira ist vor Kurzem von 300 AFN auf 500 AFN angestiegen (RA KBL 20.08.2023; vergleiche BAMF 30.06.2023).
Für den Erhalt eines Reisepasses gelten dieselben Voraussetzungen wie für eine e-Tazkira. Es muss ein Formular online ausgefüllt werden, und nach Vorlage eines Identitätsdokumentes (e-Tazkira, Tazkira in Papierform oder Geburtsurkunde), sowie eines Lichtbildes und der Unterschrift werden die Fingerabdrücke des Antragsstellers biometrisch erfasst. Falls der Antragssteller bereits einen Reisepass besessen hat, so ist dieser ebenso vorzulegen bzw. sind Informationen zu diesem notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller die Gebühr entrichten und zu einem bestimmten Termin zur biometrischen Untersuchung in der Passabteilung erscheinen. Die Gebühr für einen Reisepass liegt bei 10.000 AFN (RA KBL 26.01.2023; vergleiche RA KBL 20.08.2023).
Die Beantragung sowohl von e-Tazkira als auch von Reisepässen ist derzeit in allen Provinzen über Online-Portale möglich. Einzelpersonen können eine e-Tazkira bei der Beantragung erhalten, aber die Ausstellung von Reisepässen ist im Moment ausgesetzt, außer in den oben genannten Ausnahmefällen. Wenn Einzelpersonen einen Reisepass beantragen, wird der Antrag im System registriert und zu einem bestimmten Zeitpunkt bearbeitet, wenn die Ausstellung des Reisepasses wieder aufgenommen wird. Generell sind die Bearbeitung von Passanträgen und die Ausstellung von Pässen jedoch sehr begrenzt (RA KBL 26.01.2023; vergleiche RA KBL 20.08.2023).
Die Reisepässe sehen immer noch genauso aus wie früher. Beamte haben jedoch erklärt, dass neue e-Tazkira mit einigen Änderungen im Layout ausgestellt werden. Auf der Titelseite von e-Tazkira steht nicht mehr „Innenministerium“, sondern „Nationale Behörde für Statistik und Information“ in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Rückseite von e-Tazkira das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, das vorher nicht vorhanden war (RA KBL 26.01.2023; vergleiche RA KBL 20.08.2023).
Reisepässe außerhalb Afghanistans
Die Ausstellung von Reisepässen in Iran und Pakistan war Experten zufolge mit Stand Juli 2023 nicht möglich. Eine Expertin verwies jedoch darauf, dass Verlängerungen afghanischer Pässe in Peschawar und Islamabad „weitgehend problemlos“ möglich sind. Im Juli kündigte der Generalkonsul der afghanischen Botschaft in Maschhad einem Medienbericht zufolge die Ausstellung afghanischer Reisepässe und elektronischer Identitätsdokumente an (ACCORD 20.07.2023). Laut dem Außenministerium der Taliban hat die Ausstellung von Reisepässen für afghanische Staatsbürger in Iran gegen Ende August 2023 begonnen (Afintl 21.08.2023). Auch nach Angaben eines Rechtsanwalts in Kabul ist es mit Ende August 2023 möglich, afghanische Reisepässe in Iran, der Türkei und Pakistan zu erhalten, wobei darauf hingewiesen wird, dass dieser Service nicht für alle zugänglich sein könnte. Neben den Standardanforderungen für die Ausstellung eines Reisepasses kann es zusätzliche Anforderungen geben, wie z. B. Wohnsitz oder physische Anwesenheit in den betreffenden Ländern (RA KBL 29.08.2023). Außerdem kann es einen Vorrang für bestimmte Kategorien von Antragstellern geben (RA KBL 29.08.2023), wie z. B. Neugeborene (Afintl 21.08.2023). [...]“
3.3.2. Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen – Update römisch eins, Februar 2023 (Auszug, Schreibfehler teilweise korrigiert):
Einleitung
1. Diese Leitlinien ersetzen die Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022.
2. Die afghanische Zivilbevölkerung ist weiterhin schwerwiegend von der Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Krise im Land betroffen. Bis zum Ende des Jahres 2022 wurde über eine Intensivierung der Aktivitäten von bewaffneten Oppositionsgruppen berichtet, wobei die UN Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 22 bewaffnete Gruppierungen verzeichnete, die nach eigenen Angaben in 11 der insgesamt 34 afghanischen Provinzen agierten. Zwischen dem 17. August und dem 13. November 2022 verzeichneten die Vereinten Nationen 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Anstieg um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2021. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen waren Kabul, Herat und Kandahar. Insgesamt wurden 530 zivile Opfer verzeichnet (124 getötete und 406 verwundete Zivilpersonen).
3. Die De-facto-Behörden der Taliban haben Berichten zufolge schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen, darunter extralegale Tötungen, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Folter und andere Formen von Misshandlungen. Zusätzlich haben die De-facto-Behörden der afghanischen Bevölkerung Einschränkungen ihrer Rechte auf Meinungs-, Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit auferlegt, welche die internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen Afghanistans verletzen. Die zunehmende Beschneidung der Menschenrechte von afghanischen Frauen und Mädchen durch die De-facto-Behörden wurde weitreichend verurteilt.
4. Afghanistan begegnet signifikanten ökonomischen Herausforderungen und einer schwerwiegenden humanitären Krise. Nach Schätzungen der Weltbank ist die afghanische Wirtschaft in den Jahren 2021 bis 2022 um insgesamt 30-35% geschrumpft. Während die Weltbank für den Zeitraum 2023-2024 ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes um 2-2,4% prognostiziert, warnt sie zugleich, dass dies angesichts des hohen Bevölkerungswachstums nicht zu einer Verbesserung des Pro-Kopf-Einkommens führen wird. Über 90% der afghanischen Bevölkerung leiden Schätzungen zufolge unter Nahrungsunsicherheit, wobei 19,9 Mio. Afghaninnen und Afghanen unter akuter Nahrungsunsicherheit leiden. Im Oktober 2022 berichtete UNDP, dass nun fast die gesamte afghanische Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt.
5. Mit Stand 30. Juni 2022 waren konfliktbedingt ungefähr 3,4 Mio. Afghaninnen und Afghanen innerhalb des Landes vertrieben, während es schätzungsweise im Jahr 2022 32.424 neue Binnenvertriebene gab. Ebenfalls mit Stand 30. Juni 2022 betrug die Zahl der afghanischen Flüchtlinge weltweit ca. 2,84 Mio. Eine geschätzte Zahl von 232.306 Binnenvertriebenen kehrte im Jahr 2022 in ihre Heimatorte zurück, während 6.424 afghanische Flüchtlinge im Jahr 2022 freiwillig nach Afghanistan zurückkehrten. Internationaler Schutzbedarf
6. UNHCR ruft weiterhin alle Staaten dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren, das Recht, Asyl zu suchen, zu garantieren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR ruft die Staaten dazu auf, Ankommende, die internationalen Schutz suchen, zu registrieren und allen Betroffenen Nachweise über ihre Registrierung auszustellen.
7. Alle Anträge auf internationalen Schutz von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan sollten in fairen und effizienten Verfahren im Einklang mit internationalem und regionalem Flüchtlingsrecht sowie anderen relevanten rechtlichen Standards behandelt werden.
8. Die noch nie dagewesene humanitäre Krise in Afghanistan darf nicht über die Situation weitverbreiteter Bedrohungen von Menschenrechten hinwegtäuschen. Personen, die aus Afghanistan fliehen, werden möglichweise zunächst ihre dringendsten Überlebensbedürfnisse als Fluchtgrund benennen. Dies sollte einer gründlichen Prüfung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender jedoch nicht entgegenstehen. Unter Verweis auf die geteilte Beweislast ruft UNHCR Entscheidungsträgerinnen und -träger dazu auf, sicherzustellen, dass Asylsuchende die Möglichkeit erhalten, ihre Fluchtgründe vollständig und vollumfänglich vorzutragen, einschließlich einer möglichen Furcht vor Verfolgung im Falle der Rückkehr. Internationaler Schutzbedarf von Frauen und Mädchen
9. Im Lichte des breiten Spektrums an zunehmend restriktiven Maßnahmen, welche die De-facto- Behörden afghanischen Frauen und Mädchen unter Verletzung ihrer Menschenrechte auferlegt haben, ist UNHCR der Ansicht, dass afghanische Frauen und Mädchen wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention benötigen. Im Dezember 2022 bemerkte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, dass Frauenrechte in Afghanistan weiterhin schwerwiegend beschnitten würden. Im September 2022 äußerte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zur Menschenrechtslage in Afghanistan große Besorgnis über die erschütternden Rückschritte beim Genuss bürgerlicher, politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte durch Frauen und Mädchen seit der Machtübernahme durch die Taliban. In keinem anderen Land seien Frauen und Mädchen so schnell aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens verschwunden, noch seien sie in allen Lebensbereichen so benachteiligt.
10. Beschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan beinhalten Beschränkungen ihres Rechtes auf Bewegungsfreiheit, insbesondere durch das Erfordernis der Begleitung durch einen Mahram bei Reisen über 78 km und die Verpflichtung zum Tragen eines Hijabs außerhalb des eigenen Hauses. Beschränkungen des Rechtes von Frauen auf Bewegungsfreiheit haben direkte Auswirkungen auf andere Menschenrechte, einschließlich des Zugangs zu Gesundheitsversorgung. Es wird berichtet, dass sich Frauen selbst für eine Notfallversorgung nicht in Kliniken begeben können, wenn sie keine Begleitung durch einen Mahram arrangieren können, oder dass sie ohne eine solche Begleitung von Gesundheitszentren abgewiesen oder ihnen eine Behandlung verwehrt wird. Das Recht von Frauen auf Zugang zu einer Gesundheitsversorgung wird weiter dadurch beeinträchtigt, dass nur Ärztinnen die Erlaubnis haben, Patientinnen zu behandeln.
11. Trotz einer Ankündigung der De-facto-Behörden, dass Sekundarschulen für Mädchen am 23. März 2022 öffnen würden, wurde eine Schließung der Schulen nur wenige Stunden nach deren Öffnung landesweit angeordnet. Es gibt Berichte über wenige private Sekundarschulen in einigen Provinzen, die für Mädchen geöffnet seien; öffentliche Schulen waren jedoch mit Stand Dezember 2022 weiterhin geschlossen, und die überwältigende Mehrheit der Mädchen ist nicht in der Lage, eine Sekundarschule zu besuchen. Im Dezember 2022 gaben die De-facto-Behörden zudem bekannt, dass es Frauen nicht länger erlaubt sei, Universitäten zu besuchen.
12. UNAMA äußerte im Juli 2022, dass die bisherigen Schritte der De-facto-Behörden die Teilnahme von Frauen am Arbeitsleben schwerwiegend beschränkt hätten. UN News berichtete im August 2022, dass Frauen weitestgehend daran gehindert wurden, außerhalb des Hauses zu arbeiten. Am 24. Dezember 2022 gaben die De-facto-Behörden bekannt, dass Frauen nicht länger für Nichtregierungsorganisationen arbeiten könnten.
13. Die De-facto-Behörden haben die Meinungsfreiheit von Frauen Beschränkungen unterworfen, wobei die De-facto-Behörden Frauen, die an friedlichen Demonstrationen teilnahmen, belästigt und körperlich angegriffen haben. Zudem merkte der Sonderberichterstatter zur Menschenrechtslage in Afghanistan im September 2022 an, dass die Auswirkungen der durch die De-facto-Behörden auferlegten Beschränkungen der Medien für Frauen weitaus schwerwiegender seien. Nach Angaben von Reportern ohne Grenzen haben 84% der Journalistinnen seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 ihre Arbeitsplätze verloren. Es wird berichtet, dass Menschenrechtsverteidigerinnen einem besonderen Risiko von Gewaltanwendung und Einschüchterung ausgesetzt sind.
14. Frauen und Mädchen in Afghanistan sind zudem Beschneidungen ihres Rechtes auf Zugang zur Justiz ausgesetzt, einschließlich in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt. Im Oktober 2021 schätzte der Global Protection Cluster, dass ca. 90% aller Frauen in Afghanistan geschlechtsspezifische Gewalt erlebt hätten, mehrheitlich in der Form von Gewalt durch Intimpartner.
15. Obwohl die De-facto-Behörden im Dezember 2021 ein Dekret zum Verbot von Zwangsverheiratungen erlassen haben, ist die Zahl an Zwangs- und Kinderehen in Afghanistan stark gestiegen, bedingt durch Armut und eine sich verschlimmernde humanitäre und wirtschaftliche Lage, gepaart mit dem Fehlen anderweitiger Chancen für Mädchen aufgrund der Beschneidungen von Frauenrechten. Weitere Profile mit einem seit dem 15. August 2021 erhöhten Schutzbedarf
16. Basierend auf verfügbaren Berichten über weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan, darunter Berichte, die UNHCR im Rahmen seines breiten Monitoring-Programms von auf der Flucht und bereits im Ausland befindlichen Afghaninnen und Afghanen erhalten hat, werden viele Afghaninnen und Afghanen einen internationalen Schutzbedarf haben. Wie in den untenstehenden Absätzen 20-25 beschrieben, unterliegt die Informationsbeschaffung in Afghanistan ernsthaften Einschränkungen, die es schwierig machen, ein umfassendes Verständnis für die Behandlung von Afghaninnen und Afghanen mit verschiedenen Profilen in ganz Afghanistan zu erlangen. UNHCR ist jedoch besorgt über einen Anstieg des Bedarfes an internationalem Flüchtlingsschutz für aus Afghanistan fliehende Personen seit der Machtübernahme durch die Taliban.
Neben der oben beschriebenen Situation von Frauen und Mädchen zählen zu den Profilen mit einem seit dem 15. August 2021 erhöhten Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz:
(i) Afghaninnen und Afghanen, die mit der ehemaligen Regierung oder der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan verbunden sind, einschließlich frühere Mitarbeitende von Botschaften und Angestellte internationaler Organisationen;
(ii) ehemalige Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte und Afghaninnen und Afghanen, die mit den ehemaligen internationalen Streitkräften in Afghanistan verbunden sind;
(iii) Journalistinnen und Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen; Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger und Aktivistinnen und Aktivisten, sowie sie unterstützende Verteidigerinnen und Verteidiger;
(iv) Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten, einschließlich Hazaras;
(v) Afghaninnen und Afghanen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, geschlechtlichen Identitäten und/oder Ausdrucksweisen.
Diese Liste erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Aufzählung aller Afghaninnen und Afghanen zu enthalten, die möglicherweise eine begründete Furcht vor Verfolgung haben. Jeder Antrag auf internationalen Schutz sollte unter Berücksichtigung der von den Antragstellenden vorgebrachten Beweismittel sowie der verfügbaren und relevanten Herkunftslandinformationen inhaltlich geprüft werden. UNHCR merkt an, dass Familienangehörige und andere Personen, die mit von Verfolgung Bedrohten eng verbunden sind, häufig einem eigenen Risiko ausgesetzt sind.
Verfügbarkeit von Schutz
17. Im Lichte der verfügbaren Informationen über weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, die von den De-facto-Behörden begangen werden, geht UNHCR nicht davon aus, dass die De-facto-Behörden willens oder in der Lage sind, von Verfolgung bedrohten Afghaninnen und Afghanen Schutz zu gewährleisten, einschließlich in Fällen gesellschaftlicher Formen der Verfolgung durch Familienmitglieder und andere Mitglieder der Gemeinschaft.
Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative
18. Angesichts der Unbeständigkeit der Situation in ganz Afghanistan sowie der ernsten wirtschaftlichen und humanitären Situation im Land hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz unter Verweis auf eine interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative zu verwehren.
Ausschlussgründe
19. Unter afghanischen Schutzsuchenden können sich auch Personen befinden, die mit Handlungen in Verbindung stehen, die sie in den Anwendungsbereich der Ausschlussklausel des Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention fallen lassen. In solchen Fällen wird es notwendig sein, sorgfältig zu prüfen, ob eine persönliche Verantwortung für Verbrechen besteht, die zum Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft führen können. Um den zivilen Charakter von Asyl zu bewahren, sollten Staaten zudem die Situation der Ankommenden genau prüfen, um jene zu identifizieren, die in militärische Handlungen involviert waren, und diese von der geflüchteten Zivilbevölkerung zu trennen.
Einschränkungen bei der Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs
20. Seit der Machtübernahme des Landes herrschen die De-facto-Behörden mit Dekreten und verdrängen so den parlamentarischen Prozess. Bis heute ist diese Regierungsführung von Ungewissheit, Willkür und einer Missachtung von Rechtsstaatlichkeit geprägt. Die De-facto-Behörden sind dabei, den Rechtsrahmen und das Justizsystem Afghanistans auf die Scharia umzustellen. Im Dezember 2022 berichtete der UN-Generalsekretär, dass die De-facto-Behörden bisher nicht auf anhaltende Unklarheiten in Bezug auf die Rahmenbedingungen des politischen und rechtlichen Systems eingegangen seien und dass keine Schritte unternommen worden seien, die Rollenverteilung bei Entscheidungsprozessen innerhalb der De-facto-Behörden formal zu definieren, die nach der eigenen Aussage der Taliban auch weiterhin nur übergangsweise agieren. Der UN-Generalsekretär äußerte seine Besorgnis über die vorherrschende Unklarheit in Bezug auf anwendbare Gesetze. Im Oktober 2022 erklärte der Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, dass die Bemühungen um die Ausarbeitung einer neuen Verfassung im Gange seien. Im November 2022 machte der Oberste Führer der Taliban die Bestrafung nach dem Scharia-Recht, einschließlich öffentlicher Hinrichtungen und körperlicher Strafen, obligatorisch.
21. Die gegenwärtige Situation in Afghanistan stellt das Sammeln umfassender Informationen über die Menschenrechtslage in verschiedenen Landesteilen vor eine Reihe von Hindernissen. Zu diesen Hindernissen gehören die Einschränkungen der Medien in Afghanistan sowie der Zivilgesellschaft und von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern. Der UN-Sonderberichterstatter zur Menschenrechtslage in Afghanistan erklärte im September 2022, dass seit dem 15. August 2021 der Zugang zu Informationen immer schwieriger geworden und die journalistische Unabhängigkeit und Meinungsfreiheit erheblich eingeschränkt worden sei. Der Sonderberichterstatter erklärte, dass fehlende Einkünfte und die Einstellung ausländischer Finanzierung, eingeschränkter Zugang zu Informationen, Selbstzensur, sowie ständiger Druck und Warnungen der De-facto-Behörden zur Schließung von Medienunternehmen oder Reduzierung der Medienaktivitäten beigetragen hätten. Einige Journalistinnen und Journalisten hätten außerdem ihre Arbeit eingestellt oder seien untergetaucht, nachdem sie von der Generaldirektion für Geheimdienste ernsthaft mit dem Leben bedroht worden. Besonders betroffen seien Journalistinnen und Journalisten sowie Medienunternehmen außerhalb der städtischen Ballungszentren. In mindestens vier Provinzen gebe es keine lokalen Medien und in 15 Provinzen hätten zwischen 40% und 80% der Medienunternehmen geschlossen.
22. Im Mai 2022 lösten die De-facto-Behörden die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission, AIHRC), die Unabhängige Kommission zur Überwachung der Umsetzung der Verfassung und die Afghanische Unabhängige Anwaltskammer auf. Die AIHRC veröffentlichte im August 2022 dennoch einen Bericht über die Menschenrechtssituation in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban, betonte jedoch, dass der Bericht keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit erhebe, da dutzende fortbestehender Menschenrechtsverletzungen aufgrund fehlender Möglichkeiten zur Menschenrechtsbeobachtung nicht erwähnt worden seien. Ebenso kommentierte UNAMA in seinem Bericht vom Juli 2022, dass der eigene UNAMA-Menschenrechtsdienst nicht den Anspruch erhebe, dass die in diesem Bericht präsentierten Daten – weder zu Menschenrechtsverletzungen noch zu zivilen Opfern – vollständig seien. UNAMA erkenne an, dass diese Art von Fällen auf Grund der momentanen Lage möglicherweise nicht konsequent gemeldet würden.
23. Der Protection Cluster in Afghanistan hat weitreichende Herausforderungen bei der Überwachung von Menschenrechten im Land identifiziert. Im November 2022 erklärte der Cluster, dass das Sammeln und Speichern von Daten zu Menschenrechtsverletzungen von besonderer Besorgnis sei und sowohl Betroffene als auch Dienstleistende in Gefahr bringen könne. Der Cluster berichtete, dass die Beobachtung der Menschenrechtssituation von Frauen und Mädchen in Afghanistan, auch in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt, aufgrund der Einschränkungen, welche die De-facto-Behörden weiblichem Personal auferlegt haben, besonders schwierig geworden ist.
24. Angesichts der Hindernisse bei der Informationsbeschaffung und Berichterstattung über Afghanistan fordert UNHCR die Entscheidungsträgerinnen und -träger über Asylanträge afghanischer Staatsangehöriger auf, keine nachteiligen Schlussfolgerungen aus dem Fehlen verifizierter Herkunftslandinformationen zu schließen, die der Unterstützung und Untermauerung der vorgelegten Beweise durch die Antragstellenden dienen. In der aktuellen Lage in Afghanistan wird es regelmäßig der Fall sein, dass Menschenrechtsverletzungen und -verstöße häufig nicht berichtet und dokumentiert werden. Das Fehlen von Herkunftslandinformationen, die bestimmte Vorfälle oder Muster von Menschenrechtsverletzungen und Missbrauch beschreiben, sollte daher an sich kein Grund sein, an der Glaubhaftigkeit der Antragstellenden zu zweifeln, wenn deren Aussagen ansonsten kohärent und schlüssig sind.
25. Darüber hinaus appelliert UNHCR an die Entscheidungsträgerinnen und -träger, der Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit, die den von den De-facto-Behörden angenommenen Modalitäten für den Erlass von Dekreten innewohnt, sowie den anhaltenden Ungewissheiten hinsichtlich der Anwendbarkeit des früheren afghanischen Rechtsrahmens das nötige Gewicht beizumessen. UNHCR vertritt die Ansicht, dass diese Umstände die Beurteilung eines künftigen Verfolgungsrisikos auf der Grundlage der derzeit verfügbaren Informationen zur Menschenrechtslage in Afghanistan besonders erschweren, insbesondere wenn es darum geht, mit der notwendigen Sicherheit abzuschätzen, ob afghanische Asylsuchende im Falle einer Rückkehr einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt wären. Veränderte Umstände als Grund für neue Anträge oder Folgeanträge oder als Basis für Sur Place Ansprüche
26. UNHCR ruft die Aufnahmeländer auch dazu auf, sicherzustellen, dass afghanische Schutzsuchende, die ihre Anträge vor dem 15. August 2021 gestellt, aber bis dahin noch keine Entscheidung erhalten haben, zusätzliche Informationen vorbringen können, um ihre Anträge im Lichte der veränderten Umstände in Afghanistan und einem möglicherweise daraus resultierenden neuen oder erhöhten Risiko zu unterstützen. Gleichermaßen ruft UNHCR die Staaten dazu auf, sicherzustellen, dass Afghaninnen und Afghanen, die sich bereits vor dem 15. August 2021 außerhalb Afghanistans befunden haben, aber bis dahin keinen Asylantrag stellen mussten, einen sur place Asylantrag basierend auf den neuen Risiken, denen sie aufgrund der veränderten Umstände in Afghanistan ausgesetzt sein könnten, stellen können.
27. UNHCR ruft die Aufnahmeländer zudem dazu auf, sicherzustellen, dass Afghaninnen und Afghanen, deren Anträge auf internationalen Schutz vor dem 15. August 2021 abgelehnt wurden, einen neuen Antrag oder einen Folgeantrag auf der Grundlage stellen können, dass die gegenwärtige Situation in Afghanistan eine Veränderung der Umstände darstellt, die einen internationalen Schutzbedarf als Flüchtling oder in anderer Weise begründen könnte.
28. Angesichts der Vorrangigkeit der Genfer Flüchtlingskonvention ruft UNHCR die Aufnahmeländer dazu auf, Afghaninnen und Afghanen, die vor dem 15. August 2021 komplementäre Schutzformen erhalten haben - darunter auch der subsidiäre Schutz nach Unionsrecht –, welche im Hinblick auf den rechtlichen Status und den Zugang zu Rechten nicht gleichwertig mit dem Flüchtlingsschutz sind, eine neue Antragstellung auf Gewährung des Flüchtlingsstatus im Lichte der veränderten Umstände in Afghanistan zu erlauben. Vorübergehender Schutz
29. In Ländern ohne ein funktionierendes Asylsystem, oder in denen Staaten vor der Herausforderung stehen, ihr bestehendes Asylsystem an die Notwendigkeit anzupassen, eine potenziell große Anzahl an Schutzgesuchen afghanischer Staatsangehöriger zu prüfen, ruft UNHCR die Staaten weiterhin dazu auf, den Schutz aller Afghaninnen und Afghanen vor Refoulement im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach internationalem und regionalem Recht sicherzustellen. UNHCR ermutigt die Staaten, eine Rechtsgrundlage für den Aufenthalt von Afghaninnen und Afghanen zu schaffen, wie beispielsweise Formen des vorübergehenden Schutzes oder andere Vereinbarungen mit angemessenen Sicherheitsgarantien, bis auf der Grundlage einer objektiven Beurteilung festgestellt werden kann, dass sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in Afghanistan dauerhaft verbessert hat und beim Fehlen eines internationalen Schutzbedarfs eine freiwillige Rückkehr zumutbar ist und in einer sicheren und würdevollen Weise durchgeführt werden kann. Familienzusammenführung
30. UNHCR ruft die Staaten weiterhin eindringlich dazu auf, die Verfahren für eine Familienzusammenführung für Afghaninnen und Afghanen, deren Familie in Afghanistan zurückgeblieben ist oder innerhalb der Region vertrieben wurde, zu erleichtern und zu beschleunigen. Der Grundsatz der Familieneinheit genießt Schutz nach internationalem Recht, einschließlich in verbindlichen regionalen Abkommen. Eine Familienzusammenführung ist häufig der einzige Weg um sicherzustellen, dass das Recht von Flüchtlingen auf Familienleben und Familieneinheit respektiert wird. Angesichts der gegenwärtigen Situation in Afghanistan ist UNHCR besorgt, dass viele Afghaninnen und Afghanen bei der Verwirklichung dieses Rechts vor erhebliche administrative Hürden gestellt werden können. Da viele Botschaften und Konsulate in Afghanistan derzeit geschlossen sind, ruft UNHCR die Länder eindringlich dazu auf, die Hürden zu berücksichtigen, mit denen Flüchtlinge bei der Erfüllung von anspruchsvollen administrativen Anforderungen und Nachweispflichten für eine Zusammenführung konfrontiert sein können. UNHCR schlägt vor, eine pragmatischere und flexiblere Herangehensweise zu wählen, wie etwa die Nutzung innovativer Bearbeitungsmethoden und Video-Interviews. UNHCR ermutigt Staaten, bei der Identifizierung berechtigter Familienmitglieder im Rahmen von Familienzusammenführungsprogrammen liberale und humane Kriterien anzuwenden und dabei vielfältige Familienzusammensetzungen und -strukturen zu berücksichtigen. Empfehlung eines Abschiebestopps
31. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der weitreichenden humanitären Notlage im Land fordert UNHCR die Staaten weiterhin dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen - auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Die Aussetzung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.
32. In Übereinstimmung mit den Zusagen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen des Globalen Flüchtlingsforums, die Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen, hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan zwangsweise in Länder in der Region zurückzuführen, da Länder wie der Iran und Pakistan derzeit beträchtliche Zahlen an Afghaninnen und Afghanen beherbergen und jahrzehntelang großzügig die überwiegende Mehrheit der Gesamtzahl afghanischer Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben.
33. UNHCR erkennt das individuelle Menschenrecht an, in das eigene Herkunftsland zurückzukehren. Jede von UNHCR erbrachte Hilfeleistung von Flüchtlingen bei der Rückkehr nach Afghanistan hat das Ziel, Personen zu unterstützen, die bei vollumfänglicher Information über die Situation in ihren Herkunftsorten oder anderen Orten ihrer Wahl die Entscheidung für eine freiwillige Rückkehr getroffen haben. Alle Aktivitäten von UNHCR bei der Unterstützung freiwilliger Rückkehr nach Afghanistan, einschließlich Bemühungen für eine nachhaltige Reintegration von Rückkehrenden und Binnenvertriebenen in Afghanistan, sollten im Hinblick auf solche Personen, die in den Aufnahmeländern internationalen Schutz beantragt haben, nicht als eine Einschätzung von UNHCR bezüglich der Sicherheitslage und sonstigen Situation in Afghanistan betrachtet werden. Bei freiwilliger Rückkehr und zwangsweisen Rückführungen handelt es sich um Verfahren von grundsätzlich unterschiedlichem Charakter, die unterschiedliche Verantwortlichkeiten verschiedener Akteure nach sich ziehen.
34. UNHCR wird die Situation in Afghanistan weiterhin beobachten, um den internationalen Schutzbedarf, der sich aus der aktuellen Situation ergibt, zu prüfen.
Anmerkungen von UNHCR zu den Leitlinien zum Internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen – Update römisch eins, Februar 2023 (Schreibfehler teilweise korrigiert):
„UNHCR ruft weiterhin alle Staaten dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren, das Recht, Asyl zu suchen, zu garantieren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen.
1. Basierend auf verfügbaren Berichten über weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan, darunter Berichte, die UNHCR im Rahmen seines Monitoring-Programms von auf der Flucht und bereits im Ausland befindlichen Afghan*innen erhalten hat, werden viele unter ihnen einen internationalen Schutzbedarf aufweisen.
2. Im Lichte der Menge an zunehmend einschränkenden Maßnahmen, die Frauen und Mädchen in Afghanistan in Verletzung ihrer Menschenrechte durch die De-facto-Behörden auferlegt wurden, ist UNHCR der Auffassung, dass afghanische Frauen und Mädchen wahrscheinlich internationalen Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention benötigen.
3. Andere Profile mit erhöhtem internationalen Schutzbedarf verglichen zur Situation vor den Geschehnissen vom 15. August 2021 sind:
i. Afghan*innen, die mit der ehemaligen Regierung oder der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan in Verbindung stehen, einschließlich frühere Mitarbeitende von Botschaften und Angestellte internationaler Organisationen;
ii. Ehemalige Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte und Afghan*innen, die mit den ehemaligen internationalen Streitkräften in Afghanistan in Verbindung stehen;
iii. Journalist*innen und in der Medienbranche tätige Personen; Menschenrechtsverteidiger*innen und -aktivist*innen und Rechtsanwält*innen, die diese unterstützen;
iv. Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten, inklusive Hazara;
v. Menschen mit verschiedenen Formen sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identitäten und/oder Geschlechtsausdrücken.
Diese Liste erhebt nicht den Anspruch einer abschließenden Aufzählung aller Profile von Afghan*innen, die eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung haben könnten. Jeder Antrag auf internationalen Schutz sollte unter Berücksichtigung der von den Antragsteller*innen vorgelegten Beweise sowie aller relevanten Informationen über das Herkunftsland, soweit verfügbar, geprüft werden. UNHCR weist darauf hin, dass Familienangehörige und andere Personen, die eng mit von Verfolgung bedrohten Personen verbunden sind, häufig selbst gefährdet sind.
4. In Anbetracht der Hindernisse bei der Informationsbeschaffung und Berichterstattung in Afghanistan ruft UNHCR die Entscheidungsträger*innen über Asylanträgen afghanischer Staatsangehöriger dazu auf, keine nachteiligen Schlüsse aus dem Fehlen verifizierter Informationen über das Herkunftsland zu ziehen, um alle Aspekte der von Asylsuchenden vorgelegten Beweise zu untermauern und zu bekräftigen.
5. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der weitreichenden humanitären Notlage im Land fordert UNHCR die Staaten weiterhin dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen – auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden.“
4. Beweiswürdigung:
Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zugrunde:
Der Verfahrensgang ergibt sich aus den zur gegenständlichen Rechtssache vorliegenden Verfahrensakten des BFA und des BVwG.
4.1. Zur Person der BF:
Die Feststellungen zur Identität der BF ergeben sich aus ihren überwiegend gleichbleibenden Angaben vor dem BFA, in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG sowie aus den Feststellungen der Erkenntnisse der Vorverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Herkunft, insbesondere zu ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu den Lebensumständen der BF in Afghanistan sowie im Iran, stützen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben der BF im Verfahren vor dem BFA und in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG, auf die Kenntnis und Verwendung der Sprachen Dari bzw. Farsi und Usbekisch und die Kenntnis der geografischen Gegebenheiten Afghanistans und des Iran.
Die Feststellungen zur derzeitigen Lebenssituation in Österreich ergeben sich aus den glaubhaften Angaben der BF1 bis BF4 im Verfahren vor dem BFA und insbesondere den Aussagen der BF1, des BF2, des BF3 und der BF4 in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit der BF1 bis BF4 im Bundesgebiet ergibt sich aus der Einsichtnahme in das österreichische Strafregister.
4.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
Die Feststellungen zu den Gründen der BF für das Verlassen ihres Heimatstaates stützen sich auf die von den BF in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG getroffenen Aussagen.
Die Feststellungen zur BF1 als einer am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frau ergeben sich aus ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG, insbesondere dem persönlichen Eindruck, der von der BF1 in der Verhandlung gewonnen werden konnte. Die BF1 hat im Wesentlichen übereinstimmend, plausibel und schlüssig dargelegt, dass sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan begründete Furcht davor hat, dass sie kein ausreichend frei bestimmtes Leben führen könne.
Die BF1 hat glaubhaft dargelegt, vom Willen getragen zu sein, den Alltag selbständig zu bestreiten und in Österreich beruflich Fuß zu fassen, weswegen sie bereits ihren Pflichtschulabschluss nachgeholt und eine Bewerbung für die Ausbildung zur Kindergartenassistentin vorgelegt hat.
Die Feststellungen zur BF4 als einer am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Teenagerin ergeben sich aus ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG, insbesondere dem persönlichen Eindruck, der von der BF4 in der Verhandlung gewonnen werden konnte. Die BF4 hat plausibel und schlüssig dargelegt, dass sie für sich selbst finanziell aufkommen möchte, dies etwa durch Vorlage einer Arbeitnehmerbestätigung. Zudem möchte sie eigenständig reisen und tut dies bereits. Wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt, ist es ihr in Afghanistan nicht möglich, ein ausreichend frei bestimmtes Leben führen, insbesondere zur Schule gehen bzw. studieren und als Lehrerin arbeiten zu können.
Die BF1 konnte überzeugend darlegen, dass sie in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt, sondern diese vielmehr ablehnt, sich aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich an eine Lebensführung ohne religiös motivierte Einschränkungen angepasst hat und sich auch weiter anpassen will. Dies konnte auch die BF4 glaubhaft machen, zumal sie einen großen Teil ihres Lebens und Erwachsenwerdens in Österreich verbracht hat. Dies ergibt sich auch aus den Länderinformationen.
Es steht die nach außen hin auch erkennbare persönliche Wertehaltung der BF1 und der BF4 zu der in der afghanischen Gesellschaft vorherrschenden konservativ-restriktiven Wertehaltung hinsichtlich der Rolle und Stellung von Frauen im eindeutigen Widerspruch. Die persönliche und nach außen offen dargelegte Wertehaltung der BF1 und BF4 an ein würdiges Leben als Frau steht zu der in Afghanistan weiterhin vorherrschenden Situation für Frauen im völligen Gegensatz. Dieser Eindruck wird zudem durch ihr Auftreten und ihr Erscheinungsbild bei der mündlichen Verhandlung unterstrichen.
In einer Gesamtschau der Angaben der BF1 und BF4 im gesamten Verlauf des Verfahrens und aus den dargelegten Erwägungen erscheint ihr Vorbringen zu ihrer Furcht vor Verfolgung in Afghanistan als „westlich“ orientierte Frau insgesamt als glaubhaft. Es ist daher davon auszugehen, dass der BF1 und der BF4 im Fall der Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus asylrelevanten Gründen drohen würde und die staatlichen Einrichtungen Afghanistans nicht willens bzw. in der Lage sein würden, ihnen vor dieser Verfolgung im ausreichenden Maß Schutz zu bieten. Dies gilt insbesondere seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021.
Die BF2 und BF3 konnten zwar glaubhaft machen, dass sie die von den Taliban vorgeschriebene Lebensweise ablehnen, doch ergibt sich daraus für sich betrachtet noch keine Verinnerlichung westlicher Werte („westliche Orientierung“), aufgrund welcher dem BF2 und dem BF3 als Mann (asylrelevante) Verfolgung in Afghanistan drohen würde. Die weiteren Ausführungen des BF3 bezogen sich lediglich auf die allgemeine Sicherheitslage und die gesellschaftliche Situation in Afghanistan. Andere asylrelevante Vorbringen wurden von BF2 und BF3 nicht geltend gemacht.
4.3. Zur Lage in ihrem Herkunftsstaat:
Die diesem Erkenntnis zugrundegelegten Länderfeststellungen (siehe oben Punkt 3.3.) gründen sich auf Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes und schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem BVwG von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation fallrelevant nicht wesentlich geändert haben und insbesondere für das BFA notorisch sind (Quellen der Staatendokumentation des BFA bzw. von UNHCR).
Dass sich seit der Erlassung des bekämpften Bescheides des BFA in Afghanistan allgemein und für den gegenständlichen Fall relevant eine entscheidende Lageveränderung ergeben hätte, kann in diesem Fall verneint werden. Die Lage in Afghanistan stellt sich diesbezüglich im Wesentlichen unverändert dar, wie sich das erkennende Gericht durch ständige Beachtung der aktuellen Quellenlage (u. a. durch Einschau etwa in die aktuelle Länderinformation der Staatendokumentation) versichert hat.
Die Verfahrensparteien haben diese Feststellungen nicht bestritten.
5. Rechtliche Beurteilung:
5.1. Anzuwendendes Recht:
5.1.1. Gegenständlich sind die Verfahrensbestimmungen des AVG, des BFA-VG, des VwGVG und jene im AsylG enthaltenen sowie die materiellen Bestimmungen des AsylG in der geltenden Fassung samt jenen Normen, auf welche das AsylG verweist, anzuwenden.
Mit 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005, in der geltenden Fassung) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.
Gemäß Paragraph 6, Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 10 aus 2013, in der geltenden Fassung, entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer eins, des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 87 aus 2012, in der geltenden Fassung, entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA das BVwG.
Gemäß Paragraph 27, VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (Paragraph 9, Absatz 3,) zu überprüfen.
Gemäß Paragraph 28, Absatz eins, VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, Ziffer eins, B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß Paragraph 15, AsylG hat der Asylwerber am Verfahren nach diesem Bundesgesetz mitzuwirken und insbesondere ohne unnötigen Aufschub seinen Antrag zu begründen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Gemäß Paragraph 18, AsylG hat die Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Bescheinigungsmittel für die Angaben bezeichnet oder die angebotenen Bescheinigungsmittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Bescheinigungsmittel auch von Amts wegen beizuschaffen.
5.1.2. Zum Familienverfahren:
Gemäß Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG gilt der Antrag eines Familienangehörigen eines Asylwerbers auf internationalen Schutz als „Antrag auf Gewährung desselben Schutzes“. Die Behörde hat gemäß Paragraph 34, Absatz 4, AsylG Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind „unter einem“ zu führen, und es erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid.
Wird gegen eine zurückweisende oder abweisende Entscheidung im Familienverfahren auch nur von einem betroffenen Familienmitglied Beschwerde erhoben, gilt diese gemäß Paragraph 16, Absatz 3, BFA-VG auch als Beschwerde gegen die die anderen Familienangehörigen betreffenden Entscheidungen; keine dieser Entscheidungen ist dann der Rechtskraft zugänglich.
Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG ist „Familienangehöriger“:
a. der Elternteil eines minderjährigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten;
b. der Ehegatte oder eingetragene Partner eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten, sofern die Ehe oder eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat;
c. ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten und […].
Aus der Wendung in Paragraph 34, Absatz 4, zweiter Satz AsylG, Familienverfahren seien „unter einem“ zu führen, ist abzuleiten, dass diese – jedenfalls in der hier vorliegenden Konstellation – von derselben Behörde zu führen sind. Demgemäß gehen die Materialien zum AsylG davon aus, dass Ziel der Bestimmungen des Paragraph 34, AsylG sei, Familienangehörigen den gleichen Schutz zu gewähren, ohne ihnen ein Verfahren im Einzelfall zu verwehren. Wenn einem Familienmitglied der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde, solle „dieser allen anderen Familienmitgliedern – im Falle von offenen Verfahren zur gleichen Zeit von der gleichen Behörde – zuerkannt werden“ (Erläuterungen zur RV, 952 BlgNR römisch 22 .GP; vergleiche zu Paragraph 10, Absatz 5, AsylG 1997 – bezogen auf die Frage der Zulassung – auch VwGH 18.10.2005, 2005/01/0402).
Gemäß Paragraph 34, Absatz 6, Ziffer 2, AsylG sind die Sonderbestimmungen des Familienverfahrens nicht auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Familienverfahrens zuerkannt wurde, anzuwenden, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind.
Für das Verhältnis von Eltern und Kindern betreffend die Konstellation des Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG, in der sämtliche Fremde den Antrag zur selben Zeit gestellt haben und zu dieser Zeit das Kind, welches den Status der Asylberechtigen zugesprochen bekommen hat, noch minderjährig war, sind die Vorschriften für das Familienverfahren nach Paragraph 34, AsylG vollumfänglich zur Anwendung zu bringen, unabhängig davon, ob dieses Kind im Zeitpunkt der Zuerkennung des Asylstatus bereits die Volljährigkeit erreicht hat vergleiche VwGH 24.10.2018, 2018/14/0040).
5.2. Rechtlich folgt daraus:
Zu Spruchteil A):
5.2.1. Die gegenständliche, zulässige und rechtzeitige Beschwerde wurde fristgerecht am 24.10.2023 beim BFA eingebracht und ist nach Vorlage am 30.10.2023 beim BVwG eingegangen. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des BVwG zuständigen Einzelrichter.
5.2.2. Bezüglich der Verfahren von BF1, BF2 und BF4 bis BF7 liegt ein Familienverfahren gemäß Paragraph 34, AsylG vor, da die BF4 bis BF7 zum Zeitpunkt der Asylantragstellung die minderjährigen, ledigen Kinder der BF1 und des BF2 gewesen sind. Das Verfahren des zum Zeitpunkt der Antragsstellung bereits volljährig gewesenen BF3 wurde aus Zweckmäßigkeitsgründen gemäß Paragraph 39, AsylG wegen gleicher Sachlage im Sinne einer verfahrensökonomischen Vorgehensweise gemeinsam mit jenem seiner Familienmitglieder geführt. Es ergehen Erkenntnisse mit gleichlautender Begründung, aber jeweils individuell konkretem Spruch für jeden BF.
5.2.3. Das BVwG stellt weiters fest, dass die Verwaltungsverfahren in wesentlichen Punkten rechtmäßig durchgeführt wurden, wenngleich das erkennende Gericht nach Durchführung einer Beschwerdeverhandlung zu einer teilweise anderen rechtlichen Beurteilung gelangt ist.
5.2.4. Zu den Beschwerden:
Dem Vorbringen der BF1, des BF2 und der BF4 bis BF7 in der Beschwerde war Erfolg beschieden. Der BF1 und der BF4 wurde Asyl originär, dem BF2 und den BF5 bis BF7 abgeleitet von der BF1 bzw. bezüglich des BF2 auch von der BF4 im Familienverfahren gewährt.
Dem Vorbringen des BF3 in der Beschwerde war mangels Glaubhaftmachung einer aktuellen, konkreten und individuellen Verfolgung kein Erfolg beschieden.
5.2.5. Zu Paragraph 3, AsylG (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides):
5.2.5.1. Gemäß Paragraph 3, AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist und glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974, (in der Folge GFK) droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; Neufassung) verweist.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG) gesetzt hat.
Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist vergleiche z. B. Verwaltungsgerichtshof – VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation fürchten würde.
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031). Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse vergleiche VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vergleiche auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.
Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein vergleiche dazu VwGH 09.03.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; VwGH 18.02.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH vergleiche VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793; 23.02.2011, 2011/23/0064) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird vergleiche VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).
Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0370; VwGH 22.10.2002, 2000/01/0322).
Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände im Sinne des Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, 98/20/0399; VwGH 03.05.2000, 99/01/0359).
Innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative:
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl vergleiche z. B. VwGH 24.03.1999, 98/01/0352 mwN; VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; VwGH 15.03.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „inländischen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539).
5.2.5.2. Asylgewährung an die BF1 und die BF4:
Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht der BF1 und der BF4, in ihrem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen – als am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frauen – verfolgt zu werden, begründet ist:
Die BF1 und BF4 haben glaubhaft dargelegt, dass sie als am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frauen (selbstbestimmt leben wollen) im Fall der Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ausgesetzt wären.
Nach der Rechtsprechung des VwGH können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen (VwGH 22.02.2018, Ra 2017/18/0357).
Die Verfolgung aus dem Grund der politischen Gesinnung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK liegt in jenen Fällen vor, in denen der ungerechtfertigte Eingriff an die politische Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung der betroffenen Person anknüpft. Zur Begründung asylrechtlich relevanter Verfolgung kommt es nicht darauf an, ob der Asylwerber selbst die politische Gesinnung teilt, die ihm von den Behörden des Heimatstaates unterstellt wird, sondern lediglich darauf, ob die Verfolgungsmaßnahmen auf eine dem Asylwerber eigene bestimmte politische Gesinnung zurückgeführt werden (VwGH 30.09.1997, 96/01/0871). Als politisch kann alles qualifiziert werden, was für den Staat, für die Gestaltung bzw. Erhaltung der Ordnung des Gemeinwesens und des geordneten Zusammenlebens der menschlichen Individuen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist (VwGH 12.09.2002, 2001/20/0310).
Bei der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ gemäß Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK handelt es sich um einen Auffangtatbestand, der sich in weiten Bereichen mit den Gründen Rasse, Religion und Nationalität überschneidet, jedoch weiter gefasst ist als diese (VwGH 20.10.1999, 99/01/0197).
Gemäß Artikel 10, Absatz eins, Litera d, der Statusrichtlinie 2004/83/EG (in der Neufassung 2011/95/EU diesbezüglich unverändert) gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
● die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
● die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Generell wird eine soziale Gruppe durch Merkmale konstituiert, die der Disposition der betreffenden Personen entzogen sind, beispielsweise das Geschlecht. Frauen stellen beispielsweise eine „besondere soziale Gruppe“ im Sinne der GFK dar vergleiche etwa Köfner/Nicolaus, Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Band römisch II [1986] 456).
Für die BF1 und BF4 wirkt sich die derzeitige Situation in Afghanistan so aus, dass sie im Fall einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbarer Einschränkungen und durch das Bestehen dieser Situation einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein könnten. Insbesondere seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat sich die Situation für Frauen in Afghanistan weiter gravierend verschärft. Trotz anderslautenden Zusagen wurden die Rechte von Frauen, insbesondere das Recht auf Bildung, stark beschnitten, und laut UN-Menschenrechtsexperten hat die Taliban-Führung in großem Umfang und systematisch geschlechterspezifische Gewalt und Diskriminierung institutionalisiert vergleiche Länderfeststellungen unter Punkt 3.3.1.).
Gerade die BF1 und die BF4 unterliegen einer diesbezüglich erhöhten Gefährdung, weil sie aufgrund ihrer Wertehaltung und Lebensweise bei einer Rückkehr gegenwärtig in Afghanistan als Frauen wahrgenommen würden, die sich als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, die Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benehmen; sie sind insofern einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt vergleiche hierzu auch EGMR 20.07.2010, 23.505/09, N./Schweden, ebenfalls unter Hinweis auf UNHCR). Die BF1 und die BF4 sind der Gefahr einer Verfolgung aus (zumindest unterstellten) politischen und/oder religiösen Gründen ausgesetzt.
Den getroffenen Feststellungen zufolge ist dieses Risiko sowohl als generelle, die afghanischen Frauen betreffende Gefährdung zu sehen (Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs bzw. Verbrechens zu werden) als auch als spezifische Gefährdung, bei non-konformem Verhalten (das heißt bei Verstößen gegen gesellschaftliche Normen wie beispielsweise Bekleidungsvorschriften) einer „Bestrafung“ ausgesetzt zu sein. Aus beiden Aspekten resultierend wären die BF1 und BF4 im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit einer Situation konfrontiert, in der sie in der Ausübung grundlegender Menschenrechte beeinträchtigt wären.
Es ist gegenständlich davon auszugehen, dass die BF1 und BF4 vor diesen Bedrohungen in Afghanistan nicht ausreichend geschützt werden können. Den aktuellen Feststellungen zufolge ist nicht davon auszugehen, dass effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden. Ausgehend davon können die BF1 und die BF4 nicht damit rechnen, dass sie angesichts des sie als Frauen betreffenden Risikos, Opfer von Übergriffen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden können. Dies gilt umso mehr, seit die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen haben, da Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen, wie oben dargelegt, auch gerade von diesen ausgehen und institutionalisiert werden.
Angesichts der dargestellten Umstände ist im Fall der BF1 und der BF4 daher davon auszugehen, dass sie in Afghanistan den Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus der befürchteten Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten haben. Das oben dargestellte Verfolgungsrisiko beruht im gegenständlichen Fall in ihrer politischen Gesinnung als überwiegend am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten Frauen, die selbstbestimmt leben möchten, und in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen vergleiche dazu VwGH 16.04.2002, 99/20/0483; VwGH 20.06.2002, 99/20/0172).
Da weder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, noch ein in Artikel eins, Abschnitt C oder F der GFK genannter Endigungs- und Asylausschlussgrund hervorgekommen ist, ist der Beschwerde stattzugeben und der BF1 sowie der BF4 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass den Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
5.2.5.3. Asylgewährung an den BF2, den BF5, die BF6 und die BF7:
Nach der Rechtsprechung des VwGH ist jeder Antrag eines Familienangehörigen, unabhängig von der konkreten Formulierung, überdies in erster Linie auf die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gerichtet. Es sind daher für jeden Antragsteller allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln. Nur wenn solche – nach einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren – nicht hervorkommen, ist dem Antragsteller jener Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt wurde vergleiche VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0063).
Für den BF2, den BF5, die BF6 und die BF7 liegen mangels eigener Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen keine Gründe für eine originäre Asylzuerkennung vor.
Der BF1 und der BF4 wird mit Erkenntnis des BVwG mit heutigem Datum rechtskräftig der Status der Asylberechtigten zuerkannt, nachdem sie gegen den abweisenden Bescheid des BFA Beschwerde erhoben haben.
Der BF2 ist der Ehemann der BF1 und Vater der minderjährigen BF4. Der BF5 und die BF6 und die BF7 sind die minderjährigen ledigen Kinder der volljährigen BF1, alle drei sind Geschwister der minderjährigen BF4. BF2, BF5, BF6 und BF7 sind somit als Familienangehörige der BF1 und BF4 im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, in Verbindung mit Paragraph 34, AsylG zu qualifizieren vergleiche zu einer vergleichbaren Konstellation VwGH 24.10.2018, Ra 2018/14/0040).
Zwischen den BF1, BF2, BF4, BF5, BF6 und BF7 besteht ein aufrechtes Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK, sodass den BF2, BF5, BF6 und BF7 im Familienverfahren der Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 34, Absatz 2, AsylG mit Erkenntnis des BVwG mit heutigem Datum rechtskräftig zuerkannt wird.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass den Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (Spruchpunkt römisch II. dieses Erkenntnisses).
5.2.5.4. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten an den BF3:
Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF3, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen konnte vom BF3 jedoch nicht glaubhaft gemacht werden. Das Verlassen des Herkunftsstaates aus persönlichen Gründen oder wegen der dort vorherrschenden prekären Lebensbedingungen stellt keine relevante Verfolgung im Sinne der GFK dar. Auch Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen keine Verfolgung im Sinne der GFK dar.
Da der BF3 eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen konnte, liegt die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, nicht vor. Dafür, dass der BF aus einem asylrelevanten Grund von der allgemeinen Lage besonders betroffen wäre, lässt sich kein Anhaltspunkt erkennen. Es wird nicht verkannt, dass für Männer im wehrfähigen Alter und Kinder (im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung) ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz bestehen kann (unter Verweis auf das diesbezügliche Risikoprofil in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender). Auch unter Berücksichtigung der aktuellen Lage im Zusammenhang mit der Machtübernahme durch die Taliban und ihrer damit erhöhten und wenig bestrittenen Präsenz kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass gleichfalls jeder Mann im wehrfähigen Alter/jedes Kind von Zwangsrekrutierung – auch bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat und ohne Hinzutreten weiterer, individueller Umstände – betroffen wäre.
Für den BF3 liegen daher mangels eigener Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen keine Gründe für eine originäre Asylzuerkennung vor.
Nach der Rechtsprechung des VwGH ist jeder Antrag eines Familienangehörigen, unabhängig von der konkreten Formulierung, überdies in erster Linie auf die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gerichtet. Es sind daher für jeden Antragsteller allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln. Nur wenn solche – nach einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren – nicht hervorkommen, ist dem Antragsteller jener Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt wurde vergleiche VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0063).
Der BF1 und der BF4 werden mit Erkenntnis des BVwG mit heutigem Datum rechtskräftig der Status der Asylberechtigten zuerkannt, nachdem sie gegen den abweisenden Bescheid des BFA Beschwerde erhoben haben.
Der BF3 ist der volljährige, ledige Sohn der BF1 und Bruder der minderjährigen BF4. Der BF3 ist somit nicht als Familienangehöriger der BF1 und BF4 im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, in Verbindung mit Paragraph 34, AsylG zu qualifizieren vergleiche zu einer vergleichbaren Konstellation VwGH 24.10.2018, Ra 2018/14/0040).
Es liegt somit in dieser Konstellation kein aufrechtes Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK vor, sodass dem BF3 im Familienverfahren der Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 34, Absatz 2, AsylG mit Erkenntnis des BVwG nicht zuerkannt wird.
Es ist darauf hinzuweisen, dass dem BF3 auf Grund der aktuellen Lage in Afghanistan und seiner individuellen Situation bereits der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist.
Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides, mit dem dem BF3 der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt worden ist, gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG als unbegründet abzuweisen.
Zu Spruchteil B):
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), Bundesgesetzblatt Nr. 10 aus 1985, in der geltenden Fassung, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des VwGH bezüglich der Glaubhaftmachung asylrelevanter Verfolgungsgründe und der Asylgewährung an Frauen aus Afghanistan, die „verwestlicht“ sind (selbstbestimmt leben wollen) und der Voraussetzungen zur Gewährung von internationalem Schutz im Familienverfahren auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind somit weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen, zumal im vorliegenden Fall vornehmlich die Klärung von Sachverhaltsfragen maßgeblich die zu treffende Entscheidung war.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zum Teil zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich weitestgehend gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
ECLI:AT:BVWG:2024:W191.2180672.2.00