Bundesverwaltungsgericht
18.01.2024
W250 2253780-1
W250 2253782-1/9E
W250 2253784-1/6E
W250 2253780-1/6E
W250 2253780-2/6E
W250 2253779-1/6E
W250 2253781-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
römisch eins.
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) römisch 40 , geb. römisch 40 , 2.) römisch 40 , geb. römisch 40 , 4.) römisch 40 , geb. römisch 40 und 5.) mj. römisch 40 , geb. römisch 40 , alle StA. Syrien und vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.02.2022, Zl. 1.) römisch 40 , 2.) römisch 40 , 4.) römisch 40 , 5.) römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
römisch eins. Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins und 4 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
römisch II. römisch 40 und mj. römisch 40 , wird gemäß Paragraph 3, Absatz eins und 4 AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 34, Absatz 2, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
römisch III. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
römisch II.
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der 3.) römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Syrien, vertreten durch die BBU GmbH, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:
A)
Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird gemäß Paragraph 33, VwGVG stattgegeben.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
römisch III.
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde der 3.) römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Syrien, vertreten durch die BBU GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.02.2022, Zl. 3.) römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:
A)
römisch eins. Der Beschwerde wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
römisch II. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführer 1 bis 5 (im Folgenden BF1 bis BF5) reisten im Familienverband in das Bundesgebiet ein, der BF1 ist der Vater und die BF2 die Mutter der bei Antragstellung volljährigen BF3, der bei Antragstellung minderjährigen und jetzt volljährigen BF4 und der minderjährigen BF5. Die BF stellten am 13.11.2021 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragungen des BF1, der BF2, BF3 und BF4 fanden am 16.11.2021 statt. Dabei gab der BF1 an, er und seine Familie habe aus Angst um ihr Leben Syrien verlassen, da in ihrem Gebiet Krieg herrsche (BF1 AS 13ff.). Am 08.02.2022 wurden der BF1, die BF2, die BF3 und die BF4 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde, Bundesamt oder BFA) niederschriftlich einvernommen. Der BF1 gab dabei im Wesentlichen an, er habe seinen Militärdienst bereits abgeleistet, habe aber Angst vor einer Zwangsrekrutierung (BF1 AS 61ff.).
Der BF1 legte im Verfahren seinen syrischen Personalausweis, gültig ab römisch 40 , sein Militärbuch, ausgestellt am römisch 40 , seinen Führerschein aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), gültig ab römisch 40 , sowie sein Familienbuch, ausgestellt am römisch 40 , vor (BF1 AS 31 ff., AS 65). Die BF2 legte ihren syrischen Personalausweis, ausgestellt am römisch 40 , vor (BF2 AS 29ff.), die BF3 (BF3 AS 29) und die BF4 legten ihre Geburtsurkunde bzw. eine Kopie aus dem Personenstandsregister und das Familienbuch vor (BF4 AS 21, AS 29).
2. Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 17.02.2022 wurden die Asylanträge der BF1 bis BF5 vom 13.11.2021 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.), den BF der Status der Subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Das Bundesamt stellte fest, die Beschwerdeführer hätten Syrien aufgrund der Sicherheitslage und des Krieges verlassen. Mangels Vorbringens sei nicht festgestellt worden, dass eine Gefahr bestehe, dass der BF1 als Reservist zum syrischen Militär eingezogen werde (BF1 AS 92, Seite 8 des angefochtenen Bescheides). Die BF2 habe die Heimat aufgrund der Sicherheitslage und des Krieges verlassen, weitere Ausreisegründe können nicht festgestellt werden (BF2 AS 86, Seite 8 des angefochtenen Bescheids).
3. Gegen Spruchpunkt römisch eins. dieser Bescheide erhoben die BF1 bis BF5 gegenständliche Beschwerden. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, der BF1 befürchte bei einer Rückkehr eine Einziehung durch die syrische Armee als Reservist (BF1 AS 177, Seite 3ff. der Beschwerde). Die BF3 befürchte die unsichere Lage in Syrien als alleinstehende Frau und eine Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie und der sozialen Gruppe der von geschlechtsspezifischer Gewalt bedrohten Frauen in Syrien (BF3 Seite 3ff. der Beschwerde). Das BFA habe das Vorbringen der BF nicht unter ausreichender Berücksichtigung der Länderberichte zu Syrien gewürdigt (BF1 AS 196, Seite 20 der Beschwerde).
Mit der Beschwerde legte der BF1 sein Leumundszeugnis vor, aus welchem hervorgehe, dass er seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht werde (BF1 AS 207, Seite 4ff. der Beschwerde).
4. Mit Schreiben vom 20.04.2022 stellte die BF3 einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß Paragraph 33, VwGVG (W250 2253780-2).
5. Mit Schreiben vom 26.04.2022 legte der BF1 sein Leumundszeugnis im Original sowie das Kuvert des Schriftstückes vor (BF1 OZ/2).
6. Das Bundesamt legte die Beschwerden der BF1 bis BF5 samt Bezug habenden Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht am 08.04.2022 vor.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.11.2023 in Anwesenheit des BF1, der BF2, der BF3 und der BF4, sowie der Rechtsvertreterin der BF, und eines Dolmetschers für die arabische Sprache, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In der Verhandlung wurde der BF1, die BF2, die BF3 und die BF4 zu ihren Fluchtgründen, zur Herkunft und den persönlichen Lebensumständen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat befragt.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der BF:
1. Der Erstbeschwerdeführer (BF1 W250 2253782-1) führt den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 . Er ist verheiratet mit
2. der Zweitbeschwerdeführerin (BF2 W250 2253784-1), die den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , führt. Die beiden sind die Eltern
3. der Drittbeschwerdeführerin (BF3 W250 2253780-1 und W250 2253780-2), die den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , führt,
4. der Viertbeschwerdeführerin (BF4 W250 2253779-1), die den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , führt,
5. sowie der minderjährigen Fünftbeschwerdeführerin (BF5 W250 2253781-1), die den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , führt.
Die Beschwerdeführer sind syrische Staatsangehöriger und Angehörige der Volksgruppe der Araber, ihre Muttersprache ist Arabisch. Die Beschwerdeführer bekennen sich zum sunnitisch muslimischen Glauben.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind ein Ehepaar, sie heirateten im Jahr 1997 in ihrem Herkunftsgebiet. Die Ehe der beiden hat bereits vor der Einreise bestanden. Der BF1 und die BF2 sind die Eltern der BF3 bis BF5. Die Viertbeschwerdeführerin ist die mittlerweile volljährige Tochter des Erstbeschwerdeführers. Sie war zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig und ledig. Die Fünftbeschwerdeführerin ist die ledige und minderjährige Tochter des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Der BF1 und die BF2 haben eine weitere – vierte – Tochter namens römisch 40 , geb. am römisch 40 , welche verheiratet ist und mit ihrem Mann in Bahrain lebt.
Die volljährige Drittbeschwerdeführerin ist nicht verheiratet und hat keine Kinder, sie war bereits bei der Asylantragstellung volljährig.
Die Beschwerdeführer verfügen über keine Familienangehörige in Syrien. Die BF2 hat eine Mutter und Geschwister Nähe Damaskus, von diesen ist im Falle einer Rückkehr aber keine Unterstützung zu erwarten.
Die Herkunftsprovinz der Beschwerdeführer Deir ez-Zor liegt im Nordosten Syriens und wird durch den Fluss Euphrat durchquert. Nordöstlich des Euphrat liegt die Kurdische Selbstverwaltung, südwestlich wird die Provinz vom syrischen Regime beherrscht. Das Herkunftsgebiet der Beschwerdeführer ist das Dorf römisch 40 das nördlich der Stadt römisch 40 im Governement Deir ez-Zor liegt. Das Herkunftsgebiet befindet sich auf der südwestlichen Seite des Euphrat und aktuell unter der Kontrolle des syrischen Regimes. Es liegt im Grenzgebiet und grenzt im Osten an den Irak und im Norden an das kurdische Gebiet.
Der Erstbeschwerdeführer nimmt Blutdruckmedikamente, ansonsten ist er gesund. Die BF2 ist Diabetikerin und benötigt regelmäßig Insulin, die BF3 bis BF5 sind gesund.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der BF1 besuchte in Syrien 12 Jahre lang die Grundschule und arbeitete dann als LKW-Fahrer. Er hielt sich von 1999 bis 2020 in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) auf und arbeitete dort als LKW-Fahrer. In dieser Zeit besuchte er regelmäßig seine Familie in Syrien. Der letzte Besuch seiner Familie in Syrien war im Jahr 2012. Danach konnte der BF1 nicht nach Syrien zurückkehren und holte seine Familie im Jahr 2015 zu sich in die VAE, wo sie gemeinsam lebten. Im Jahr 2019 reiste die Familie des BF1 alleine nach Syrien zurück. Der BF1 hielt sich zuletzt vom Jahr 2020 bis 2021 ca. elf Monate in Syrien auf, als er illegal über den Irak einreiste.
Die BF1 bis BF5 reisten gemeinsam im Sommer 2021 illegal aus Syrien zu Fuß in die Türkei aus. Alle BF hielten sich zuletzt in ihrem Herkunftsort auf.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Erstbeschwerdeführers:
1.2.1. Der Erstbeschwerdeführer ist aktuell römisch 40 Jahre alt, er ist wehrdienstfähig.
Der Erstbeschwerdeführer leistete seinen verpflichtenden Wehrdienst in Syrien von römisch 40 bis römisch 40 ab. Er diente bei der Luftwaffe, seine Aufgabe war es die Flugobjekte am Radar zu identifizieren und zu überwachen. Er erhielt dafür eine Spezialausbildung.
Der Erstbeschwerdeführer verfügt über militärisches Spezialwissen zum Einsatz bei der Luftwaffe. Zudem ist er LKW-Fahrer.
In Syrien besteht ein verpflichtender Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist. Syrische männliche Staatsangehörige können bis zum Alter von 42 Jahren, und in Einzelfällen bei vorhandenem militärischen Spezialwissen bis zum Alter von 50 Jahren und darüber hinaus zum Reservedienst eingezogen werden.
Der Erstbeschwerdeführer, der bereits zweieinhalb Jahre Wehrdienst abgeleistet hat, wurde im Jahr 2013 im Alter von römisch 40 Jahren zum Reservedienst einberufen und verweigerte diesen. Er wird seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht. Bei der Ehefrau und den Töchtern des BF1 wurde bereits mehrmals nach ihm gefragt.
Eine neuerliche Einberufung zum Reservedienst ist aufgrund des Spezialwissens des Erstbeschwerdeführers und seines guten Gesundheitszustandes sehr wahrscheinlich. Der Erstbeschwerdeführer ist nach wie vor wehrdienstfähig, hat den in Syrien gesetzlich verpflichtenden Reservedienst nicht abgeleistet, verfügt über militärisches Spezialwissen und würde bei einer Rückkehr nach Syrien Gefahr laufen für den Reservedienst eingezogen zu werden.
Der Erstbeschwerdeführer lehnt einen neuerlichen Militärdienst bei der syrischen Armee ab. Bei einer Weigerung würde der BF1 auf asylrelevante Weise verfolgt werden.
Der Beschwerdeführer verließ Syrien im Jahr 2021 und stellte den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, unter anderem weil er nicht im Militär des syrischen Regimes kämpfen will. Er hat sich durch seine Ausreise seinem Reservedienst entzogen und würde daher bei einer Rückkehr als Regimegegner angesehen werden. Der BF1 hat 2013 eine Einberufung zum Reservedienst erhalten und dieser keine Folge geleistet. Er lehnt einen Militärdienst bei der syrischen Armee ab. Der Beschwerdeführer vertritt eine politische Gesinnung, die in Opposition zum aktuellen syrischen Machthaber steht. Er macht aus seiner Gesinnung kein Geheimnis und tut diese öffentlich kund, unter anderem durch seine Demonstrationsbesuche vor der syrischen Botschaft in den VAE.
Die Ausreise des Beschwerdeführers und die dadurch bewirkte Entziehung von dem Reservedienst wird vom syrischen Regime als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung gesehen.
Dem Beschwerdeführer drohen eine Zwangsrekrutierung sowie eine Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch das syrische Regime.
1.2.2. Im Falle einer Rückkehr besteht für den Erstbeschwerdeführer die Gefahr, am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen der Ausreise und der damit einhergehenden Reservedienstverweigerung verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Da der Beschwerdeführer im Jahr 2021 endgültig aus Syrien ausgereist ist ohne seinen Reservedienst abgeleistet zu haben, für den er 2013 einberufen wurde, gilt er für das syrische Regime als Wehrdienstverweigerer und würde bei einer Rückkehr als Regimegegner angesehen werden.
Es besteht zudem die Gefahr, dass der Erstbeschwerdeführer bei einer Rückkehr, trotz seines Alters von mittlerweile römisch 40 Jahren und trotz Ableistens des Wehrdienstes, zum Reservedienst bei der syrischen Armee eingezogen wird, was er ablehnt. Dem Erstbeschwerdeführer geht es gesundheitlich gut. Er verfügt über militärisches Spezialwissen zum Einsatz bei der Luftwaffe, zudem ist er LKW-Fahrer. Eine Einziehung zum Reservedienst trotz Überschreitung des 42. Lebensjahres ist angesichts des willkürlichen Verhaltens der syrischen Behörden und des Bedarfs an kampfähigen Soldaten sehr wahrscheinlich, zumal der BF1 über Spezialwissen verfügt und bereits 2013 eine Einberufung zum Reservedienst erhalten hat. Im Falle einer Weigerung würde er zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden. Die Regierung betrachtet Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen.
Das Herkunftsgebiet des BF1 steht unter Kontrolle des syrischen Regimes. Die Bedrohung geht vom syrischen Regime, somit vom Staat selbst, aus.
Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der Erstbeschwerdeführer somit Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime ausgesetzt zu sein.
Die Bedrohung des Erstbeschwerdeführers ist aktuell.
Dem Erstbeschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung.
Gründe, nach denen ein Ausschluss des Erstbeschwerdeführers hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, liegen im Verfahren nicht vor.
1.3. Zu den Fluchtgründen der Drittbeschwerdeführerin:
1.3.1. Zur Wiedereinsetzung des Verfahrens
Die BF3 wird im Verfahren durch die BBU GmbH vertreten. Der angefochtene Bescheid vom 17.02.2022 wurde der BF3 am 01.03.2022 zugestellt. Gemeinsam mit ihrer Familie erhob die BF3 am 30.03.2022 Beschwerde. Durch eine Mitarbeiterin der BBU GmbH wurde die Zustellbestätigung des gegenständlich angefochtenen Bescheides betreffend die BF3 übersehen, und erst durch zufällige Durchsicht der Emails wurde die BBU am 07.04.2022 auf ihren Fehler aufmerksam. Die BF3 hat durch ein unvorhergesehenes bzw. unabwendbares Ereignis die Frist zur Erhebung der Beschwerde versäumt. Die BBU GmbH und die BF3 selbst trifft kein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden.
1.3.2. Der Vater der Drittbeschwerdeführerin hat sich durch seine Ausreise aus Syrien einer Einziehung zum Reservedienst bei der der syrischen Armee entzogen. Der Erstbeschwerdeführer wurde im Jahr 2013 zum Reservedienst einberufen und verweigerte diesen. Er wird seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht. Bei seiner Familie wurde bereits mehrmals nach ihm gefragt. Es ist daher mit entsprechend hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Vater der Drittbeschwerdeführerin deswegen in Syrien als Regimegegner angesehen wird und bereits in den Fokus der syrischen Behörden geraten ist.
Im Falle einer Rückkehr besteht für die Drittbeschwerdeführerin die Gefahr, in ihrem Herkunftsort römisch 40 das nördlich der Stadt römisch 40 im Governement Deir ez-Zor im syrisch kontrollierten Gebiet liegt, oder bei einer Reise dorthin am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen ihrer eigenen Ausreise und ihrer Familienzugehörigkeit zu einem Reservedienstverweigerer verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Bei einer Rückkehr würde der Drittbeschwerdeführerin, aufgrund ihrer Ausreise und ihrer Familienzugehörigkeit zu einem Reservedienstverweigerer, eine oppositionelle politische Gesinnung zumindest unterstellt werden.
Vor diesem Hintergrund besteht auf Grundlage der vorliegenden Länderberichte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch die reale Gefahr, dass die Drittbeschwerdeführerin als nahe Angehörige eines Reservedienstverweigerers bei einer möglichen Rückkehr in die Heimat in das Blickfeld der syrischen Behörden geraten und ihr in weiterer Folge asylrelevante Verfolgung drohen würde. Festgestellt wird daher, dass der Drittbeschwerdeführerin in Syrien bei einer Rückkehr die reale Gefahr droht, als Tochter eines Reservedienstverweigerers von der syrischen Regierung verfolgt zu werden.
Auch Familien von Deserteuren, Wehrdienstverweigerern, Reservedienstverweigerern oder (vermeintlichen) Regimegegnern bzw. Kritikern haben in Syrien mit Konsequenzen zu rechnen. Eine Familie kann von der Regierung unter Druck gesetzt werden, wenn der Deserteur bzw. (mutmaßliche) Gegner des syrischen Regimes dadurch vielleicht gefunden werden kann. Familienmitglieder können festgenommen werden, um den Deserteur dazu zu bringen, sich zu stellen. Den Quellen zufolge betrachtet die syrische Regierung die Wehrdienstverweigerung nämlich nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland zu schützen. Weiters gehen die syrischen Sicherheitskräfte bei einer erfolglosen Fahndung nach möglichen Regierungsgegnern dazu über, die Familienangehörigen der betreffenden Person festzunehmen oder zu misshandeln. So sind zahllose Fälle bekannt, bei denen Personen für – als regierungsfeindlich angesehene – Tätigkeiten ihrer Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3., 1.4.4. und 1.4.6.).
Aufgrund der besonderen Situation in Syrien ist die Schwelle dafür, von Seiten des syrischen Regimes als „oppositionell“ betrachtet zu werden, relativ niedrig. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3. und 1.4.6.).
Es ist daher davon auszugehen, dass die Drittbeschwerdeführerin bei einer allfälligen Rückkehr in ihre Heimat das Interesse der syrischen Behörden auf sich ziehen und damit in deren Blickfeld geraten würde. Bei einer näheren Überprüfung ihrer Personalien würde ihr von den syrischen Staatsorganen, aufgrund der Verwandtschaft zu einem Reservedienstverweigerer – ihrem Vater – und der gemeinsamen Ausreise mit diesem, eine regimekritische Haltung unterstellt werden. Ihr würde somit durch das syrische Regime eine oppositionelle Gesinnung zumindest unterstellt werden, was mit Haftstrafe und Folter bedroht ist. Der Drittbeschwerdeführerin droht Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund ihrer Familienangehörigkeit zu ihrem Vater, der in Syrien als Reservedienstverweigerer gesucht wird.
1.3.3. Die BF3 würde als alleinstehende Frau nach Syrien zurückkehren. Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft die BF3 als junge Frau, deren Vater als Reservedienstverweigerer das Land verlassen hat, Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in ihre (sexuelle) Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime und/ oder die syrische Gesellschaft ausgesetzt zu sein.
Die Drittbeschwerdeführerin wäre bei einer Rückkehr als alleinstehende junge Frau anzusehen, da sich ihre Kernfamilie im Ausland befindet. Sie hat in Syrien keine Familienangehörigen zu denen sie zurückkehren kann. Der Drittbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Syrien.
Die aktuell römisch 40 jährige BF3 besuchte neun Jahre lang die Schule, sie hat keinen Beruf erlernt.
Zur fallrelevanten Lage in Syrien wird festgestellt, dass alleinstehende Frauen in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Die gesellschaftliche Akzeptanz alleinstehender Frauen ist jedoch nicht mit europäischen Standards zu vergleichen. Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Unverheiratete Mädchen, Witwen und Geschiedene wurden als besonders gefährdet eingestuft vergleiche römisch II.1.4.5.1.2.).
Zu beachten ist hierbei, dass die BF3 als junge, alleinstehende Frau ohne Berufsausbildung und als Rückkehrerin sowie als Familienangehörige von einem Reservedienstverweigerer als besonders vulnerable Person anzusehen wäre.
Vor 2011 war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich, alleine zu leben, z. B. für Frauen mit Arbeit in städtischen Gebieten. Seit dem Beginn des Konflikts ist es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz hat. In den meisten Fällen würde eine Frau nach einer Scheidung zu ihrer Familie zurückkehren. Der Zugang alleinstehender Frauen zu Dokumenten hängt von ihrem Bildungsgrad, ihrer individuellen Situation und ihren bisherigen Erfahrungen ab. Die Wahrnehmung alleinstehender Frauen durch die Gesellschaft variiert von Gebiet zu Gebiet, in Damaskus-Stadt gibt es mehr gesellschaftliche Akzeptanz als in konservativeren Gebieten. Die größte Bedrohung für Frauen ging vom syrischen Regime aus. Seit 2011 wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und syrische Gemeinschaften zu destabilisieren. Die CoI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) sowie zuletzt auch Berichte von Amnesty International (Bericht von September 2021) und Human Rights Watch (Bericht von Oktober 2021) dokumentieren weitverbreitete Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen vonseiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, militärischen Kontrollstellen und in Haftanstalten. Das Syrian Network for Human Rights bezifferte im November 2020 die Gesamtzahl bekannter Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen seit Beginn des Konflikts auf mindestens 8.021, darunter mindestens 879 Fälle in Haftanstalten und wenigstens 443 Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige. Menschenrechtsvertreter berichten, dass es bisher in mindestens 20 Haftanstalten in Syrien zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen gekommen sei. Ab dem Zeitpunkt der Festnahme und während der gesamten Haftzeit waren viele Frauen und Mädchen verschiedenen Arten sexueller Gewalt ausgesetzt: Dazu gehören Vergewaltigung, Leibesvisitationen und erzwungene Nacktheit, andere Akte sexueller Gewalt, die Androhung sexueller Gewalt, die Folter an Geschlechtsorganen, die Verletzung der reproduktiven Rechte und der medizinischen Versorgung sowie andere erniedrigende und demütigende Behandlungen. Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:
● Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien aus dem COI-CMS, Version 9 vom 17.07.2023
● Die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen - 6. aktualisierte Fassung, März 2021
● Die EUAA Country Guidance (ehemals EASO Leitlinien) zu Syrien vom Februar 2023
● ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt vom 14.06.2023
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Version 9, vom 17.07.2023, wiedergegeben:
1.4.1. Politische Lage
„Letzte Änderung: 10.07.2023
(…) Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum November 2022-März 2023] nicht wesentlich verändert (AA 29.3.2023). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in den Gebieten unter seiner Kontrolle nicht grundlegend angefochten, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden substanziellen militärischen Unterstützung Russlands bzw. Irans und Iran-naher Kräfte. Allerdings gelang es dem Regime nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol in diesen Gebieten durchzusetzen. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht (AA 29.3.2023). Der von den Vereinten Nationen geleitete Friedensprozess, einschließlich des Verfassungsausschusses, hat 2022 keine Fortschritte gemacht (HRW 12.1.2023; vergleiche AA 29.3.2023). (…)“
1.4.2. Sicherheitslage
„Letzte Änderung: 11.07.2023
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 29.3.2023). (…)
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). (…)
Die CoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). (…)
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022). (…)
Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).
(…) Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. […]“
1.4.2.1. Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet
Letzte Änderung: 13.07.2023
Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) war es nach Kämpfen mit der Nusra-Front und gegnerischen arabischen Stämmen im Juli 2014 gelungen, die Provinz Deir ez-Zor fast vollständig einzunehmen. 2017 führte die syrische Armee mit Unterstützung Russlands und Irans größere Militäroperationen durch, die zur Rückeroberung der Stadt Deir ez-Zor führten. Bis Ende 2017 verlor der IS den größten Teil seines Territoriums auf der Westseite des Euphrat. Auf der östlichen Seite des Flusses waren die Syrian Democratic Forces (SDF) bis Anfang 2019 in heftige Kämpfe mit dem IS verwickelt. Der IS kontrollierte damals noch ein kleines Stück Land nahe der syrisch-irakischen Grenze (EASO 5.2020). Im März 2019 wurde das letzte vom IS gehaltene Gebiet, das Dorf Baghouz, von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) eingenommen (EASO 5.2020; vergleiche DZ 24.3.2019) (…).
Das Gouvernement Deir ez-Zor ist grob in zwei Kontrollbereiche unterteilt. Der westliche Teil des Gouvernements - d.h. vor allem die Gebiete westlich des Euphrat - wird von der syrischen Regierung und ihren iranischen und russischen Verbündeten kontrolliert. Dieses Gebiet umfasst die wichtigsten Städte (Deir Ez-Zor, Mayadin und Al-Bukamal) und die logistische Route, die die von der Regierung kontrollierten Gebiete mit der syrisch-irakischen Grenze verbindet. Der östliche Teil des Gouvernements - die meisten Gebiete östlich des Euphrat - wird von den kurdisch dominierten SDF und ihren Verbündeten in der US-geführten Koalition kontrolliert (EUAA 9.2022; vergleiche JfS 12.1.2021). Da die SDF ihre Einflusssphären in der Region von der östlichen Seite her bis zum Euphrat ausdehnten, ist das al-Omar-Feld nun als die größte US-Militärbasis in Syrien bekannt. Das Feld im Osten von Deir ez-Zor ist das größte Ölfeld in Syrien (Enab 23.9.2022; vergleiche EUAA 9.2022).
Der Euphrat markierte bisher die Grenze zwischen dem russischen und dem US-Einflussgebiet im Bürgerkriegsland Syrien. Westlich des Flusses besitzt Russland die Lufthoheit und unterstützt mit seinen Kampfjets die eigenen Truppen in Syrien und die Armee von Machthaber Bashar al-Assad. Östlich des Stroms herrschten bisher die USA und ihre kurdischen Partner. Doch diese Abmachung bröckelt, weil Russland den militärischen Druck auf die USA in Syrien erhöht, um die Amerikaner aus dem Land zu drängen. Washington schickt nun zusätzliche Kampfflugzeuge (Die Presse 22.6.2023).
Die Bemühungen der Regierung Syriens in den 2017 vom IS zurückeroberten Gebieten die Kontrolle zu übernehmen, sind begrenzt, was der lokalen regierungsfreundlichen Miliz, den Nationalen Verteidigungskräften (NDF - National Defence Forces), freie Hand ließ und zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen führte, darunter Plünderungen und die gewaltsame Aneignung von zivilem Eigentum (WI 4.9.2020). Das vom Regime kontrollierte Deir ez-Zor wird von einem komplizierten Geflecht lokaler und anderer Sicherheitskräfte überwacht, von denen viele auch wichtige soziale und wirtschaftliche Funktionen in ihren Städten erfüllen. Stammesmilizen, die mit den NDF verbündet sind, Geheimdienstoffiziere und ihre Milizen, Freiwillige und Wehrpflichtige der Republikanischen Garde sowie der syrischen Armee (Syrische Arabische Armee -SAA) sowie eine Vielzahl ausländischer und syrischer Milizen, die unter anderem mit Iran verbündet sind, bemannen Außenposten und verwalten Städte im gesamten Gouvernement. Die Spannungen zwischen den lokalen Sicherheitskräften und der von Damaskus aus kommandierten SAA haben in den Jahren nach der Befreiung der Provinz vom IS stetig zugenommen (MEI 19.4.2021). Nach März 2019 ist die Präsenz der syrischen Regierung in den westlichen Teilen des Gouvernements Deir Ez-Zor begrenzt geblieben, was zu einer iranisch-russischen Konkurrenz um Ressourcen und Land führte (WI 4.9.2020).
Das Gebiet von Deir ez-Zor galt im Jahr 2019 als Kerngebiet der IS-Aktivität in Syrien, vor allem die Gebiete im Süden von Bosaira in Richtung Diban (BBC 27.10.2019). Der IS konnte im Jahr 2020 seinen Aufstand und seine klandestinen Operationen geringer Intensität in Zentralsyrien ausweiten und hat im ganzen Land Hochburgen und Zufluchtsorte errichtet, auch in der ostsyrischen Wüste und im von den SDF kontrollierten Teil von Deir ez-Zor (ICCT 28.6.2022). Die IS-Bewegung hat vor allem in der Wüstenregion Badia entlang der syrischen-irakischen Grenze wieder zugenommen, was Experten zu Folge zu weiteren IS-Angriffen im Nordosten Syriens führen könnte. Der IS bedroht nach wie vor fast alle Parteien in Syrien. Die Spannungen zwischen den verschiedenen Fraktionen im syrischen Konflikt und das fragile Sicherheitsumfeld haben es dem IS ermöglicht, zu wachsen und sich durch die verschiedenen Kontrollgebiete zu bewegen (CC 3.11.2022; vergleiche NI 8.8.2022). Die Wüste ist gebirgig und dünn besiedelt, und es hat keine systematische, anhaltende Militär- und Sicherheitskampagne gegeben, um die Kämpfer aufzuspüren, und aus diesen unmöglich zu kontrollierenden Gebieten zu vertreiben (NI 8.8.2022). In den Jahren 2020 und 2021 wurden regelmäßige Aktivitäten von Schläferzellen in den von den SDF kontrollierten Gebieten gemeldet, wobei sich die Sicherheitslage um Deir ez-Zor und in den Gebieten um Shaddadi verschlechtert hat (ICCT 28.6.2022). Das Tal des mittleren Euphrat und die Wüstengebiete im Gouvernement Deir ez-Zor werden als IS-Unterstützungsgebiet beschrieben, das seine Mitglieder nutzen können, um Sicherheitsoperationen zu umgehen und Waffen, Ausrüstung und Personal über die syrisch-irakische Grenze zu bringen (USDOD 3.11.2020). Für den Zeitraum Juli bis September 2022 sind z. B. eine Reihe von sicherheitsrelevanten Vorfällen mit dem IS im Gouvernement Deir ez-Zor verzeichnet (…). Der IS nutzt die Gebiete in der syrischen Wüste im Gouvernement Deir ez-Zor als sicheren Zufluchtsort und als Basis für Angriffe auf die Streitkräfte der Regierung und die SDF (UNSC 3.2.2021) sowie auf iranische Milizen und russische Streitkräfte. Auch wurde von Angriffen auf Arbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zor berichtet (AM 29.12.2021). Die Sicherheitslage in Deir ez-Zor wird demnach durch Angriffe des IS gegen Regierungstruppen (NPA 13.11.2021; vergleiche Asharq 30.8.2021) beeinträchtigt, sowie auch durch Angriffe des IS auf die SDF bzw. durch Operationen der SDF gegen den IS, z.T. unter Beteiligung von US-Streitkräften (MEMO 29.12.2021; vergleiche K24 23.9.2021, BAMF 20.12.2021, USDOD 3.11.2021). Die Beeinträchtigung resultiert auch aus den mit dem Iran zusammenhängenden Sicherheitsvorfällen (hauptsächlich US-amerikanische und israelische Luftangriffe) in den von der Regierung Syriens kontrollierten Teilen des Gouvernements (AnA 13.1.2021; vergleiche ACLED 13.10.2021, AC 18.5.2021, EUAA 9.2022). Im April und Mai 2021 kam es in Deir ez-Zor zu zahlreichen Tötungen, die häufig auf IS-Aktivitäten zurückgeführt wurden (EUAA 9.2022; vergleiche UNSC 17.6.2021). Die SDF führten mehrere Razzien gegen den IS durch, die sich sowohl auf das nördliche und nordöstliche als auch auf das östliche und nordwestliche Umland von Deir ez-Zor konzentrierten (EUAA 9.2022; vergleiche ANHA 11.5.2021). Auch für das erste Halbjahr 2022 registrierte der UN-Sicherheitsrat eine Konzentration von IS-Aktivitäten im Gouvernement Deir ez-Zor (EUAA 9.2022). Der Osten des Gouvernements gilt als das Gebiet, in dem die Autorität der SDF am schwächsten ist (EUAA 9.2022). Im dritten Quartal 2022 gab es einen Rückgang an offiziellen Meldungen bezüglich Sicherheitsvorfällen in Zusammenhang mit dem IS - 144 sicherheitsrelevante Ereignisse statt 185 im vorherigen Quartal. Allerdings wurden im September 2022 61 IS-bezogene Konfliktereignisse gemeldet, verglichen mit 34 im Juli 2022, was darauf hindeutet, dass die IS-Aktivität weiter zunehmen könnte, wenn sie nicht kontrolliert wird. Analysten argumentieren, dass sich die Gruppe ohne kontinuierliche militärische Gegenmaßnahmen neu formieren wird (CC 3.11.2022).
Der IS hat großteils darauf verzichtet, die Verantwortung für seine Angriffe zu übernehmen, und widersprüchliche Berichte erschweren die Verifizierung von IS-Aktivitäten (CC 5.8.2022). Dass der IS nach wie vor eine Bedrohung darstellt, und darüber hinaus auch die Gefahr besteht, dass er nun besser in der Lage sein könnte, größere Operationen durchzuführen oder die Dynamik seiner Angriffe zu erhöhen, zeigt sich auch in Zusammenhang mit dem Sina'a-Anschlag vom Januar 2022 (ICCT 28.6.2022).
Als Reaktion auf einen Angriff durch eine Drohne iranischer Machart mit einem Toten auf einen US-Stützpunkt in al-Hassakah führten US-Streitkräfte im März 2023 mehrere Gegenschläge auf Stellungen pro-iranischer Gruppen in den Städten Deir ez-Zour, Abu Kamal und Majadin in der Provinz Deir ez-Zour durch. Ein weiterer (pro-)iranischer Angriff zielte auf eine US-Stellung beim Ölfeld al-Omar (TAZ 24.3.2023). Laut US-Angaben starben bei den US-Luftschlägen insgesamt 19 Personen (Ha'aretz 4.4.2023). (…) […]
1.4.3. Folter und unmenschliche Behandlung
„Letzte Änderung: 14.07.2023
Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 12.1.2023). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie "verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 29.3.2023). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023), wobei die jüngsten Betroffenen erst elf Jahre alt waren (HRW 13.1.2022). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 29.3.2023). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023). (…)
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 29.3.2023). (…) […]“
1.4.4. Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
1.4.4.1. Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
„Letzte Änderung: 14.07.2023
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.3.2023). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 29.3.2023). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023; vergleiche ICWA 24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vergleiche Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vergleiche ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vergleiche BAMF 2.2023).
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).
Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vergleiche AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 29.3.2023).
Rekrutierungspraxis
Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023; vergleiche NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vergleiche NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vergleiche ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Das Gesetz verbietet allerdings die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vergleiche FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 29.3.2023).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vergleiche Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der "Gesuchten" zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
In Syrien besteht seit 2011 de facto eine unbefristete Wehrpflicht (AA 29.3.2023), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte. Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Zuletzt erließ der syrische Präsident einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vergleiche SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vergleiche NMFA 5.2022).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara'a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Alle Eingezogenen können dagegen laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023). […]“
1.4.4.2. Befreiung (…)
„Letzte Änderung 14.07.2023 (…)
Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vergleiche FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen [als vor dem Konflikt] und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vergleiche DRC/DIS 8.2017).
[…]“
1.4.4.3. Wehrdienstverweigerung / Desertion
„Letzte Änderung 17.07.2023
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vergleiche AA 29.3.2023). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Artikel 102, bei Überlaufen zum Feind und gemäß Artikel 105, bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.3.2023).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vergleiche DIS 5.2020).
Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben (AA 29.3.2023). Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). (…)
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vergleiche Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).
Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
"Versöhnungsabkommen" und Rückkehr von Wehrpflichtigen
Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).
In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch (HRW) berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines "Versöhnungsabkommens" zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter "Versöhnungsabkommen" zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 29.3.2023).
Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber "wahnsinnig", als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021). (…) […]“
1.4.5. Relevante Bevölkerungsgruppen
1.4.5.1. Frauen
1.4.5.1.1. Allgemeine Informationen
„Letzte Änderung: 17.07.2023
Syrien ist eine patriarchalische Gesellschaft, aber je nach sozialer Schicht, Bildungsniveau, Geschlecht, städtischer oder ländlicher Lage, Region, Religion und ethnischer Zugehörigkeit gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug auf Rollenverteilung, Sexualität sowie Bildungs- und Berufschancen von Frauen. Der anhaltende Konflikt und seine sozialen Folgen sowie die Verschiebung der de-facto-Kontrolle durch bewaffnete Gruppen über Teile Syriens haben ebenfalls weitreichende Auswirkungen auf die Situation der Frauen (NMFA 6.2021). Mehr als ein Jahrzehnt des Konflikts hat ein Klima geschaffen, das der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zuträglich ist, besonders angesichts der sich verfestigenden patriarchalischen Gesellschaftsformen, und Fortschritte bei den Frauenrechten zunichtemachte. Diese Risiken steigen unvermeidlicherweise angesichts von mehr als 15 Millionen Menschen in Syrien, die im Jahr 2023 humanitäre Hilfe benötigen. Gleichzeitig gibt es einen Anstieg an Selbstmorden unter Frauen und Mädchen, was laut ExpertInnen auf den fehlenden Zugang von Heranwachsenden zu Möglichkeiten und entsprechenden Hilfsleistungen liegt (UNFPA 28.3.2023).
Offizielle Mechanismen, welche die Rechte von Frauen sicherstellen sollen, funktionieren Berichten zufolge nicht mehr, und zusammen mit dem generellen Niedergang von Recht und Ordnung sind Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen besonders durch extremistische Gruppen ausgesetzt, die ihre eigenen Interpretationen von Religionsgesetzen durchsetzen. Die persönliche gesellschaftliche Freiheit von Frauen variiert je Gebiet außerhalb der Regierungskontrolle und reicht von schwerwiegenden Kleidungs- und Verhaltensvorschriften in Gebieten extremistischer Gruppen bis hin zu formaler Gleichheit im Selbstverwaltungsgebiet der Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD). Durch die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) und dem Zurückgehen der Kampfhandlungen im Lauf der Zeit ist die Bevölkerung in geringerem Ausmaß den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheiten ausgesetzt (FH 9.3.2023). Gleichwohl haben verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufgrund der Pandemie und der Bewegungseinschränkungen zugenommen, welche auch zur ökonomischen Ausbeutung von Frauen beitragen (UNFPA 28.3.2023).
Frühe Heiraten nehmen zu (UNFPA 28.3.2023): In Syrien lässt sich in den letzten Jahren ein sinkendes Heiratsalter von Mädchen beobachten, weil erst eine Heirat ihnen die verloren gegangene, aber notwendige rechtliche Legitimität und einen sozialen Status, d. h. den 'Schutz' eines Mannes, zurückgibt (ÖB Damaskus 1.10.2021), denn die Angst vor sexueller Gewalt und ihr Stigma könnte die Mädchen zu Ausgestoßenen machen. Überdies müssen die Eltern durch eine möglichst frühe Verheiratung ihrer Töchter nicht mehr für deren Unterhalt aufkommen. Die Verheiratung von Minderjährigen gilt als die häufigste Form von Gewalt gegen heranwachsende Mädchen. Einige Frauen und Mädchen werden auch gezwungen, die Täter, welche ihnen sexuelle Gewalt angetan haben, zu heiraten. Bei Weigerung droht Isolation, weil sie nicht zu ihren Familien zurückkehren können, bzw. kann ein 'Ehrenmord' drohen. Hintergrund ist, dass rechtliche Mittel gegen den Täter zuweilen nicht leistbar sind, und so mangels eines justiziellen Wegs die Familien keine andere Möglichkeit als eine Zwangsehe sehen (UNFPA 28.3.2023). Dieses Phänomen ist insbesondere bei IDPs (FH 9.3.2023) (und Flüchtlingen in Nachbarländern) zu verzeichnen. Das gesunkene Heiratsalter wiederum führt zu einem Kreislauf von verhinderten Bildungsmöglichkeiten, zu frühen und mit Komplikationen verbundenen Schwangerschaften und in vielen Fällen zu häuslicher und sexueller Gewalt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Auch geschiedene oder verwitwete Frauen gelten als vulnerabel, denn sie können Druck zur Wiederverheiratung ausgesetzt sein (UNFPA 28.3.2023). Im Allgemeinen ist eine von fünf Frauen in Syrien heutzutage von sexueller Gewalt betroffen (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Bereits vor 2011 waren Frauen aufgrund des autoritären politischen Systems und der patriarchalischen Werte in der syrischen Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Häuser geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Es wird angenommen, dass konservative Bräuche, die Frauen in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zuweisen, für viele Syrer maßgeblicher waren als das formale Recht (FH 3.3.2010). Doch selbst die formellen Gesetze legen für Frauen nicht denselben Rechtsstatus und dieselben Rechte fest wie für Männer, obwohl die Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen vorsieht (USDOS 20.3.2023). Frauen werden vor allem durch das Personenstandsgesetz bezüglich Heirat, Scheidung, Sorgerecht und Erbschaft weiterhin diskriminiert (HRW 12.1.2023).
Per legem haben Männer und Frauen dieselben politische Rechte. Der Frauenanteil im syrischen Parlament liegt je nach herangezogener Quelle zwischen 11,2 und 13,2 %. Auch manche der höheren Regierungspositionen werden derzeit von Frauen besetzt. Allerdings sind sie im Allgemeinen von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und haben wenig Möglichkeiten, sich inmitten der Repression durch Staat und Milizen unabhängig zu organisieren. Im kurdisch-geprägten Selbstverwaltungsgebiet werden alle Führungspositionen von einem Mann und einer Frau geteilt, während außerhalb der PYD-Strukturen die politische Autonomie für die Bevölkerung eingeschränkt ist (FH 9.3.2023)
Die Gewalt zusammen mit bedeutendem kulturellem Druck schränkt stark die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten ein. Zusätzlich erlaubt das Gesetz, bestimmten männlichen Verwandten Frauen ein Reiseverbot aufzuerlegen. Bewegungseinschränkungen wurden einem UN-Bericht von Februar 2022 zufolge in 51 % der untersuchten Orte ermittelt (USDOS 20.3.2023). Obwohl erwachsene Frauen keine offizielle Genehmigung brauchen, um das Land zu verlassen, reisen viele Frauen in der Praxis nur dann ins Ausland, wenn der Ehemann oder die Familie dem zugestimmt hat (NMFA 5.2022). (…) […]“
1.4.5.1.2. Frauen in Wirtschaft und medizinischer Versorgung
„Letzte Änderung: 17.07.2023
Wirtschaft
Durch den anhaltenden Konflikt und die damit einhergehende Instabilität sowie sich verschlechternde wirtschaftliche Situation hat sich die Situation der Frauen zunehmend erschwert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Der Global Gender Gap Report stuft Syrien 2021 auf Platz 152 ein, dem fünftletzten Platz (WEF 3.2021). Aufgrund fehlender Daten ist Syrien im diesjährigen Bericht (2022) nicht erfasst (WEF 7.2022).
Während weiterhin Vorstellungen, welche Berufe für Frauen passend sind, die Arbeitsmöglichkeiten von Frauen einschränken oder ihnen Arbeitsmöglichkeiten verwehrt werden (UNFPA 28.3.2023), hat der Krieg auch ihre Rolle in der Arbeitswelt verändert, und ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet, die zuvor Männern vorbehalten waren (HART 2.8.2022): So wurden Frauen in einigen Haushalten zu denjenigen, die Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen (UNFPA 28.3.2023), weil viele Männer getötet wurden oder sich aus Angst vor der Einberufung zur Armee, vor Verhaftung oder Inhaftierung versteckt hielten. So lag die Beteiligung von Frauen an der syrischen Erwerbsbevölkerung im Jahr 2018 in Damaskus, Lattakia und Tartus im Durchschnitt zwischen 40 und 50 %, während in anderen Teilen des Landes der Anteil an erwerbstätigen Frauen zwischen 10 und 20 % betrug und in den Provinzen Idlib, Raqqa und Quneitra sogar noch niedriger war. Insgesamt waren Schätzungen zufolge im Jahr 2018 11,6 % der Frauen erwerbstätig, gegenüber 69,75 % der Männer (NMFA 5.2020). Mittlerweile stieg im Jahr 2022 die Erwerbsquote auf insgesamt 16,8 % der weiblichen Bevölkerung, sie ist aber noch immer niedriger als im Jahr 1990 (WB o.D.). Während der Anteil der erwerbstätigen Männer im Alter von 25 bis 54 Jahren im Jahr 2021 auf 95 % stieg, wurde die Zahl der Erwerbstätigen vor allem durch Frauen, Jugendliche und ältere Leute vergrößert - d.h. Menschen mit relativ begrenzten Verdienstmöglichkeiten. Die Weltbank sieht die steigende Zahl an Vulnerablen am Arbeitsmarkt als ein Indikator für die Notlage der Betroffenen, die darauf angewiesen sind, jedwede Einkommensmöglichkeit unabhängig von den Bedingungen anzunehmen (WB 2023): Geschlechtsbasierte Gewalt hat zugenommen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht einschließlich Ausbeutung bei der Arbeit wie auch Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit. 'Finanzielle Gewalt' in der Terminologie von UNFPA hat zugenommen, darunter die Vorenthaltung finanzieller Mittel, Bildung, Arbeitsmöglichkeiten und von Gehältern. Wenn Frauen das Nachgehen einer Erwerbsarbeit erlaubt wird, kann es zum Beispiel vorkommen, dass ihr Einkommen von männlichen Familienangehörigen an sich genommen wird (UNFPA 28.3.2023). Umgekehrt gibt es nun Frauen, die mehr an den finanziellen Entscheidungen ihrer Familie beteiligt sind (CARE 3.2016)
Neben der großen Kluft zwischen den Geschlechtern bei der Erwerbsbeteiligung existiert außerdem eine geschlechtsspezifische Benachteiligung bei Sozialleistungen. Dem Besitz von Grund durch Frauen stehen gesellschaftliche Praktiken gegenüber, welche davon abschrecken (FH 9.3.2023). Seit einer Änderung des Personenstandsrechts im Jahr 2019 ist es möglich, dass eine Frau fordert, dass in ihrem Ehevertrag das Recht auf Arbeit enthalten ist (SLJ 3.10.2019).
Frauen sind in verschiedenen öffentlichen und politischen Positionen tätig. Dies kann entweder aus freiem Willen geschehen oder aus der Notwendigkeit heraus, die Familie in Abwesenheit eines männlichen Versorgers zu unterstützen (NMFA 5.2022).
Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der sozio-ökonomischen Krise betroffen (AA 29.3.2023) wie auch Haushalte mit behinderten Personen. 16 % der von Frauen geleiteten Haushalte sowie 12 % von Haushalten mit Menschen mit Behinderung sind überhaupt nicht in der Lage, ihren Lebensbedarf zu decken (UNFPA 28.3.2023).
Öffentliche Räume wie besonders Kontrollpunkte, aber auch Märkte, Schulen oder Straßen stellen potenzielle Risiken dar, wo Frauen und Mädchen sexueller Gewalt ausgesetzt sind (UNFPA 28.3.2023).
In Fällen, in denen der Zugang zu Bildung eingeschränkt ist, kompensieren Frauen den Verlust von Bildung, indem sie ihre Kinder zu Hause unterrichten. In Fällen, in denen der Zugang zu Infrastrukturgütern wie Wasser oder Strom eingeschränkt ist, legen die Frauen lange Wege zurück, um Wasser oder Diesel für den Betrieb ihrer eigenen Generatoren zu beschaffen. Darüber hinaus erhöht der Mangel an Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern die Arbeitsbelastung der Frauen zu Hause, weil die Aufgaben arbeitsintensiver geworden sind (z. B. backen Frauen zu Hause Brot, wenn es keine Bäckereien mehr gibt) (CARE 3.2016).
Alleinstehende Frauen
Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Die gesellschaftliche Akzeptanz alleinstehender Frauen ist jedoch nicht mit europäischen Standards zu vergleichen (STDOK 8.2017). Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Mädchen, Witwen und Geschiedene werden als besonders gefährdet eingestuft. Auch Überlebende sexueller Gewalt sind besonders vulnerabel (UNFPA 10.3.2019, vergleiche für aktuelle Beispiele UNFPA 28.3.2023). Vor 2011 war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich, allein zu leben, z. B. für Frauen mit Arbeit in städtischen Gebieten. Seit dem Beginn des Konflikts ist es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz hat. In den meisten Fällen würde eine Frau nach einer Scheidung zu ihrer Familie zurückkehren. Der Zugang alleinstehender Frauen zu Dokumenten hängt von ihrem Bildungsgrad, ihrer individuellen Situation und ihren bisherigen Erfahrungen ab. Für ältere Frauen, die immer zu Hause waren, ist es beispielsweise schwierig, Zugang zu Dokumenten zu erhalten, wenn sie nicht von jemandem begleitet werden, der mehr Erfahrung mit Behördengängen hat (STDOK 8.2017). Die Wahrnehmung alleinstehender Frauen durch die Gesellschaft variiert von Gebiet zu Gebiet, in Damaskus-Stadt gibt es mehr gesellschaftliche Akzeptanz als in konservativeren Gebieten (SD 30.7.2018).
Da die syrische Gesellschaft als konservativ beschrieben wird, gibt es strenge Normen und Werte in Bezug auf Frauen, obwohl es durchaus auch säkulare Einzelpersonen und Familien gibt. Es gibt zwar keine offizielle Kleiderordnung, bestimmte gesellschaftliche Erwartungen bestehen aber dennoch. In den Großstädten wie Damaskus oder Aleppo und in der Küstenregion haben Frauen mehr Freiheiten, sich modern zu kleiden. Trotzdem kann die eigene Familie einer Frau in dieser Hinsicht ein hinderlicher Faktor sein (NMFA 5.2022).
In Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand besteht ein höheres Risiko, sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, insbesondere für die Mädchen in diesen Familien. Witwen und geschiedene Frauen sind in der Gesellschaft mit einem sozialen Stigma konfrontiert (NMFA 5.2020).
Frauen und medizinische Versorgung
Angesichts der drastisch gekürzten öffentlichen Dienste sind syrische Frauen gezwungen, zusätzliche Aufgaben in ihren Familien und Gemeinden zu übernehmen und haben Berichten zufolge eine führende Rolle im informellen humanitären Bereich übernommen. Frauen kümmern sich um Verletzte, Behinderte, ältere Menschen und Menschen mit anderen medizinischen Problemen, wenn es keine Gesundheits- und Rehabilitationsdienste mehr gibt. Die Frauen erbringen die medizinische Versorgung entweder in ihren Häusern oder arbeiten als Freiwillige in improvisierten, geheimen Gesundheitszentren [Anm.: in den Oppositionsgebieten] (CARE 3.2016). Gewalt überall im Land macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung einschließlich reproduktiver Medizin teuer und gefährlich (USDOS 20.3.2023). So schränkt die HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen ein und unterwirft sie Beschränkungen auch in Bezug auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung (SNHR 25.11.2019).
Syrischen AktivistInnen zufolge verweigerten die Regierung und bewaffnete Extremisten manchmal schwangeren Frauen das Passieren von Checkpoints und zwangen sie, unter oft gefährlichen und unhygienischen Bedingungen und ohne adäquate medizinische Betreuung ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Angriffe des Regimes und Russlands führen dazu, dass Gesundheitseinrichtungen oft im Geheimen operieren oder in einigen Fällen die Arbeit im Land einstellen. Konfliktbedingt ist der Sektor reproduktiver Gesundheit schwer belastet, und die Zahl der Frauen, welche während der Schwangerschaft oder der Geburt sterben, steigt weiterhin. Gemäß UNFPA (United Nations Population Fund) benötigen 7,3 Millionen Frauen und Mädchen Gesundheitsleistungen im Bereich reproduktiver und sexualmedizinischer Medizin wie auch Unterstützung in Fällen geschlechtsbasierter Gewalt, denn physische und sexuelle Gewalt wie auch Kinderheiraten sind im Steigen begriffen (USDOS 20.3.2023). Mit der Ausnahme, dass eine Fortführung der Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, sind Abtreibungen in Syrien nach wie vor illegal (UNFPA 12.2021).
Die Risiken von Kinderheiraten sind für Mädchen beträchtlich: Dazu gehören das erhöhte Risiko sexuell übertragbarer Infektionen, die enormen Gesundheitsrisiken für Mädchen durch frühe Schwangerschaften, das Risiko des Schulabbruchs und zusätzlicher Freiheits- und Bewegungseinschränkungen, das Risiko häuslicher Gewalt (physisch, verbal oder sexuell) und das Risiko, von Freunden und Familie isoliert zu werden. Kinderheiraten und die damit verbundenen Risiken können sich negativ, auch auf die psychische Gesundheit der Mädchen auswirken und zu emotionalen Problemen und Depressionen führen (UNFPA 11.2017). (…) […]“
1.4.5.1.3. Sexuelle Gewalt gegen Frauen und ’Ehrverbrechen’
„Letzte Änderung: 17.07.2023
Ausmaß und Berichtslage zu sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen
Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen (AA 29.3.2023). Der UN Population Fund (UNFPA) und weitere UN-Organisationen, NGOs und Medien stufen das Ausmaß an Vergewaltigungen und sexueller Gewalt als 'endemisch, zu wenig berichtet und unkontrolliert' ein (USDOS 20.3.2023). Allgemein ist eine von fünf Frauen in Syrien heute von sexueller Gewalt betroffen, wobei eine Zunahme von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt infolge der allgemeinen Unsicherheit und Perspektivlosigkeit der Menschen und der verloren gegangenen Rolle des Mannes als 'Ernährer der Familie' auch innerhalb der gebildeten städtischen Bevölkerung und auch in Damaskus zu verzeichnen ist (ÖB Damaskus 1.10.2021). 'Ehrverbrechen' in der Familie - meist gegen Frauen - kommen in ländlichen Gegenden bei fast allen Glaubensgemeinschaften vor (AA 29.3.2023).
Im November 2021 schätzte das Syrian Network for Human Rights (SNHR), dass die Konfliktparteien seit März 2011 sexuelle Gewalt in mindestens 11.526 Fällen verübt haben. Die Regimekräfte und mit ihr verbündete Milizen waren für den Großteil dieser Straftaten verantwortlich - mehr als 8.000 Fälle, darunter mehr als 880 Straftaten in Gefängnissen und mehr als 440 Übergriffe auf Mädchen unter 18 Jahre. Fast 3.490 Fälle sexueller Gewalt wurden vom sogenannten Islamischen Staat (IS) begangen und 13 Verbrechen durch die Syrian Democratic Forces (SDF) (USDOS 20.3.2023). Die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Jahr 2019, Rückschläge für andere extremistische Gruppen und der Rückgang an Kampfhandlungen haben dazu geführt, dass die Bevölkerung nicht mehr derart den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheit ausgesetzt ist (FH 9.3.2023).
Sexuelle Gewalt durch Regimekräfte
Seit 2011 wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und die Gesellschaft zu destabilisieren sowie demografische Veränderungen, z. B. in Homs, durch Vertreibungen zu erreichen (LDHR 10.2018): U.a. die CoI, Amnesty International und Human Rights Watch berichten immer wieder über Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen und Mädchen, insbesondere von Seiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, bei Militärkontrollen und in Haftanstalten. Vor allem Haftpraktiken in Syrien wiesen hiernach eine konstant stark geschlechtsorientierte Komponente auf. Sowohl Frauen als auch Männer werden Opfer sexualisierter Gewalt, insbesondere als Bestandteil von Misshandlungs- und Folterpraktiken. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass es bisher in mindestens 20 Haftanstalten in Syrien zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen gekommen ist (AA 29.3.2023). Dazu gehören Vergewaltigung, Leibesvisitationen und erzwungene Nacktheit, andere Akte sexueller Gewalt, die Androhung sexueller Gewalt, die Folterung an Geschlechtsorganen und weitere erniedrigende und demütigende Behandlungen (SJAC 10.4.2019). Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen (USDOS 12.4.2022). Auch sind einer Menschenrechtsorganisation zufolge nach Syrien rückkehrende Flüchtlinge, besonders Frauen und Kinder, sexueller Gewalt durch Regimekräfte ausgesetzt (USDOS 20.3.2023).
Sexuelle Gewalt durch bewaffnete Gruppen in Gebieten außerhalb der Regimekontrolle
Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen. Sexualisierte Gewalt wird daneben nach früheren CoI-Berichten auch von anderen bewaffneten Gruppierungen systematisch ausgeübt, wie etwa den Terrororganisationen Hay'at Tahrir ash-Sham - HTS und IS (AA 29.3.2023). Frauen sind, bzw. waren, zudem in den vom sogenannten Islamischen Staat (IS) und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Der HTS mischt sich zunehmend in alle Bereiche des zivilen Lebens ein. HTS schränkt z. B. die Bewegungsfreiheit von Frauen ein und hat sogar Kleider- und sogar Frisurvorschriften erlassen (HRW 13.1.2022).
Der Niedergang von Recht und Ordnung setzt Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen aus, besonders durch extremistische Gruppen, die der Bevölkerung ihre eigenen Interpretationen des Religionsrechts auferlegen (FH 9.3.2023): Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Frauen durch Mitglieder nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen sind zwar dokumentiert, kommen aber schätzungsweise weniger häufig vor als durch die Regierungstruppen und ihre Verbündeten. Berichten zufolge stehen Fälle von sexueller Gewalt dort im Zusammenhang mit sozialen Phänomenen wie Ausbeutung, Konfessionalismus und Rache, wobei Fälle dokumentiert sind, die Opfer mit kurdischem Hintergrund, vermeintliche Schiiten oder regierungstreue Personen sowie Minderheitengruppen wie Drusen und Christen betreffen (UNCOI 8.3.2018).
Sexuelle Gewalt ebenso wie Ausbeutung und Hürden beim Zugang zu Hilfsleistungen betreffen besonders oft geschiedene Frauen, Witwen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023). Neben Fällen von Versklavung, dem sinkenden Heiratsalter und Fällen von Zwangsheirat wurden offenbar vor allem in IS-kontrollierten Gebieten auch zunehmend Fälle von Genitalverstümmelung beobachtet, eine Praxis, die bis zum Ausbruch der Krise in Syrien unbekannt war und auf die Präsenz von Kämpfern aus Sudan und Somalia zurückzuführen war (ÖB Damaskus 1.10.2021).
In den Gebieten unter türkischer Kontrolle in Nordsyrien stehen laut Bericht der CoI von September 2022 insbesondere kurdische Aktivistinnen unter erhöhter Gefahr, Opfer von Repressionen durch die SNA zu werden. Zudem sind Frauen besonders vulnerabel bei willkürlichen Enteignungen und können durch bestehende Diskriminierungsmuster nur unter großen Schwierigkeiten Entschädigungen einfordern. Darüber hinaus geht SNA besonders rigoros gegen zivilgesellschaftliche Akteure vor, die sich zu Genderthemen äußern und auf sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam machen (AA 29.3.2023). Dazu kamen Berichte aus Afrin über die Auferlegung strenger Bekleidungsvorschriften für Frauen und Mädchen und die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit sowie die Belästigung durch Mitglieder der bewaffneten Gruppen, insbesondere beim Passieren von Kontrollpunkten (UNCOI 15.8.2019). Die Angst vor Entführung und sexueller Gewalt wird als ein wichtiger Faktor genannt, der die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen auch in den türkischen Einflussgebieten einschränkt, wobei auch die Angst vor Schande und Stigmatisierung im Zusammenhang mit sexueller Belästigung eine Rolle spielt (UNPFA 10.3.2019) Anmerkung, siehe auch weiter unten).
Ungefähr 12.715 Personen bestehend aus verwitweten und geschiedenen Frauen und Mädchen leben mit ihren Kindern in 42 Witwenlagern, was ihrem Schutz und dem Erhalt ihrer 'Ehre' dienen soll, aber ihre Isolierung basiert auf der Einstellung, dass unverheiratete Frauen Schande über ihre Familie bringen (UNPFA 28.3.2023).
Häusliche Gewalt und Gewalt in der Familie und an öffentlichen Orten sowie Umgang mit Gewaltopfern
Die meisten Fälle von 'Ehrenmorden' stehen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt, aber nicht notwendigerweise mit Vergewaltigung: In einigen Fällen sind es Belästigungen oder Übergriffe auf der Straße oder in anderen Fällen die Annahme, dass während der Entführung/Gefangenschaft sexuelle Gewalt stattgefunden habe (UNFPA 3.2019). Ehemalige weibliche Häftlinge leiden unter psychischen Problemen, in vielen Fällen unter schweren körperlichen Verletzungen durch Gewalt, einschließlich gynäkologischer Verletzungen durch sexuelle Gewalt, und unter gesundheitlichen Problemen wie Lungenentzündung und Hepatitis. Darüber hinaus ist die Annahme weit verbreitet, dass weibliche Häftlinge sexuelle Gewalt erfahren haben, was von der Familie und der Gemeinschaft als Schande für die Würde und Ehre des Opfers empfunden werden kann. Diese Stigmatisierung kann Berichten zufolge zu sozialer Isolation, Ablehnung von Arbeitsplätzen, Scheidung, Verstoßung durch die Familie und sogar zu 'Ehrenmorden' führen (UNFPA 11.2017). So bleibt die Gefahr von 'Ehrenmorden' durch Familienmitglieder einer der Gründe, warum sexuelle Gewalt nicht in vollem Ausmaß berichtsmäßig erfasst ist. Tausende Überlebende von Gewalt, sexueller Ausbeutung und Zwangsheiraten wurden von ihren Familien verstoßen (USDOS 20.3.2023). Eltern oder Ehemänner verstoßen oftmals Frauen, die während der Haft vergewaltigt wurden oder wenn eine Vergewaltigung auch nur vermutet wird (STDOK 8.2017). Frühe und erzwungene Heiraten kommen auch besonders bei Binnenvertriebenen vor, weil die Familien die Ehe unter anderem als Schutz vor der verbreiteten sexuellen Gewalt wahrnehmen (FH 9.3.2023).
Darüber hinaus stellt die Angst vor sozialer Stigmatisierung oder vor der Polizei ein Hindernis für die Anzeige von sexueller Gewalt dar. Einflussreiche Beziehungen der Frau oder des Täters spielen eine große Rolle bezüglich der Wirksamkeit einer solchen Anzeige. Es besteht die Gefahr, dass die Frau beschuldigt wird. Wenn sie einen Vorfall anzeigt - in der Regel gegen ihren Ehemann - ist der soziale Druck, die Anzeige zurückzuziehen, enorm. Es heißt daher, dass Frauen versuchen, häusliche Gewalt innerhalb der Familie zu klären. Welche Hilfe tatsächlich geleistet wird, hängt jedoch von ihrer Familie ab (NMFA 5.2022)
Berichten zufolge kam es seit 2011 zu einem Anstieg an 'Ehrenmorden' infolge des Konfliktes (USDOS 12.4.2022). Drei Organisationen dokumentieren zusammen von 2019 bis November 2022 insgesamt 185 'Ehrenmorde' (USDOS 20.3.2023). Laut dem niederländischen Außenministerium ist es jedoch nicht möglich, das konkrete Ausmaß an Blutfehden und 'Ehrenmorden' in Syrien in absoluten Zahlen auszudrücken. Dass diese vorkommen, wird aber von zahlreichen Quellen und Beispielen aus dem Berichtszeitraum [Anm.: Mai 2021 bis Mai 2022] belegt. Eine Quelle stellt zudem fest, dass sie hauptsächlich in Gebieten vorkommen, in denen Stämme eine wichtige Rolle spielen, wie z. B. in Suweida und im Nordosten, aber auch, dass sie nicht auf eine spezifische ethnische Gemeinschaft beschränkt sind (NMFA 5.2022).
Insbesondere Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sind einem erhöhten Risiko sexueller Gewalt ausgesetzt. Darüber hinaus sind unbegleitete Mädchen, Waisen oder solche, die bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern leben, Berichten zufolge von sexueller Gewalt bedroht. Syrische Mädchen, die für den UNFPA-Bericht 2017 befragt wurden, berichteten von einem besonderen Risiko sexueller Gewalt auf dem Weg zur oder von der Schule, und diese Risiken sollen oft der Hauptgrund dafür sein, dass Mädchen entweder die Schule abbrechen oder von ihren Eltern aus der Schule genommen werden (UNFPA 11.2017). Für aktuelle Beispiele hierzu siehe UNFPA vom 28.3.2023.
Anzeige und Strafverfolgung
Eine Anzeige wegen sexueller Gewalt in Syrien muss durch ein medizinisches Gutachten eines Gerichtsmediziners untermauert werden, aus dem die Schwere der körperlichen Verletzung hervorgeht. Dieses Verfahren sowie soziale Normen und Stigmata machen es Frauen, die missbraucht wurden, schwer, Hilfe zu suchen (NMFA 6.2021). Zudem besteht das Risiko, dass man ihr die Schuld für das Vorgefallene gibt (NMFA 5.2022). Die Anzeige von Gewalt durch Regierungsbeamte ist noch schwieriger, weil sie rechtlich gegen Anklagen für Handlungen geschützt sind, die sie im Rahmen ihrer Arbeit vornehmen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand es wagen würde, Sicherheitsbeamte wegen Gewaltanwendung trotz der Angst vor Verschwindenlassen, der Verhaftung oder der Anschuldigung des Terrorismus anzuzeigen (NMFA 6.2021). Obwohl Vergewaltigung außerhalb der Ehe strafbar ist, setzt die Regierung diese Bestimmungen nicht wirksam um. Darüber hinaus kann der Täter eine Strafminderung erhalten, wenn er das Opfer heiratet, um das soziale Stigma der Vergewaltigung zu vermeiden. Dem stimmen manche Familien wegen des sozialen Stigmas durch Vergewaltigungen zu (USDOS 20.3.2023). Eine Frau in Furcht vor einem 'Ehrverbrechen' kann keinen Schutz von den Behörden wie etwa in Form eines Frauenhauses erwarten. Ihre Optionen für eventuellen Schutz hängen gänzlich von ihren persönlichen und gesellschaftlichen Umständen ab (NMFA 5.2022), denn offizielle Mechanismen zum Schutz von Frauenrechten funktionieren Berichten zufolge nicht (FH 9.3.2023).
Die Tatsache, dass es sich bei einem Mord aus Anlass angeblicher 'illegitimer sexueller Handlungen' um einen 'Ehrenmord' handelt, wird aus rechtlicher Sicht seit März 2020 nicht mehr als mildernder Umstand als Motiv für einen Mord oder eine Körperverletzung an der Ehefrau oder nahen weiblichen Verwandten anerkannt. Allerdings bleiben andere Gesetze statt des Artikels 548 des Strafgesetzes in Kraft, welche trotzdem eine Strafmilderung erlauben (HRW 12.1.2023). Es kommt nur zu wenigen Strafverfolgungen wegen Mordes oder versuchten Mordes aus Gründen der 'Ehre' (NMFA 5.2022). Auch können sich Vergewaltiger durch die Heirat des Opfers vor Strafe schützen (FH 9.3.2023).
Bei 'Ehrverbrechen' in der Familie - meist gegen Frauen - besteht laut deutschem Auswärtigen Amt kein effektiver staatlicher Schutz (AA 29.3.2023). Es gibt zwar Frauenhäuser in verschiedenen Gegenden des Landes, aber diese sind vor allem für Witwen und geschiedene Frauen gedacht. Auch ist die Suche nach Zuflucht schwierig, denn die Schutz suchenden Frauen müssen in ein anderes Gebiet umziehen und den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen. Es gibt zwar Organisationen zur Unterstützung von Frauen in Not, aber die Dauer des Schutzes hängt von der Laufzeit des Projekts ab. Die Wahrscheinlichkeit ist nach Einschätzung des niederländischen Außenministeriums groß, dass die Frauen zu ihren Familien zurückkehren müssen (NMFA 5.2022). Die Finanzierung von Projekten gegen geschlechtsbasierte Gewalt ging im Jahr 2022 zurück - mit Auswirkungen auf die Sicherheit von Frauen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023). (…) […]“
1.4.6. Bewegungsfreiheit: Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
„Letzte Änderung: 13.07.2023
(…)
Rückkehr
Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023). (…)
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 % (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022). (…)
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023). (…)“
1.4.7. Aus der ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt vom 14.06.2023:
Generelle Regelungen und Informationen aus der Praxis betreffend das aktuelle Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt am Grenzübergang
In seinem Länderinformationsbericht zu Syrien vom Mai 2022 schreibt das niederländische Außenministerium unter Bezugnahme auf eine vertrauliche Quelle Folgendes: Ein Mann, der aus dem Ausland (über den Land- oder Luftweg) nach Syrien zurückkehre und einen Dienst als Reservist abzuleisten habe, werde von Grenzbeamt·innen bei seiner Einreise ins Land darüber informiert. Er müsse sich dann innerhalb von 15 Tagen beim Rekrutierungsbüro melden. Wenn dies nicht erfolge, könne er, etwa an einem Checkpoint oder im Zuge einer Verhaftungskampagne festgenommen werden. Der vertraulichen Quelle zufolge seien zwischen Mai 2021 und Mai 2022 mindestens ein paar Dutzend Rückkehrer als Reservisten rekrutiert worden. Auch einer weiteren Quelle seien Fälle von Rückkehrern bekannt, die dazu aufgefordert worden seien, als Reservisten zu dienen oder ihren Wehrdienst abzuleisten (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, Sitzung 53). In einer E-Mail-Auskunft vom 29. Mai 2023 bestätigt Muhsen Al-Mustafa, Forscher am Omran Center for Strategic Studies, die 15-Tage-Frist. Al-Mustafa zufolge würden alle Personen, die nach Syrien einreisen und alle, die eine Einberufung zum Reservedienst erhalten hätten, eine Sicherheitsüberprüfung durch syrische Behörden durchlaufen. Männern, die zum Reservedienst einberufen worden seien, würde ein Schriftstück überreicht, das von der für sie zuständigen Rekrutierungsabteilung (AR: Schu’bat al-Tadschnid) innerhalb von 15 Tagen überprüft werden müsse. Erfolge die Aushändigung des Dokumentes nicht innerhalb dieser Frist, werde der zum Reservedienst Einberufene verhaftet und habe seinen Reservedienst abzuleisten. In manchen Fällen, insbesondere in ländlichen Gebieten, sei es Al-Mustafa zufolge für Reservisten möglich, Soldaten an Checkpoints zu bestechen, um nicht in den Reservedienst eintreten zu müssen (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Auch Jusoor for Studies, eine unabhängige Forschungseinrichtung mit Sitz in der Türkei und ein Think Tank, der sich unter anderem mit Syrien befasst, bestätigte in einer E-Mail-Auskunft vom 6. Juni 2023, dass diese Regelung noch aufrecht sei. Aus dem Ausland nach Syrien einreisenden Reservisten mit aufrechtem Einberufungsbefehl würden an der Grenze die Ausweisdokumente von Grenzbeamt·innen abgenommen. Sie würden andere Dokumente erhalten und aufgefordert, mit diesen im Rekrutierungsbüro zu erscheinen. Im Rekrutierungsbüro würden sie dann offiziell über die Einberufung zum Reservisten informiert (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023). Unter Bezugnahme auf verschiedene Quellen erläutert das Danish Immigration Service (DIS) in einem Bericht vom Mai 2020, dass die militärische Einberufung von Individuen an Grenzübergängen erfolge. Beamt·innen an Checkpoints und an der Grenze hätten Zugang zu einer zentralisierten Datenbank mit den Namen aller, nach denen für den Militärdienst gefahndet werde (DIS, Mai 2020, Sitzung 11).
In einem Telefonat am 25. Mai 2023 erklärt Fabrice Balanche, Associate Professor und Forschungsdirektor an der Universität von Lyon 2, gegenüber ACCORD, dass in Syrien die meisten Männer, die die Wehrpflicht abgeleistet hätten, bis zum Alter von 50 Jahren Reservisten seien. Es gebe hier nur sehr wenige Ausnahmen. Für potentiell reservepflichtige, im Ausland lebende Syrer würde die Einreise nach Syrien immer das Risiko der Einberufung zum Reservedienst bedeuten, solange sie noch im reservepflichtigen Alter seien. Männern, die sich im Ausland befänden und etwa über den Libanon nach Syrien einreisen wollen, sei zu empfehlen, durch eine andere Person an der Grenze überprüfen zu lassen, ob sie für den Reservedienst einberufen worden seien. Würden die Betroffenen selbst am Grenzübergang erscheinen, bestehe die Gefahr, dass sie sofort einberufen würden, sollte ein aufrechter Einberufungsbefehl für den Reservedienst bestehen. An der Grenze könne die vorausgeschickte Person gegen Bezahlung eines Grenzbeamten, elektronisch überprüfen lassen, ob ein Einberufungsbefehl für den Reservedienst bestehe. Sollte ihr Name nicht aufscheinen, könne die betreffende Person das Risiko der Einreise nach Syrien auf sich nehmen. Eine Einreise sei dennoch riskant, denn ein Mann könne an einem der zahlreichen Checkpoints im Land unter dem Vorwand eines bestehenden Einberufungsbefehls oder eines vorhandenen politischen Berichts („political report“; AR: taqrir) zu seiner Person vom syrischen Geheimdienst oder dem Militär festgenommen und inhaftiert zu werden, bis ein Freikauf aus der Haft erfolge. Personen, die nicht imstande oder willens seien, sich freizukaufen, würden eine wochenlange Inhaftierung riskieren. Es würden auch oft Fehler passieren. Es könne passieren, dass Personen, deren Namen an den Landesgrenzen nicht für den Reservedienst aufscheinen, in der Heimatstadt vom Militärbüro erfahren, dass durchaus ein offener Einberufungsbefehl zum Reservedienst bestehe. Es sei dem Experten zufolge daher besser, sowohl an der Außengrenze des Landes prüfen zu lassen, ob ein Einberufungsbefehl bestehe, als auch in der Herkunftsstadt/im Herkunftsdorf der jeweiligen Person, etwa indem ein/e dort lebende/r Verwandte/r um Einholung der Auskunft gebeten würde (Balanche, 24. Mai 2023).
Balanche seien viele Beispiele für Männer bekannt, deren Namen nicht in der Reservistenliste am Grenzübergang bei der Einreise in von der Regierung kontrollierte Gebiete in Syrien aufgeschienen seien, die nach Einreise ins Land jedoch trotzdem inhaftiert worden seien. Es sei laut Balanche für jeden Mann zwischen 18 und 50 Jahren riskant, nach Syrien einzureisen, besonders in die von der Assad-Regierung kontrollierten Gebiete, da nie vorhergesagt werden könne, was passieren werde (Balanche, 24. Mai 2023).
Generelle Regelungen und Informationen aus der Praxis, wonach ein registrierter Reservist unmittelbar bei der Einreise aus dem Ausland in das syrische Staatsgebiet eingezogen und/oder eingesperrt wird
Unter Bezugnahme auf Aussagen eines abtrünnigen Obersts [Passage entfernt] erläutert Al-Mustafa, dass Rückkehrer, die vor der Rückkehr zum Reservedienst einberufen worden seien und ohne Angabe von Gründen Syrien verlassen hätten, vor Gericht kommen und sofort verhaftet werden könnten (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Laut Artikel 34 des Gesetzesdekretes 104 von 2011 zum Mobilisierungsgesetz hat jede Person, die im Rahmen des Mobilisierungsplanes mobilisiert wurde und eine Adressänderung vorgenommen hat, die zuständige Division innerhalb von zwei Monaten, wenn sie sich im Ausland befindet, und 15 Tagen, wenn sie sich in Syrien befindet, darüber zu informieren. Zuwiderhandeln wird Artikel 34 zufolge mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis drei Monaten geahndet (Gesetzesdekret Nr. 104 von 2011, Artikel 34).
Laut Artikel 104 des Gesetzesdekretes Nr. 30 von 2007 zur Wehrpflicht hat jeder Reservist, der seinen in der Rekrutierungsabteilung registrierten Wohnort wechselt, dies innerhalb eines Monats nach dem Tag des erfolgten Wechsels zu melden. Zuwiderhandeln werde laut Artikel 104 mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis drei Monaten und einer Geldstrafe in der Höhe zweier Monatsgehälter eines Soldaten ersten Grades begegnet. Dieselbe Strafe gilt auch für Reservisten, die verreisen möchten oder sich außerhalb des Landes befinden, wenn sie ihren vorgesehenen Pflichten nicht nachkommen (Gesetzesdekret Nr. 104 von 2011, Artikel 34).
In zwei Fällen würden registrierte Reservisten bei einer Einreise nach Syrien aus dem Ausland sofort festgenommen, ohne eine Gnadenfrist zu erhalten, so Jusoor for Studies. Der erste Fall trete ein, wenn ein Reservist die Statusregelung an einer syrischen Vertretung nicht abgeschlossen habe, während er sich noch außerhalb Syriens befunden habe. Der zweite Fall trete ein, wenn nach dem Reservisten aus Sicherheitsgründen gefahndet werde. Jusoor for Studies zufolge habe es viele Fälle registrierter Reservisten gegeben, die aus einem dieser zwei Gründe festgenommen worden seien. Überdies würden auch registrierte Reservisten, die den regulären Weg beschritten hätten, die also ihren Status vor Einreise bei einer Auslandsvertretung geregelt hätten und nach denen nicht aus Sicherheitsgründen gefahndet werde, festgenommen, um Geldzahlungen von deren Familien zu erpressen. Reservisten, die aus dem Ausland nach Syrien einreisen und gegen die ein Sicherheitsbericht (ein Memorandum der Sicherheitsbehörden auf Grundlage eines schriftlichen Berichts) und eine militärpolizeiliche Meldung vorliegen würden, würden auf Grundlage des Sicherheitsberichts sofort festgenommen, erläutert Jusoor for Studies. Nach Klärung der Angelegenheit („resolving the matter“), würden sie unmittelbar in den Reservedienst überstellt und bekämen nicht die Gelegenheit, Beschwerde einzulegen (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023). Ein Artikel vom April 2023 des oppositionellen, syrischen Nachrichtensenders Syria TV mit Sitz in Istanbul berichtet von der Festnahme zweier junger Männer, die zum Reservedienst einberufen worden seien, am Grenzübergang Masnaa zum Libanon durch den syrischen Geheimdienst, nachdem die beiden aus dem Libanon ausgewiesen worden seien. Sie seien in eine Haftanstalt in Damaskus gebracht worden (Syria TV, 24. April 2023). In seiner E-Mail-Auskunft erläutert Al-Mustafa, dass ihm in den letzten Jahren keine Fälle bekannt geworden seien, in denen registrierte Reservisten, die aus dem Ausland nach Syrien eingereist seien, unmittelbar festgenommen worden seien oder sofort in den Reservedienst eintreten hätten müssen (Al-Mustafa, 29. Mai 2023).
Einreise eines registrierten Reservisten aus dem Ausland in Gebiete, welche von der Syrischen Nationalarmee (SNA)/Freien Syrischen Armee (FSA), den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (KR: Yekîneyên Parastina Gel; YPG) bzw. der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) kontrolliert werden, oder in Gebiete, welche unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen
Personen, die von der Türkei aus etwa nach Idlib, Afrin oder Dscharabulus[1] reisen würden, könnten Balanche zufolge nicht von der syrischen Regierung gefunden und zum Dienst in der Armee einberufen werden, weil die syrische Regierung nicht von ihrer Einreise erfahre. Bei einer Einreise in die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) über den Grenzübergang Faysh Khabour aus dem Irak, erfahre die syrische Regierung offiziell nichts von der Einreise nach Syrien. Daran bestünden jedoch Zweifel, da eine informelle Vereinbarung zwischen der AANES und der syrischen Regierung zu bestehen scheine. Die syrische Regierung wisse, wer über Faysh Khabour nach Syrien einreise. Es könne auch sein, dass sich Spitzel der syrischen Regierung in der Region befinden, da die syrische Regierung genau überwache, wer über Faysh Khabour nach Syrien einreise. Als Reservist könne man jedoch in der AANES-kontrollierten Region nicht von der syrischen Regierung gefasst werden, außer man betrete von der Regierung kontrollierte Gebiete in Qamischli oder Al-Hasaka, da beide Städte unter geteilter Kontrolle stünden. In Qamischli gebe es einen Sicherheitsabschnitt („security square“), der unter der Kontrolle der syrischen Armee stehe, während der Rest der Stadt von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (KR: Yekîneyên Parastina Gel; YPG) kontrolliert werde. In der Nähe des Flughafens befinde sich eine Zone im Graubereich, wo es möglich sei, von regierungsnahen Kräften festgenommen zu werden. In Al-Hasaka sei die Regierungskontrolle auf einen sehr kleinen Abschnitt beschränkt, der weniger als einen Quadratkilometer umfasse. Abgesehen davon sei es für Reservisten in den AANES-kontrollierten Gebieten relativ sicher („quite safe“) (Balanche, 24. Mai 2023).
(…)“
1.4.8. Aus den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen 6. aktualisierte Fassung, März 2021 Seite 101 f.:
„1) Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind
a) Umgang mit Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind (Seite 101f.)
Die syrische Regierung geht in den von ihr kontrollierten Gebieten weiterhin gewaltsam gegen tatsächlich oder vermeintlich abweichende politische Meinungen vor, um diese zu unterdrücken oder zu bestrafen.456 Bei der Einstufung, was als abweichende politische Meinung betrachtet wird, wendet die Regierung sehr weite Kriterien an: Jegliche Art oder Form von Kritik, Widerstand oder unzureichender Loyalität gegenüber der Regierung457 führen regelmäßig zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffende Person.458 Zu den Personen, denen regelmäßig eine regierungsfeindliche Gesinnung unterstellt wird, zählen Zivilpersonen (insbesondere Männer und Jungen im kampffähigen Alter459) aus oder in derzeit oder ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten460; Wehrdienstentzieher und Deserteure461; oppositionelle Mitglieder lokaler Räte462; Aktivisten aus der Zivilgesellschaft und politische Aktivisten463; Demonstrierende464; Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung465; Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und Freiwillige der Zivilverteidigung466; Ärzte und sonstige medizinische Fachkräfte467; Verteidiger der Menschenrechte468 sowie Lehrer, Hochschullehrkräfte und -wissenschaftler.469 Berichten zufolge setzen die Sicherheitsbehörden470 der Regierung Informanten ein, um vermeintliche Regierungsgegner zu identifizieren.471 Außerdem wird gemeldet, dass Menschen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aufgrund falscher Anschuldigungen verhaftet werden, weil Personen, die sich rächen wollen oder der Regierung ihre Loyalität beweisen möchten, sie gegenüber den Sicherheitsbehörden beschuldigen, in oppositionelle Aktivitäten verwickelt zu sein. 472 Personen mit diesem Profil werden regelmäßig Opfer von willkürlicher Verhaftung473 und Verschwindenlassen474, Inhaftierung unter lebensbedrohlichen Umständen475, systematischer und weitverbreiteter Folter und sonstigen Formen der Misshandlung476 einschließlich sexueller Gewalt477 , Strafverfolgung nach der zu weit gefassten Antiterrorgesetzgebung von 2012 unter Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren vor Antiterror- und militärischen Feldgerichten478 sowie summarischer und außergerichtlicher Hinrichtung.479 IICISyria hat seit 2011 dokumentiert, „… wie die syrische Regierung die Verbrechen der Ausrottung, des Mordes, der Vergewaltigung und sonstiger Formen sexueller Gewalt, der Folter und der Freiheitsentziehung im Zusammenhang mit den umfassenden und systematischen Festnahmen von Dissidenten sowie Personen, die als Sympathisanten bewaffneter Gruppen wahrgenommen wurden, begangen hat“.480 Das Einfrieren von Vermögen und die Beschlagnahme von Eigentum von Personen, die als Gegner der Regierung angesehen werden481, ist ebenfalls gemeldet worden und wurde in manchen Fällen auch gegenüber den Familienangehörigen und Bekannten482 der Betroffenen praktiziert.483 Laut IICISyria sind zwischen 2016 und 2018 gegen ca. 70.000 Syrer Entscheidungen des Finanzministeriums ergangen, die das Einfrieren ihres Vermögens anordneten, und diese Praxis wird laut Berichten fortgesetzt.484 Der Erlass zeitlich begrenzter Amnestien seit 2011485 hat Berichten zufolge nur eine eingeschränkte Wirkung in Bezug auf die Freilassung tatsächlicher und vermeintlicher Regierungsgegner, von denen viele aufgrund des Antiterrorgesetzes inhaftiert sind.486
b) Umgang mit Familienangehörigen (Seite 108f.)
Die tatsächliche oder vermeintliche regierungskritische Haltung einer Person wird häufig auch Menschen in ihrem Umfeld zugeschrieben, einschließlich Familienmitgliedern. Für Familienangehörige besteht die Gefahr, dass sie zwecks Vergeltung und/oder mit dem Ziel, tatsächliche oder vermeintliche Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen, bedroht, schikaniert, willkürlich verhaftet, gefoltert, zwangsverschleppt und zum Verschwinden gebracht werden.487 Was Regierungskritiker betrifft, die in den von der Opposition kontrollierten Gebieten oder im Ausland leben, besteht für ihre Familienangehörigen und manchmal ihre Bekannten Berichten zufolge die Gefahr, dass sie den vorgenannten Maßnahmen zwecks Vergeltung oder mit der Absicht ausgesetzt werden, die gesuchten Personen dazu zu bringen, ihre Aktivitäten einzustellen oder nach Syrien zurückzukehren. 488 Zudem sind die Familienangehörigen politischer Gefangener gefährdet, Opfer von Erpressungs- und Einschüchterungsversuchen zu werden489, und in einigen Fällen kommt es zum rechtswidrigen Einfrieren von Vermögen und der Beschlagnahme von Eigentum zwecks „kollektiver Bestrafung“.490
(…)“
„2) Wehrdienstentzieher und Deserteure der syrischen Streitkräfte (Seite 124f.)
a) Wehrdienstentzieher
Pflichtwehrdienst und Reservewehrdienst
Der Wehrdienst ist für alle syrischen Männer zwischen 18 und 42 Jahren obligatorisch (sofern sie nicht vom Wehrdienst befreit oder ihnen Aufschub gewährt wurde; siehe unten) 555, einschließlich derjenigen, die während eines Auslandsaufenthalts das wehrpflichtige Alter erreichen.556 Nachfahren palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 in Syrien eintrafen und bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert wurden, müssen ebenfalls den Pflichtwehrdienst ableisten.557 Die Gesetze sehen einen Pflichtwehrdienst von 18 oder 21 Monaten vor, je nach Ausbildungsstand.558 Seit 2011 wurden jedoch viele Rekruten gezwungen, über einen längeren Zeitraum zu dienen, der die gesetzlich festgelegte Dauer des Pflichtwehrdienstes überschreitet.559 Nach ihrer Entlassung aus dem Wehrdienst werden ehemalige Soldaten automatisch als Reservisten angesehen und können für den Reservedienst eingezogen werden.560 Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist gesetzlich nicht anerkannt, und ein Ersatz- oder Alternativdienst ist nicht vorgesehen.561 Einige angehende Rekruten, Reservisten und Wehrdienstentzieher oder ihre Familien zahlen laut Berichten Bestechungsgelder, um den Wehrdienst zu umgehen, z. B. um einen Aufschub zu erhalten, Zusicherungen zu bekommen, dass sie die Kontrollstellen unbehelligt passieren können, oder um eine vorübergehende Streichung ihres Namens aus den Einberufungslisten zu erwirken. 562 Mitglieder der Sicherheits- oder Geheimdienste verhaften laut Berichten Männer, die wegen des Wehrdienstes gesucht sind, um Bestechungsgelder von Verwandten zu erhalten, mit denen die Freilassung der Männer bewirkt wird. 563 Es gibt auch Berichte, nach denen Rekruten Bestechungsgeld bezahlen, um an sicheren Orten ihren Dienst leisten zu können sowie über Offiziere, die Rekruten nutzen, um nichtmilitärische Aufgaben auf den privaten Grundstücken der Offiziere auszuführen. 564 Pflichtwehrdienst für Personen, die nach einem „Versöhnungsabkommen“ ihren „Status geklärt haben“ Auch in zurückeroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Pflichtwehrdienst ableisten. Obwohl die „Versöhnungsabkommen“ ihnen üblicherweise eine sechsmonatige Schonfrist nach der Klärung ihres Status („taswiyat al-wada”) mit den Sicherheitsbehörden einräumten565 , dokumentieren Berichte die Verhaftung und Zwangsrekrutierung von Personen vor dem Ablauf der Schonfrist.566 Männer in diesen Gebieten haben sich manchmal lokalen oder ausländischen regierungsnahen Truppen angeschlossen, statt den Pflicht- oder Reservewehrdienst bei der regulären Armee abzuleisten.567 OHCHR zufolge wurden die Männer unter Druck gesetzt, sich diesen regierungsnahen Truppen anzuschließen, da ihnen andernfalls vorgeworfen worden wäre, der Opposition anzugehören.568 Zwar hängen Entscheidungen über den Einsatz von Rekruten von einer Vielzahl von Faktoren ab, einschließlich des militärischen Bedarfs und des professionellen Hintergrunds und Sachverstands der betreffenden Personen, und werden zudem willkürlich getroffen, es besteht jedoch für alle Rekruten die potenzielle Gefahr, dass sie für den Kampf an der Front eingesetzt werden.569 Berichte deuten jedoch darauf hin, dass Rekruten aus Gebieten, die sich „versöhnt“ haben, besonders gefährdet sind, innerhalb weniger Tage oder Wochen nach ihrer Festnahme und mit nur minimalem Training an vorderster Front für den Kampf eingesetzt zu werden570, einschließlich als Bestrafung für ihre vermeintliche Illoyalität.571 Eine Quelle beschrieb die Rekrutierung von Jugendlichen in ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten als eine Methode, „um Jugendliche aus den Orten, in denen sie leben, zu entfernen und auf diese Weise die Zahl der Personen, die eine Bedrohung für die Stabilität des syrischen Regimes darstellen, kurzfristig zu verringern“.572
Umgang mit Wehrdienstentziehern
Das Militärstrafgesetzbuch sieht für Wehrdienstentzug573 eine Gefängnisstrafe vor.574 Personen, die das wehrpflichtige Alter (42 Jahre) überschritten haben, ohne den Pflichtwehrdienst vollendet zu haben, werden mit finanziellen Sanktionen belegt, und ihnen droht die Beschlagnahme ihres beweglichen und unbeweglichen Vermögens sowie Inhaftierung. 575 Viele Wehrdienstentzieher, die sich in den von der Regierung kontrollierten Gebieten in Syrien aufhalten, verstecken sich und leben in der ständigen Angst, festgenommen und zwangsrekrutiert zu werden.576 Zudem ist es ihnen nicht möglich, Rechtsgeschäfte oder administrative Handlungen vorzunehmen, wie z. B. Anmietung, Kauf oder Verkauf von Grundeigentum577, Eheschließung oder Beantragung (bzw. Verlängerung) von Ausweisdokumenten und Pässen.578 Darüber hinaus müssen Männer zwischen 17 und 42 Jahren eine Erlaubnis von der Rekrutierungsbehörde einholen, wenn sie das Land verlassen möchten.579 Berichten zufolge wurden Regierungsangestellte entlassen, weil sie sich dem Reservewehrdienst entzogen haben.580 Unter Einsatz von Fahndungslisten setzen die Armee und die Sicherheitsbehörden laut Berichten ihre Anstrengungen fort, Wehrdienstentzieher aufzuspüren und unter Zwang zu rekrutieren, vor allem an mobilen und festen Kontrollstellen581, aber auch in staatlichen Einrichtungen wie Universitäten und Krankenhäusern582 , Aufnahmestellen der Regierung583 und bei Hausdurchsuchungen.584 Berichten zufolge gehören Rückkehrer aus dem Ausland zu den Personen, die nach der Rückkehr verhaftet und zwangsrekrutiert werden.585 Solche Kampagnen werden aus allen Gebieten gemeldet, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, 586 insbesondere aus den zurückeroberten Gebieten587 , allerdings hat die Regierung wegen lokaler Vereinbarungen588 und ihrer begrenzten Präsenz nur eingeschränkte Möglichkeiten, Wehrdienstentzieher aus bestimmten Gebieten unter Zwang zu rekrutieren.589 In der Praxis droht Wehrdienstentziehern statt einer strafrechtlichen Sanktion und Haftstrafen nach dem Militärstrafgesetzbuch590 mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Festnahme und kurzfristige Inhaftierung, bevor sie eingezogen werden.591 Wehrdienstentzieher, die für Regierungsgegner gehalten werden, unterliegen laut Berichten dem Risiko einer besonders strengen Behandlung während der Festnahme, beim Verhör und in Haft sowie – nach Einziehung – im Militärdienst rechnen.592 Auch die Familien von Wehrdienstentziehern wurden in einigen Fällen bedroht und misshandelt.593
(…)“
„9) Frauen und Mädchen mit bestimmten Profilen oder in speziellen Situationen (Seite 175 f.)
Während des gesamten Konflikts sind Frauen Opfer einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen geworden.786 Frauen wurden gezielt Opfer von Übergriffen in Form von willkürlichen Festnahmen, Entführungen, Verschwindenlassen787 , Folter788, Vergewaltigung und anderen Formen sexueller Gewalt sowie außergerichtlicher Hinrichtung789 aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung von oder Verbindung zu einer Kriegspartei, einschließlich aufgrund ihrer eigenen politischen Meinungen oder Aktivitäten790, familiären Verbindungen791 , ihres Wohn- oder Heimatorts792 oder ihrer religiösen oder ethnischen Identität. 793 Laut Meldungen haben die Konfliktparteien Frauen auch als Faustpfand für den Austausch von Geiseln benutzt.794 Frauen und Mädchen werden außerdem gesellschaftlich und gesetzlich diskriminiert, u. a. in Bezug auf Bürgerrechte und familienrechtliche Angelegenheiten, wie beispielsweise Erbfolge, Heirat, Scheidung und Sorgerecht für Kinder.795 Darüber hinaus sind Frauen geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt, einschließlich Vergewaltigung und anderer Formen sexueller Gewalt, Zwangs- und Kinderehe, häuslicher Gewalt, Gewalt in Form von „Ehrendelikten“, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution796 sowie Strafen für vermeintliche Verstöße gegen die strenge Auslegung des Islam und islamischen Rechts durch Hardliner-Gruppen.79 Berichten zufolge haben alle Formen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt seit 2011 zugenommen798; dennoch werden in ganz Syrien Fälle nicht gemeldet, und Frauen suchen oft keinen Rechtsschutz799, u. a. weil sie den Rechtsdiensten misstrauen und Angst vor Stigmatisierung und Vergeltungsmaßnahmen haben800, weil sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind und durch gesetzliche und finanzielle Hürden ausgeschlossen werden801, weil es an polizeilichem und gerichtlichem Personal fehlt, das für den Umgang mit Fällen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt geschult ist 802 , und weil spezialisierte Dienste nur beschränkt verfügbar sind.803
Frauen und Mädchen mit bestimmten Profilen oder in bestimmten Situationen haben ein erhöhtes Risiko, Gewalt zu erfahren, wie in den folgenden Unterkapiteln näher beschrieben:
a) Sexuelle Gewalt
Sexuelle Gewalt, die durch staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgeübt wird, ist Berichten zufolge weitverbreitet804 und ereignet sich in den unterschiedlichsten Situationen, einschließlich an Kontrollstellen und bei Entführungen und Festnahmen, in Vertriebenenlagern805, Zwangs- und Kinderehen806 sowie in Situationen, in denen Frauen zur Prostitution gezwungen werden und Opfer von Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung werden.807 Der Einsatz sexueller Gewalt bei Festnahmen und in Haftanstalten der Regierung808 ist laut Berichten so weitverbreitet und systematisch, dass weibliche Gefangene nach ihrer Freilassung häufig von ihrer Gemeinschaft und Familie stigmatisiert werden, da unabhängig vom tatsächlichen Geschehen angenommen wird, dass sie Opfer von sexueller Gewalt wurden.809 Ehemalige Gefangene sind oft traumatisiert, und Meldungen zufolge haben einige deshalb Suizid begangen.810 Berichten zufolge hat ISIS schwere Menschenrechtsverletzungen sowie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und – im Fall der Jesiden – Völkermord begangen, und Frauen und Mädchen wurden gezielt Opfer von Vergewaltigungen, Zwangsheirat, sexueller Versklavung und anderer Formen sexueller Gewalt.811 Frauen und Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ein Kind zur Welt gebracht haben, sind besonders gefährdet, diskriminiert und marginalisiert zu werden, und unterliegen dem Risiko, einem „Ehrenmord“ zum Opfer zu fallen.812 Zwar stellt das Strafgesetzbuch sowohl Vergewaltigung als auch sexuelle Nötigung außerhalb der Ehe unter Strafe813, doch in der Praxis werden die Strafen für außereheliche Vergewaltigung und sexuelle Nötigung nicht effektiv durchgesetzt. 814 Die Strafe für außereheliche Vergewaltigung kann herabgesetzt werden, wenn sich der Täter bereit erklärt, das Opfer zu heiraten.815 Abtreibung ist gesetzlich verboten, auch im Fall von Vergewaltigung, es sei denn, das Leben der Frau ist gefährdet.816
Obwohl sexuelle Gewalt weitverbreitet ist, sind Programme zur Bekämpfung sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt nur eingeschränkt möglich.817 Weibliche Überlebende von sexueller Gewalt und Vergewaltigung werden stigmatisiert und diskriminiert.818 Scham und Traumatisierung infolge von Vergewaltigung und sexueller Gewalt haben einige Überlebende in den Suizid getrieben.819 Das Risiko bzw. vermutete Risiko sexueller Gewalt führt zu einer höheren Anzahl von Zwangs- und Kinderehen820, beschränkt die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen821 und ist ein treibender Faktor für Flucht und Migration. 822
b) Zwangs- und Kinderehen
Durch eine Änderung des Personenstandsgesetzes (Gesetz Nr. 59 von 1953) im Februar 2019 wurde das gesetzliche Mindestalter für die Eheschließung sowohl für Männer als auch für Frauen auf 18 Jahre festgelegt823 und das Einverständnis beider Ehepartner vorausgesetzt.824 Nach richterlichem Ermessen kann das Mindestalter auf 15 Jahre gesenkt werden.82
Zwar ist die Praxis der Kinderehe kein neues Phänomen826, doch deuten Berichte darauf hin, dass seit dem Ausbruch des Konflikts immer mehr syrische Mädchen verheiratet werden.827 Mädchen, die erst 13 Jahre alt waren, sind verheiratet worden.828 Die Eheschließungen von Mädchen, die das gesetzliche Mindestalter noch nicht erreicht haben, erfolgen nach religiösen Bräuchen, die offiziell nicht anerkannt sind.829 Mitunter werden Frauen und Mädchen von Familien zwangsverheiratet, da die Familien annehmen, die Ehe schütze die Betroffenen vor der tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahr sexueller Gewalt, oder aus wirtschaftlichen Gründen830 oder zur Verheimlichung der „Schande“ einer an den Betroffenen verübten sexuellen Gewalttat.831 Berichten zufolge werden Frauen und Mädchen zwecks sexueller Ausbeutung oder im Rahmen des Menschenhandels gezwungen, „Ehen auf Zeit“ einzugehen.832
Zuletzt wurde von einer neueren Entwicklung berichtet, bei der Familien vorpubertäre Mädchen mit Hormonen behandeln, um den frühzeitigen Beginn der Pubertät einzuleiten und die Mädchen einer Kinderehe zuzuführen oder sexuell auszubeuten. 833 Frauen und Mädchen, die unter Zwang eine Ehe schließen müssen, sind Berichten zufolge besonders gefährdet, Opfer häuslicher Gewalt zu werden.834 Darüber hinaus wurden Frauen und Mädchen gezwungen, Mitglieder bewaffneter Gruppen in den von ihnen faktisch kontrollierten Gebieten zu heiraten.835
c) Häusliche Gewalt
Häusliche Gewalt, die u. a. durch Ehemänner, Väter, Brüder und Schwäger ausgeübt wird, hat laut Meldungen durch den Bürgerkrieg, Vertreibungen und wirtschaftliche Unsicherheit836 zugenommen und wird in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch akzeptiert.837 Es gibt keinen geeigneten gesetzlichen Rahmen, der die Opfer vor häuslicher Gewalt schützt.838 Überlebende häuslicher Gewalt werden oft stigmatisiert und leiden unter schweren psychischen Traumata.839 Insbesondere im Nordwesten lässt sich eine neue Entwicklung beobachten, bei der Frauen in einigen Fällen gezwungen werden, geschlechtsspezifische Abtreibungen vorzunehmen, um die Geburt eines Jungen sicherzustellen.840 Diskriminierende kulturelle und gesetzliche Praktiken, die dazu führen, dass geschiedenen Frauen das Sorgerecht, Unterhaltszahlungen, Zugang zur ehelichen Wohnung und Erbschaftsansprüche vorenthalten werden, sowie die mit einer Scheidung verbundene Stigmatisierung hindern Frauen Berichten zufolge daran, missbräuchliche Beziehungen zu verlassen.841
d) Gewalt im Rahmen von „Ehrendelikten“
Frauen, denen vor- oder außereheliche sexuelle Beziehungen vorgeworfen werden, einschließlich infolge von Vergewaltigung oder sonstigen Formen sexueller Gewalt, werden möglicherweise getötet oder erleiden Gewalt, weil sie beschuldigt werden, kulturelle, gesellschaftliche oder religiöse Normen missachtet und somit Schande über ihre Familie gebracht zu haben.842 Zwar ist die Zahl sogenannter „Ehrenmorde“ wegen einer hohen Dunkelziffer nicht bekannt, doch wird geschätzt, dass jedes Jahr mehrere Hundert Frauen und Mädchen in Syrien getötet werden und diese Zahl seit 2011 zugenommen hat.843 Gewalt im Namen von „Ehrendelikten“ wird in allen Teilen Syriens verübt und ist nicht auf eine bestimmte Region oder Gruppe beschränkt.844 Im Februar 2020 hob das syrische Parlament Artikel 548 des Strafgesetzbuchs auf, der bei Mord ein reduziertes Strafmaß vorsah, wenn der Täter seine Frau oder Verwandte beim Ehebruch oder in einer „verdächtigen Situation“ vorgefunden hatte.845 Allerdings haben Gerichte nach den Artikeln 192 und 242 des Strafgesetzbuchs weiterhin die Möglichkeit, die Strafe zu reduzieren, wenn sich der Angeklagte darauf beruft, in Verteidigung seiner Ehre gehandelt zu haben.846 In der Praxis wird Gewalt im Rahmen von „Ehrendelikten“ nur selten strafrechtlich verfolgt.847
e) Situation von Frauen ohne männliche Unterstützung
Frauen, die in ihrer (erweiterten) Familie keine männliche Unterstützung erhalten, einschließlich alleinstehender Frauen, Witwen und geschiedener Frauen, werden oft von ihren Familien und Gemeinschaften stigmatisiert848 und sind Berichten zufolge besonders gefährdet, Opfer von Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden.84
UNHCR ist der Auffassung, dass Frauen, die unter die nachstehenden Kategorien fallen, wahrscheinlich internationalen Schutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion: a) Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt, häusliche Gewalt oder Gewalt im Rahmen von „Ehrendelikten“ überlebt haben oder gefährdet sind, derartiger Gewalt zum Opfer zu fallen; b) Frauen und Mädchen, die Zwangs- und/oder Kinderehen überlebt haben oder gefährdet sind, eine Zwangs- und/oder Kinderehe eingehen zu müssen; c) Frauen und Mädchen, die Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung und Zwangsprostitution überlebt haben oder bei denen ein entsprechendes Risiko besteht; d) Frauen und Mädchen ohne echte familiäre Unterstützung, einschließlich Witwen und geschiedener Frauen. Grundsätzlich bietet der Staat keinen Schutz vor diesen Arten der Verfolgung, wenn die Verfolger nichtstaatliche Akteure sind.“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der Beschwerdeführer:
Die unter Pkt. 1.1. getroffenen Feststellungen beruhen auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren. Sowohl der Erstbeschwerdeführer vergleiche BF1 AS 13ff., BF1 AS 61ff., Seite 6 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023) als auch die Zweitbeschwerdeführerin vergleiche BF2 AS 9ff., Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023), die Drittbeschwerdeführerin vergleiche BF3 AS 13ff., AS 60ff., Seite 16 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023) und die Viertbeschwerdeführerin (BF4 AS 13ff., AS 55ff., Seite 19 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023) machten allesamt über das Verfahren hinweg gleichlautende und übereinstimmende Angaben zu den Identitäten der Beschwerdeführer, der Familiensituation, ihrer Herkunft und den persönlichen Lebensumständen. Auch das BFA traf dieselben Feststellungen betreffend die Familiensituation, Identität und Lebensumstände der Beschwerdeführer vergleiche Seite 8 des angefochtenen Bescheides, BF1 AS 92).
Der BF1 legte im Verfahren seinen syrischen Personalausweis, gültig ab römisch 40 , sowie sein Familienbuch, ausgestellt am römisch 40 , vor (AS 31 ff., AS 65). Die Angehörigkeit zur Volksgruppe der Araber, ihre Muttersprache sowie das Bekenntnis zum sunnitisch muslimischen Glauben der BF1 bis BF5 ergeben sich aus ihren übereinstimmenden Angaben. Die Feststellung zur Staatsbürgerschaft der BF1 bis BF5 ergibt sich ebenfalls aus ihren Angaben in der Verhandlung vergleiche BF1 bis BF4 Seite 6ff. des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die Feststellungen zur Familiensituation der Beschwerdeführer, zur Ehe des BF1 und der BF2 sowie zu ihren Kindern, den BF3 bis BF5, ergibt sich aus ihren dahingehend übereinstimmenden und glaubhaften Angaben im Verfahren vergleiche BF1 AS 19, AS 65, AS 69 Seite 7 und 13 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023 sowie vergleiche BF2 AS 61 Seite 13 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Der BF1 legte im Verfahren vor dem BFA sein Familienbuch, ausgestellt am römisch 40 , vor. Aus diesem ergibt sich, dass der BF1 mit der BF2 verheiratet ist und die beiden die Eltern der weiteren Beschwerdeführer sind (BF1 AS 31 ff., AS 65). Die BF2 machte im Verfahren übereinstimmende Angaben über ihre vier Töchter, wovon eine mit ihrem Ehemann in Bahrain lebt vergleiche BF2 AS 61). Diese Angaben decken sich auch mit jenen der Tochter BF4 (BF4 AS 13ff., AS 55ff.).
Im Verfahren ist nicht hervorgekommen, dass die BF3 verheiratet wäre oder Kinder hat (BF3 AS 59, Seite 16 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Dass die Beschwerdeführer über keine Familienangehörigen in Syrien verfügen, ergibt sich aus den diesbezüglichen glaubhaften Angaben des BF1 in der mündlichen Verhandlung vergleiche Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023) in Übereinstimmung mit seinen Angaben in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 08.02.2022 vergleiche BF1 AS 73). Auch die BF2 brachte in der Verhandlung glaubhaft vor, dass sie in ihrem Herkunftsgebiet keine Familienangehörigen mehr habe, nur ihre Mutter und Geschwister würden am Rande von Damaskus leben vergleiche Seite 13 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Die BF2 machte aber klar, dass weder sie, noch ihre Töchter dort leben könnten oder durch ihre Verwandten versorgt werden könnten vergleiche Seite 14 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Auch die BF3 und die BF4 brachten glaubhaft vor, dass bei einer Rückkehr keine Unterstützung von diesen Angehörigen zu erwarten sei vergleiche BF3 Seite 17 und BF4 Seite 20 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Zum Herkunftsgebiet der Beschwerdeführer machten die BF1 bis BF4 über das Verfahren hinweg gleichlautende und glaubhafte Angaben, weshalb die Feststellung zum Herkunftsgebiet getroffen werden konnte vergleiche BF1 AS 19, BF1 AS 65., Seite 6 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023, BF2 AS 9ff., AS 57ff., Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023, BF3 Seite 16 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Die Angaben über die Machtverhältnisse und Entwicklungen im Herkunftsgebiet stimmen auch mit den Länderinformationen zur Provinz Deir ez-Zor überein vergleiche römisch II.1.4.2.1.).
Die Feststellung, dass das Herkunftsgebiet der Beschwerdeführer, das Dorf römisch 40 nördlich der Stadt römisch 40 im Governement Deir ez-Zor liegt und sich aktuell unter der Kontrolle des syrischen Regimes befindet, ergibt sich aus den herangezogenen Länderberichten sowie einer aktuellen Nachschau unter https://syria.liveuamap.com und den hierzu übereinstimmenden Angaben der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vergleiche Seite 6 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die Feststellungen über den Gesundheitszustand des BF1 und der BF2 bis BF5 ergeben sich aus dem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung. Der BF1 gab an Blutdruckmedikamente zu nehmen vergleiche Seite 7 und des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023) und die BF2 brachte vor Diabetikerin zu sein vergleiche BF1 AS 69, Seite 13 und des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023), ansonsten seien sie gesund. Die BF3 und BF4 gaben an gesund zu sein und keine Medikamente oder ärztliche Behandlung zu benötigen vergleiche BF3 Seite 17 und BF4 Seite 19 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der BF ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister (Strafregisterauszug zu BF1, BF2, BF3 und BF4 vom 13.11.2023 jeweils in OZ/1).
Sowohl in der Erstbefragung als auch in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA und sodann in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG machte der BF1 gleichlautende Angaben betreffend seine Schulbildung, seinen Beruf und sein Leben in Syrien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie zu den Besuchen seiner Familie (BF1 AS 69, AS 73 Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). In der Verhandlung brachte der BF1 glaubhaft vor, er habe bei der letzten Einreise nach Syrien 2020 nur illegal und versteckt einreisen können (BF1 Seite 8 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Auch die BF2 machte übereinstimmende Angaben betreffend den Aufenthalt ihres Ehemannes in den VAE und ihres eigenen Aufenthaltes dort von 2015 bis 2019 (BF2 Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Dies stimmt auch mit dem Vorbringen der BF3 (BF3 Seite 16 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023) und dem Vorbringen der BF4 in der Verhandlung überein (BF4 Seite 19 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die BF1 bis BF5 reisten gemeinsam im Sommer 2021 illegal aus Syrien aus (BF1 AS 21, AS 73, Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Die Angaben zur Ausreise brachten die Beschwerdeführer im Verfahren glaubhaft und gleichlautend vor vergleiche BF1 Seite 7, BF2 Seite 13 und BF3 Seite 17 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
2.2. Zu den Fluchtgründen des Erstbeschwerdeführers:
2.2.1. Das Alter des Erstbeschwerdeführers ergibt sich aus seinen im Verfahren vorgelegten Dokumenten und seinen diesbezüglich durchwegs gleichlautenden Angaben. Auch die belangte Behörde stellte das Geburtsdatum des Erstbeschwerdeführers nicht in Frage.
Aus dem vom BF1 im Verfahren vor dem BFA vorgelegten Militärdienstbuch ergibt sich, dass der BF1 den Militärdienst von zwei Jahren und sechs Monaten bereits abgeleistet hat. Als Entlassungsdatum ist der römisch 40 vermerkt (BF1 AS 31 ff., AS 65). Zudem brachte der Erstbeschwerdeführer in der Verhandlung glaubhaft vor, dass er seinen verpflichtenden Wehrdienst in Syrien von römisch 40 bis römisch 40 abgeleistet hat (BF1 Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die Feststellung, dass der BF1 in Syrien bei der Luftwaffe diente und es seine Aufgabe war, die Flugobjekte am Radar zu identifizieren und zu überwachen, ergibt sich aus seinen dahingehend glaubhaften, detaillierten und widerspruchsfreien Angaben in der mündlichen Verhandlung (BF1 Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die Feststellung, dass der BF1 eine Spezialausbildung für seinen Einsatz in der Luftwaffe erhielt und somit über militärisches Spezialwissen verfügt, ergibt sich aus seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung. Der BF1 konnte in der Verhandlung seine militärische Ausbildung genau schildern und lebensnah sowie detailgetreu erläutern, was seine konkreten Aufgaben waren. Nach der militärischen Grundausbildung erhielt er eine Spezialausbildung um das Radar lesen zu können, die Flugzeugarten und feindliche Flugzeuge zu identifizieren, diese von Handelsflugzeugen zu unterscheiden und diese Informationen an die zuständigen Stellen weiterzuleiten (BF1 Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Der BF brachte in der Verhandlung glaubhaft vor, dass seine Spezialisierung bei der Armee in Syrien gefragt sei und die Armee jene Personen wieder einberufen hatte, die eine Spezialausbildung in der Luftwaffe haben. Für diesen Einsatz brauche es keine körperliche Leistung, es sei eine Büroarbeit für die der BF1 ausgiebig ausgebildet worden sei (BF1 Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Dass der BF1 im Jahr 2013 als Reservist einberufen wurde, seiner Einberufung aber nicht folgte und seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht wird, ergibt sich aus seinem glaubhaften und gleichlautenden Vorbringen vor allem in der mündlichen Verhandlung am 13.11.2023. In der Beschwerde brachte der BF1 vor, er sei 2013 als Reservist einberufen worden und könne ein Leumundszeugnis (Führungszeugnis) vorlegen, aus welchem hervorgehe, dass er seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht werde (BF1 AS 180, Seite 4ff. der Beschwerde). Der BF1 legte im Verfahren einige Dokumente vor, die sein Fluchtvorbringen bestätigen: sein Militärbuch, ausgestellt am römisch 40 , seinen Führerschein aus den VAE, gültig ab römisch 40 (AS 31 ff., AS 65), und das mit der Beschwerde vorgelegte Leumundszeugnis des BF1, aus welchem hervorgeht, dass er seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht wird (BF1 AS 207, Seite 4ff. der Beschwerde). Mit Schreiben vom 26.04.2022 legte der BF1 erneut sein Leumundszeugnis im Original sowie das Kuvert des Schriftstückes vor (BF1 OZ/2). Dieses Leumundszeugnis wurde dem in der mündlichen Verhandlung anwesendem Dolmetscher zur Übersetzung vorgelegt (BF1 Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Entsprechend der Übersetzung stimmen die im Leumundszeugnis vermerkten Personaldaten mit jenen des BF1 überein. Das Leumundszeugnis wurde am römisch 40 ausgestellt. In der Rubrik „Verurteilungen“ wird folgendes ausgeführt: „Gesucht für die militärische Sicherheitsabteilung wegen des Begehens der Flucht vom Reservedienst mit dem Telegramm Nr. römisch 40 vom römisch 40 .“ (BF1 Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Die Feststellung, dass der BF1 seinen Reservedienst verweigert hat und seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht wird, ergibt sich aus dem im Original vorgelegten Leumundszeugnis des BF1, welches vom erkennenden Richter als unbedenklich und echt angesehen wird. Die widerspruchsfreien und glaubhaften Angaben des BF1 in der mündlichen Verhandlung stimmen mit dem Dokument überein.
Der BF1 schilderte in der Verhandlung glaubhaft, er habe im Jahr 2019 erfahren, dass er für den Reservedienst gesucht werde, als er seine Familie nach Syrien zurückbringen wollte. Er habe eine Rechtsanwaltskanzlei kontaktiert und sie beauftragt herauszufinden, ob gegen ihn ein Haftbefehl bestehe. Die Kanzlei habe ihm mitgeteilt, dass er seit 2013 für den Reservedienst gesucht werde (BF1 Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Dieses Vorbringen deckt sich auch mit den Länderinformationen, wonach an der Grenze vorausgeschickte Personen gegen Bezahlung eines Grenzbeamten elektronisch überprüfen lassen können, ob ein Einberufungsbefehl für den Reservedienst besteht vergleiche ACCORD Anfragebeantwortung römisch II.1.4.7.). Laut Länderinformationen seien viele Beispiele für Männer bekannt, deren Namen nicht in der Reservistenliste am Grenzübergang bei der Einreise in von der Regierung kontrollierte Gebiete in Syrien aufgeschienen seien, die nach Einreise ins Land jedoch trotzdem inhaftiert worden seien. Es sei laut ACCORD Anfragebeantwortung für jeden Mann zwischen 18 und 50 Jahren riskant, nach Syrien einzureisen, besonders in die von der Assad-Regierung kontrollierten Gebiete, da nie vorhergesagt werden könne, was passieren werde (Balanche, 24. Mai 2023 in ACCORD Anfragebeantwortung römisch II.1.4.7.).
In der mündlichen Verhandlung schilderte der BF1 glaubhaft, er befürchte bei einer Rückkehr aufgrund seiner Weigerung der Einberufung zum Reservedienst Folge zu leisten, ins Gefängnis gebracht und getötet zu werden (BF1 Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Aus den glaubhaften Schilderungen des BF1 in der Verhandlung (BF1 Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023), in Übereinstimmung mit dem im Original vorgelegten Leumundszeugnis (BF1 OZ/2) ergibt sich die Feststellung, dass der BF1 2013 zum Reservedienst einberufen wurde, diesen aber nicht absolvierte und dass der BF1 seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht wird. Er verließ Syrien 2021 ohne den Reservedienst abgeleistet zu haben. Auch die Ehefrau des BF1, die BF2, schilderte in der Verhandlung glaubhaft, ihr Ehemann sei in Syrien gesucht, und es seien immer wieder Menschen zu ihr nach Hause gekommen, die nach ihrem Ehemann gefragt hätten. Vier bis fünf Mal sei bei ihr nach dem BF1 nachgefragt worden vergleiche BF2 Seite 14 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Gleichlautend brachte die Tochter des BF1, die BF4, in der Verhandlung vor, die Familie könne nicht nach Syrien zurückkehren, weil der Vater gesucht werde. Sie seien immer wieder gekommen und hätten nach ihrem Vater gefragt und die Familie habe Angst gehabt, dass ein Familienmitglied als Druckmittel mitgenommen werde, damit ihr Vater sich stelle (BF4 Seite 20 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die Befürchtungen des BF1 decken sich auch mit den Länderinformationen. Laut Artikel 104 des Gesetzesdekretes Nr. 30 von 2007 zur Wehrpflicht hat jeder Reservist, der seinen in der Rekrutierungsabteilung registrierten Wohnort wechselt, dies innerhalb eines Monats nach dem Tag des erfolgten Wechsels zu melden. Zuwiderhandeln werde laut Artikel 104 mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis drei Monaten und einer Geldstrafe in der Höhe zweier Monatsgehälter eines Soldaten ersten Grades begegnet. Dieselbe Strafe gilt auch für Reservisten, die verreisen möchten oder sich außerhalb des Landes befinden, wenn sie ihren vorgesehenen Pflichten nicht nachkommen vergleiche Gesetzesdekret Nr. 104 von 2011, Artikel 34 sowie ACCORD Anfragebeantwortung römisch II.1.4.7.). Entsprechend der ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt vom 14.06.2023 werden Reservisten die sich außerhalb Syriens befinden und nach denen gefahndet wird, bei einer Einreise sofort festgenommen vergleiche ACCORD Anfragebeantwortung römisch II.1.4.7.).
Aus den glaubhaften Angaben des BF1 in Übereinstimmung mit den Länderinformationen ergibt sich, dass der BF1 bei einer Rückkehr Bestrafung aufgrund seines verweigerten Reservedienstes und seiner Ausreise droht. Zudem droht ihm eine Zwangsrekrutierung zum Reservedienst aufgrund seines Spezialwissens und bei Weigerung die Festnahme und Folter bis hin zum Tod.
Der BF1 brachte bereits bei der Erstbefragung vor, er habe Syrien wegen des Krieges verlassen (BF1 AS 25). Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 08.02.2022 gab er an, er habe Syrien aus Angst um sein Leben und das seiner Familie verlassen. In ihrem Herkunftsgebiet habe es verschiedene Milizen gegeben und wenn man nicht akzeptiert habe eine Waffe zu tragen und an Kampfhandlungen teilzunehmen, würden sie einen umbringen (BF1 AS 73 ff.). Der BF1 brachte in der Einvernahme weiter vor, er sei zuletzt 2020 illegal auf dem Landweg vom Irak nach Syrien eingereist und habe dabei befürchtet, entführt oder inhaftiert zu werden. Er habe befürchtet von den Streitkräften gezwungen zu werden, eine Waffe zu tragen und an Kriegshandlungen teilzunehmen vergleiche BF1 AS 74 ff.). Der BF1 brachte in der Einvernahme außerdem vor, er habe Angst davor gehabt, eingezogen zu werden (BF1 AS 75).
Das Bundesamt stellt im angefochtenen Bescheid fest, die Beschwerdeführer hätten Syrien aufgrund der Sicherheitslage und des Krieges verlassen. Mangels Vorbringens sei nicht festgestellt worden, dass eine Gefahr bestehe, dass der BF1 als Reservist zum syrischen Militär eingezogen werde. Er habe den verpflichtenden Militärdienst als einfacher Soldat bereits abgeleistet uns sei 49 Jahre alt. Er habe keinen Einberufungsbefehl als Reservist vom syrischen Regime erhalten (BF1 AS 92, Seite 8 des angefochtenen Bescheides).
Der Argumentation des BFA, der BF1 sei bei der Einvernahme „mit keinem einzigen Wort“ auf eine Gefahr der Einberufung zum Reservedienst eingegangen (BF1 AS 152, Seite 68 des angefochtenen Bescheides) ist entgegenzuhalten, dass der BF1 eben bei der Einvernahme – wie vom BFA im angefochtenen Bescheid auch selbst erwähnt – vorgebracht hat Angst gehabt zu haben, von den verschiedenen bewaffneten Milizen gezwungen zu werden, eine Waffe zu tragen und an Kriegshandlungen teilzunehmen vergleiche BF1 AS 73 ff.).
In der Beschwerde wurde vorgebracht, der BF1 sei bei der Einvernahme durch das BFA nicht genau zur Einziehung zum Reservedienst befragt worden, obwohl der BF1 zur Zielgruppe gehöre. Dem BFA hätte bekannt sein müssen, dass trotz der offiziellen Altersgrenze von 42 Jahren in der Praxis auch Männer im Alter von bis zu 55 Jahren einberufen würden (BF1 AS 183, Seite 7 der Beschwerde).
Das BFA argumentiert im angefochtenen Bescheid, der BF sei mit seinen 49 Jahren nicht mehr im wehrfähigen Alter. Es lasse sich auch aus der Berufstätigkeit des BF1 als LKW-Fahrer nicht ableiten, dass er für eine erneute Musterung besonders interessant wäre. Daraus ergebe sich keine wahrscheinlich drohende Einberufung als Reservist vergleiche BF1 AS 152, Seite 68 des angefochtenen Bescheides). Dem ist entgegenzuhalten, dass der BF1 wie oben ausgeführt, über eine Spezialausbildung und militärisches Spezialwissen in der Luftwaffe verfügt, was ihn für eine Rekrutierung als Reservist besonders interessant macht.
Der BF1 schilderte bereits in der Einvernahme vor dem BFA, dass das syrische Regime in seiner Herkunftsregion viele junge Männer entführt habe und einige seiner Cousins und Bekannten entführt worden seien (BF1 AS 73). Die von ihm im Verfahren vorgebrachte Befürchtung der Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime stellt sich als glaubwürdig dar.
Die Feststellung, dass dem Erstbeschwerdeführer eine Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime droht, ergibt sich aus seinem diesbezüglich glaubhaften und gleichlautenden Vorbringen in Übereinstimmung mit dem Länderinformationsblatt vergleiche römisch II.1.4.4.1.).
Das Vorbringen des Beschwerdeführers, über die aktuelle Bedrohung der Rekrutierung zum Reservedienst durch das syrische Regime, deckt sich auch mit den Länderinformationen zu Syrien. Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend. Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein vergleiche römisch II.1.4.4.1.).
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden vergleiche römisch II.1.4.4.1.). Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Eine solche besondere Qualifikation ist im Fall des Beschwerdeführers gegeben, da er in der Luftwaffe am Radar ausgebildet wurde.
Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein. Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Den Länderinformationen zufolge wurden die Altersgrenzen fallweise angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 oder sogar 62 Jahren, abhängig vom Rang, eingezogen, bzw. konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen. Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein vergleiche römisch II.1.4.4.1.).
Als ehemaliges Luftwaffenpersonal besteht für den BF1 eine erhöhte Gefahr der Einberufung zum Reservedienst.
Die unter Pkt. 1.2. getroffenen Feststellungen zur Gefahr der Einziehung des BF1 zum Reservedienst der syrischen Armee bei einer Rückkehr basieren auf dem Inhalt des Länderinformationsblatts der BFA-Staatendokumentation zu Syrien vom 17.07.2023, der wiederum durch eine Vielzahl von unterschiedlichen aktuellen Quellen getragen ist. Sie sind um den Inhalt einer – in der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingeführten und den Parteien auf diesem Wege vorgehaltenen – Anfragebeantwortung von ACCORD vom 14.06.2023 zu Syrien, zu Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt ergänzt.
Der BF1 wurde in der mündlichen Verhandlung am 13.11.2023 zu seinen Fluchtgründen und zu der im Verfahren vorgebrachten drohenden Zwangsrekrutierung befragt vergleiche BF1 Seite 8 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Dabei brachte er vor, er wolle nicht für das Militär kämpfen und würde eine Zwangsrekrutierung ablehnen. Bereits bei der Einvernahme vor dem BFA gab der BF1 an, keine Waffe tragen und nicht an Kampfhandlungen teilnehmen zu wollen vergleiche BF1 AS 75). Der Beschwerdeführer brachte im Verfahren somit glaubhaft und gleichlautend vor, einen Reservedienst bei der syrischen Armee abzulehnen. So brachte er zum Ausdruck, dass er den Umgang des syrischen Militärs mit Zivilpersonen sowie die vom syrischen Militär verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit ablehnt und sich deshalb weigert, an den Kämpfen des syrischen Militärs teilzunehmen. Er tat in der mündlichen Verhandlung am 13.11.2023 für den erkennenden Richter hinreichend klar dar, dass er aus eigener Motivation keine Waffe führen und andere Menschen umbringen will, weshalb er jegliche Beteiligung an Kampfhandlungen in Syrien generell ablehnt.
Insgesamt stellte sich das Vorbringen des Beschwerdeführers als widerspruchsfrei, nachvollziehbar und durchwegs gleichlautend dar. Nach Vorlage des Leumundszeugnisses und der Erläuterungen in der Verhandlung, warum er dieses nicht eher vorgebracht und vorgelegt hat, stellte sich auch dieses als glaubhaft dar. Insgesamt entstand bei dem erkennenden Richter sohin nicht der Eindruck, es könnte sich bei den unmittelbar die Flucht auslösenden Ereignissen und der Bedrohung um eine einstudierte Fluchtgeschichte handeln. Das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers war aus den soeben angestellten Erwägungen insgesamt ausreichend substantiiert und schlüssig und hat sich auch vor dem Hintergrund der in den Länderfeststellungen zu Syrien enthaltenen Ausführungen vergleiche römisch II.1.4.4.) als nachvollziehbar und plausibel erwiesen.
Dem Vorbringen des BFA, der BF1 sei nach seiner Rückkehr aus den VAE noch ca. ein Jahr in Syrien aufhältig gewesen, ohne von Verhaftungen oder Maßnahmen des Regimes betroffen gewesen zu sein vergleiche BF1 AS 153, Seite 69 des angefochtenen Bescheides), ist entgegenzuhalten, dass es um die Bewertung der aktuellen Bedrohungssituation geht. Zudem brachte der BF1 in der Verhandlung glaubhaft vor, er habe bei der letzten Einreise nach Syrien 2020 nur illegal und versteckt einreisen können, da in seinem Herkunftsgebiet das syrische Regime und die damit verbundenen Milizen die Kontrolle innehatten. Er sei immer über die landwirtschaftlichen Wege gefahren oder habe den Personalausweis seines Bruders mitgetragen, weil er Angst gehabt habe, dass er rekrutiert oder an das syrische Regime ausgeliefert werde (BF1 Seite 8 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Der BF1 schilderte in der Verhandlung glaubhaft, er habe die Checkpoints der Milizen früher in seinem Herkunftsgebiet vermeiden können, da die Mitglieder der Milizen fremde Menschen gewesen seien, die sich im Ort nicht ausgekannt hätten. Er habe so über die landwirtschaftlichen Wege fahren können. Mittlerweile hätten sich aber die Menschen aus dem Herkunftsgebiet den Milizen angeschlossen und er befürchte nun bei einer Rückkehr festgenommen und an das syrische Regime ausgeliefert zu werden (BF1 Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Die Angaben über die Machtverhältnisse und Entwicklungen im Herkunftsgebiet stimmen auch mit den Länderinformationen zur Provinz Deir ez-Zor überein vergleiche römisch II.1.4.2.1.).
Der BF1 brachte in der Verhandlung glaubhaft vor, er befürchte wegen seiner Teilnahme an den Protesten vor dem syrischen Konsulat gesucht zu werden. Er habe während seines Aufenthaltes in den VAE an Demonstrationen vor der syrischen Botschaft teilgenommen (BF1 Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Dies ist dem BFA entgegenzuhalten, das im angefochtenen Bescheid argumentiert, dem BF1 drohe bei einer Rückkehr nicht die Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung, da es keine Hinweise darauf gebe, dass er bereits ins Blickfeld des Regimes geraten sei vergleiche BF1 AS 153, Seite 69 des angefochtenen Bescheides). Zudem wird der BF1 seit römisch 40 wegen Fahnenflucht aufgrund seiner Reservedienstweigerung gesucht und ist bereits in das Blickfeld des Regimes geraten.
Auch dem Argument des BFA, es könne keine Bedrohung durch das syrische Regime wegen der illegalen Ausreise festgestellt werden vergleiche BF1 AS 155, Seite 71 des angefochtenen Bescheides), ist nicht zu folgen, da der BF1 gerade durch seine Ausreise den Einzug zum Reservedienst umgangen hat.
2.2.2. Im Falle einer Rückkehr besteht für den Erstbeschwerdeführer die Gefahr, zum Reservedienst beim syrischen Regime eingezogen zu werden.
Der BF1 brachte in der Einvernahme vor dem BFA am 08.02.2022 bereits glaubhaft vor, er befürchte bei einer Rückkehr vom Regime verhaftet zu werden und er habe Angst vor dem Tod, da es in seinem Herkunftsgebiet große Konflikte gebe vergleiche BF1 AS 75).
Auch in der Verhandlung schilderte der BF1 glaubhaft, er habe seine Familie von den VAE wieder zurück nach Syrien geschickt, habe aber selbst nicht zurückkehren können, weil er seinen Namen gecheckt habe und dabei herausgefunden habe, dass er für den Reservedienst gesucht werde (BF1 Seite 8 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die Feststellungen zur Bedrohung bei einer Rückkehr ergeben sich aus dem glaubhaften und gleichlautenden Vorbringen des Beschwerdeführers, in Übereinstimmung mit den aktuellen Länderinformationen (LIB Version 9 vom 17.07.2023).
Da der Beschwerdeführer im Jahr 2021 aus Syrien ausgereist ist ohne seinen Reservedienst abgeleistet zu haben, für den er 2013 einberufen wurde, gilt er für das syrische Regime als Wehrdienstverweigerer. Er reiste aus Syrien aus, ohne den Reservedienst abgeleistet zu haben und würde daher bei einer Rückkehr als Regimegegner angesehen werden.
Entsprechend der ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt vom 14.06.2023 vergleiche römisch II.1.4.7.) wird ein Mann, der nach Syrien zurückkehrt und einen Dienst als Reservist abzuleisten hat, von GrenzbeamtInnen bei seiner Einreise ins Land darüber informiert. Er muss sich dann innerhalb von 15 Tagen beim Rekrutierungsbüro melden. Wenn dies nicht erfolgt, kann er, etwa an einem Checkpoint oder im Zuge einer Verhaftungskampagne, festgenommen werden. Den Länderinformationen ist zu entnehmen, dass aus dem Ausland nach Syrien einreisenden Reservisten mit aufrechtem Einberufungsbefehl an der Grenze die Ausweisdokumente von GrenzbeamtInnen abgenommen werden. Sie erhalten andere Dokumente und werden aufgefordert, mit diesen im Rekrutierungsbüro zu erscheinen vergleiche ACCORD Anfragebeantwortung römisch II.1.4.7.).
Unter Bezugnahme auf Aussagen eines abtrünnigen Obersts ergibt sich aus den Länderinformationen, dass Rückkehrer, die vor der Rückkehr zum Reservedienst einberufen worden sind und ohne Angabe von Gründen Syrien verlassen haben, vor Gericht kommen und sofort verhaftet werden können vergleiche ACCORD Anfragebeantwortung römisch II.1.4.7.).
Es besteht die Gefahr, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr, trotz seines Alters von mittlerweile römisch 40 Jahren, und trotz Ableistens des Wehrdienstes zum Reservedienst bei der syrischen Armee eingezogen wird, was er ablehnt. Dem Beschwerdeführer geht es gesundheitlich gut. Er erhielt 2013 bereits eine Einberufung zum Reservedienst der er nicht folgte. Er verfügt über Spezialwissen und eine Spezialausbildung bei der Luftwaffe, zudem ist er LKW-Fahrer. Eine erneute Einziehung zum Reservedienst trotz Überschreitung des 42. Lebensjahres ist angesichts des willkürlichen Verhaltens der syrischen Behörden und des Bedarfs an kampfähigen Soldaten sowie aufgrund des persönlichen Profils des BF1 sehr wahrscheinlich.
Der BF1 wurde 2013 zum Reservedienst eingezogen und verweigerte seine Rekrutierung. Er wird seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht. Im Falle einer Rückkehr besteht für den Beschwerdeführer daher die Gefahr, am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen seiner endgültigen illegalen Ausreise 2021 und der damit einhergehenden Reservedienstverweigerung verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass im Falle einer Weigerung zu kämpfen, der BF1 zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden würde. Die syrische Regierung betrachtet Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen. Die Ausreise des Beschwerdeführers und die dadurch bewirkte Entziehung von der Ableistung des Reservedienstes wird vom syrischen Regime als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung gesehen.
Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime ausgesetzt zu sein. Denn es ergibt sich aus den Länderfeststellungen vergleiche oben römisch II.1.4.4.), dass dem Beschwerdeführer im Falle der Weigerung den Reservedienst in der syrischen Armee abzuleisten, zumindest eine mit Folter verbundene Gefängnisstrafe droht. Neben anderen Personengruppen sind insbesondere auch Wehrdienstverweigerer bzw. Deserteure Ziel der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung der syrischen Regierung vergleiche römisch II.1.4.4.3.).
Somit ergibt sich die Feststellung, dass die mit der Ausreise des Beschwerdeführers verbundene Wehrdienstentziehung und Asylantragstellung in Österreich vom syrischen Regime als Ausdruck oppositioneller Gesinnung gesehen wird. Entsprechend dem Länderinformationsblatt vergleiche oben Punkt römisch II.1.4.4.3.) war es bereits vor 2011 ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten Fall im Rahmen des Militärverratsgesetzes behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Wehrdienstentzug wird entsprechend der aktuellen Länderinformationen gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht. Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen. Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren. Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab. Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit wahrscheinlich zuerst verhaftet vergleiche römisch II.1.4.4.3.).
Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt bzw. drohender Gewalt vergleiche römisch II.1.4.6.). Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen vergleiche römisch II.1.4.6.). Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt.
Den Länderfeststellungen ist in diesem Zusammenhang zu entnehmen, dass aufgrund der besonderen Situation in Syrien die Schwelle dafür, von Seiten des syrischen Regimes als „oppositionell“ betrachtet zu werden, relativ niedrig ist und vor allem Personen einer oppositionellen Gesinnung bzw. einer Regimegegnerschaft verdächtigt werden, die während des staatlichen Ausnahmezustandes ihre Heimat verlassen und im Ausland einen Asylantrag gestellt haben. Auch ergibt sich aus den Länderfeststellungen, dass eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts der Umstand ist, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.
Somit ergibt sich die Feststellung, dass die mit der Ausreise des BF1 verbundene Wehrdienstentziehung vor dem Reservedienst und Asylantragstellung in Österreich vom syrischen Regime als Ausdruck oppositioneller Gesinnung gesehen wird.
Zudem hat der BF1 an politischen Protesten vor dem syrischen Konsulat in Dubai teilgenommen. Dies ergibt sich aus dem glaubhaften Vorbringen des BF1 (BF1 AS 180, Seite 4ff. der Beschwerde sowie BF1 Seite 8 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Es ist somit sehr wahrscheinlich, dass der Erstbeschwerdeführer aufgrund seiner Reservedienstverweigerung, seiner illegalen Ausreise und Asylantragstellung im Ausland, des Eintrages der Fahnenflucht im Leumundszeugnis sowie seiner Teilnahme an politischen Protesten vor dem syrischen Konsulat in Dubai eine oppositionelle politische Gesinnung durch die syrische Regierung unterstellt wird. Im Falle einer Rückkehr besteht daher für den Beschwerdeführer die Gefahr, am Grenzkontrollposten durch das syrische Regime verhaftet und wegen der Ausreise und der damit einhergehenden Wehrdienstverweigerung als Reservist mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Zudem besteht die Bedrohung, dass der BF1 zum Reservedienst rekrutiert wird.
Die Gefahr geht in diesem Fall vom syrischen Regime, somit vom Staat selbst, aus. Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass es im syrischen Bürgerkrieg zu - durch staatliche Stellen zu verantwortende - Menschenrechtsverletzungen kommt. Mitglieder aller Konfliktparteien in Syrien haben schwere Verletzungen im Bereich Menschenrechte und humanitäres Recht begangen. Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023, landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (vgl.II.1.4.).
In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass auch eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Syrien für den BF1 nicht besteht, zumal die Annahme ebendieser bereits im Widerspruch zum vom Bundesamt gewährten subsidiären Schutz stünde.
2.3. Zu den Fluchtgründen der Drittbeschwerdeführerin:
2.3.1. Zur Wiedereinsetzung des Verfahrens
Die Vertretung der BF3 durch die BBU GmbH ergibt sich aus der im Akt vorliegenden Vollmacht. Die Feststellung zum begangenen Fehler durch die BBU GmbH ergibt sich aus dem Vorbringen der BBU GmbH im Wiedereinsetzungsantrag (BF3 Seite 2 ff. des Wiedereinsetzungsantrags vom 20.04.2022, OZ/1 in 2253780-2). Durch die BBU GmbH wurde die Zustellbestätigung des gegenständlich angefochtenen Bescheides betreffend die BF3 übersehen, und erst durch zufällige Durchsicht der Emails wurde die BBU GmbH auf ihren Fehler aufmerksam. Die Feststellung zum Zeitpunkt an dem die BBU GmbH vom Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrundes bzw. vom begangenen Fehler erfahren hat, ergibt sich aus dem detaillierten und glaubhaften Vorbringen der BBU GmbH im Wiedereinsetzungsantrag (BF3 Seite 2 ff. des Wiedereinsetzungsantrags vom 20.04.2022, OZ/1 in 2253780-2).
Dass die BBU GmbH und auch die BF3 selbst kein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden trifft, ergibt sich aus dem Verfahren und dem glaubhaften und detaillierten Vorbringen der BBU GmbH (BF3 Seite 2 ff. des Wiedereinsetzungsantrags vom 20.04.2022, OZ/1 in 2253780-2). Hierbei wird auf die Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung zu Punkt römisch II. A) Stattgabe der Wiedereinsetzung mit Beschluss, verwiesen.
2.3.2. Die Feststellung zum Familienverhältnis des BF1 und seiner Tochter, der BF3, ergibt sich aus den im Verfahren durchwegs gleichlautenden und glaubhaften Angaben sowohl des Erstbeschwerdeführers als auch der Drittbeschwerdeführerin.
Die belangte Behörde argumentiert im angefochtenen Bescheid, die BF3 habe Syrien aufgrund der Sicherheitslage und des Krieges verlassen, weitere Ausreisegründe könnten nicht festgestellt werden vergleiche BF3 AS 87 Seite 9 des angefochtenen Bescheides). Die BF3 habe keine Verfolgung ihrer Person im Sinne der GFK ins Treffen geführt vergleiche BF3 AS 140 Seite 62 des angefochtenen Bescheides). In der Beschwerde wurde vorgebracht, die BF 3 sei bei einer Rückkehr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe der Familie sowie aufgrund ihrer unterstellten politischen Einstellung begründeter Furcht vor Verfolgung ausgesetzt (BF1 AS 180, Seite 4ff. der Beschwerde). Es sei bekannt, dass das syrische Regime auch gegen Familienangehörige von Oppositionellen vorgehe. Zudem habe die BF3 Syrien illegal verlassen und bei einer Rückkehr würde sie aufgrund ihrer Ausreise und des langen Auslandsaufenthaltes in Verbindung mit ihrer Asylantragstellung das Interesse der syrischen Behörden auf sich ziehen (BF1 AS 199, Seite 23 der Beschwerde).
Die BF3 brachte im Verfahren vor, sie sei gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern aus Syrien geflohen da die Familie Angst vor dem Regime habe (BF3 AS 65). Hierzu brachte sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vor, sie habe Syrien illegal 2021 mit ihrer Familie verlassen (BF3 Seite 17 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Über das Verfahren wurde gleichbleibend und glaubhaft sowohl von der BF3 als auch von ihren Eltern und ihrer Schwester vorgebracht, dass die Familie befürchte, bei einer Rückkehr verhaftet und zumindest einer mit Folter verbundenen mehrtägigen Anhaltung zugeführt zu werden, da sie illegal ausgereist sei, im Ausland einen Asylantrag gestellt habe und sich der Vater durch die Flucht ins Ausland dem Reservedienst entzogen habe, wobei er bereits vom syrischen Regime gesucht werde vergleiche BF1 Seite 10, BF2 Seite 14 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Gleichlautend brachte auch eine weitere Tochter des BF1, die BF4, in der Verhandlung vor, die Familie könne nicht nach Syrien zurückkehren, weil der Vater gesucht werde. Sie seien immer wieder gekommen und hätten nach ihrem Vater gefragt und die Familie habe Angst gehabt, dass ein Familienmitglied als Druckmittel mitgenommen werde, damit ihr Vater sich stelle (BF4 Seite 20 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Im Verfahren wurde glaubhaft vorgebracht, es drohe der BF3 als Tochter eines Reservedienstverweigerers Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur Familie vergleiche BF1, Seite 10f. BF2 Seite 14, BF3 Seite 18 und BF4 Seite 20 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Auch die Drittbeschwerdeführerin selbst brachte diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung am 13.11.2023 glaubhaft vor, dass ihr Vater Syrien aufgrund drohenden Reservedienstes verlassen habe und nun für den Reservedienst gesucht werde: „Ich kenne diese Personen nicht. Sie waren jedenfalls bewaffnet und haben nach meinem Vater gefragt. Wir haben ihnen gesagt, dass wir nicht wissen, wo sich mein Vater befindet.“ (Seite 18 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Insgesamt brachte die BF3 im Verfahren glaubhaft und widerspruchsfrei vor, bei einer Rückkehr Verfolgung zu befürchten, weil ihr Vater vom syrischen Regime aufgrund seiner Reservedienstverweigerung gesucht werde.
Die Feststellung, dass der Drittbeschwerdeführerin als Tochter eines Wehrdienstverweigerers im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung durch die syrischen Behörden droht, ergibt sich aus den oben getroffenen Länderfeststellungen. Aus diesen geht klar hervor, dass auch Familien von Kritikern des syrischen Regimes bzw. von Wehrdienstverweigerern mit Konsequenzen zu rechnen haben. Familienmitglieder können festgenommen werden, um den Regierungsgegner bzw. Deserteur dazu zu bringen, sich zu stellen. Es sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen Familienmitglieder wegen der als regierungsfeindlich wahrgenommenen Tätigkeit von Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden, auch wenn die als regierungsfeindlich wahrgenommenen Personen ins Ausland geflüchtet waren vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3. und 1.4.6.).
Den Länderfeststellungen ist in diesem Zusammenhang zu entnehmen, dass aufgrund der besonderen Situation in Syrien die Schwelle dafür, von Seiten des syrischen Regimes als „oppositionell“ betrachtet zu werden, relativ niedrig ist und vor allem Personen einer oppositionellen Gesinnung bzw. einer Regimegegnerschaft verdächtigt werden, die während des staatlichen Ausnahmezustandes ihre Heimat verlassen und im Ausland einen Asylantrag gestellt haben. Auch ergibt sich aus den Länderfeststellungen, dass eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts der Umstand ist, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, eine politische Meinung unterstellen.
Insgesamt ist die Gefährdung der BF3 aufgrund ihrer Eigenschaft als Tochter eines Wehrdienstverweigerers und ihrer gemeinsamen Ausreise mit diesem, für sich alleine ausreichend, die Flüchtlingseigenschaft der BF3 zu begründen. Die Rückkehrbefürchtung der BF3 stellt sich vor dem Hintergrund der dem gegenständlichen Verfahren zugrunde gelegten Länderfeststellungen daher insgesamt als plausibel dar vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3., 1.4.4. und 1.4.6.).
Ihr Fluchtvorbringen hat die BF3 in Übereinstimmung mit dem Vorbringen ihrer Familienmitglieder glaubhaft und widerspruchsfrei vorgebracht vergleiche BF1, Seite 10f. BF2 Seite 14, BF3 Seite 18 und BF4 Seite 20 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Im Falle einer Rückkehr besteht für die BF3 die Gefahr, am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen ihrer illegalen Ausreise und ihrer Familienzugehörigkeit zu einem Wehrdienstverweigerer verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre.
Vor dem Hintergrund der vorliegenden Länderberichte besteht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die reale Gefahr, dass die Drittbeschwerdeführerin als nahe Angehörige bei einer möglichen Rückkehr in die Heimat in das Blickfeld der syrischen Behörden gerät und ihr in weiterer Folge asylrelevante Verfolgung droht. Festgestellt wird daher, dass der BF3 in Syrien bei einer Rückkehr die reale Gefahr droht, wegen ihrer illegalen Ausreise und Familienzugehörigkeit von der syrischen Regierung aufgrund von unterstellter oppositioneller Gesinnung verfolgt zu werden vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3., 1.4.4.3. und 1.4.6.).
2.3.3. Die Drittbeschwerdeführerin brachte im Verfahren auch vor, sie befürchte eine Rückkehr nach Syrien als alleinstehende Frau, die sie in eine äußerst verletzliche Situation bringen würde. Sie schilderte in der mündlichen Verhandlung glaubhaft, sie befürchte bei einer Rückkehr Gewalt und Misshandlung durch das syrische Regime und die Zivilbevölkerung ausgesetzt zu sein vergleiche BF3 Seite 18 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). So schilderte die BF3 in der Verhandlung: „Es gibt dort keine Ordnung. Sogar der Nachbar kann dich angreifen und niemand wird ihm etwas antun. Es gibt dort viele Inhaftierungen, Entführungen und Zwangsrekrutierungen.“ (BF3 Seite 18 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Bereits in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde brachte die BF3 vor, sie habe in ihrem Herkunftsort nicht weiter in die Schule gehen können und habe kaum das Haus verlassen. Sie habe Angst vor dem Krieg, vor dem IS und dem Regime und dass sie entführt oder ermordet werde (BF3 AS 65).
Auch der BF1, ihr Vater, brachte in der Verhandlung vor, er befürchte bei einer Rückkehr die Entführung oder den Tod seiner Kinder. „In unserem Gebiet werden insbesondere die Frauen entführt. Ich habe auch keinen Bruder dort, der sich um sie kümmern könnte oder sie beschützen könnte.“ (BF1 Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Ebenso brachte die Mutter der BF3, die BF2, in der mündlichen Verhandlung vor, sie sorge sich um das Leben ihrer Töchter. Diese würden nicht nach Syrien zurückkehren können und hätten bei einer Rückkehr keine Familienangehörigen die sie versorgen würden. Sie selbst habe als Frau das Haus nicht verlassen können um Lebensmitteleinkäufe zu tätigen da es zu gefährlich sei. Sie habe Angst, dass ihre Töchter bei einer Rückkehr Gewalt ausgesetzt wären vergleiche Seite 14 bis 15 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die Beschwerdeführer legten im Verfahren auch glaubhaft und widerspruchsfrei dar, dass es in Syrien keine Familienangehörigen gibt, zu denen die BF3 zurückkehren könnte. So brachte der Vater der BF3, der BF1, bereits in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 08.02.2022 vergleiche BF1 AS 73) vor, es gebe keine Familienangehörigen mehr in Syrien und wiederholte dies gleichbleibend in der Verhandlung vergleiche Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Auch die Mutter der BF3, die BF2, brachte in der Verhandlung glaubhaft vor, dass sie keine Familienangehörigen mehr in Syrien hat, die sich bei einer Rückkehr um sie oder ihre Töchter kümmern könnten vergleiche Seite 13f. des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Dies unterstrich auch die BF3 in der mündlichen Verhandlung vergleiche BF3 Seite 18 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
In der Beschwerde wurde vorgebracht, die belangte Behörde habe im angefochtenen Bescheid keine ausreichenden Feststellungen zu den geschlechtsspezifischen Verfolgungsgefahren getroffen. Als Frauen drohe den weiblichen Beschwerdeführerinnen geschlechtsspezifische Verfolgung. Das BFA habe das Verfahren mit Ermittlungs- und Begründungsmängeln belastet da es an essentiellen Feststellungen zur Situation in Syrien für Frauen fehle (BF1 AS 182, Seite 6ff. der Beschwerde).
In der Beschwerde wurde hierzu auf das Update zu den UNHCR- Erwägungen vom März 2021 verwiesen, wonach Frauen und Mädchen, die aus Syrien fliehen, gefährdet sind, Opfer von sexueller Gewalt oder häuslicher Gewalt zu werden und daher als Risikoprofil anzusehen sind. Frauen ohne männliche Unterstützung seien Misshandlungen, Ausbeutung und Handel besonders ausgesetzt (BF1 AS 187, Seite 11 der Beschwerde).
Eine Rückkehr nach Syrien sei der BF3 keinesfalls zumutbar, da ihr als alleinstehende Frau geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen und aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie und der unterstellten politischen Einstellung, Verfolgung drohe (BF1 AS 194, Seite 18 der Beschwerde). Seitens des syrischen Staates werde kein ausreichender Schutz vor geschlechtsspezifischer Verfolgung geboten (BF1 AS 199, Seite 23 der Beschwerde).
Die Feststellung, dass die BF3 bei einer Rückkehr als alleinstehende junge Frau anzusehen ist, da sich ihre Kernfamilie im Ausland befindet, ergibt sich daraus, dass sowohl die BF3 als auch ihre weitere Familie im Verfahren glaubhaft vorgebracht haben, dass mittlerweile die gesamte restliche Familie aus Syrien ausgereist ist und sie zu jenen Verwandten die sich noch in Syrien befinden, nicht zurückkehren kann vergleiche BF1 Seite 7, BF2 Seite 13f., BF3 Seite 17 und BF4 Seite 20 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die BF3 brachte somit insgesamt glaubhaft vor, dass sie bei einer Rückkehr nach Syrien als alleinstehende junge Frau zurückkehren müsste:
„RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie nach Syrien ausreisen müssten?
BF3: Allein kann ich mich um mich nicht kümmern, weil ich die Schule nicht abgeschlossen habe und diese auch nicht abschließen kann. Es gibt dort keine Ordnung. Die Leute können sich einander aus jeglichem Grund umbringen. Es gibt dort viele Entführungs- und Vergewaltigungsfälle. Es herrscht dort Krieg.“ (BF3 Seite 18 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023).
Die Feststellungen zur Situation für alleinstehende Frauen in Syrien ergeben sich aus dem aktuellen Länderinformationsblatt vergleiche römisch II.1.4.5.1.). Aus diesem ergibt sich, dass alleinstehende Frauen in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung vergleiche römisch II.1.4.5.1.2.). Mehr als ein Jahrzehnt des Konflikts in Syrien hat ein Klima geschaffen, das der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zuträglich ist, besonders angesichts der sich verfestigenden patriarchalischen Gesellschaftsformen, der Fortschritte bei den Frauenrechten zunichtemachte vergleiche römisch II.1.4.5.1.1.).
Die BF3 gab im Verfahren gleichlautend und glaubhaft an, dass sie in Syrien zwar neun Jahre lang die Schule besucht habe, jedoch keinen Beruf erlernt oder ausgeübt habe vergleiche BF3 AS 59, Seite 16 des Verhandlungsprotokolls vom 13.11.2023). Sie müsste daher bei einer Rückkehr nach Syrien, ohne familiäres Unterstützungsnetzwerk, im derzeitigen Alter von römisch 40 Jahren ohne Berufsausbildung für ihren Lebensunterhalt sorgen. Durch den anhaltenden Konflikt und die damit einhergehende Instabilität sowie die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation hat sich die Situation der Frauen zunehmend erschwert. Geschlechtsbasierte Gewalt hat zugenommen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht einschließlich Ausbeutung bei der Arbeit wie auch Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit vergleiche römisch II.1.4.5.1.2.).
Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass der BF3 in ihrer individuellen Situation als junge, alleinstehende Frau in Syrien Verfolgung droht. Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen vergleiche römisch II.1.4.5.1.3.).
Insgesamt ergibt sich daraus, dass der BF3 bei einer Rückkehr Gefahr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Syrien droht. Zu beachten ist hierbei, dass die BF3 als junge, alleinstehende Frau ohne Berufsausbildung und als Rückkehrerin sowie als Familienangehörige eines Reservedienstverweigerers als besonders vulnerable Person anzusehen wäre.
2.4. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen vergleiche oben römisch II.1.2.), insbesondere auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, aus dem Country of Origin - Content Management System (COI-CMS) – Syrien, Version 9, vom 17.07.2023 und der ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt vom 14.06.2023. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zu römisch eins. A) Stattgabe der Beschwerden:
3.1.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).
Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG 2005) gesetzt hat.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrages auf internationalen Schutz der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Flüchtling ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001; 28.03.2023, Ra 2023/20/0027).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt auch einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren vergleiche VwGH 10.04.2020, Ra 2019/19/0415, mwN).
Der Verwaltungsgerichtshof hat auch ausgesprochen, dass die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden grundsätzlich daran zu messen ist, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben vergleiche VwGH 14.04.2021, Ra 2020/18/0126, mwN).
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen vergleiche Artikel 9, Absatz eins, der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen vergleiche VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).
Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist nach Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht vergleiche VwGH 02.02.2023, Ro 2022/18/0002, mwN). Für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft letzterenfalls kommt es nicht bloß auf die tatsächliche politische Gesinnung an, auch die seitens der Verfolger dem Asylwerber unterstellte politische Gesinnung ist asylrechtlich relevant vergleiche dazu nochmals VwGH Ra 2023/20/0027, mwN). Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht vergleiche VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).
Für die Asylgewährung kommt es weiters auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste vergleiche etwa VwGH 07.03.2023, Ra 2022/18/0284, mwN). Relevant kann also nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der „Asylentscheidung“ immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche VwGH 19.10.2000, 98/20/0233, mwN; sowie unter Hinweis auf diese Entscheidung VfGH 27.02.2023, E 3307/2022).
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (zB VwGH 24.03.1999, 98/01/0352 mwN; 15.03.2001, 99/20/0036). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwSlg. 16.482 A/2004). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „internen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwSlg. 16.482 A/2004) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, 29.03.2001, 2000/20/0539; 17.03.2009, 2007/19/0459).
Die Bestimmung der Heimatregion des Asylwerbers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht und ob ihm – sollte dies der Fall sein – im Herkunftsstaat außerhalb der Heimatregion eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht vergleiche VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442, mwN).
Zur Bestimmung der Heimatregion kommt der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat. In Fällen, in denen ein Asylwerber nicht auf Grund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang auf Grund einer Vertreibung seinen dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hat und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnte (Zustand innerer Vertreibung), ist der ursprüngliche Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen vergleiche etwa VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192, mwN; 25.08.2022, Ra 2021/19/0442; 09.03.2023, Ra 2022/19/0317). Zur Beantwortung der Frage, wo sich die Heimatregion des Asylwerbers befindet, bedarf es somit einer Auseinandersetzung damit, welche Bindungen der Asylwerber zu den in Betracht kommenden Ortschaften – etwa in Hinblick auf familiäre und sonstige soziale Kontakte und örtliche Kenntnisse – aufweist vergleiche erneut VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192).
Der VwGH hat in seiner Entscheidung vom 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, betreffend die Erreichbarkeit festgelegt, dass die Verfolgungsgefahr in Bezug auf den Herkunftsstaat zu prüfen ist und der Rechtslage keine Einschränkung auf eine Region innerhalb des Herkunftsstaates zu entnehmen ist (Rz 14). Es ist gemäß Paragraph 3, AsylG 2005 einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat vergleiche Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 17, AsylG 2005) Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht. Die für die Asylgewährung erforderliche Verfolgungsgefahr ist daher in Bezug auf den Herkunftsstaat des Asylwerbers oder der Asylwerberin zu prüfen vergleiche dazu etwa VwGH 2.2.2023, Ra 2022/18/0266, mwN). Auch Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK und die Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) stellen auf das Herkunftsland vergleiche etwa Artikel 2, Litera n, Statusrichtlinie) des Asylwerbers oder der Asylwerberin ab und prüfen die Asylberechtigung hinsichtlich dieses Landes. Eine Einschränkung der Prüfung der Gewährung von Asyl auf die Herkunftsregion des Asylwerbers oder der Asylwerberin innerhalb des Herkunftsstaates ist dieser Rechtslage nicht zu entnehmen vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 14). Der VwGH hat klargestellt, dass sich die Rechtsansicht, es komme auf die (behauptete) Verfolgung aus asylrelevanten Gründen schon beim Grenzübertritt nicht an, als rechtlich unzutreffend erweist (Rz 25). Der VwGH stellte vielmehr fest, dass sich keinem der bisherigen höchstgerichtlichen Beschlüsse die Aussage entnehmen lässt, dass eine (asylrelevante) Verfolgungsbehauptung im Herkunftsstaat (wonach der Revisionswerber beim Grenzübertritt Verfolgung durch die syrischen Behörden zu erwarten hätte, ehe er überhaupt in seine Herkunftsregion gelangen werde), ungeprüft bleiben dürfe vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 23).
Diesbezüglich hat auch der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 29.06.2023, E 3450/2022-16, ausgeführt, dass zu prüfen ist, ob die Herkunftsregion für den Beschwerdeführer erreichbar ist, ohne dass ihm am Weg dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung iSd Paragraph 3, AsylG 2005 droht. Entsprechend dem VfGH muss durch das BVwG überprüft werden, ob der Beschwerdeführer in die Herkunftsregion gelangen kann, ohne festgestellter, asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt zu sein vergleiche VfGH vom 05.10.2023, E 872/2023, Rz 4 sowie VfGH 05.10.2023, E 1178/2023-14). Wenn das Bundesverwaltungsgericht nur prüft, ob einem Beschwerdeführer in seiner Herkunftsregion, Verfolgung droht, jedoch die Frage außer Acht lässt, ob dem Beschwerdeführer ein Weg in diese Region offensteht, auf dem er nicht der Gefahr läuft, einer Verfolgung iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK ausgesetzt zu sein, belastet es sein Erkenntnis mit Willkür vergleiche hinsichtlich der auf den Herkunftsstaat bezogenen Prüfung auch VwGH 4.7.2023, Ra 2023/18/0108).
Aufgrund der oben dargestellten Erwägungen ist es den Beschwerdeführern gelungen, eine drohende Verfolgung im Herkunftsstaat glaubhaft zu machen.
3.1.2. Zur Verfolgung des Erstbeschwerdeführers:
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt vor dem Hintergrund der oben festgestellten Berichtslage zur Situation in Syrien, dass der BF1 Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist. Der im Beschwerdefall festgestellte Sachverhalt lässt erkennen, dass die behauptete Furcht des BF1 begründet ist.
Im gegenständlichen Fall handelt es sich bei der gegenüber dem BF1 bestehenden Verfolgungsgefahr um eine solche aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung.
In der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes wird ausgeführt, dass drohende Bestrafung wegen der Weigerung der Teilnahme an einem von der Völkergemeinschaft verurteilten Kriegseinsatz dann zur Asylgewährung führen könne, wenn dem jeweiligen Asylwerber eine feindliche politische Gesinnung unterstellt werde (siehe etwa VwGH 21.12.2000, 2000/01/0072). Der Verwaltungsgerichtshof vertritt darüber hinaus ausdrücklich die Auffassung, dass unter dem Gesichtspunkt des Zwangs zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen – etwa gegen die Zivilbevölkerung – auch eine bloße Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung darstellen kann (VwGH 25.03.2003, 2001/01/0009). Dies ist auch in Artikel 9, Absatz 2, Litera e, der Richtlinie 2011/95/EU ausdrücklich festgehalten. Daher wäre eine (drohende) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 der genannten Richtlinie fallen, eine (drohende) asylrelevante Verfolgung.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen. Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa der Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt vergleiche VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, Rn. 19, mwN). Würde der Wehrdienst dazu zwingen, an völkerrechtswidrigen Militäraktionen teilzunehmen, kann auch schon eine Bestrafung mit einer „bloßen“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274).
Ist Letzteres der Fall, so kann dies aber auch auf der - generellen - Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung beruhen, womit unabhängig von einer der Wehrdienstverweigerung bzw. Desertion im konkreten Fall wirklich zugrundeliegenden religiösen oder politischen Überzeugung der erforderliche Zusammenhang zu einem Konventionsgrund gegeben wäre vergleiche VwGH 14.09.2016, Ra 2016/18/0085; 14.12.2004, 2001/20/0692).
Wie der VwGH kürzlich erneut festlegte vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 28), kommen alle Verfolgungshandlungen gegen Wehrdienstverweigerer - im Lichte des Unionsrechts - insbesondere solche nach Artikel 9, Absatz 2, Litera b,, c und e Statusrichtlinie in Betracht, also etwa eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung des Wehrdienstverweigerers (Artikel 9, Absatz 2, Litera c,) oder eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikel 12, Absatz 2, fallen (Artikel 9, Absatz 2, Litera e,); Letzteres betrifft u.a. Fälle, in denen der Militärdienst die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich solcher, in denen der Asylwerber nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde (EuGH 26.2.2015, C-472/13, Rs. Shepherd). Hätte der Wehrpflichtige seinen Militärdienst im Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs abzuleisten, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Artikel 12, Absatz 2, Statusrichtlinie durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, so besteht nach den Ausführungen des EuGH eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem - allenfalls noch nicht bekannten - Einsatzgebiet dazu veranlasst sein würde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung der betreffenden Verbrechen teilzunehmen (EuGH 19.11.2020, C-238/19, Rs. EZ).
Selbst die Bejahung von Verfolgungshandlungen der geschilderten Art erübrigt es nicht, das Bestehen einer Verknüpfung zwischen (zumindest) einem der in Artikel 10, Statusrichtlinie bzw. Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Verfolgungsgründe und den Verfolgungshandlungen individuell zu prüfen. Wie der EuGH bereits klargestellt hat, ist die Verweigerung des Militärdienstes in vielen Fällen Ausdruck politischer Überzeugungen (sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zur Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehen), religiöser Überzeugungen oder sie hat ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. In diesen Konstellationen können die Verfolgungshandlungen aufgrund der Verweigerung des Wehrdienstes den einschlägigen Verfolgungsgründen zugeordnet werden vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 29f.).
In diesem Sinne hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass die (bloße) Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrelevante Verfolgung darstellt, sondern nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen kann vergleiche VwGH am 04.07.2023, Ra 2023/18/0108 Rz 32, VwGH 7.1.2021, Ra 2020/18/0491, mwN).
Die Plausibilität der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ist nach Auffassung des EuGH von den zuständigen nationalen Behörden in Anbetracht sämtlicher vom Asylwerber (oder der Asylwerberin) vorgetragenen Anhaltspunkte zu prüfen. Dabei spricht zwar eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Artikel 9, Absatz 2, Litera e, Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Artikel 10, Statusrichtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Dies entbindet die Asylbehörde bzw. das nachprüfende BVwG aber nicht von der erforderlichen Plausibilitätsprüfung (EuGH Rs. EZ vergleiche dazu auch jüngst deutsches BVerwG, 19.1.2023, 1 C 22.21, u.a. Rn. 48 ff).
3.1.2.1. Rekrutierung durch das syrische Regime:
Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien kann nicht ausgeschlossen werden, dass der BF1 im Falle seiner Rückkehr nach Syrien asylrelevanter Verfolgungsgefahr durch staatliche Stellen ausgesetzt wäre.
Der Erstbeschwerdeführer ist aktuell römisch 40 Jahre alt, er ist wehrdienstfähig. Der Erstbeschwerdeführer leistete seinen verpflichtenden Wehrdienst in Syrien von römisch 40 bis römisch 40 ab. Er diente bei der Luftwaffe, seine Aufgabe war es die Flugobjekte am Radar zu identifizieren und zu überwachen. Er erhielt dafür eine Spezialausbildung. Der BF1 verfügt über militärisches Spezialwissen zum Einsatz bei der Luftwaffe, zudem ist er LKW-Fahrer.
In Syrien besteht ein verpflichtender Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist. Syrische männliche Staatsangehörige können bis zum Alter von 42 Jahren, und in Einzelfällen bei vorhandenem militärischen Spezialwissen bis zum Alter von 50 Jahren und darüber hinaus zum Reservedienst eingezogen werden. Der Erstbeschwerdeführer, der bereits zweieinhalb Jahre Wehrdienst abgeleistet hat, wurde im Jahr 2013 im Alter von römisch 40 Jahren zum Reservedienst einberufen und verweigerte diesen. Er wird seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht.
Eine neuerliche Einberufung zum Reservedienst ist aufgrund des Spezialwissens des Beschwerdeführers und seines guten Gesundheitszustandes sehr wahrscheinlich. Der Beschwerdeführer ist nach wie vor wehrdienstfähig, hat den in Syrien gesetzlich verpflichtenden Reservedienst nicht abgeleistet, verfügt über militärisches Spezialwissen und würde bei einer Rückkehr nach Syrien Gefahr laufen für den Reservedienst eingezogen zu werden.
Der Erstbeschwerdeführer lehnt einen neuerlichen Militärdienst bei der syrischen Armee ab. Bei einer Weigerung würde der BF1 auf asylrelevante Weise verfolgt werden.
Der Beschwerdeführer verließ Syrien im Jahr 2021 und stellte den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, unter anderem weil er nicht im Militär des syrischen Regimes kämpfen will. Er hat sich durch seine Ausreise seinem Reservedienst entzogen und würde daher bei einer Rückkehr als Regimegegner angesehen werden. Der BF1 hat 2013 eine Einberufung zum Reservedienst erhalten und dieser keine Folge geleistet. Er lehnt einen Militärdienst bei der syrischen Armee ab. Der Beschwerdeführer vertritt eine politische Gesinnung, die in Opposition zum aktuellen syrischen Machthaber steht. Er macht aus seiner Gesinnung kein Geheimnis und tut diese öffentlich kund, unter anderem durch seine Demonstrationsbesuche vor der syrischen Botschaft in den VAE.
Die Ausreise des Beschwerdeführers und die dadurch bewirkte Entziehung vor dem Reservedienst wird vom syrischen Regime als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung gesehen.
Es besteht fallgegenständlich somit der vom VwGH geforderte Konnex der Verfolgungshandlung mit einem der fünf in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Konventionsgründe, da die Wehrdienstverweigerung der Ausdruck der politischen Gesinnung des BF1 ist und ihm aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung eine oppositionelle Gesinnung zumindest unterstellt werden würde vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 27).
Damit liegt im Hinblick auf die dem Erstbeschwerdeführer zukünftig drohende Bestrafung wegen "Wehrdienstverweigerung" als (drohender) Eingriff von erheblicher Intensität eine asylrelevante Verfolgung vor, weil die Bestrafung in Zusammenhang mit einem Konventionsgrund, nämlich mit dem der (zumindest unterstellten) "politischen Gesinnung", steht.
Für den BF1 besteht im Falle einer Rückkehr aufgrund seiner Ausreise und der damit verbundenen Verweigerung des Reservedienstes asylrelevante Verfolgungsgefahr, weil er sich durch seine Ausreise dem syrischen Militärdienst, in dessen Rahmen er zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen (wie Angriffen auf die Zivilbevölkerung) gezwungen und bei Weigerung mit Haft und Folter bedroht werden würde, entzogen hat und somit als politischer Gegner des syrischen Regimes angesehen werden würde.
Dem Beschwerdeführer drohen eine Zwangsrekrutierung sowie eine Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch das syrische Regime.
Aufgrund des eindeutigen Musters, dass auf Personen abgezielt wird, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, ist UNHCR der Auffassung, dass Personen mit diesem Profil wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder anderer maßgeblicher Gründe vergleiche UNHCR Erwägungen römisch II.1.4.8.)
Zudem erfüllt der Beschwerdeführer auch ein ausdrückliches Risikoprofil (Wehrpflichtverweigerer und daraus resultierende unterstellte Gesinnung) der Erwägungen des UNHCR zum Schutzbedarf von Personen, die aus Syrien fliehen vergleiche UNHCR Erwägungen römisch II.1.4.8.). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt den Richtlinien von UNHCR Indizwirkung zu bzw. ist ihnen besondere Beachtung zu schenken vergleiche vergleiche VwGH 01.02.2022, Ra 2021/19/0056, Rn. 13, VwGH 05.03.2020, Ra 2018/19/0686; VwGH 13.02.2020, Ra 2019/19/0278).
Im Falle einer Rückkehr besteht für den Erstbeschwerdeführer die Gefahr, am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen der Ausreise und der damit einhergehenden Reservedienstverweigerung verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Da der Beschwerdeführer im Jahr 2021 aus Syrien ausgereist ist ohne seinen Reservedienst abgeleistet zu haben, für den er 2013 einberufen wurde, gilt er für das syrische Regime als Wehrdienstverweigerer und würde bei einer Rückkehr als Regimegegner angesehen werden.
Es besteht zudem die Gefahr, dass der Erstbeschwerdeführer bei einer Rückkehr, trotz seines Alters von mittlerweile römisch 40 Jahren und trotz Ableistens des Wehrdienstes, zum Reservedienst bei der syrischen Armee eingezogen wird, was er ablehnt. Dem Erstbeschwerdeführer geht es gesundheitlich gut. Er verfügt über militärisches Spezialwissen zum Einsatz bei der Luftwaffe, zudem ist er LKW-Fahrer. Eine Einziehung zum Reservedienst trotz Überschreitung des 42. Lebensjahres ist angesichts des willkürlichen Verhaltens der syrischen Behörden und des Bedarfs an kampfähigen Soldaten sehr wahrscheinlich, zumal der BF1 über Spezialwissen verfügt und bereits 2013 eine Einberufung zum Reservedienst erhalten hat. Beachtlich ist dabei auch die Rechtsprechung des VwGH vergleiche VwGH 19.06.2019, Ra 2018/18/0548), wonach es für die Frage eines möglichen Asylanspruchs entscheidend ist, ob einem Beschwerdeführer bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat angesichts des in den Länderfeststellungen ausgewiesenen erhöhten Rekrutierungsdrucks der syrischen Armee und der besonderen Gefährdung von einreisenden Männern im wehrfähigen Alter mit maßgebender Wahrscheinlichkeit eine Einziehung zum Wehrdienst droht (siehe auch EuGH 19.11.2020, C-238/19, wonach im Kontext des Bürgerkriegs in Syrien eine starke Vermutung dafür spricht, dass die Weigerung, dort Militärdienst zu leisten, mit einem Grund in Zusammenhang steht, der einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann).
Angesichts dessen kann dem BF1 nicht entgegengehalten werden, dass seine Furcht vor Verfolgung nicht wohlbegründet wäre. Vielmehr würde sich eine Person in der Situation des Erstbeschwerdeführers, der sich dem Reservedienst durch die Ausreise aus Syrien entzogen hat und wegen Fahnenflucht gesucht wird, vor einer Rückkehr nach Syrien und der Einreise - verbunden mit einem drohenden Kontakt zu dem syrischen Regime - fürchten. Angesichts seiner Ausreise aus Syrien und der damit verbundenen endgültigen Verweigerung des Reservedienstes droht dem BF1 im Falle seiner Rückkehr als politisch oppositionelle Person verfolgt zu werden. Auch auf Grund seiner Weigerung bei einer Rückkehr einer Einberufung Folge zu leisten, droht ihm im Falle seiner Rückkehr eine Verfolgung als politisch oppositionelle Person.
Es kommt nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass die schutzsuchende Person in der Vergangenheit bereits verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung für sich genommen nicht hinreichend. Entscheidend ist vielmehr, dass der schutzsuchenden Person im Zeitpunkt der Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in der GFK bzw. in Artikel 10, Statusrichtlinie genannten fünf Verfolgungsgründe drohen würde vergleiche VwGH am 04.07.2023, Ra 2023/18/0108 Rz 16, mit Verweis auf VwGH 3.5.2016, Ra 2015/18/0212; VwGH 7.3.2023, Ra 2022/18/0284, mwN). Der VwGH stellte bereits mehrfach fest, dass sich das BVwG mit der zum Entscheidungszeitpunkt herrschenden Einberufungssituation in Syrien auseinandersetzen muss vergleiche VwGH 03.05.2022, Ra 2021/18/0250-8). Fallgegenständlich war somit zu bewerten, ob dem BF1 aktuell bei einer Rückkehr Gefahr droht und eine Prognose abzugeben. Im vorliegenden Fall droht dem BF1 im Falle einer Rückkehr aufgrund des noch nicht abgeleisteten Reservedienstes beim Grenzübertritt nach Syrien die Einziehung zum Wehrdienst, trotz seines fortgeschrittenen Alters, da der BF1 aktuell gesundheitlich gut gestellt und wehrfähig ist. Der BF1 diente bei der Luftwaffe, seine Aufgabe war es die Flugobjekte am Radar zu identifizieren und zu überwachen. Die Position die er bei einer Zwangsrekrutierung zum Reservedienst innehätte wäre aufgrund seiner Spezialisierung eine Bürotätigkeit am Funkgerät, die er trotz seines Alters ausüben könnte und müsste. Auch aufgrund der Aktualität der Länderinformationen ist davon auszugehen, dass die Verfolgung jetzt aktuell besteht.
3.1.2.2. Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der BF1 somit Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime ausgesetzt zu sein.
Dem BF1 droht aufgrund seiner (zumindest unterstellten) politischen Gesinnung Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK.
Eine Inanspruchnahme des Schutzes durch den syrischen Staat ist auszuschließen, da die geschilderte Bedrohung vom syrischen Regime selbst ausgeht. Das Herkunftsgebiet des BF1 steht unter Kontrolle des syrischen Regimes.
Bei der vorliegenden Konstellation kann im gegenständlichen Fall auch nicht mit der erforderlichen maßgeblichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der BF1 über die Möglichkeit verfügen würde, sich in Syrien in einer anderen Region niederzulassen. Eine abschließende Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative kann jedoch insbesondere auch vor dem Hintergrund entfallen, dass die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde, weil Paragraph 11, AsylG 2005 die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind vergleiche VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054, VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016).
Da auch keiner der in Artikel eins, Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt, und ein Abweisungsgrund gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 im konkreten Fall nicht vorliegt, da dem BF1 – wie gezeigt – keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht und dieser keinen Asylausschlussgrund gesetzt hat, war der Beschwerde stattzugeben und dem BF1 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen.
Diese Entscheidung war gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Erstbeschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.1.3. Zur Zweitbeschwerdeführerin, der Viertbeschwerdeführerin und der minderjährigen Fünftbeschwerdeführerin:
Nach Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG ist "Familienangehöriger":
„a. der Elternteil eines minderjährigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten;
b. der Ehegatte oder eingetragene Partner eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten, sofern die Ehe oder eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat;
c. ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten und
d. der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen ledigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten sowie ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind, für das einem Asylwerber, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten die gesetzliche Vertretung zukommt, sofern die gesetzliche Vertretung jeweils bereits vor der Einreise bestanden hat.“
Stellt ein Familienangehöriger iSd Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser gemäß Paragraph 34, Absatz eins, AsylG als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes. Die Behörde hat gemäß Paragraph 34, Absatz 2, AsylG aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist (Paragraph 2, Absatz 3, AsylG), die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK mit dem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (Paragraph 7, AsylG).
Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Absatz 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.
Gemäß Paragraph 34, Absatz 6, AsylG sind die Bestimmungen dieses Abschnitts nicht anzuwenden:
„1. auf Familienangehörige, die EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind;
2. auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind;
3. im Fall einer Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (Paragraph 30, NAG).“
Die Zweitbeschwerdeführerin (BF2 W250 2253784-1) ist die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers dem mit gegenständlichem Erkenntnis der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird (BF1 W250 2253782-1). Die Ehe der beiden hat bereits vor der Einreise bestanden. Der Zweitbeschwerdeführerin kommt als Ehefrau des Erstbeschwerdeführers der Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 34, Absatz 2, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, Litera b, AsylG 2005 zu. Der Zweitbeschwerdeführerin war somit gegenständlich der Status der Asylberechtigten, abgeleitet von ihrem Ehemann, zuzuerkennen.
Die Viertbeschwerdeführerin (BF4 W250 2253779-1) ist die mittlerweile volljährige Tochter des Erstbeschwerdeführers. Sie ist aktuell römisch 40 Jahre alt, war zum Zeitpunkt der Asylantragstellung am 13.11.2021 aber noch minderjährig. Sie war zum Zeitpunkt der Asylantragstellung auch ledig. Der Viertbeschwerdeführerin kommt als bei der Antragstellung minderjährigen und ledigen Tochter des Erstbeschwerdeführers der Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 34, Absatz 2, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, Litera c, AsylG 2005 zu.
Die Fünftbeschwerdeführerin (BF5 W250 2253781-1) ist die ledige und minderjährige Tochter des Erstbeschwerdeführers. Ihr kommt, als bei der Antragstellung minderjährigen und ledigen Tochter des Erstbeschwerdeführers, der Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 34, Absatz 2, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, Litera c, AsylG 2005 zu.
Bei den genannten Familienangehörigen des Erstbeschwerdeführers kamen keine Asylendigungs- bzw. -ausschlussgründe hervor. Ihnen war aus den genannten Gründen der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen.
Diese Entscheidung war gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 mit den Feststellungen zu verbinden, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.2. Zu römisch II. A) Stattgabe der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf Antrag der Drittbeschwerdeführerin
Mit Schreiben vom 20.04.2022, eingelangt am selben Tag, stellte die BF3 einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß Paragraph 33, VwGVG (W250 2253780-2) und verwies auf die im gemeinsamen Schriftsatz der Familie am 30.03.2022 eingebrachte Beschwerde.
Gemäß Paragraph 71, Absatz eins, AVG ist gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft. Der Antrag auf Wiedereinsetzung muss binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses oder nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit der Berufung Kenntnis erlangt hat, gestellt werden.
Ähnlich ist gemäß Paragraph 33, Absatz eins, VwGVG1 gegen die Versäumung einer Frist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, sofern die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens am Versäumen der Frist trifft.
Die Wiedereinsetzung wird in Paragraph 33, Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) wie folgt geregelt: „(1) Wenn eine Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis – so dadurch, dass sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat – eine Frist oder eine mündliche Verhandlung versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, so ist dieser Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt. (…)“.
Paragraph 33, VwGVG regelt weiters: „(3) In den Fällen des Absatz eins, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses zu stellen und zwar bis zur Vorlage der Beschwerde bei der Behörde und ab Vorlage der Beschwerde beim Verwaltungsgericht; (…)
(4) Bis zur Vorlage der Beschwerde hat über den Antrag die Behörde mit Bescheid zu entscheiden. Paragraph 15, Absatz 3, ist sinngemäß anzuwenden. Ab Vorlage der Beschwerde hat über den Antrag das Verwaltungsgericht mit Beschluss zu entscheiden. Die Behörde oder das Verwaltungsgericht kann dem Antrag auf Wiedereinsetzung die aufschiebende Wirkung zuerkennen. (…)
(5) Durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung tritt das Verfahren in die Lage zurück, in der es sich vor dem Eintritt der Versäumung befunden hat. (…)“
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß Paragraph 33, VwGVG schützt – wie die Wiedereinsetzung im behördlichen Verfahren – die Partei gegen Nachteile aus der Versäumung einer befristeten Rechtshandlung dadurch, dass sie die Partei in die Lage versetzt, die versäumte Handlung nachzuholen und die aus der Säumnis resultierenden negativen Konsequenzen abzuwenden (Hengstschläger/Leeb, AVG Paragraph 71, Rz 2).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche VwGH 21.04.2020, Ra 2020/14/0023) ist bei Versäumen der Beschwerdefrist für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand allein Paragraph 33, VwGVG die maßgebliche Bestimmung und nicht die Paragraphen 71,, 72 AVG, weil es sich um ein Verfahren über eine im VwGVG geregelte Beschwerde handelt (Hinweis E vom 28. September 2016, Ro 2016/16/0013). Der Verwaltungsgerichtshof hat allerdings in seiner Rechtsprechung auch festgehalten, dass grundsätzlich die in der Rechtsprechung zu Paragraph 71, AVG entwickelten Grundsätze auf Paragraph 33, VwGVG 2014 übertragbar sind vergleiche betreffend Paragraph 33, Absatz eins, VwGVG die Beschlüsse vom 25. November 2015, Ra 2015/06/0113, und vom 8. Juni 2015, Ra 2015/08/0005, sowie in diesem Sinn auch den Beschluss vom 17. März 2015, Ra 2014/01/0134).
Voraussetzung für die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist das Vorliegen eines Wiedereinsetzungsgrundes. Ein solcher ist gegeben, wenn die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten und sie daran kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft.
Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Ereignis unabwendbar ist, kommt es nach der Rechtsprechung (VwGH 24.01.1996, 94/12/0179) auf objektive Umstände an; nämlich darauf, ob das Ereignis auch von einem Durchschnittsmenschen objektiv nicht verhindert werden kann. Ob ein Ereignis unvorhergesehen ist, hängt demgegenüber nach der Rechtsprechung nicht von einer objektiven Durchschnittsbetrachtung, sondern vom konkreten Ablauf der Geschehnisse ab. Unvorhergesehen ist ein Ereignis dann, wenn es von der Partei tatsächlich nicht einberechnet wurde und mit zumutbarer Vorsicht auch nicht vorhergesehen werden konnte (VwGH 03.04.2001, 2000/08/0214).
Der Begriff des minderen Grades des Versehens ist als leichte Fahrlässigkeit im Sinn des Paragraph 1332, ABGB zu verstehen. Der Wiedereinsetzungswerber darf also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt nicht in besonders nachlässiger Weise außer Acht gelassen haben vergleiche VwGH 24.03.2022, Ra 2020/21/0369; VwGH 01.03.2018, Ra 2017/19/0583).
Im Wiedereinsetzungsantrag der BF3 wurde von ihrer Rechtsvertretung, der BBU GmbH, vorgebracht, die BF3 habe am 13.11.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt, welcher mit Bescheid vom 17.02.2022 hinsichtlich Spruchpunkt römisch eins abgewiesen worden sei. Nach Erhalt des gegenständlichen Bescheides habe sich die BF3 in Begleitung ihrer Eltern an die BBU GmbH gewandt. Die Familie sei am 11.03.2022 zum Bescheid von einem namentlich genannten Rechtsberater der BBU GmbH beraten worden und die Bescheide seien für eine Beschwerdeeinbringung übernommen worden. Da die Familie nicht das akkurate Zustellungsdatum gewusst habe, sei vom Rechtsberater eine Zustellbestätigung per Email angefordert worden, welche aufzeige, dass die Bescheide der Familie an zwei verschiedenen Tagen zugestellt wurden. Die BF3 habe ihren Bescheid am 01.03.2022 erhalten und der Vater der BF3 habe den Bescheid am 02.03.2022 erhalten. Diese Bestätigung sei nicht ins System der BBU GmbH gespeichert worden, sondern per Email an eine weitere namentlich genannte Rechtsberaterin der BBU GmbH weitergeleitet worden, da sie die Beschwerde wegen Überlastung des zuerst beratenden Rechtsberaters übernommen habe. Die Bescheide seien ausgedruckt und an die zweite Rechtsberaterin mit Vermerk der Beschwerdefrist 30.03.2022 weitergegeben worden.
Die BBU GmbH erklärt im Wiedereinsetzungsantrag das weitere Geschehen wie folgt: „Der erste Bescheid vom Stapel war der vom Vater römisch 40 der AS. Die nun zuständige Rechtsberaterin hat beim Verfassen der Beschwerde sich an den Bescheid des Vaters gehalten, da alle anderen Familienmitglieder, sowie auch die AS keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht hatten sondern sich auf den gemeinsamen Fluchtgrund des Vaters stützen. Aufgrund der zusammenhängenden Fluchtgeschichten wurde daher von der zuständigen Rechtberaterin ein gemeinsamer Schriftsatz erhoben und die wesentlichen Informationen wurden dem Bescheid des Vaters entnommen. Die zuständige Rechtsberaterin hatte aufgrund des gleichen Datums auf den Bescheiden sowie der gleichen Wohnadresse angenommen, dass die Bescheide auch am gleichen Tag an alle Familienmitglieder zugestellt wurden. Dabei übersah sie, dass die Beschwerdefrist für die volljährige Tochter am 29.03.2022 endete, da dieser Bescheid ihr bereits am 01.03.2022 zugestellt wurde. Die Zustellbestätigung wurde von der zuständigen Rechtsberaterin im Emaileingangsordner übersehen. Am 07.04.2022 suchte die Rechtsberaterin im Posteingang nach einem eingescannten Dokument für einen anderen Klienten und stoch ihr die Zustellbestätigung der Bescheide der Familie römisch 40 ins Auge. Beim Abspeichern der Zustellbestätigung wurde ihr bewusst, dass der Bescheid der AS einen Tag früher zugestellt wurde als dem Vater der AS. Hier wurde ihr bewusst, dass sie die Beschwerde verfristet eingebracht hatte. Daher wird der gegenständliche Antrag auf Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist beantragt.“ (BF3 Seite 2-3 des Wiedereinsetzungsantrags vom 20.04.2022, OZ/1 in 2253780-2)
Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der BF3 gemäß Paragraph 33, VwGVG (W250 2253780-2) vom 20.04.2022 wird aus den folgenden Gründen stattgegeben.
Gemäß Paragraph 33, Absatz 3, VwGVG ist der Antrag auf Wiedereinsetzung binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses zu stellen. Ab Vorlage der Beschwerde ist dieser beim Verwaltungsgericht zu stellen. Da die Beschwerde bereits dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt wurde, erfolgte die Einbringung richtigerweise beim BVwG. Die Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung beginnt mit der Entdeckung des Fehlers der BBU GmbH am 07.04.2022 und erfolge daher binnen offener zweiwöchiger Frist gemäß Paragraph 33, VwGVG.
Im gegenständlichen Fall hat die BF3 die Beschwerdefrist aufgrund eines unabwendbaren bzw unvorhergesehenen Ereignisses gemäß Paragraph 33, VwGVG versäumt.
Die BF3 wird im Verfahren durch die BBU GmbH vertreten. Der angefochtene Bescheid vom 17.02.2022 wurde der BF3 am 01.03.2022 zugestellt. Gemeinsam mit ihrer Familie erhob die BF3 am 30.03.2022 Beschwerde. Die BF3 hat durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis die Frist zur Erhebung der Beschwerde versäumt. Durch eine Mitarbeiterin der Rechtsberatung BBU GmbH wurde die Zustellbestätigung des gegenständlich angefochtenen Bescheides betreffend die BF3 übersehen, und erst durch zufällige Durchsicht der Emails wurde die BBU GmbH am 07.04.2022 auf ihren Fehler aufmerksam.
Die Rechtsberaterin der BBU GmbH übernahm den Bescheid betreffend die BF3 am 14.03.2022 von ihrem Kollegen. Da es sich um eine Familie handelt (Verfahren BF1 bis BF5) und die Bescheide auch am gleichen Tag ausgestellt wurden und auch an die gleiche gemeinsame Wohnadresse der Familie zugestellt wurden, ging die Rechtsberaterin der BBU GmbH auch beim Bescheid der volljährigen Tochter (BF3) davon aus, dass dieser gemeinsam mit dem Bescheid des Vaters und der restlichen Familienmitglieder zugestellt wurde. Daher hielt sie sich an den Vermerk auf der 1. Seite des Bescheides des Vaters. Die Zustellbestätigung, die der zuerst beratende Rechtsberater per Email weiterleitete, wurde von der Rechtsberaterin der BBU GmbH übersehen. Im Zuge der Durchsicht der Emails ist ihr der Fehler erst am 07.04.2022 aufgefallen (BF3 Seite 4 des Wiedereinsetzungsantrags vom 20.04.2022, OZ/1 in 2253780-2).
In diesem Zusammenhang ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach der rechtskundige Vertreter einer Partei die ihm von einem Klienten mitgeteilten Umstände über den für den Beginn der Rechtsmittelfrist maßgebenden Zustelltag nicht ungeprüft seiner Fristvormerkung zugrunde legen darf, sondern sich über den angenommenen Zeitpunkt der Zustellung zu vergewissern hat vergleiche VwGH 03.02.2023, Ra 2023/06/0015; VwGH 27.04.2016, Ra 2016/05/0015). Genau dies ist im gegenständlichen Fall erfolgt, der zuerst zuständige Mitarbeiter der BBU GmbH hat die Zustellbestätigung per Email angefordert. Jedoch wurde danach übersehen bzw. durch einen Fehler verabsäumt die Frist der BF3, welche um einen Tag von den Fristen ihrer restlichen Familienmitglieder abweicht, richtig zu vermerken.
Selbst wenn nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einem Fremden, der das als Vollmachtserteilung zu verstehende Ersuchen um Vertretung im Sinn des BFA-VG an die mit der Besorgung der Rechtsberatung betraute juristische Person richtet oder der juristischen Person schriftlich ausdrücklich Vollmacht erteilt, das Handeln des sodann von der juristischen Person konkret mit der Durchführung seiner Vertretung betrauten Rechtsberaters wie bei jedem anderen Vertreter zuzurechnen ist (VwGH 22.02.2019, Ra 2019/01/0054) und an berufliche bzw. rechtskundige Parteienvertreter ein strengerer Maßstab anzulegen ist vergleiche VwGH 22.04.2020, Ra 2020/14/0139 bis 0141, mwN), kann in gegenständlichem Fall der Rechtsvertretung der BF3 nicht vorgeworfen werden, auffallend sorglos gehandelt und somit die Schwelle der leichten Fahrlässigkeit überschritten zu haben.
Es ist nachvollziehbar, dass die BBU GmbH davon ausging, dass der gesamten Familie die Bescheide gleichzeitig zugestellt wurden, zumal die Bescheide betreffend die BF1 bis BF5 mit selben Tag datiert sind und sich die Familie an einer Wohnadresse befindet. Es handelt sich hierbei um einen minderen Grad des Versehens. Ein solcher "minderer Grad des Versehens" (Paragraph 1332, ABGB) liegt nur dann vor, wenn es sich um leichte Fahrlässigkeit handelt, also dann, wenn ein Fehler begangen wird, den gelegentlich auch ein sorgfältiger Mensch macht. Der Wiedereinsetzungswerber darf nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Gerichten (und Behörden) und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen haben, wobei an berufliche rechtskundige Parteienvertreter ein strengerer Maßstab anzulegen ist, als an rechtsunkundige Personen vergleiche Hinweis Fasching, Zivilprozeßrecht2, Rz 580 sowie VwGH 29.11.1994, 94/05/0318).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung zu Paragraph 46, Absatz eins, VwGG ausgesprochen, dass ein Verschulden des Parteienvertreters einem Verschulden der Partei selbst gleichzusetzen ist. Ein Rechtsanwalt ist verpflichtet, insbesondere eine entsprechende Organisation des Kanzleibetriebes sowie Kontrollmechanismen, die sicherstellen, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind. Der Wiedereinsetzung schadet ein solches Versagen dann nicht, wenn dem Rechtsanwalt nur ein minderer Grad des Versehens im Sinne von leichter Fahrlässigkeit gem. Paragraph 1332, ABGB vorgeworfen werden kann. Der Wiedereinsetzungswerber oder sein Vertreter dürfen also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und zumutbare Sorgfalt nicht außer Acht gelassen haben (VwGH vom 28.03.2001, 2001/04/0005, mit Verweis auf VwGH vom 26.07.1995, 95/20/0242).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu Paragraph 35, VfGG in Verbindung mit Paragraph 39, ZPO ist das Verschulden des Bevollmächtigten eines Beschwerdeführers einem Verschulden der Partei selbst gleichzuhalten (zB VfSlg. 19.830/2013; VfGH 5.10.2021, E 3135/2021; idS auch OGH 26.6.2007, 1 Ob 47/07d; 29.11.2017, 1 Ob 213/17f). Das gilt grundsätzlich auch für bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisationen vergleiche VfGH 12.6.2019, E 673/2019 ua.; 11.12.2019, E 3342/2019; dazu, dass das Handeln des Rechtsberaters im Zuge einer Vertretung der Partei nach Paragraph 52, BFA-VG zuzurechnen ist, VwGH 22.2.2019, Ra 2019/01/0054 mwN).
Der Rechtsvertretung der BF3 ist zwar ein Verschulden an der Versäumung der Frist vorzuwerfen, das jedoch nicht über leichte Fahrlässigkeit im Sinne des Paragraph 1332, ABGB hinausgeht. Die BBU GmbH verfügt über ein Fristenmanagement und die Frist wäre eingehalten worden, wenn nicht das Verfahren der BF3 und ihrer Familie von einem Mitarbeiter der BBU GmbH an eine weitere Mitarbeiterin übergeben worden wäre und dabei das Auseinanderfallen der Fristen der BF3 und der Fristen ihrer Familienmitglieder eindeutig vermerkt worden wäre.
Das Ereignis war unabwendbar, da der Fehler auch von einem Durchschnittsmenschen objektiv begangen hätte werden können (VwGH 24.01.1996, 94/12/0179). Unvorhergesehen ist ein Ereignis dann, wenn es von der Partei tatsächlich nicht einberechnet wurde und mit zumutbarer Vorsicht auch nicht vorhergesehen werden konnte. Es liegt ein unvorhergesehenes Ereignis vor, da die BBU GmbH es tatsächlich nicht mit einberechnet hat, dass die Fristen im Verfahren der Familie (BF1 bis BF5) auseinanderliegen. Es ist nachvollziehbar, dass die BBU GmbH davon ausging, dass der gesamten Familie die Bescheide gleichzeitig zugestellt wurden, zumal die Bescheide betreffend die BF1 bis BF5 mit demselben Tag datiert sind und sich die Familie an einer Wohnadresse befindet. In Bezug darauf handelt es sich um einen minderen Grad des Versehens, dass die Mitarbeiterin swe BBU GmbH unter Bedachtnahme auf die zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht davon ausging, dass die Fristen betreffend die Verfahren der Familie ident sind.
Auch die BF3 selbst trifft jedenfalls kein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden. Für sie kam es aus den genannten Umständen zu einer unvorhergesehenen Situation.
Hinzuweisen ist zudem auf die aktuelle Rechtsprechung des VfGH vom 14.12.2023 (zu G 328-335/2022 sowie E 3608/2021-37, E 3958/2021, E 175/2022, E 1172/2022). Die Drittbeschwerdeführerin wird im Verfahren von der BBU GmbH, einer Rechtsberatungsorganisation im Sinne des Paragraph 52, BFA-VG, vertreten. Da der VfGH mit Erkenntnis vom 14.12.2023 (G 328/2022 ua.) näher bezeichnete Bestimmungen des BBU-G und des BFA-VG betreffend die Durchführung der Rechtsberatung und - vertretung durch die BBU GmbH unter anderem vor dem BVwG als verfassungswidrig aufgehoben hat, wurden die BF im Ausgangsverfahren auf Grund eines auf einer verfassungswidrigen Grundlage beruhenden Rechtsverhältnisses zur BBU GmbH vor dem BVwG vertreten. In den Ausgangsverfahren der aktuellen VfGH Entscheidung, legte der VfGH fest, dass etwaiges Fehlverhalten der BBU GmbH dem vertretenen Beschwerdeführer nicht zugerechnet werden kann, wenn ihn selbst kein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden trifft vergleiche VfGH vom 14.12.2023 zu E 3608/2021-37, E 3958/2021, E 175/2022, E 1172/2022, Rz 21). Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. Juni 2025 in Kraft.
Die BF3 hat durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis die Frist zur Erhebung der Beschwerde versäumt. Die BBU GmbH und die BF3 selbst trifft kein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden. Da auch sonst sämtliche Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen, ist dem Antrag stattzugeben.
Gemäß Paragraph 33, Absatz 4, VwGVG hat ab Vorlage der Beschwerde, über den Antrag auf Wiedereinsetzung das Verwaltungsgericht mit Beschluss zu entscheiden. Somit war gegenständlich im Spruchpunkt römisch II. A) dem Antrag der Drittbeschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit Beschluss stattzugeben. Durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung tritt gemäß Absatz 5, das Verfahren in die Lage zurück, in der es sich vor dem Eintritt der Versäumung befunden hat.
3.3. Zu römisch III. A) Stattgabe der Beschwerde der Drittbeschwerdeführerin:
Der Beschwerde der Drittbeschwerdeführerin war gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 stattzugeben.
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt vor dem Hintergrund der oben festgestellten Berichtslage zur Situation in Syrien, dass die BF3 Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist. Der im Beschwerdefall festgestellte Sachverhalt lässt erkennen, dass die behauptete Furcht der BF3 begründet ist.
Im gegenständlichen Fall handelt es sich bei der gegenüber der BF3 bestehenden Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK um eine solche aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung sowie aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, nämlich jener der Familie und jener der alleinstehenden Frauen.
3.3.1. Zur Familienangehörigkeit eines Reservedienstverweigerers und zur Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung:
Der Vater der Drittbeschwerdeführerin hat sich durch seine Ausreise aus Syrien einer Einziehung zum Reservedienst bei der syrischen Armee entzogen. Der Erstbeschwerdeführer wurde im Jahr 2013 zum Reservedienst einberufen und verweigerte diesen. Er wird seit römisch 40 wegen Fahnenflucht gesucht. Bei seiner Familie wurde bereits mehrmals nach ihm gefragt. Es ist daher mit entsprechend hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Vater der Drittbeschwerdeführerin deswegen in Syrien als Regimegegner angesehen wird und bereits in den Fokus der syrischen Behörden geraten ist.
Im Falle einer Rückkehr besteht für die Drittbeschwerdeführerin die Gefahr, in ihrem Herkunftsort römisch 40 , der im Governement Deir ez-Zor, im syrisch kontrollierten Gebiet liegt, oder bei einer Reise dorthin am Grenzkontrollposten, verhaftet und wegen ihrer eigenen Ausreise und ihrer Familienzugehörigkeit zu einem Reservedienstverweigerer verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Bei einer Rückkehr würde der Drittbeschwerdeführerin, aufgrund ihrer Ausreise und ihrer Familienzugehörigkeit zu einem Reservedienstverweigerer, eine oppositionelle politische Gesinnung zumindest unterstellen werden.
Vor diesem Hintergrund besteht auf Grundlage der vorliegenden Länderberichte mit maßgeblicher Wahrscheinlichen auch die reale Gefahr, dass die Drittbeschwerdeführerin als nahe Angehörige bei einer möglichen Rückkehr in die Heimat in das Blickfeld der syrischen Behörden geraten und ihr in weiterer Folge asylrelevante Verfolgung drohen würde. Festgestellt wird daher, dass der Drittbeschwerdeführerin in Syrien bei einer Rückkehr die reale Gefahr droht, als Tochter eines Reservedienstverweigerers von der syrischen Regierung verfolgt zu werden.
Bei der Beurteilung, ob wohlbegründete Furcht vor Verfolgung vorliegt, ist die Gesamtsituation des Asylwerbers zu berücksichtigen. Es können hierbei auch Schicksale von Familienangehörigen im Rahmen der Beurteilung der Gesamtsituation des Asylwerbers – je nach Sachlage – nicht unmaßgeblich sein vergleiche VwGH 22.01.2016, Ra 2015/20/0157; zur Asylrelevanz einer Verfolgung wegen der „bloßen“ Angehörigeneigenschaft und zur Anerkennung des Familienverbandes als „soziale Gruppe“ im Sinne der GFK s. VwGH 14.01.2003, 2001/01/0508; vergleiche auch VwGH 16.12.2010, 2007/20/0939).
Auch Familien von Deserteuren, Wehrdienstverweigerern, Reservedienstverweigerern oder (vermeintlichen) Regimegegnern bzw. Kritikern haben in Syrien mit Konsequenzen zu rechnen. Es ist daher davon auszugehen, dass die Drittbeschwerdeführerin bei einer allfälligen Rückkehr in ihre Heimat das Interesse der syrischen Behörden auf sich ziehen und damit in deren Blickfeld geraten würde. Bei einer näheren Überprüfung ihrer Personalien würde ihr von den syrischen Staatsorganen, aufgrund der Verwandtschaft zu einem Reservedienstverweigerer – ihrem Vater – und der gemeinsamen Ausreise mit diesem, eine regimekritische Haltung unterstellt werden. Ihr würde somit durch das syrische Regime eine oppositionelle Gesinnung zumindest unterstellt werden, was mit Haftstrafe und Folter bedroht ist. Der Drittbeschwerdeführerin droht Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund ihrer Familienangehörigkeit zu ihrem Vater, der in Syrien als Reservedienstverweigerer gesucht wird.
Betreffend eine Rückkehr der BF3 als Tochter eines Reservedienstverweigerers ist zu erwarten, dass die BF3 als in Opposition zum syrischen Regime stehend angesehen wird bzw. dass ihr eine solche Gesinnung zumindest unterstellt wird. Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund ist somit jedenfalls gegeben, da der Grund für die Verfolgung der BF3 wesentlich in der ihr zugeschriebenen oppositionellen politischen Gesinnung zu sehen ist.
Der Asylgrund kann hierbei ebenfalls in der Angehörigeneigenschaft zum Vater der Drittbeschwerdeführerin gesehen werden, der als Wehrpflichtverweigerer gemeinsam mit der BF3 und den weiteren Familienmitgliedern Syrien verlassen hat. Die Drittbeschwerdeführerin ist somit wegen ihres Vaters unter dem Blickwinkel des Konventionsgrundes der „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe", nämlich jener der „Familie“, mit asylrelevanter Verfolgung bedroht (zur Familie als soziale Gruppe vergleiche VwGH 14.01.2003, Ziffer 2001 /, 01 /, 0508,). Die drohende Inanspruchnahme der BF3 durch das syrische Regime wegen eines Familienangehörigen knüpft an den zuletzt genannten Konventionsgrund an; im Übrigen auch unabhängig davon, ob der Familienangehörige selbst aus Konventionsgründen verfolgt wird.
Vor dem Hintergrund der vorliegenden Länderberichte besteht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die reale Gefahr, dass die BF3 als nahe Angehörige bei einer möglichen Rückkehr in die Heimat in das Blickfeld der syrischen Behörden geraten und ihr in weiterer Folge asylrelevante Verfolgung drohen würde. Entsprechend den Länderfeststellungen gelten Wehrdienstverweigerer als Oppositionelle der syrischen Regierung, und deren Familien werden üblicherweise bedroht. Zudem gilt die Asylantragstellung im Ausland als illoyaler Akt und als Zeichen oppositioneller Gesinnung und gerade Angehörige von Menschen mit tatsächlicher oder unterstellter oppositioneller Einstellung sind der Verfolgung durch das syrische Regime ausgesetzt. Einer Verfolgung kann auch schon dann Asylrelevanz zukommen, wenn ihr Grund in der bloßen Angehörigeneigenschaft eines Asylwerbers, somit in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK, etwa jener der Familie, liegt (VwGH 14.01.2003, 2001/01/0508).
Es ist daher zu erwarten, dass die Drittbeschwerdeführerin als in Opposition zum syrischen Regime stehend angesehen wird bzw. dass ihr eine solche Gesinnung zumindest unterstellt wird. Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund ist somit jedenfalls gegeben, da der Grund für die Verfolgung der Drittbeschwerdeführerin wesentlich in der ihr zugeschriebenen oppositionellen politischen Gesinnung zu sehen ist. Die BF3 ist wegen ihres Vaters auch unter dem Blickwinkel des Konventionsgrundes der „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe", nämlich jener der „Familie“, mit asylrelevanter Verfolgung bedroht (zur Familie als soziale Gruppe vergleiche VwGH 14.01.2003, Ziffer 2001 /, 01 /, 0508,).
Entsprechend den UNHCR Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen 6. aktualisierte Fassung, März 2021, wird die tatsächliche oder vermeintliche regierungskritische Haltung einer Person häufig auch Menschen in ihrem Umfeld zugeschrieben, einschließlich Familienmitgliedern. Für Familienangehörige besteht die Gefahr, dass sie zwecks Vergeltung und/oder mit dem Ziel, tatsächliche oder vermeintliche Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen, bedroht, schikaniert, willkürlich verhaftet, gefoltert, zwangsverschleppt und zum Verschwinden gebracht werden vergleiche römisch II.1.4.8. UNHCR- Erwägungen zu Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind, Umgang mit Familienangehörigen Seite 108f.).
Für das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr ist es im Übrigen nicht maßgeblich, ob der Asylwerber wegen einer von ihm tatsächlich vertretenen oppositionellen Gesinnung verfolgt wird. Es reicht aus, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist, oder dass eine Strafe für ein Delikt so unverhältnismäßig hoch festgelegt wird, dass die Strafe nicht mehr als Maßnahme einzustufen wäre, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dient vergleiche VwGH 06.05.2004, 2002/20/0156). Davon, dass es sich bei den drohenden Repressalien um Maßnahmen zum Schutz legitimer Interessen des Staates handelt, kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden.
3.3.2. Zur Verfolgungsgefahr als alleinstehende Frau in Syrien:
Die BF3 würde als alleinstehende Frau nach Syrien zurückkehren. Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft die BF3 somit als junge Frau, deren Vater als Reservedienstverweigerer das Land verlassen hat Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in ihre (sexuelle) Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime und/ oder die syrische Gesellschaft ausgesetzt zu sein.
Die Drittbeschwerdeführerin wäre bei einer Rückkehr als alleinstehende junge Frau anzusehen, da sich ihre Kernfamilie im Ausland befindet. Sie hat in Syrien keine Familienangehörigen zu denen sie zurückkehren kann. Der Drittbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Syrien.
Die aktuell römisch 40 jährige BF3 besuchte neun Jahre lang die Schule, sie hat keinen Beruf erlernt.
Zur fallrelevanten Lage in Syrien wird festgestellt, dass alleinstehende Frauen in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Die gesellschaftliche Akzeptanz alleinstehender Frauen ist jedoch nicht mit europäischen Standards zu vergleichen. Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Unverheiratete Mädchen, Witwen und Geschiedene wurden als besonders gefährdet eingestuft vergleiche römisch II.1.4.5.1.2.).
Zu beachten ist hierbei, dass die BF3 als junge, alleinstehende Frau ohne Berufsausbildung und als Rückkehrerin sowie als Familienangehörige von einem Reservedienstverweigerer als besonders vulnerable Person anzusehen wäre.
Nach der Definition des Artikel 10, Absatz eins, Litera d, der Statusrichtlinie gilt eine Gruppe insbesondere als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird vergleiche das Urteil des EuGH vom 07.11.2013 in den verbundenen Rechtssachen C-199/12 bis C-201/12). Bei der sozialen Gruppe handelt es sich um einen Auffangtatbestand. Eine soziale Gruppe kann aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist vergleiche VwGH 03.07.2023, Ra 2023/14/0182, Rn. 23 sowie 14.08.2020, Ro 2020/14/0002).
Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung vergleiche VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350). Dabei ist zu beachten, dass nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als „Verfolgung“ im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK anzusehen ist, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen vergleiche Artikel 9, Absatz eins, Status-RL). Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295). Der VwGH stellte kürzlich erneut fest vergleiche 12.12.2023, Ro 2023/14/0005 sowie VwGH 11.12.2023), dass sich das BVwG mit den einzelnen Voraussetzungen der StatusRL für die Annahme einer sozialen Gruppe auseinander setzen und Feststellungen zu den Merkmalen und zur Identität einer solchen Gruppe sowie zum Kausalzusammenhang mit der Verfolgung treffen muss (Rz 13 f).
Unter Berücksichtigung der Judikatur zur sozialen Gruppe ist der BF3 der Status einer Asylberechtigten zuzuerkennen. Die BF3 verfügt über ein Merkmal (ledig, unverheiratet, ohne männlichen Schutz und ohne familiäre Unterstützung in Syrien), wobei sie dahingehend nicht gezwungen werden kann, darauf zu verzichten (z.B. durch eine ([Zwangs-]Heirat). Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konfliktes einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt. Der syrische Staat ist nach den Länderfeststellungen nicht willens und/oder nicht in der Lage, die BF3 als alleinstehende Frau vor Übergriffen zu schützen bzw. gehen diese Übergriffe – wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt – auch vom Staat selbst/den Regimekräften aus. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien besteht für die BF3 daher eine asylrelevante Verfolgungsgefahr, weil sie als alleinstehende Frau Gefahr läuft, maßgeblich verfolgt zu werden. So geht aus den Länderfeststellungen klar hervor, dass alleinstehende Frauen in Syrien keinen sozialen Schutz haben und daher häufig von (sexueller) Gewalt betroffen sind.
Zudem ist auch an der notwendigen Kausalität nicht zu zweifeln, da die BF3 glaubhaft darlegen konnte, dass sie bei einer Rückkehr ohne männlichen Schutz wäre bzw. keine familiäre Unterstützung hätte und sich aus den Länderfeststellungen eindeutig ergibt, dass alleinstehende Frauen in Syrien einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die BF3 aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen verfolgt zu werden, außerhalb Syriens befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren.
Die BF3 würde ohne ihre Eltern und Geschwister nach Syrien zurückkehren und es befinden sich keine Familienangehörigen der BF3 mehr in Syrien zu denen sie zurückkehren könnte und von denen sie Unterstützung bekommen kann, weshalb sie bei einer Rückkehr als alleinstehend anzusehen ist. Der BF3 droht als alleinstehender Frau in Syrien, selbst in Damaskus, eine Verfolgung, die sich alleine darauf richtet, dass die BF3 eben alleinstehend und Frau ist. Diese Verfolgung droht auch bzw. insbesondere durch Soldaten des Regimes, weil die BF3 als alleinstehende Frau keinen sozialen Schutz erfahren würde. Der BF3 droht somit bei einer Rückkehr Gefahr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Syrien. Zu beachten ist hierbei, dass die BF3 aus islamischer Sicht als junge, alleinstehende Frau und als Rückkehrerin als besonders vulnerable Person anzusehen wäre.
Insgesamt erreicht die Diskriminierung von Frauen ein Niveau, das, insbesondere im Lichte der drohenden Strafen, eine Schwere erreicht, die einer asylrelevanten Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen gleichkommt. Dies insbesondere unter Beachtung des Einzelfalles der BF3 die als besonders vulnerable Person anzusehen ist, weil sie als junge, alleinstehende unverheiratete Frau ohne Familienangehörige in Syrien und als Verwandte eines Reservedienstverweigerers nach einer illegalen Ausreise zurückkehren würde. Angesichts dessen kann der BF3 nicht entgegengehalten werden, dass ihre Furcht vor Verfolgung nicht wohlbegründet wäre. Vielmehr würde sich eine Person in der Situation der BF3 fürchten verfolgt zu werden.
Auch UNHCR sieht Frauen (insbesondere Frauen und Mädchen ohne echte familiäre Unterstützung, einschließlich Witwen und geschiedener Frauen) als eine schützenswerte Risikogruppe an vergleiche UNHCR römisch II.1.4.8. zu Frauen und Mädchen mit bestimmten Profilen oder in speziellen Situationen, Seite 175 f. sowie etwa VwGH 16.01.2008, 2006/19/0182, mwN). Der VwGH hielt kürzlich vergleiche VwGH 11.12.2023, Ra 2022/19/0269, Rz 8) erneut die Bedeutung der UNHCR-Erwägungen in diesem Zusammenhang fest.
Frauen, die in ihrer (erweiterten) Familie keine männliche Unterstützung erhalten, einschließlich alleinstehender Frauen, Witwen und geschiedener Frauen, werden oft von ihren Familien und Gemeinschaften stigmatisiert und sind Berichten zufolge besonders gefährdet, Opfer von Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. UNHCR ist der Auffassung, dass Frauen, die unter die nachstehenden Kategorien fallen, wahrscheinlich internationalen Schutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion: a) Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt, häusliche Gewalt oder Gewalt im Rahmen von „Ehrendelikten“ überlebt haben oder gefährdet sind, derartiger Gewalt zum Opfer zu fallen; b) Frauen und Mädchen, die Zwangs- und/oder Kinderehen überlebt haben oder gefährdet sind, eine Zwangs- und/oder Kinderehe eingehen zu müssen; c) Frauen und Mädchen, die Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung und Zwangsprostitution überlebt haben oder bei denen ein entsprechendes Risiko besteht; d) Frauen und Mädchen ohne echte familiäre Unterstützung, einschließlich Witwen und geschiedener Frauen. Grundsätzlich bietet der Staat keinen Schutz vor diesen Arten der Verfolgung, wenn die Verfolger nichtstaatliche Akteure sind vergleiche römisch II.1.4.10. Aus den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen 6. aktualisierte Fassung, März 2021 Seite 175 f.).
Die BF3 entspricht als Frau ohne echte familiäre Unterstützung diesem Risikoprofil.
Sowohl aus den oben zitierten Länderberichten als auch aus den UNHCR-Richtlinien geht hervor, dass die BF3 aus einer Kumulation von Gründen bei einer Rückkehr nach Syrien eine objektiv nachvollziehbare und somit wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aufgrund der ihr unterstellten oppositionellen Gesinnung und aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe haben müsste. Insbesondere als alleinstehende Frau, der bei einer Rückkehr Misshandlung und Gewalt droht und die aus einem von der Opposition kontrollierten Gebiet stammt, aufgrund ihrer illegalen Ausreise und Asylantragstellung im Ausland sowie der Familienangehörigeneigenschaft zu ihrem Vater, der ein gesuchter Reservedienstverweigerer ist. Im Falle der BF3 besteht somit ein mehrfacher Konnex zu den in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Gründen.
Die Furcht vor Verfolgung der BF3 ist daher unter Beachtung ihrer individuellen Situation und aller sie betreffenden Risikofaktoren wohl begründet.
Die Gefährdung der BF3 geht betreffend die Gefahr ihrer Verfolgung aufgrund der Familienzugehörigkeit zu ihrem Vater, der ein gesuchter Reservedienstverweigerer ist, vorrangig vom syrischen Regime, somit vom Staat selbst aus. Betreffend die Gefahr der BF3 bei einer Rückkehr als junge, alleinstehende Frau geht die Gefährdung sowohl vom Staat als auch von der Gesellschaft aus, wobei das syrische Regime nicht gewillt ist, die BF3 vor drohender Gewalt zu schützen.
Entsprechend der aktuellen Länderinformationen ist die gegen die BF3 geschilderte Bedrohung auch aktuell.
3.3.3. Schon die rechtskräftige Gewährung von subsidiärem Schutz durch die belangte Behörde steht mangels einer diesbezüglichen relevanten Änderung der Rechts- oder Tatsachenlage der Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative entgegen (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054). Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für die BF3 somit nicht, da nicht angenommen werden kann, dass sie in bestimmten Landesteilen Syriens sicher wäre. Sie könnte über Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints in ganz Syrien, vor allem bei einer Einreise, durch das syrische Regime verhaftet und für ihre Ausreise und die Reservepflichtverweigerung ihres Vaters festgenommen und bestraft werden.
Ein Abweisungsgrund gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 liegt im konkreten Fall nicht vor, da der Drittbeschwerdeführerin – wie gezeigt – keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht und diese keinen Asylausschlussgrund gesetzt hat.
Der Beschwerde war daher stattzugeben und der Drittbeschwerdeführerin gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Diese Entscheidung war gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 mit der Feststellung zu verbinden, dass der Drittbeschwerdeführerin damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.4. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 gestellt wurden, wodurch insbesondere die Paragraphen 2, Absatz eins, Ziffer 15 und 3 Absatz 4, AsylG 2005 in der Fassung des Bundesgesetzes Bundesgesetzblatt Teil eins, 24 aus 2016, („Asyl auf Zeit“) gemäß Paragraph 75, Absatz 24, leg. cit. im konkreten Fall bereits Anwendung finden.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 4, AsylG 2005 kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu. Diese Aufenthaltsberechtigung verlängert sich kraft Gesetzes nach Ablauf dieser Zeit auf eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Aberkennungsverfahrens nicht vorliegen oder ein Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Dementsprechend verfügen die Beschwerdeführer nun über eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung.
Den Beschwerdeführern kommt damit eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigte gemäß Paragraph 3, Absatz 4, AsylG 2005 kraft Gesetzes unmittelbar zu, ohne dass die Erteilung einer solchen Aufenthaltsberechtigung zu erfolgen hätte vergleiche VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373).
3.5. Zu römisch eins., römisch II. und römisch III. B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG) hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
ECLI:AT:BVWG:2024:W250.2253780.1.00