Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

29.01.2024

Geschäftszahl

W205 2262390-1

Spruch


W205 2262390-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. SCHNIZER-BLASCHKA als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Somalia, vertreten durch BBU GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.10.2022, Zl. 1285854004/211424194, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.01.2024, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte am 28.09.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Bei seiner Erstbefragung am 29.09.2021 nannte der Beschwerdeführer den römisch 40 2004 als sein Geburtsdatum und gab er als Fluchtgrund Folgendes zu Protokoll:

„Ich habe Somalia aufgrund der Diskriminierung meiner Volksgruppe ,Gabooye‘ verlassen. Mein Onkel tötete eine Person und flüchtete anschließend. Da mein Vater starb, sollte ich wegen Blutfehde getötet werden. Ich hatte Angst getötet zu werden und floh aus Somalia.

Ich habe hiermit alle meine Gründe und dazugehörigen Ereignisse angegeben, warum ich nach Österreich gereist bin. Ich habe keine weiteren Gründe einer Asylantragstellung.“

Bei einer Rückkehr in seine Heimat habe er Angst um sein Leben.

Nach Einholung eines altersdiagnostischen Gutachtens eines medizinischen Sachverständigen stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (kurz: BFA) mit Verfahrensanordnung vom 11.11.2021 fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am römisch 40 2002 geboren wurde.

Am 20.04.2022 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Somali einvernommen. Hierbei gab er insbesondere an:

„[…]

Angaben zur Person und Lebensumständen:

F: Wie heißen Sie und wann sind Sie geboren?

A: Ich heiße römisch 40 und bin am römisch 40 2002 geboren.

Vorhalt: Sie haben bei der Erstbefragung angegeben, dass Sie am römisch 40 2004 geboren sind. Warum haben Sie dies angegeben?

A: Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich an diesem Datum geboren bin. Als ich nach Österreich gekommen bin, wurde hier eine Altersfeststellung durchgeführt und diese hat ergeben, dass ich spätestens am römisch 40 2002 geboren bin.

[…]

F: Wie geht es Ihrer Familie in Somalia?

A: Es geht ihnen wirtschaftlich sehr schlecht und es ist unsicher dort. Meine Schwester ist auch krank.

F: Welche Schwester ist krank und was hat Sie?

A: Meine Schwester hat sich verbrannt. Über Nachfrage gebe ich an, dass die Männer, als ich geflüchtet bin, unsere Hütte angezündet haben und meine Schwester dort die Verbrennungen erlitten hat.

[…]

Angaben zu Ihrem Fluchtgrund

F: Hatten Sie in Somalia jemals Probleme aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit?

A: Ja, ich hatte Probleme wegen meiner Clanzugehörigkeit.

[…]

F: Was war der konkrete Grund, warum Sie Somalia verlassen haben? Erzählen Sie bitte möglichst chronologisch über alle Ereignisse, die Sie persönlich zum Verlassen der Heimat veranlasst haben (freie Erzählung)!

A: Ein Angehöriger der Hawiye hat versucht uns unser Feld wegzunehmen. Die ganze Sache hat im Jahre 2016 angefangen. Wir haben dieses Feld von unserem Großvater geerbt.

Eines Tages ist unser Onkel beim Feld gewesen und hat dort gearbeitet. Es ist dann ein Angehöriger des Hawiye Clans, dieser hieß römisch 40 auf das Feld zu meinem Onkel gekommen. Dies war um ca. 13.00 Uhr. Er hat angefangen sich mit meinem Onkel wegen des Feldes zu unterhalten und er hat meinen Onkel auch bedroht. römisch 40 hatte einen Stock dabei und versetzte meinem Onkel einen Schlag damit. Mein Onkel hat geblutete und hat einen große Hacke genommen und den römisch 40 mit dieser Hacke im Kopfbereich geschlagen.

Er hat römisch 40 schwer verletzt zurückgelassen und ist geflüchtet. Die Männer welche die beiden umgeben haben, haben den römisch 40 ins Krankenhaus gebracht. römisch 40 ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.

Mein Onkel hat meine Mutter angerufen und Ihr alles erzählt. Er hat zu Ihr gesagt, dass sie auf sich aufpassen solle. Ich habe dann von meiner Mutter einen Anruf erhalten. Sie hat mir dann mitgeteilt, dass mein Onkel jemanden umgebracht hat. Sie hat zu mir gesagt, dass ich den Ort an dem ich mich gerade aufhalte verlassen solle. Ich war gerade beim Friseur und habe diesen Friseur verlassen. Dies habe ich gemacht und bin dann zu einem Nachbar, dieser war ein alter Mann, gegangen und habe diesen um Hilfe gebeten. Dieser wusste bereits Bescheid, weil ihn meine Mutter bereits um Hilfe gebeten hat. Der Mann hat mich nach römisch 40 , in ein Dorf geschickt und dort hat sich die Tochter des alten Mannes befunden. Ich habe dort eine Nacht verbracht und der alte Mann hat seiner Tochter Geld geschickt und zu seiner Tochter gesagt, sie solle mich nach Mogadischu schicken. Er wusste auch schon, dass die Angehörigen des Verstorbenen mich bereits in der Stadt gesucht hatten.

Ich bin in römisch 40 in einen Lkw eingestiegen und dort in Richtung Mogadischu gefahren. An der Bushaltestelle dort habe ich meinen Onkel mütterlicherseits getroffen. Dieser hat mich zu sich nach Hause gebracht. Ich war dort ca. einen Monat.

Die Frau des Onkels war krank und mein Onkel hat ein gesundheitliches Visum organisiert und ich bin dort als Begleitperson mit meiner Tante von Somalia aus in die Türkei geflogen. Dies ist am 24.12.2020 gewesen.

Möchten Sie sonst noch etwas dazu sagen?

A: Man hat mich wegen Blutrache gesucht, weil mein Onkel jemanden getötet hat.

F: Wer war dieser römisch 40 ?

A: römisch 40 war der Kommandant der Hawiye vor Ort. Er war ein sehr angesehener Mann in der Stadt.

F: Wo waren Sie als sich der Vorfall zugetragen hat?

A: Ich war gerade auf dem Markt.

Vorhalt: Sie schildern die Geschichte so, als ob Sie selbst dabei gewesen wären. Sie schilderten sehr genau, dass es zunächst zu einem Gespräch zwischen Ihrem Onkel und römisch 40 gekommen ist, römisch 40 Ihren Onkel im Anschluss bedroht hat, dieser römisch 40 einen Stock dabei gehabt hat, mit diesem Stock Ihrem Onkel einen Schlag versetzt hat. Der Onkel dann geblutet hat, eine Hacke genommen hat und damit dem römisch 40 auf den Kopfbereich geschlagen hat. Woher wissen Sie dies alles so detailliert?

A: Ich habe die ganze Sache durch meine Mutter erzählt bekommen.

Vorhalt: Sie sagten vorher noch selbst, dass auch Ihre Mutter nicht vor Ort gewesen ist, sondern dass auch diese nur über einen Telefonanruf über die ganze Sache Kenntnis erlangt hat. Also warum wussten Sie dies so detailliert?

A: Meine Mutter hat die Sache von einem Mann erfahren, welcher dabei war.

Vorhalt: Ich dachte Ihre Mutter hätte über einen Telefonanruf Ihres Onkels Bescheid über die ganze Sache erlangt. Dies haben Sie vorher erzählt. Was sagen Sie dazu?

A: Meine Mutter hat einen Anruf von meinem Onkel erhalten und Ihr wurde gesagt, dass sie aufpassen soll.

F: Wann war nun der andere Mann noch bei Ihrer Mutter?

A: Er hat den bereits verstorbenen Mann noch ins Krankenhaus gebracht und ist danach zu meiner Mutter gegangen und hat Ihr alles erzählt.

F: Was war dies für ein Clanangehöriger, welcher den Mann ins Krankenhaus gebracht hat?

A: Dieser war von dem Clan der Rahanweyn.

Vorhalt: Warum sollte dieser Mann, der von der Rahanweyn stammte, den getöteten Mann der Hawiye ins Krankenhaus bringen, wenn dann doch der Verdacht dagewesen wäre, dass er ihn getötet hat?

A: Er hat ihn nicht alleine ins Krankenhaus gebracht sondern hat ihn mit mehreren anderen Männern dorthin gebracht.

Vorhalt: Warum sollte dieser Mann nicht gleich zu Ihnen nach Hause gegangen sein und Ihre Mutter gewarnt haben?

A: Er ist gleich nachdem er nach Hause gekommen ist zu meiner Mutter gegangen und hat es ihr erzählt, weil er ein Nachbar von uns ist. Über Nachfrage gebe ich an, dass es sich dabei aber nicht um den alten Mann gehandelt hat.

[…]

F: Sie sagten das die Probleme mit den Angehörigen der Hawiye bereits im Jahre 2016 begonnen hätten. Was meinen Sie damit bzw. können Sie dies etwas schildern?

A: Die Angehörigen der Hawiye wollten uns unser Feld wegnehmen, weil wir einem Minderheitsclan angehören, welcher unbewaffnet ist. Bei unserem Feld konnte man immer anbauen und dieses war in der Nähe des Flusses. Wir hatten niemanden der uns beschützt.

F: Warum haben die Angehörigen der Hawiye das Feld dann nicht innerhalb dieser vier Jahre bereits übernommen, wenn diese immer zu Ihrem Feld gekommen sind?

A: Das Grundbuch des Feldes hatte die Tante meines Vaters und diese war in Mogadischu.

[…]

F: Was ist passiert als Sie geflüchtet sind. Sie sagten, dass Ihre Schwester verbrannt wurde. Können Sie dies bitte noch schildern?

A: Die Angehörigen des gestorbenen Mannes (Habr Gedir) sind zu unserm Haus gekommen und diese haben meine Geschwister, meine Familie gesamthaft entführt und verhaftete. Meine Geschwister wurden eine Woche lang eingesperrt. Man hat meiner Familie alles weggenommen. Die Angehörigen der Habr Gedir haben gefordert, dass der älteste Sohn zu Ihnen kommen soll. Dann hat mein Onkel mütterlicherseits erfahren, dass die Angehörigen mich wollten und er hat entschieden, dass er mir bei der Flucht helfen wird.

Anmerkung: Der AW erzählt ganz nüchtern weiter, ohne jegliche Emotionen zu zeigen.

F: Wo haltet sich Ihre Familie aktuell auf?

A: Sie halten sich außerhalb auf. Dort haben Sie eine eigene Hütte gebaut und Sie leben dort.

F: Wo befindet sich Ihr Onkel, welcher geflüchtet ist?

A: Das weiß ich nicht.

F: Hat sich Ihr Onkel nach dem Anruf an Ihre Mutter nie mehr gemeldet.

A: Nein.

Vorhalt: Sie sagen, dass sich Ihre Familie immer noch in römisch 40 aufhält und verfügen über fünf Brüder. Warum ist es also für Ihre Brüder dann möglich, noch in römisch 40 zu leben und für Sie nicht mehr? Die Gefahr der Blutrache würde sich dann ja vermeintlich, so wie Sie es schildern, wenn es Ihren Vater nicht mehr gibt und Sie nicht mehr präsent sind, auf Ihre Brüder übertragen?

A: Meine fünf Brüder sind alle klein. Die Angehörigen des gestorbenen Mannes wollten mich töten.

F: Sind das alle Fluchtgründe?

A: Ich bin wegen Blutrache und wegen Diskriminierung geflohen.

F: Wie hat sich diese Diskriminierung geäußert?

A: Ich bin ein Angehöriger des Minderheitsclans. Wenn ich einem größeren Clan angehören würde, dann wäre niemand gekommen und hätte uns unsere Felder weggenommen.

F: Möchten Sie noch was vorbringen?

A: Nein. Meiner Familie geht es immer noch schlecht und diese haben immer noch Probleme. Meine Schwester wurde auch verletzt.

F: Haben Sie sämtliche Gründe und Vorfälle, welche Sie zum Verlassen von Somalia veranlasst haben, angeführt?

A: Ja.

F: Was hätten Sie im Falle einer eventuellen Rückkehr in Ihre Heimat konkret zu befürchten?

A: Es ist dort unsicher. Wenn ich zurückkehren müsste, würden Sie mich töten. Die Angehörigen des gestorbenen Mannes glauben noch, dass ich mich in der Stadt versteckt halte. Über Nachfrage woher ich das weiß gebe ich an, dass meine Mutter viel erzählt und Sie mir dies gesagt hat. Man habe zu ihr auch gesagt, dass wenn Sie den ältesten Sohn nicht bringe, die Mädchen vergewaltig werden.

Vorhalt: Warum sollte sich diese Rache genau gegen Sie richten? Es könnte ja genauso gut möglich sein, dass sich Ihr Onkel, welcher den Mann getötet hat, noch selbst in römisch 40 aufhält. Was sagen Sie dazu?

A: Ich bin der älteste Sohn der Familie und sorge für sie und ich bin für die Familie verantwortlich.

F: Wären Sie wirtschaftlich in der Lage, sich wieder in Ihrem Heimatland niederzulassen und Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten?

A: Nein, das könnte ich nicht. Ich habe den Fluchtgrund wegen der Blutrache. Sie sind auch zu der Hütte gegangen und habe diese angezündet.

F: Wären Sie dazu bereit, freiwillig in Ihr Heimatland zurückzukehren?

A: Nein.

F: Wurde Ihnen ausreichend Zeit eingeräumt, ihre Probleme vollständig und so ausführlich, wie Sie es wollten, zu schildern?

A: Ja.

[…]“

2. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.10.2022, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.) und ihm gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für 1 Jahr erteilt (Spruchpunkte römisch II. und römisch III.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer eine konkrete Verfolgungshandlung nicht glaubhaft habe darlegen können. Seine Schilderungen über die Auseinandersetzung seines Onkels mit den Angehörigen der Hawiye seien relativ detailreich, obwohl er dort selbst nicht anwesend gewesen sei. Dabei habe er sich zunehmend in Widersprüche verstrickt und nur sehr oberflächlich erklären können, inwiefern die Probleme bereits im Jahr 2016 begonnen hätten. Außerdem sei nicht verständlich, weshalb der Beschwerdeführer Mittelpunkt der Blutrache sei. Angesichts der Länderinformationen und seiner Angaben über die wirtschaftlich schlechte Situation seiner Familie habe er das Land vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Aufgrund der prekären Sicherheits- und Versorgungslage in seiner Heimatregion könne er dorthin nicht zurückkehren. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm aufgrund eines fehlenden sozialen oder familiären Netzwerks in Mogadischu sowie mangels Berufsausbildung nicht zur Verfügung.

3. Gegen Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. In dieser wurde im Wesentlichen vorgebracht, die belangte Behörde habe bezüglich der vorgebrachten Bedrohung nur Fragen gestellt, die erkennen ließen, dass sie sich unzureichend mit den Länderberichten zu Somalia sowie den dortigen kulturellen Gepflogenheiten auseinandergesetzt habe, weshalb das Ermittlungsverfahren grob mangelhaft sei. Bei genauerer Nachfrage hätte der Beschwerdeführer schlüssig darlegen können, dass seine Mutter zunächst telefonisch von seinem Onkel informiert worden sei und erst später der erwähnte Nachbar sie persönlich über die Ereignisse unterrichtet habe. Außerdem seien die getroffenen Länderfeststellungen unvollständig und teilweise sehr oberflächlich sowie die Beweiswürdigung mangelhaft. Diesbezüglich wurde neuerlich darauf verwiesen, dass die Mutter des Beschwerdeführers zunächst einen Anruf vom Onkel des Beschwerdeführers erhalten habe und später der Nachbar persönlich zu ihr gekommen sei. Soweit der belangten Behörde seine direkten Antworten zu kurz gewesen seien, hätte sie detailliertere Fragen stellen müssen. Dem Beschwerdeführer wäre aufgrund seines nachvollziehbaren und mit den Länderberichten in Einklang stehenden Vorbringen der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen.

5. Am 10.01.2024 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer, der in Begleitung seiner Rechtsvertretung erschien, unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Somali zu seinen Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates und seinen Rückkehrbefürchtungen einvernommen wurde. Seine Rechtsvertretung brachte abschließend vor, dass der Beschwerdeführer aus Angst vor Blutrache durch Angehörige des Clans der Hawiye sowie des fehlenden Schutzes aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan und der nur äußerst schwach ausgeprägten staatlichen Strukturen in Somalia geflohen sei. Die berufsständische Gruppe der Madhiban sei großer Diskriminierung ausgesetzt und verfüge über keine Mittel, sich zu organisierten oder gegen die großen Clans zu verteidigen. Der genaue Verhandlungsverlauf ist der Niederschrift der mündlichen Verhandlung zu entnehmen (OZ 6).

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers und zu seinem Leben in Österreich:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Somalia, stammt aus der Stadt römisch 40 in der Region Lower Shabelle, ist sunnitischer Moslem und gehört dem Clan der Gabooye, Subclan Madhibaan, Subsubclan römisch 40 an. Seine Identität steht nicht fest. Seine Muttersprache ist Somali.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aus einem der von ihm genannten Gründe – konkret aus Gründen der „Blutrache“, weil sein Onkel im Zuge der Wegnahme der Felder der Familie des Beschwerdeführers einen Angehörigen des Clans der Hawiye tödlich verletzt habe – seinen Herkunftsstaat verlassen hat oder ihm aus diesen Gründen im Fall seiner Rückkehr eine konkrete Gefahr drohen würde.

Zur maßgeblichen Situation in Somalia wird folgendes festgestellt:

(Stand 08.01.2024, Version 6)

Minderheiten und Clans

Letzte Änderung 2023-03-17 08:31

Zu Clanschutz siehe auch Kapitel Rechtsschutz / Justizwesen

Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen (SPC 9.2.2022). Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2022, Sitzung 10). Selbst relative starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan 30.9.2022).

Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessenvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des Xeer. Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler. Al Shabaab installiert oft Älteste, welche die Gruppe repräsentieren. Er wird so zum Bindeglied zwischen der Gemeinschaft und al Shabaab. So werden zuvor legitime Strukturen in Geiselhaft genommen (Sahan 26.10.2022).

In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56) und für ökonomische sowie politische Partizipation (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56; vergleiche BS 2022, Sitzung 23). Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2022, Sitzung 23). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UNOCHA 14.3.2022).

Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Weder das traditionelle Recht (Xeer) (SEM 31.5.2017, Sitzung 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, Sitzung 42; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen (ÖB 11.2022, Sitzung 4). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, Sitzung 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, Sitzung 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, Sitzung 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14).

Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel (ÖB 11.2022, Sitzung 3). Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten (ÖB 11.2022, Sitzung 3; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 31f; FH 2022a, B4). Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert (FH 2022a, B4). Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen (SPC 9.2.2022). So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (ÖB 11.2022, Sitzung 4).

Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 14; FH 2022a, F4). Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (AA 28.6.2022, Sitzung 14). Zudem sind die Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen weniger gut ausgebaut, und sie verfügen über geringere Ressourcen (Sahan 24.10.2022) und erhalten weniger Remissen (Sahan 24.10.2022; vergleiche SPC 9.2.2022). Die mächtigen Gruppen erhalten den Löwenanteil an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird (Sahan 24.10.2022). Dementsprechend stehen Haushalte, die einer Minderheit angehören, einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u.a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (UNOCHA 14.3.2022).

Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).

Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt (BS 2022, Sitzung 19; vergleiche ÖB 11.2022 Sitzung 6). Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet (DI 6.2019, Sitzung 11; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Al Shabaab hat sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Gruppen zunutze gemacht (Sahan 24.10.2022). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022). Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab beitreten (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Missstände treiben ganze Gemeinden in die Arme von al Shabaab. Sie suchen ein taktisches Bündnis – haben dabei aber keine dschihadistische Vision, sondern wollen ihre Rivalen ausstechen. Al Shabaab nimmt derartige Spannungen gerne auf und verwendet sie für eigene Zwecke (Sahan 30.9.2022). Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (ÖB 11.2022, Sitzung 4f).

Quellen:

             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

             BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

             DI - Development Initiatives (6.2019): Towards an improved understanding of vulnerability and resilience in Somalia, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Report_Towards-an-improved-understanding-of-vulnerability-and-resilience-in-Somalia.pdf, Zugriff 27.5.2022

             FH - Freedom House (2022a): Freedom in the World 2022 – Somalia, https://freedomhouse.org/country/somalia/freedom-world/2022, Zugriff 24.5.2022

             FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 6.5.2022

             ICG - International Crisis Group (27.6.2019): Women and Al-Shabaab’s Insurgency, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011897/b145-women-and-al-shabaab_0.pdf, Zugriff 9.6.2022

             LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (1.7.2019): Somalia - Rätts- och säkerhetssektorn Version 1.0, https://lifos.migrationsverket.se/dokument?documentAttachmentId=46794, Zugriff 9.6.2022

             ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082923/SOMA_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf, Zugriff 5.12.2022

             Sahan - Sahan / Somali Wire Team (26.10.2022): The deaths of clan elders in the struggle against Al-Shabaab, in: The Somali Wire Issue No. 468, per e-Mail

             Sahan - Sahan / Somali Wire Team (24.10.2022): Power, access, and social capital in Somalia, in: The Somali Wire Issue No. 467, per e-Mail

             Sahan - Sahan / Somali Wire Team (30.9.2022): Winning the war of grievances, in: The Somali Wire Issue No. 458, per e-Mail

             SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/afrika/som/SOM-clans-d.pdf, Zugriff 9.6.2022

             SPC - Somalia Protection Cluster (9.2.2022): Protection Analysis Update, February 2022, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOM_PAU_Somalia-Protection-Analysis_Feb2022.pdf, Zugriff 25.5.2022

             UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.12.2021): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa, https://www.ecoi.net/en/file/local/2065866/61c97bea4.pdf, Zugriff 12.5.2022

             UNOCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.3.2022): Somalia Humanitarian Bulletin, February 2022, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/OCHA%20SOMALIA%20HUMANITARIAN%20BULLETIN%20-%20FEBRUARY%202022.pdf, Zugriff 18.5.2022

             USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

Bevölkerungsstruktur

Letzte Änderung 2022-07-26 10:05

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar (AA 28.6.2022, Sitzung 11/14). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UNOCHA 14.3.2022; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44; vergleiche SEM, 31.5.2017, Sitzung 12). Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, Sitzung 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 5).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2022, Sitzung 34). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017, Sitzung 8).

Die sogenannten "noblen" Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:

●             Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

●             Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

●             Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

●             Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.

●             Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 10). Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (BS 2020, Sitzung 9).

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017, Sitzung 25). In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (FIS 7.8.2020, Sitzung 38ff).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LI 4.4.2016, Sitzung 9). Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (BS 2022, Sitzung 25).

Quellen:

             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050118/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Januar_2021%29%2C_18.04.2021.pdf, Zugriff 3.2.2022

             BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

             BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Somalia Country Report, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_SOM.pdf, Zugriff 4.5.2020

             FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 17.3.2021

             GIGA - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Global and Area Studies (3.7.2018): Sachverständigengutachten zu 10 K 1802/14A

             LI - Landinfo [Norwegen] (4.4.2016): Somalia: Practical issues and security challenges associated with travels in Southern Somalia, https://landinfo.no/wp-content/uploads/2018/03/Report-Somalia-Practical-issues-and-security-challenges-associated-with-travels-in-Southern-Somalia-4-April-2016.pdf, Zugriff 18.12.2020

             NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

             SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/afrika/som/SOM-clans-d.pdf, Zugriff 10.12.2020

             UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.12.2021): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa, https://www.ecoi.net/en/file/local/2065866/61c97bea4.pdf, Zugriff 12.5.2022

             UNOCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.3.2022): Somalia Humanitarian Bulletin, February 2022, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/OCHA%20SOMALIA%20HUMANITARIAN%20BULLETIN%20-%20FEBRUARY%202022.pdf, Zugriff 18.5.2022

             USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Ethnische Minderheiten, aktuelle Situation

Letzte Änderung 2023-03-17 08:32

Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums (SEM 31.5.2017, Sitzung 11). Die soziale Stellung der einzelnen ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich (SEM 31.5.2017, Sitzung 14). Sie werden aber als minderwertig (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44) und mitunter als Fremde erachtet (SPC 9.2.2022). So können Angehörige ethnischer Minderheiten auf Probleme stoßen - bis hin zu Staatenlosigkeit - wenn sie z. B. in einem Flüchtlingslager außerhalb Somalias geboren wurden (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Generell sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt, wie dies Anfang der 1990er der Fall war (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Dies gilt auch für Mogadischu. Allerdings sind dort all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, Sitzung 3). In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (UNFPA/DIS 25.6.2020).

Nach anderen Angaben drohen ethnischen Minderheiten Stigmatisierung, soziale Absonderung, Verweigerung von Rechten und ein niedriger sozialer, ökonomischer und politischer Status (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44), Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ressourcen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v. a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig wie für die Älteren (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff).

Die Bantu sind die größte Minderheit in Somalia (SEM 31.5.2017, Sitzung 12f; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 41). Es gibt zahlreiche Bantu-Gruppen bzw. -Clans, wie z. B. Gosha, Makane, Kabole, Shiidle, Reer Shabelle, Mushunguli, Oji oder Gobaweyne; pejorativ werden sie auch Adoon (Sklaven) oder Jareer (Kraushaar) genannt. Traditionell leben sie als sesshafte Bauern in den fruchtbaren Tälern der Flüsse Juba und Shabelle (SEM 31.5.2017, Sitzung 12f; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Von den ca. 900.000 IDPs, die sich im Großraum Mogadischu aufhalten (Stand 2020), sind rund 700.000 Bantu (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff).

Die Bantu werden überall in Somalia rassistisch stigmatisiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25) und diskriminiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25; vergleiche BS 2022, Sitzung 9; USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; GIGA 3.7.2018). Die meisten Somali schauen auf die sesshaften Bantu, die zum Teil einst als Sklaven ins Land gekommen waren, herab (SEM 31.5.2017, Sitzung 14; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Sie sind das dramatischste Beispiel für die Schlechterbehandlung durch dominierende Gruppen (Sahan 30.9.2022) und werden als Bürger zweiter Klasse erachtet (BS 2022, Sitzung 9) und befinden sich am untersten Ende der Gesellschaft (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 9f). Auch in IDP-Lagern werden sie diskriminiert, Bantu-Frauen mangelt es dort an Schutz durch die traditionelle Clanstruktur (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche LIFOS 19.6.2019, Sitzung 8). 80 % der Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt finden sich unter ihnen (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff). Überhaupt befinden sich Bantu in einer vulnerablen Situation, da zuvor bestehende Patronageverhältnisse (welche Schutz gewährleisteten) im Bürgerkrieg erodiert sind. Dadurch haben Bantu heute kaum Zugang zum Xeer (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 9f). Bantu sind besonders schutzlos (ÖB 11.2022, Sitzung 4; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 42). Andererseits sind einige Bantu-Gruppen mit lokal mächtigen Clans Allianzen eingegangen, um sich dadurch zu schützen (FIS 7.8.2020, Sitzung 44).

Mischehen werden stigmatisiert (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 7). Im September 2018 wurde ein Bantu in Mogadischu in Zusammenhang mit einer Mischehe getötet. Allerdings war dies ein sehr außergewöhnlicher Vorfall, über welchen viele Somali ihre Entrüstung äußerten (NLMBZ 3.2019, Sitzung 43). Al Shabaab hingegen hat zahlreiche Kinder der Bantu entführt oder zwangsrekrutiert. Trotzdem genießt die Gruppe bei dieser Minderheit größere Unterstützung (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 7ff). Die meisten Fußsoldaten von al Shabaab, die aus Middle Shabelle stammen, gehören zu Gruppen mit niedrigem Status – etwa zu den Bantu. Al Shabaab hat diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (Ingiriis 2020).

Einem Bericht zufolge sind aus den USA deportierte somalische Bantu - manchmal schon am Flughafen in Mogadischu - von Bewaffneten entführt worden, um Lösegeld zu erpressen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Benadiri ist ein Dachbegriff für verschiedene voneinander unabhängige urbane Minderheiten, die in den Küstenstädten des Südens leben (z. B. Mogadischu, Merka, Baraawe) und sich traditionell im Handel betätigen. Sie haben eine gemischte Abstammung aus Somalia, Arabien, Persien, Indien und Portugal (SEM 31.5.2017, Sitzung 13f; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Vor 1991 hatten sie einen privilegierten Status. Ohne bewaffnete Miliz waren sie im Bürgerkrieg aber schutzlos. Heute werden Benadiri gemeinhin als Händler respektiert (SEM 31.5.2017, Sitzung 13f). In Mogadischu stellen die Benadiri die zweitgrößte Minderheitengruppe. Einige von ihnen haben es geschafft, reich zu werden (FIS 7.8.2020, Sitzung 41ff). Im Gegensatz zu den Bantu kommt ihnen kein geringerer Status zu, Mischehen sind kein Problem (LI 14.6.2018, Sitzung 17). Auch von Sicherheitsproblemen wird (in Mogadischu) nicht berichtet (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45). Vielen Reer Xamar (Teil der Benadiri) ist es gelungen, ihre vormaligen Immobilien im Bezirk Xamar Weyne (Mogadischu) durch Zahlungen zurückzuerhalten. Dort stellen sie auch die Bevölkerungsmehrheit (LI 21.5.2019b, Sitzung 2f).

Die Bajuni sind ein kleines Fischervolk, das auf den Bajuni-Inseln im Süden Somalias sowie in Kismayo (SEM 31.5.2017, Sitzung 14; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57) aber auch entlang der kenianischen Küste bis Lamu lebt. Der UNHCR zählt die Bajuni zu den Benadiri (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57).

Kinder von Mischehen der al-Shabaab: Einige somalische Mädchen und Frauen haben ausländische Kämpfer (z.B. aus Europa, USA, Asien) der al Shabaab geheiratet. Die aus solchen Ehen hervorgegangenen Kinder sind teils leicht zu identifizieren (ICG 27.6.2019, Sitzung 9).

Quellen:

             ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

             BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

             FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 6.5.2022

             GIGA - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Global and Area Studies (3.7.2018): Sachverständigengutachten zu 10 K 1802/14A

             ICG - International Crisis Group (27.6.2019): Women and Al-Shabaab’s Insurgency, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011897/b145-women-and-al-shabaab_0.pdf, Zugriff 9.6.2022

             Ingiriis, M. H. (2020): The anthropology of Al-Shabaab: the salient factors for the insurgency movement’s recruitment project, in: Small Wars & Insurgencies, Vol. 31/2, 2020, pp. 359-380, zitiert in: EASO - European Asylum Support Office (9.2021c): Somalia – Targeted Profiles, S.18, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/2021_09_EASO_COI_Report_Somalia_Targeted_profiles.pdf, Zugriff 9.6.2022

             LI - Landinfo [Norwegen] (21.5.2019b): Somalia: Rer Hamar-befolkningen i Mogadishu, https://landinfo.no/wp-content/uploads/2019/05/Respons-Somalia-Rer-Hamar-befolkningen-i-Mogadishu-21052019.pdf, Zugriff 9.6.2022

             LI - Landinfo [Norwegen] (14.6.2018): Somalia: Marriage and divorce, https://landinfo.no/wp-content/uploads/2018/09/Report-Somalia-Marriage-and-divorce-14062018-2.pdf, Zugriff 6.5.2022

             LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (19.6.2019): Minoritetsgruppen bantu i Somalia Version 1.0, https://lifos.migrationsverket.se/dokument?documentAttachmentId=46795, Zugriff 9.6.2022

             NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

             NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (3.2019): Country of Origin Information Report on South and Central Somalia (nicht veröffentlichte englische Version), niederländische Version auf https://www.ecoi.net/en/file/local/2006489/Algemeen_ambtsbericht_Zuid-_en_Centraal-_Somalie__maart_2019.pdf, Zugriff 6.5.2022

             ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082923/SOMA_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf, Zugriff 5.12.2022

             Sahan - Sahan / Somali Wire Team (30.9.2022): Winning the war of grievances, in: The Somali Wire Issue No. 458, per e-Mail

             SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/afrika/som/SOM-clans-d.pdf, Zugriff 9.6.2022

             SPC - Somalia Protection Cluster (9.2.2022): Protection Analysis Update, February 2022, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOM_PAU_Somalia-Protection-Analysis_Feb2022.pdf, Zugriff 25.5.2022

             UNFPA/DIS - UN Population Fund / Danish Immigration Service [Dänemark] (25.6.2020): Skype-Interview des DIS mit UNFPA, in: DIS (11.2020): Somalia - Health System, S.79-84, https://www.nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landenotater/COI_report_somalia_health_care_nov_2020.pdf?la=en-GB&hash=3F6C5E28C30AF49C2A5183D32E1B68E3BA52E60C, Zugriff 12.5.2022

             UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.12.2021): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa, https://www.ecoi.net/en/file/local/2065866/61c97bea4.pdf, Zugriff 12.5.2022

             USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

Berufsständische Minderheiten, aktuelle Situation

Letzte Änderung 2023-03-17 08:32

Berufsständische Gruppen unterscheiden sich weder durch Abstammung noch durch Sprache und Kultur von der Mehrheitsbevölkerung (SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff). Sie sind somalischen Ursprungs, wurden aber von den traditionellen Clan-Lineages ausgeschlossen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Im Gegensatz zu den „noblen“ Clans wird ihnen nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf Prophet Mohammed zurückverfolgen zu können (SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff). Ihre traditionellen Berufe werden als unrein oder unehrenhaft erachtet (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45; SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff) - etwa Jäger, Lederverarbeiter, Schuster, Friseure, Töpferinnen, traditionelle Heiler oder Hebammen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45). Diese Gruppen stehen damit auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie in der Gesellschaft. Sie leben verstreut in allen Teilen des somalischen Kulturraums, mehrheitlich aber in Städten. Ein v. a. im Norden bekannter Sammelbegriff für einige berufsständische Gruppen ist Gabooye, dieser umfasst etwa die Tumal, Madhiban, Muse Dheriyo und Yibir (SEM 31.5.2017, Sitzung 14ff). Ein anderer Sammelbegriff ist Midgan (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57).

Diskriminierung: Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye (SEM 31.5.2017, Sitzung 43f). In Mogadischu sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Gewalt ausgesetzt. Allerdings sind all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, Sitzung 3).

Die berufsständischen Kasten werden zudem diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse erachtet (BS 2022, Sitzung 9). Zu ihrer Diskriminierung trägt bei, dass sie sich weniger strikt organisieren und sie viel ärmer sind. Daher sind sie nur in geringerem Maß in der Lage, Kompensation zu zahlen oder Blutrache anzudrohen (GIGA 3.7.2018; vergleiche SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Insgesamt ist die soziale Stufe und die damit verbundene Armut für viele das Hauptproblem. Hinzu kommt, dass diese Minderheiten in der Regel eine tendenziell schlechtere Kenntnis des Rechtssystems haben. Der Zugang berufsständischer Gruppen zur Bildung ist erschwert, weil an ihren Wohnorten z. B. Schulen fehlen. Außerdem verlassen viele Kinder die Schule früher, um zu arbeiten. Viele Familien sind auf derartige Einkommen angewiesen. Die meist schlechtere Bildung wiederum führt zur Benachteiligung bei der Arbeitssuche, bei der die Clanzugehörigkeit ohnehin oft zu Diskriminierung führen kann. Da berufsständische Gruppen nur über eine kleine Diaspora verfügen, profitieren sie zudem in geringerem Ausmaß von Remissen als Mehrheitsclans (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff).

Dennoch sind vereinzelt auch Angehörige berufsständischer Gruppen wirtschaftlich erfolgreich. Auch wenn sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht stellen, finden sich einzelne Angehörige in den Regierungen, im Parlament und in der Wirtschaft (SEM 31.5.2017, Sitzung 49).

Mischehe: In dieser Frage kommt es weiterhin zu einer gesellschaftlichen Diskriminierung, da Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen meist nicht akzeptieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Mehrheitsfrau einen Minderheitenmann heiratet. Der umgekehrte Fall ist weniger problematisch (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Aufgrund dieses teils starken sozialen Drucks (FH 2022a, G3) kommen Mischehen äußerst selten vor (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff; vergleiche FIS 5.10.2018, Sitzung 26). Diesbezüglich bestehen aber regionale Unterschiede: Im Clan-mäßig homogeneren Norden des somalischen Kulturraums sind Mischehen seltener und gleichzeitig stärker stigmatisiert als im Süden (ÖB 11.2022, Sitzung 4; vergleiche SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Hawiye und Rahanweyn sehen die Frage der Mischehe weniger eng. Außerdem ist der Druck auf Mischehen insbesondere in ländlichen Gebieten ausgeprägt (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). In Mogadischu sind Mischehen möglich (FIS 5.10.2018, Sitzung 26). Auch al Shabaab hat Hindernisse für Mischehen beseitigt, in ihren Gebieten kommt es zunehmend zu solchen Eheschließungen (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Die Gruppe hat Fußsoldaten, die zu Gruppen mit niedrigem Status gehören, dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (Ingiriis 2020).

Eine Mischehe führt so gut wie nie zu Gewalt oder gar zu Tötungen. Seltene Vorfälle, in denen es etwa in Somaliland im Zusammenhang mit Mischehen zu Gewalt kam, sind in somaliländischen Medien dokumentiert (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Trotzdem können diese Ehen negative Folgen für die Ehepartner mit sich bringen – insbesondere, wenn der Mann einer Minderheit angehört (ÖB 11.2022, Sitzung 4). So kommt es häufig zur Verstoßung des aus einem "noblen" Clan stammenden Teils der Eheleute durch die eigenen Familienangehörigen. Letztere besuchen das Paar nicht mehr, kümmern sich nicht um dessen Kinder oder brechen den Kontakt ganz ab; es kommt zu sozialem Druck (SEM 31.5.2017, Sitzung 44ff). Diese Art der Verstoßung kann vor allem in ländlichen Gebieten vorkommen. Eine Mischehe sorgt auf jeden Fall für Diskussionen und Getratsche, nach einer gewissen Zeit wird sie aber meist akzeptiert (FIS 5.10.2018, Sitzung 26).

Quellen:

             BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

             FH - Freedom House (2022a): Freedom in the World 2022 – Somalia, https://freedomhouse.org/country/somalia/freedom-world/2022, Zugriff 24.5.2022

             FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia_Fact_Finding+Mission+to+Mogadishu+and+Nairobi+January+2018.pdf/2abe79e2-baf3-0a23-97d1-f6944b6d21a7/Somalia_Fact_Finding+Mission+to+Mogadishu+and+Nairobi+January+2018.pdf, Zugriff 12.5.2022

             GIGA - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Global and Area Studies (3.7.2018): Sachverständigengutachten zu 10 K 1802/14A

             ICG - International Crisis Group (27.6.2019): Women and Al-Shabaab’s Insurgency, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011897/b145-women-and-al-shabaab_0.pdf, Zugriff 9.6.2022

             Ingiriis, M. H. (2020): The anthropology of Al-Shabaab: the salient factors for the insurgency movement’s recruitment project, in: Small Wars & Insurgencies, Vol. 31/2, 2020, pp. 359-380, zitiert in: EASO - European Asylum Support Office (9.2021c): Somalia – Targeted Profiles, S.18, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/2021_09_EASO_COI_Report_Somalia_Targeted_profiles.pdf, Zugriff 9.6.2022

             LI - Landinfo [Norwegen] (21.5.2019b): Somalia: Rer Hamar-befolkningen i Mogadishu, https://landinfo.no/wp-content/uploads/2019/05/Respons-Somalia-Rer-Hamar-befolkningen-i-Mogadishu-21052019.pdf, Zugriff 9.6.2022

             NLMBZ - Ministerie van Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

             ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082923/SOMA_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf, Zugriff 5.12.2022

             SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/afrika/som/SOM-clans-d.pdf, Zugriff 9.6.2022

             UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.12.2021): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa, https://www.ecoi.net/en/file/local/2065866/61c97bea4.pdf, Zugriff 12.5.2022

Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose

Letzte Änderung 2022-06-13 09:42

Auch Angehörige starker Clans können zu Minderheiten werden. Dies ist dann der Fall, wenn sie in einem Gebiet leben, in dem ein anderer Clan dominant ist. Dies kann Einzelpersonen oder auch ganze Gruppen betreffen. So sehen sich beispielsweise die Biyomaal als exponierter Dir-Clan in Südsomalia manchmal in dieser Rolle. Generell gerät eine Einzelperson immer dann in die Rolle der Minderheit, wenn sie sich auf dem Gebiet eines anderen Clans aufhält. Sie verliert so die mit ihrer Clanzugehörigkeit verbundenen Privilegien. Die Position als "Gast" ist schwächer als jene des "Gastgebers". Im System von "hosts and guests" sind Personen, die sich außerhalb des eigenen Clanterritoriums niederlassen, gegenüber Angehörigen des dort ansässigen Clans schlechter gestellt. In Mogadischu gelten etwa Angehörige der Isaaq, Rahanweyn und Darod als "Gäste". Dieses System gilt auch für IDPs (SEM 31.5.2017, Sitzung 11f/32f).

Diskriminierung: In den meisten Gegenden schließt der dominante Clan andere Gruppen von einer effektiven Partizipation an Regierungsinstitutionen aus. Diskriminierung erfolgt etwa auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Gerichtsverfahren (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Angehörige eines (Sub-)Clans können in von einem anderen (Sub-)Clan dominierten Gebiete auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, insbesondere in Konfliktsituationen bezüglich Unfällen, Eigentum oder Wasser (AA 18.4.2021, Sitzung 12). In Mogadischu ist es im Allgemeinen schwierig, Menschen die dort aufgewachsen sind, nach Clans zu differenzieren. Es gibt keine äußerlichen Unterschiede, auch der Akzent ist der gleiche. Selbst anhand von Namen lassen sich die Menschen nicht einmal ethnisch zuordnen, da vor allem arabische Namen verwendet werden (UNFPA/DIS 25.6.2020).

Ashraf und Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status aus der von ihnen angegebenen Abstammung von der Tochter des Propheten; die Sheikhal aus einem vererbten religiösen Status. Beide Clans werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Die Sheikhal sind außerdem eng mit dem Clan der Hawiye/Hirab assoziiert und nehmen sogar einige Sitze der Hawiye im somalischen Parlament ein. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil-Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (EASO 8.2014, Sitzung 46f/103).

Für eine Person ohne Clanidentität ist gesellschaftlicher Schutz nicht vorhanden. Dies führt nicht automatisch zu Misshandlung, fördert aber die Vulnerabilität. Sollte eine Person ohne Clanidentität und ohne Ressourcen zurückkehren, wird es im gegenwärtigen somalischen Kontext für diese physisch und wirtschaftlich sehr schwierig, zu überleben (ACCORD 29.5.2019, Sitzung 2f). Allerdings gibt es laut Experten bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri 3.5.2021).

Quellen:

             AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050118/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Januar_2021%29%2C_18.04.2021.pdf, Zugriff 3.2.2022

             ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

             ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (29.5.2019): Anfragebeantwortung a-11008 (Auskunftsperson: Lidwien Kapteijns)

             EASO - European Asylum Support Office (8.2014): South and Central Somalia: Country Overview, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/public/COI-Report-Somalia.pdf, Zugriff 9.6.2022

             SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/afrika/som/SOM-clans-d.pdf, Zugriff 9.6.2022

             Shukri, Saeed / The Elephant (3.5.2021): Unrecognized Vote: Somaliland’s Democratic Journey, https://www.theelephant.info/long-reads/2021/05/03/unrecognized-vote-somalilands-democratic-journey/, Zugriff 17.2.2022

             UNFPA/DIS - UN Population Fund / Danish Immigration Service (Dänemark) (25.6.2020): Skype-Interview des DIS mit UNFPA, in: DIS (11.2020): Somalia - Health System, S.79-84, https://www.nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landenotater/COI_report_somalia_health_care_nov_2020.pdf?la=en-GB&hash=3F6C5E28C30AF49C2A5183D32E1B68E3BA52E60C, Zugriff 12.5.2022

             USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

2. Beweiswürdigung:

Mangels Vorlage eines unbedenklichen nationalen Identitätsdokuments steht die Identität des Beschwerdeführers nicht fest. Seine Staatsangehörigkeit und seine Herkunft erscheinen auf Grund seiner Sprach- und Ortskenntnisse glaubhaft.

Die Feststellungen über die Clan- und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers und seine Kenntnisse der Sprache Somali beruhen auf seinen dahingehend gleichbleibenden Angaben im Rahmen der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 06.09.2022, der Erstbefragung durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 29.09.2021 sowie der mündlichen Verhandlung am 10.01.2024.

Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Vorauszuschicken ist, dass bei der Beurteilung des Vorbringens des Beschwerdeführers in die Beweiswürdigung Eingang findet, dass die behaupteten fluchtauslösenden Ereignisse in der Jugend des Beschwerdeführers zurückliegen würden, sodass die Dichte des Vorbringens des Beschwerdeführers nicht mit "normalen" Maßstäben gemessen werden kann vergleiche VwGH 24.09.2014, Ra 2014/19/0020). Die den Grund für seine Ausreise darstellende Wegnahme der Felder seiner Familie sei – unter Zugrundelegung des vom Beschwerdeführer nicht bestrittenen Ergebnisses der altersdiagnostischen Begutachtung vergleiche AS 138) – aber um seinen 18. Geburtstag erfolgt vergleiche S 7 in OZ 6), wodurch er sich damals bereits an der Grenze zu Volljährigkeit befunden habe; bei Stellung des verfahrenseinleitenden Antrags war der Beschwerdeführer schon volljährig.

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes konnte der Beschwerdeführer aber auch unter Berücksichtigung seines jungen Alters in Anbetracht der in mehrfacher Hinsicht zutage getretenen Ungereimtheiten in seinen Angaben zu den Gründen für seine Ausreise betreffend eine ihm drohende „Blutrache“ durch die Familie der von seinem Onkel tödlich verletzten Person im Zuge keine ihm drohende aktuelle Gefährdung seiner Person im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat glaubhaft machen.

Wie sich aus der Erstbefragung, der Einvernahme im Verfahren vor der belangten Behörde sowie der mündlichen Beschwerdeverhandlung ergibt, hatte der Beschwerdeführer ausreichend Zeit und Gelegenheit, seine Fluchtgründe umfassend und im Detail darzulegen sowie allfällige Beweismittel vorzulegen.

Dabei ist festzuhalten, dass auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung davon ausgegangen werden kann, dass ein Asylwerber grundsätzlich in der Lage sein muss, umfassende und inhaltlich übereinstimmende Angaben zu den konkreten Umständen und dem Grund der Ausreise aus dem Herkunftsstaat zu machen, zumal eine Person, die aus Furcht vor Verfolgung ihren Herkunftsstaat verlassen hat, gerade in ihrer ersten Einvernahme auf konkrete Befragung zu ihrer Flucht die ihr gebotene Möglichkeit wohl kaum ungenützt lassen wird, die Umstände und Gründe ihrer Flucht in umfassender und in sich konsistenter Weise darzulegen, um den beantragen Schutz vor Verfolgung auch möglichst rasch erhalten zu können. Es entspricht auch der allgemeinen Lebenserfahrung, dass eine mit Vernunft begabte Person, die behauptet, aus Furcht vor Verfolgung aus ihrem Herkunftsstaat geflüchtet zu sein, über wesentliche Ereignisse im Zusammenhang mit ihrer Flucht, die sich im Bewusstsein dieser Person einprägen, selbst nach einem längeren Zeitraum noch ausreichend konkrete, widerspruchfreie und nachvollziehbare Angaben machen kann.

Zunächst ist hinsichtlich einer (allgemeinen) Diskriminierung des Beschwerdeführers aufgrund seiner Clanzugehörigkeit festzuhalten, dass sich weder aus seinen diesbezüglichen Angaben, noch aus den vorliegenden Länderinformationen zu seinem Herkunftsstaat eine verfahrensgegenständlich maßgebliche Gefährdung wegen seiner Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan ableiten lässt. Auch wenn nicht verkannt wird, dass sich die Lebenssituation für Angehörige von (berufsständischen) Minderheiten schwieriger gestaltet und diese weiterhin diskriminiert werden, ist in Betracht zu ziehen, dass sich auch für die Gabooye, zu welchen auch der Clan der Madhibaan zählt, die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert hat und insbesondere unter jungen Somali die Einstellung zu ihnen positiver geworden ist. Es gibt nach den vorliegenden Länderberichten ferner keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye. Zudem sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund kann nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer (alleine) aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Madhibaan einer relevanten Bedrohung ausgesetzt gewesen sei oder eine solche im Fall seiner Rückkehr nach Somalia zu befürchten habe.

Aber auch auf Grundlage seiner weiteren im Verfahrens getätigten Schilderungen bezüglich einer ihm drohenden „Blutrache“ wegen der Taten seines Onkels kann nicht von einer im vorliegenden Verfahren maßgeblichen Gefahr für den Beschwerdeführer ausgegangen werden.

Diesbezüglich wies das BFA bereits zutreffend darauf hin, dass die Erzählungen des Beschwerdeführers über die Auseinandersetzung zwischen seinem Onkel und den Angehörigen der Hawiye auffällig detailreich sind, obwohl der Beschwerdeführer bei dem genannten Vorfall nicht anwesend gewesen sei. Zudem habe er nach seinen Behauptungen von dem Ereignis bloß über seine Mutter erfahren, die ebenfalls keine unmittelbaren Wahrnehmungen dazu habe. Vor diesem Hintergrund erscheint es aber nicht überzeugend, dass der Beschwerdeführer im Rahmen der freien Erzählung seines Fluchtgrundes die Abfolge der damaligen Geschehnisse so ausführlich beschreibt und dazu von sich aus Details nennt, wie die vom Angreifer sowie seinem Onkel verwendeten Waffen vergleiche AS 142 und S 5 in OZ 6).

Außerdem sind die Erklärungen des Beschwerdeführers dahingehend uneinheitlich, woher seine Mutter von dem Vorfall erfahren haben soll. In der freien Erzählung des Fluchtgrundes vor der belangten Behörde erwähnte der Beschwerdeführer dazu nur, dass sein Onkel dieser telefonisch „alles erzählt“ und sie gewarnt habe, dass sie auf den Beschwerdeführer aufpassen solle vergleiche AS 142). Im Zuge der weiteren Befragung wies der Beschwerdeführer bezüglich seiner Detailkenntnisse über die Geschehnisse wiederum darauf hin, dass seine Mutter das von einem Nachbarn erfahren habe, der dabei anwesend gewesen sei vergleiche AS 143). Auf Vorhalt seiner vorangegangenen Aussage über das Telefonat mit dem Onkel meinte der Beschwerdeführer nur, dass seine Mutter von seinem Onkel angerufen worden sei und ihr gesagt worden sei, dass sie aufpassen solle vergleiche AS 143). Im Beschwerdeschriftsatz wurde dahingehend ausdrücklich darauf hingewiesen, dass zunächst sein Onkel seine Mutter telefonisch über die Auseinandersetzung unterrichtet habe und erst später der Nachbar ihr persönlich (s. in dem Sinn auch AS 143, arg. „Er ist gleich nachdem er nach Hause gekommen ist, zu meiner Mutter gegangen und hat es ihr erzählt, […].) von den Ereignissen berichtet habe vergleiche AS 289 und AS 295). Konträr dazu behauptete der Beschwerdeführer vor der erkennenden Richterin allerdings, dass ein Nachbar seine Mutter angerufen und ihr alles erzählt habe; danach habe sein Onkel sie telefonisch kontaktiert und ihr erzählt, „was er dort gemacht“ habe vergleiche S 7 in OZ 6). Diesbezüglich wird keinesfalls übersehen, dass der Beschwerdeführer keine eigenen Wahrnehmungen dazu hat, woher und auf welche Art seine Mutter Kenntnis von dem Ereignis gehabt habe. In Anbetracht seines diesbezüglich ausdrücklichen Beschwerdevorbringens wäre jedoch zu erwarten gewesen, dass der Beschwerdeführer über die chronologische Abfolge sowie die Modalität der Gespräche seiner Mutter informiert ist und diesbezüglich vor der erkennenden Richterin eine stimmige Schilderung abgeben kann.

Des Weiteren konnte der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde zu dem von ihm angesprochenen Beginn der Probleme im Jahr 2016 keine schlüssige Erklärung anführen. Auf Aufforderung näher zu erläutern, was er damit meine, antwortete er nur äußerst vage, dass die Angehörigen der Hawiye ihnen die Felder hätten wegnehmen wollen, weil sie einem unbewaffneten Minderheitenclan angehören würden, die Felder günstig in der Nähe des Flusses gelegen seien und sie niemand schützen würde vergleiche AS 144). Etwaige nähere Schilderungen dazu, wie sich die Probleme im Vorfeld der Ende Oktober 2020 vorgefallenen Tat seines Onkels vergleiche S 7 in OZ 6) ausgedrückt hätten, machte er aber nicht. Auf Nachfrage, weshalb die Angehörigen der Hawiye das Feld nicht schon zuvor innerhalb der 4 Jahre übernommen hätten, verwies der Beschwerdeführer ferner nur darauf, dass die Tante seines Vaters in Mogadischu das Grundbuch des Feldes gehabt habe vergleiche AS 144). In Anbetracht der gewaltsamen Vorgehensweise im Zuge der Streitigkeit mit dem Onkel ist allerdings nicht ersichtlich, dass die Gegner der Familie des Beschwerdeführers darauf Wert gelegt hätten, zumal diese sich entsprechend seiner Angaben nicht auf eine ihnen allfällig zukommende Rechtsposition betreffend die Grundstücke berufen hätten, sondern diese bewusst wegen deren günstiger Lage ohne eine Legitimation aufgrund ihrer gesellschaftlich höheren Machtposition gefordert sowie mit Zwang an sich genommen hätten vergleiche S 6 in OZ 6).

Vor diesem Hintergrund sind die Behauptungen des Beschwerdeführers betreffend die Auseinandersetzung seines Onkels mit Angehörigen der Hawiye nicht überzeugend. Im Übrigen ist festzuhalten, dass allfällige körperliche Übergriffe auf seinen Onkel sowie einer im Zuge dessen dem Gegner zugefügten tödlichen Verletzung per se noch keine Bedrohungslage für den Beschwerdeführer annehmen lassen. Sein Vorbringen hinsichtlich einer ihn in diesem Zusammenhang persönlich treffenden Gefährdung erweist sich allerdings ebenso als widersprüchlich und nicht plausibel:

In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer nicht vermochte, den Inhalt des von ihm selbst mit seiner Mutter geführten Telefonats sowie der darauffolgenden Vorgehensweise einheitlich darzulegen. Vor der belangten Behörde führte er dazu noch aus, dass seine Mutter ihn angerufen, von der Tat seines Onkels erzählt und ihn aufgefordert habe, den Ort, an dem er sich aufhalte, zu verlassen. Er sei gerade beim Friseur gewesen, habe diesen verlassen, sei zu einem Nachbar gegangen und habe diesen um Hilfe gebeten. Dieser habe durch seine Mutter bereits Bescheid gewusst und den Beschwerdeführer zu seiner Tochter gebracht vergleiche AS 142). Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung erklärte der Beschwerdeführer demgegenüber, dass ihm seine Mutter bei dem Telefonat gesagt habe, er solle beim Friseur bleiben bis sie ihn anrufe. Ein älterer Herr, den seine Mutter aus Angst um das Leben des Beschwerdeführers um Hilfe gebeten habe, sei zu ihm gekommen und habe gewollt, dass er mitgehe vergleiche S 5 in OZ 6). Die Schilderungen weichen somit nicht nur hinsichtlich der Aufforderung seiner Mutter im Zuge des Telefonats voneinander ab, sondern auch dahingehend, ob der Beschwerdeführer den ihm helfenden Mann von sich aus aufgesucht habe oder dieser zu ihm gekommen sei. Vom Beschwerdeführer wäre jedenfalls zu erwarten gewesen, dass er zu diesen Geschehnissen, welche noch dazu seine einzigen eigenen Erlebnisse hinsichtlich der ihm nach seinem Vorbringen treffenden Bedrohungslage im Zuge der von ihm geschilderten Fluchtgeschichte darstellen würden, übereinstimmende Angaben tätigen kann.

In weiterer Folge hätten die Angehörigen der Hawiye zudem seine Familie für etwa eine Woche entführt und ihnen alles weggenommen vergleiche AS 145) bzw. deren Wohnhaus in Brand gesetzt vergleiche S 8 in OZ 6; s.a. AS 141). Vor diesem Hintergrund ist es aber nicht überzeugend, dass die Angehörigen der Hawiye es zusätzlich ausgerechnet auf die Person des Beschwerdeführers abgesehen hätten. In diesem Kontext wird auch nicht übersehen, dass der Beschwerdeführer keine Kenntnis über den Verbleib seines Onkels hat vergleiche S 8 in OZ 6). Aber auch wenn man davon ausginge, dass sein Onkel als unmittelbarer Täter der tödlich beendeten Auseinandersetzung von den Gegnern bislang nicht gefunden worden sei, erschließt sich nicht, weshalb konkret der Beschwerdeführer nach wie vor deren Ziel darstelle, während seine restlichen Verwandten offenbar nicht von Interesse für sie seien. Aktuell lebe seine Familie in ihrem Heimatdorf, wenn auch –aufgrund der erfolgten Brandstiftung an deren ehemaligen Wohnhaus – in einem anderen Haus vergleiche S 8 in OZ 6). Etwaige zwischenzeitliche Vorfälle in Bezug auf die Tat seines Onkels erwähnte der Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung aber nicht. Vor der belangten Behörde wies er hinsichtlich seiner Familie noch darauf hin, dass seiner Mutter gedroht worden sei, dass die Mädchen (gemeint: seine Schwestern) vergewaltigt würden, wenn sie ihren Sohn nicht bringe vergleiche AS 146). Vor dem Bundesverwaltungsgericht merkte der Beschwerdeführer im Übrigen an, dass seine Mutter zu den Angehörigen der Hawiye auf die Aufforderung, ihnen den Beschwerdeführer zu bringen, gesagt habe, dass sie nicht wisse, wo sich dieser befinde vergleiche S 8 in OZ 6). Vor dem Hintergrund der schon in der Einvernahme im September 2022 genannten Drohung mit einer Vergewaltigung seiner Schwestern erscheint es aber nicht realistisch, dass seine Familie weiterhin ungestört in der Heimatstadt leben kann, obwohl der das angebliche Ziel der „Blutrache“ darstellende Beschwerdeführer schon seit mehr als 3 Jahren nicht auffindbar ist. Unter der hypothetischen Annahme, dass die Gegner wegen der Handlungen des Onkels – unabhängig davon, ob an dessen Stelle oder zusätzlich zu diesem – weitere Opfer fordern würden, wäre aber anzunehmen gewesen, dass sie auch gegen die Kernfamilie des Beschwerdeführers vorgegangen wären. Angesichts dessen könnte selbst unter der hypothetischen Annahme der vom Beschwerdeführer beschriebenen Tat seines Onkels nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein zukünftiges Gefahrenmoment für den Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr angenommen werden.

Insgesamt entstand für das Gericht daher der Eindruck, dass es sich bei den Erzählungen des Beschwerdeführers über seine fluchtauslösenden Ereignisse lediglich um eine auswendig gelernte, konstruierte Geschichte handelt. In seinen Schilderungen zu einer ihn persönlich treffenden Gefährdung ließ der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (und soweit aus der Niederschrift ersichtlich auch in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde; vergleiche AS 145) keine Gefühlsregungen erkennen und erweckte auch im Hinblick auf die in der durchgeführten mündlichen Verhandlung gewonnenen, persönlichen Wahrnehmungen der erkennenden Richterin keinen glaubwürdigen Eindruck hinsichtlich seiner Darlegungen über die Gründe für das Verlassen seines Herkunftsstaats.

Vor diesem Hintergrund geht daher im Ergebnis das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass es dem Beschwerdeführer nicht gelungen ist, eine konkrete, gegen seine Person gerichtete aktuelle Gefahr durch Angehörige des Clans der Hawiye glaubhaft zu machen.

Lediglich der Vollständigkeit halber bleibt darauf hinzuweisen, dass allfälligen dem Beschwerdeführer drohenden, nicht asylrelevanten Gefährdungen durch die bereits von der belangten Behörde erfolgte Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ausreichend Rechnung getragen wurde.

Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

Die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderfeststellungen gründen sich auf Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes und schlüssiges Gesamtbild der Situation in Somalia ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem BVwG von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation fallrelevant nicht wesentlich geändert haben.

In der mündlichen Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer bzw. seinem Vertreter eine die Abgabe einer Stellungnahme zu den herangezogenen Länderberichten ermöglicht, wobei diesen nicht substantiiert entgegengetreten wurde.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd. Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG 2005) gesetzt hat.

Flüchtling iSd. Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK (i.d.F. des Artikel eins, Absatz 2, des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge Bundesgesetzblatt 78 aus 1974,) - deren Bestimmungen gemäß Paragraph 74, AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist vergleiche VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde vergleiche VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, Ziffer eins und Paragraph 11, Absatz eins, AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK vorliegen kann vergleiche zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 z.B. VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; 15.03.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist - wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert - nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, 29.03.2001, 2000/20/0539).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 27.06.1995, 94/20/0836; 23.7.1999, 99/20/0208; 21.09.2000, 99/20/0373; 26.02.2002, 99/20/0509 m.w.N.; 12.09.2002, 99/20/0505; 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 m.w.N.).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht - unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) -, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichen Schutzes einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat vergleiche VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Auflage [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 m.w.N.; 20.09.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert wird. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen vergleiche VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; 13.11.2008, 2006/01/0191).

Im Falle der Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die Strafjustiz im Herkunftsstaat bedarf es einer Abgrenzung zwischen der legitimen Strafverfolgung ("prosecution") einerseits und der Asyl rechtfertigenden Verfolgung aus einem der Gründe des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ("persecution") andererseits. Keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist im Allgemeinen in der staatlichen Strafverfolgung zu erblicken (VwGH 27.05.2015, Ra 2014/18/0133).

Auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion kann unter bestimmten Umständen "Verfolgung" im Sinne der GFK aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt (Hinweis E 17. September 2003, Zl. 99/20/0126; E 6. Mai 2004, Zl. 2001/20/0256; E 27. April 2011, Zl. 2008/23/0124, jeweils mwN).

Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich nicht, dass dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe droht, zumal die Fluchtgründe des Beschwerdeführers - wie oben in der Beweiswürdigung ausführlich dargestellt - nicht glaubhaft waren. Es liegen sohin keine Umstände vor, wonach es ausreichend wahrscheinlich wäre, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimat in asylrelevanter Weise bedroht wäre.

Daher ist die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten durch das Bundesamt im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Artikel 133, Absatz 4, erster Satz B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des VwGH abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des VwGH nicht einheitlich beantwortet wurde.

Im vorliegenden Fall ist die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Die tragenden Elemente der Entscheidung liegen allein in der Bewertung der Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers und demgemäß in Tatbestandsfragen bzw. beweiswürdigenden Überlegungen.

Hinsichtlich der Einordnung des Sachverhaltes konnte sich das Bundesverwaltungsgericht insbesondere auf die Rechtsprechung der Höchstgerichte und des EGMR beziehungsweise auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den rechtlichen Erwägungen wiedergegeben.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2024:W205.2262390.1.00