Bundesverwaltungsgericht
12.01.2024
W272 2275439-1
W272 2275439-1/24E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Alois BRAUNSTEIN, MBA, als Einzelrichter über die Beschwerde der römisch 40 , geb. römisch 40 , Staatsangehörigkeit: RUSSISCHE FÖDERATION, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.06.2023, ZI. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.09.2023 und 13.12.2023, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1.1. Die Beschwerdeführerin (in Folge: BF), eine Staatsangehörige der Russischen Föderation reiste mit dem Flugzeug legal mit einem österreichischen Visum im Februar 2022 von Russland nach Deutschland und stellte in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 09.01.2023 wurde die BF von Deutschland nach Österreich überstellt und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Bei der Erstbefragung am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die BF befragt zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sie ursprünglich aus der Ukraine komme und bei einer Rückkehr nach Russland dürfe sie ihre Angehörigen in der Ukraine nicht mehr kontaktieren. Die russischen Behörden wissen, dass die BF gegen das Militärsystem und den Krieg sei und ihr drohe eine Verhaftung.
1.3. Die BF wurde am 18.04.2023 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Dabei machte die BF ausführliche Angaben zu ihrer Person sowie ihren Familienangehörigen und die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes und legte ihren russischen Reisepass, ihre Geburtsurkunde, ihre Aufenthaltsberechtigungskarte für die Ukraine sowie ihr Arbeitsbuch und ihre Schul- und Universitätsabschlüsse vor. Außerdem gab sie an, dass sie Asthma habe und dagegen Medikamente nehme sowie in ärztlicher Behandlung sei. In Berlin sei sie auch wegen Depressionen bei einem Psychiater gewesen und nehme Medikamente. Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die BF an, dass sie am 22.02.2022 zur Unterstützung beim Wohnungsumzug zu ihrer Tochter nach Berlin/Deutschland gereist sei. Als sie zwei Tage später erfahren habe, dass Russland die Ukraine angegriffen habe, existiere für sie Russland nicht mehr und sie könne sich nicht vorstellen, wieder dort zu leben. Danach habe sie einen Asylantrag gestellt, weil sie ihr Visum in Deutschland nicht verlängern habe können, aber habe nicht gewusst, dass sie den Antrag in Österreich hätte stellen müssen, weil sie in Besitz eines österreichischen Visums sei. Im Falle einer Rückkehr nach Russland befürchte die BF eine Verfolgung und Diskriminierung aufgrund ihrer pro-ukrainischen Einstellung. Sie habe Angst aus ethnischen Gründen verfolgt zu werden, weil sie der Volksgruppe der Ukrainer angehöre.
Der von der BF vorgelegte Original russische Reisepass wurde vom Bundesamt einbehalten. Die vom Bundesamt herangezogenen Länderinformationen wurden der BF per Mail vorab zugesandt und eine Frist zur Stellungnahme gewährt.
1.4. Das Bundesamt wies den Antrag der BF auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 14.06.2023 (zugestellt am 21.06.2023) sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.), als auch bezüglich des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt römisch II.) ab. Unter einem erteilte es ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt römisch III.), erließ eine Rückkehrentscheidung gegen sie (Spruchpunkt römisch IV.) und stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.). Es räumte ihr eine Frist zur freiwilligen Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ein (Spruchpunkt römisch VI.).
Das Bundesamt führte begründend aus, dass der BF nicht gelungen sei, eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen und konnte nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre. Nach eingehender Auseinandersetzung mit dem Vorbringen habe das Bundesamt festgehalten, dass die BF keine asylrelevanten Gründe vorgebracht habe. Die Ausreise der BF aus der Russischen Föderation sei nicht auf eine persönliche Verfolgung oder Bedrohung zurückzuführen. Sie habe Russland lediglich verlassen, um ihrer in Deutschland lebenden Tochter bei einem Wohnungsumzug zu helfen. Die vorgebrachten Rückkehrbefürchtungen der BF können vom Bundesamt auch nicht nachvollzogen werden, weil diese rein spekulativ und als Schutzbehauptung anzusehen seien. Die BF sei ihren Angaben zufolge hinsichtlich ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zu den Ukrainern in der Russischen Föderation nie und zu keiner Zeit von jemanden verfolgt oder bedroht worden. Vielmehr habe die BF in Moskau ganz normal leben und arbeiten können und sei ihr vom Passamt in Moskau ein Reisepass ausgestellt worden und habe sie Russland legal per Flug verlassen. Zusammenfassend seien somit dem Vorbringen der BF keine asylrelevanten Gründe zu entnehmen.
1.5. Gegen diesen Bescheid erhob die BF mit Schriftsatz vom 17.07.2023 (eingebracht am 17.07.2023) fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Darin brachte sie im Wesentlichen vor, dass die BF befürchte, aufgrund ihrer klaren oppositionellen Einstellung zum Ukraine-Krieg (die BF vertrete eine klare pro-ukrainische Einstellung), gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden sowie vom russischen Staat angeordnete behördliche oder polizeiliche Straf-oder Haftmaßnahmen über sich ergehen lassen zu müsse. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und befassen sich nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen der BF. So ergehe aus den Länderinformationen, dass wer sich offen gegen den Krieg in der Ukraine ausspreche, müsse mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Auch mehrere veröffentlichte Entscheidungen des russischen Verfassungsgerichtes seien weitere Belege für die massive Einschränkung der Meinungsfreiheit. Die belangte Behörde habe ihre Ermittlungspflicht nicht voll wahrgenommen und das Verfahren mit groben Mängel belastet. Da die BF ständigen Kontakt mit ihren Verwandten in der Ukraine pflege und dabei ständig der Ukraine-Krieg ihr Gesprächsthema präge, sei es nicht ausgeschlossen, dass sie beim Telefonieren von Passanten oder Nachbarn gehört werde und von diesen bei der Polizei denunziert werde. Sie besitze auch Telegramm und verfolge mehrere oppositionelle Gruppierungen und halte sich so auf dem Laufenden. Somit bestehe eine erhebliche und maßgebliche Gefahr für die BF. Sie könne keinen normalen Leben in der Russischen Föderation nachgehen und müsste ständig ihre Nachrichten überprüfen, um sicherzustellen das keinerlei Symbole, die sie mit der Ukraine in Verbindung bringen, zu finden seien.
1.6. Das Bundesamt legte dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 18.07.2023 die Beschwerde samt zugehörigem Verwaltungsakt vor.
1.7. Mit Eingabe vom 02.08.2023 legte die BF ihre ukrainische Aufenthaltskarte in Original vor (OZ 3).
Am 01.09.2023 übermittelte die Staatendokumentation im Voraus mit der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Ukraine: Bescheinigung für Auslandsukrainer vom 30.08.2023, einen Teil der beantworteten Fragen (OZ 9).
1.8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.09.2023 eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Russisch durch, an der die BF und ihr Rechtsanwalt als gewillkürter Vertreter teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm entschuldigt nicht teil (OZ 8). Die BF legte im Rahmen der mündlichen Verhandlung medizinische Unterlagen und zwei Fotos von einer Demonstration in Deutschland vor (Beilage A und B).
1.9. Mit Eingabe vom 11.10.2023 übermittelte die BF eine Stellungnahme mit beigelegten Kopien der russlandkritischen Telegrambeiträge der BF in der Gruppe „ römisch 40 “ sowie ihrer Kommentare auf Instagram (auch Beilage 10-18 in der mündlichen Verhandlung am 13.12.2023). Die BF habe damit öffentlich die russische Staatsführung und insbesondere den Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine kritisiert und drohe ihr daher im Falle einer Rückkehr nach Russland aus diesem Grund asylrelevante Verfolgung. Außerdem legte die BF einen Screenshot der E-Mail an das ukrainische Konsulat in Wien betreffend eine Anfrage zum Thema des Erwerbs der ukrainischen Staatsbürgerschaft sowie einen Screenshot einer Website einer Rechtsanwaltskanzlei in Kiew, die auf Staatsbürgerschaftsrecht spezialisiert sei, bei. Außerdem wurde auf weiterführende Länderinformationen verwiesen. Der BF sei es unmöglich und unzumutbar nach Russland zurückzukehren. Sie würde dort in allen Lebensbereichen diskriminiert, benachteiligt und ausgegrenzt werden und habe bereits durch den Verlust ihres langjährigen Jobs in einer russischen Bank wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ethnie der Ukrainerinnen asylrelevante Verfolgung erlebt.
Mit Eingabe vom 30.11.2023 gab der Rechtsanwalt der BF die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses bekannt (OZ 17). Am selben Tag legte die BBU GmbH eine Vertagungsbitte der anberaumten mündlichen Verhandlung vor (OZ 18), welche in Folge vom 04.12.2023 auf den 13.12.2023 verlegt wurde.
1.10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.12.2023 eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Russisch durch, an der die BF und ihre Rechtsberaterin als gewillkürte Vertreterin sowie ein Vertreter der belangten Behörde teilnahmen. Die BF legte im Rahmen der mündlichen Verhandlung weitere Screenshots vor, die darlegen sollen, dass die BF in der Telegramgruppe „ römisch 40 “ aktiv tätig sei (Beilage 1-8 und Beilage 10-18 bereits mit Stellungnahme vom 11.10.2023 vorgelegt) sowie verschiedene Zeitungsberichte zur Lage von oppositionellen Kritikern in der Russischen Föderation vor (Beilage 9 samt sechs Ausdrucke der Artikel, welche zum Teil in russischer oder ukrainische Sprache sind).
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Fotos, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person der BF:
1.1.1. Die Identität der BF steht fest. Sie ist volljährig, Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der ukrainischen Volksgruppe und bekennt sich zum christlich-orthodoxen Glauben. Sie ist verwitwet und hat eine Tochter. Die BF spricht sowohl Ukrainisch als auch Russisch auf muttersprachlichen Niveau und hat zudem Englisch- und geringe Deutschkenntnisse.
1.1.2. Die BF ist am römisch 40 in der Ukraine, in römisch 40 , im Bezirk römisch 40 , im Gebiet römisch 40 in der Ukraine geboren und lebte dort ca. 14 Jahre bis sie mit ihrer Mutter in die Russische Föderation aufgrund einer Erkrankung der BF verzog und bis zu ihrer Ausreise, zuletzt in Moskau lebte. Sie besuchte bis zur 7. Klasse die Grundschule in der Ukraine und danach vom 14.-17. Lebensjahr die Schule in der Russischen Föderation im Gebiet römisch 40 . Im Anschluss absolvierte die BF ein Pädagogikstudium in römisch 40 sowie einen Management- und Marketinglehrgang an der „ römisch 40 “ und machte ein Jahr ein Studium für Finanzen und Kredit. Die BF lebte seit den 1980er Jahren (von 1983 bis 1985 in römisch 40 , danach bis 1986 in Moskau, danach bis 1992 in römisch 40 ) durchgehend in der Russischen Föderation und von 1992 bis 2022 in Moskau, wo sie insgesamt 26 Jahre, von 1994 bis 2020, in einer Bank (die letzte Bezeichnung war römisch 40 ) erwerbstätig war sowie in einer Eigentumswohnung lebte. Die BF hatte verschiedene Leitungsfunktionen in der Bank inne. Die näheren Gründe, warum das Dienstverhältnis gekündigt wurde, konnten nicht festgestellt werden. Nach 2020 war die BF für mehrere Monate bei zwei weiteren Banken im Bereich der Informationstechnologie tätig und kündigte das Dienstverhältnis.
Die BF war verheiratet, ihr Ehemann verstarb im Jahr 2018. Er war Russe und zuletzt in Pension; zuvor war er Geschäftsmann.
Ihre Tochter, römisch 40 (geboren römisch 40 ), studierte von 2017 bis 2021 in Österreich und lebt und arbeitet nunmehr seit Ende 2021 in Deutschland, Berlin. Sie verfügt über einen Aufenthaltstitel mit einer Arbeitsbeschäftigung in Deutschland und arbeitet als Architektin.
Die BF reiste im Dezember 2021 nach Österreich und Deutschland, um ihre Tochter zu besuchen. Um ihre Tochter beim Wohnungsumzug in Deutschland zu unterstützten reiste auch die BF am 22.02.2022 legal mit ihrem österreichischen Schengenvisum C (Multi), welches bis zu einer Gesamtaufenthaltsdauer von 90 Tagen innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen berechtig, nach Berlin/Deutschland ein.
Außerdem verfügt die BF über einen ukrainischen Aufenthaltstitel (Statusgewährung „Auslandsukrainer“) ausgestellt am 16.03.2021, gültig bis 16.03.2031. Dabei handelt es sich nicht um die ukrainische Staatsbürgerschaft. Die BF zeigte auch nur geringe Ambitionen die ukrainische Staatsangehörigkeit zu erlangen. Dieser Ausweis wird für Personen, die in der Ukraine geboren sind oder ukrainische Eltern haben bei Konsulaten der Ukraine im Ausland ausgestellt. Die BF hat den Ausweis im Oktober 2020 beim ukrainischen Konsulat in Moskau beantragt. Wobei Auslandsukrainer, mit ein paar Ausnahmen wie zB Aktiv- und Passivwahlrecht, dieselben Rechte und Freiheiten wie ukrainische Staatsbürger haben. Die BF reiste regelmäßig seit 1982 bis 2013 einmal oder zweimal im Jahr, insbesondere im Sommer auf Besuch in die Ukraine, wo ihre Familie in römisch 40 eine Wohnung hat.
1.1.3. Die BF hat bis auf Verwandte ihres verstorbenen Ehemannes keine engen Familienangehörigen in der Russischen Föderation. Ihr Ehemann starb 2018 sowie ihre Mutter 2021 und ihre Tochter lebt in Deutschland. Ihre Schwägerin gratulierte sie zum Geburtstag, sonst hat die BF kaum Kontakt zu den Verwandten ihres verstorbenen Ehegatten. Darüber hinaus hat sie zwei Freundinnen in Russland, zu denen sie den Kontakt auch von Österreich über soziale Medien regelmäßig aufrecht erhält. In der Ukraine lebt noch eine Cousine der BF im Dorf römisch 40 sowie eine weitere Cousine in der Stadt römisch 40 und ein Cousin in der Stadt römisch 40 zu denen die BF ebenfalls in Kontakt steht.
1.1.4. Die BF hat seit 20 Jahren Asthma und ist in ärztlicher Behandlung. Sie nimmt gegen Asthma zweimal täglich das Medikament römisch 40 , welches sie auch bereits in Russland genommen hat. Außerdem nimmt sie täglich das Medikament römisch 40 aufgrund einer Depression und Hormontabletten ( römisch 40 ). Die BF macht keine Psychotherapie. Seit 14 Jahren hat die BF auch chronische Gastritis und hat Gallensteine, weswegen sie aktuell nicht in medizinischer Behandlung ist. Darüber hinaus ist die BF gesund und leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohenden Krankheit.
1.1.5. Die BF ist arbeitsfähig und in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
1.2.1. Die BF war und ist keiner konkreten und individuell gegen sie gerichteten Verfolgung oder Bedrohung wegen dem Angriffskrieg in der Ukraine ausgesetzt. Die BF ist in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung. Sie hat sich nicht politisch oder journalistisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland. Die BF hat die Russische Föderation weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr verlassen. Sie reiste nach Deutschland, um ihre Tochter zu besuchen und verblieb in Folge des Angriffskrieges in Österreich und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2.2. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht der BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch russische Behörden oder durch andere Personen. Die BF postete seit dem gegenständlichen Beschwerdeverfahren, hingegen nie in Russland, unter einem Akronym passiv Posts der „ römisch 40 “ und nahm einmal im Februar 2022 in Deutschland mit ihrer Tochter bei einer Demonstration gegen den Ukraine-Krieg teil. Darüber hinaus ist die BF nicht öffentlichkeitswirksam regimekritisch oder exilpolitisch tätig, verfasste selbst keine kritischen Äußerungen, sondern leitete in einem Telegramm Chat Informationen zum Ukraine-Krieg weiter oder besuchte auf ihrem Instagram-Account oder auf Youtube regimekritische Seiten oder Beiträge unter Verwendung eines Pseydonyms. In dem sozialen Netzwerk Odnoklaskni ist die BF mit dem kompletten Namen registriert, nutzt diesen ständig und hat dort keine oppositionelle Gesinnung eingetragen oder in sonstigen Weise kund getan. Die BF wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer geringen politischen Tätigkeit und nicht nach außen tretenden oder inneren politischen Einstellung von den russischen Behörden im Falle einer Rückkehr, bei der Einreise nicht bedroht oder verfolgt. Der BF droht ebenfalls keine Bedrohung oder Verfolgung aufgrund ihrer Geburt in der Ukraine, dem Aufenthalt dort in den ersten 14 Lebensjahren oder der Verwandtschaft in der Ukraine. Der BF wird keine politische oppositionelle Einstellung unterstellt werden.
1.2.3. Der BF droht in der Russischen Föderation weder eine Zwangsheirat noch eine Verfolgung wegen ihrer Eigenschaft als Frau noch wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden oder verwitweten Frauen. Ihr droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation auch keine Verfolgung wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zu den Ukrainerinnen und/oder ihrer Religionszugehörigkeit.
1.2.4. Ferner droht der BF im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation wegen ihres Antrags auf internationalen Schutz in Österreich und/oder wegen ihres regelmäßigen Aufenthalts außerhalb der Russische Föderation auch in der Ukraine weder Verfolgung noch sonst psychische oder physische Gewalt.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat:
1.3.1. Die BF kann nach Moskau oder auch an einen anderen Ort in der Russischen Föderation zB. nach St. Petersburg zurückkehren. Die BF kann im Falle ihrer Rückkehr wieder in ihrer Eigentumswohnung leben, wie sie es vor ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation tat.
1.3.2. Sie lebte den Hauptteil ihres Lebens vor der Einreise nach Deutschland und Österreich in der Russischen Föderation in Moskau oder auch in römisch 40 oder römisch 40 und spricht perfekt Russisch sowie Ukrainisch. Sie verfügt bis auf eine Schwägerin (Schwester ihres verstorbenen Ehemannes) und Freundinnen über kein familiäres Netz in ihrem Heimatstaat. Sie schloss in römisch 40 ihrem Herkunftsstaat die Grundschule ab und absolvierte ein Hochschulstudium sowie weitere Hochschullehrgänge und war bis zu ihrer Ausreise als Bankangestellte mit Leitungsfunktion erwerbstätig. Sie bestritt ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit. Die BF kann nach der Rückkehr ihren Lebensunterhalt so wie bisher mit Erwerbsarbeit oder den Erhalt einer Pension oder Leistungen aus dem staatlichen Sozialsystem und Unterstützung ihrer Tochter von Deutschland aus, sichern und wird in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es wird ihr nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen. Sie läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.
Die BF ist mit den russischen Gepflogenheiten vertraut und wurde mit diesen sozialisiert.
1.3.3. Im Falle der Abschiebung in den Herkunftsstaat ist die BF nicht in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.
Kontrollen wegen ihrer Asthmaerkrankung sind in der Russischen Föderation möglich, ebenso ist eine ärztliche und medikamentöse Behandlung von psychischen Problemen möglich. Die BF stammt aus der Stadt Moskau, wo die medizinische Versorgung im Vergleich zum Nordkaukasus oder am Land besser ist und allgemein gewährleistet ist. Die BF leidet an keiner lebensbedrohenden physischen oder psychischen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankung und es besteht bei der Überstellung keine Gefahr, dass sie in einen lebensbedrohenden Zustand gerät oder sich ihr Zustand lebensgefährlich verschlechtert.
1.4. Zur Situation der BF in Österreich:
1.4.1. Die BF reiste legal mit einem österreichischen Schengenvisum C (Multi) am 22.02.2023 nach Deutschland, um ihre Tochter zu besuche und beim Wohnungsumzug zu helfen. Die BF kehrte nicht retour in ihr Heimatland, sondern stellte in Deutschland am 26.04.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 09.01.2023 wurde die BF von Deutschland nach Österreich überstellt, wo sie den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Das Bundesamt wies den Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 14.06.2023 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten, als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab. Unter einem erteilte es keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die BF eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung der BF in die Russische Föderation zulässig ist. Dagegen erhob die BF rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde. Seit Zulassung dieses Verfahrens am 09.01.2023 verfügt sie über ein vorläufiges Aufenthaltsrecht im Rahmen des Asylverfahrens. Außerdem verfügte sie über ein Schengenvisum C, „Multi“, für Österreich gültig für eine Aufenthaltsdauer von 90 Tagen, von 08.12.2021 bis 07.12.2026.
1.4.2. Die BF hat geringe Deutschkenntnisse und besuchte einen Deutschkurs in der Flüchtlingsunterkunft. Zu einem offiziellen Deutschkurs wurde die BF, trotz Ablegung eines Einstufungstestes noch nicht zugelassen. Sonstige Aus- und Fortbildungen absolvierte die BF nicht.
Die BF hat keine Familienangehörigen in Österreich und bis auf freundschaftliche Kontakte zu ukrainischen Flüchtlinge im Rahmen der Grundversorgungsunterkunft oder zu ihrer Deutschkurslehrerin hat sie keinen Kontakt zu Österreichern. Die BF lebt in keiner Lebensgemeinschaft. Sie hat eine ukrainische Bekannte in römisch 40 .
Die BF lebt im Bundesgebiet in einem Quartier der Grundversorgung in römisch 40 und bestreitet ihren Lebensunterhalt durch Leistungen aus der Grundversorgung. Sie ist nicht selbsterhaltungsfähig, nicht Mitglied in einem Verein und ist nicht ehrenamtlich tätig.
1.4.3. Die BF ist keine begünstigte Drittstaatsangehörige und es kommt ihr kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet war nie geduldet. Sie war weder Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen noch sonst Opfer von Gewalt.
1.5. Die allgemeine Lage in der Russischen Föderation stellt sich im Übrigen wie folgt dar:
Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, Version 13 vom 08.11.2023; EUAA Länderbericht zur medizinischen Versorgung vom 29.09.2022; EUAA Bericht vom 03.10.2023: Behandlung von politischer Opposition und abweichender Meinung; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Ukraine: Bescheinigung für Auslandukrainer vom 30.08.2023; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Russischen Föderation: Behandlung von Personen mit ukrainischen Hintergrund vom 24.10.2023 und Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Russischen Föderation: Zuerkennung der ukrainischen Staatsbürgerschaft vom 24.10.2023, ausgegangen:
Politische Lage
Russland ist eine Präsidialrepublik mit föderativem Staatsaufbau (AA 22.2.2023a). Das Regierungssystem Russlands wird als undemokratisch (autokratisch) bzw. autoritär eingestuft (BS 2022; vergleiche EIU 2.2.2023, UG 3.2023, FH 24.5.2023, Russland-Analysen 20.6.2022). Die im Verfassungsartikel 10 vorgesehene Gewaltenteilung (Duma 6.10.2022; vergleiche AA 22.2.2023b) ist de facto stark eingeschränkt (AA 22.2.2023b). Das politische System ist zentral auf den Präsidenten ausgerichtet (AA 28.9.2022; vergleiche FH 2023, Russland-Analysen 20.6.2022), was durch den Begriff der Machtvertikale ausgedrückt wird (SWP 19.4.2022). Gemäß Artikel 83 der Verfassung der Russischen Föderation ernennt der Staatspräsident (nach Bestätigung durch die Staatsduma) den Regierungsvorsitzenden und entlässt ihn. Der Präsident leitet den Sicherheitsrat der Russischen Föderation und schlägt dem Föderationsrat die neuen Mitglieder der Höchstgerichte vor. Laut Verfassungsartikel 129 werden der Generalstaatsanwalt sowie die Staatsanwälte der Subjekte der Russischen Föderation nach Beratungen mit dem Föderationsrat vom russischen Präsidenten ernannt und von diesem entlassen. Darüber hinaus ernennt und entlässt der Präsident die Vertreter im Föderationsrat, bringt Gesetzesentwürfe ein, löst die Staatsduma auf und ruft den Kriegszustand aus (Artikel 83-84, 87). Der Präsident bestimmt die grundlegende Ausrichtung der Innen- und Außenpolitik (Verfassungsartikel 80) (Duma 6.10.2022). Seit dem Jahr 2000 wird das Präsidentenamt (mit einer Unterbrechung von 2008 bis 2012) von Wladimir Putin bekleidet (BS 2022). Der Präsident der Russischen Föderation wird laut Verfassungsartikel 81 für eine Amtszeit von sechs Jahren von den Bürgern direkt gewählt (Duma 6.10.2022). Die letzte Präsidentschaftswahl fand am 18.3.2018 statt. Ein echter Wettbewerb fehlte. Auf kritische Stimmen wurde Druck ausgeübt (OSCE 6.6.2018). Putins einflussreicher Rivale Alexej Nawalnyj durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Nawalnyj war zuvor in einem als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden (FH 2023). Es wurden Transparenzmängel bei der Präsidentenwahl 2018 festgestellt (OSCE 6.6.2018). Die Geldquellen für Putins Wahlkampagne waren undurchsichtig (FH 2023). Auch kam es zu Unregelmäßigkeiten hinsichtlich der Einhaltung des Wahlgeheimnisses. Die Wahlbeteiligung lag laut der Zentralen Wahlkommission bei 67,47 %. Als Sieger der Präsidentenwahl 2018 ging Putin mit 76,69 % der abgegebenen Stimmen hervor (OSCE 6.6.2018). Regierungsvorsitzender ist Michail Mischustin (PM o.D.).
Die Verfassung der Russischen Föderation wurde per Referendum am 12.12.1993 angenommen. Am 1.7.2020 fand eine Volksabstimmung über eine Verfassungsreform statt (RI 4.7.2020). Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65 % der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78 % für und mehr als 21 % gegen die Verfassungsänderungen (KAS 7.2020; vergleiche BPB 2.7.2020). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Putin, für zwei weitere Amtsperioden als Präsident zu kandidieren. Diese Regelung gilt nur für Putin und nicht für andere zukünftige Präsidenten (FH 2023). Unter anderem erhält durch die Verfassungsreform (2020) das russische Recht Vorrang vor internationalem Recht. Weitere Verfassungsänderungen betreffen beispielsweise die Betonung traditioneller Familienwerte sowie die Definition Russlands als Sozialstaat. Dies verleiht der Verfassung einen sozial-konservativen Anstrich. Die Verfassungsreform und der Verlauf der Volksabstimmung sorgten für Kritik (KAS 7.2020; vergleiche BPB 2.7.2020, RI 4.7.2020).
Das Parlament (Föderalversammlung) besteht gemäß Verfassungsartikel 94 und 95 aus zwei Kammern, dem Föderationsrat und der Staatsduma (Duma 6.10.2022). Dem Parlament fehlt es an Unabhängigkeit von der Exekutive (USDOS 20.3.2023). Gemäß Verfassungsartikel 95 werden die Mitglieder des Föderationsrates für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt (mit Ausnahme der auf Lebenszeit ernannten Mitglieder). Zu den Kompetenzen des Föderationsrats gehören laut Verfassungsartikel 102: Bestätigung des präsidentiellen Erlasses über die Verhängung des Ausnahme- und Kriegszustands; sowie Amtsenthebung des Präsidenten. Gemäß Verfassungsartikel 95 und 96 werden die 450 Duma-Abgeordneten für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt (Duma 6.10.2022). Es gibt eine Fünfprozenthürde (OSCE 25.6.2021; vergleiche RN 6.10.2021). Die Hälfte der Duma-Mitglieder wird durch Verhältniswahlsystem (Parteilisten), die andere Hälfte durch Einerwahlkreise (Direktmandat) gewählt (FH 2023; vergleiche Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Die letzten Dumawahlen fanden im September 2021 statt und waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 28.2.2022; vergleiche SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Im Allgemeinen ist Wahlbetrug weitverbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BS 2022). Die Wahlbeteiligung bei der letzten Dumawahl betrug 52 % (FH 2023; vergleiche Russland-Analysen 1.10.2021, RN 6.10.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 28.2.2022). Die Partei Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament, welche allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet werden (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vergleiche Russland-Analysen 1.10.2021). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021). Neue politische Parteien können in der Regel nur dann registriert werden, wenn sie die Unterstützung der Machthaber im Kreml genießen (AA 28.9.2022). Aktuell sieht die Sitzverteilung der Parteien in der Staatsduma folgendermaßen aus (Duma o.D.):
● Einiges Russland (Edinaja Rossija): 322 Sitze (Parteivorsitzender Wladimir Wasilew)
● Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF): 57 Sitze (Parteivorsitzender Gennadij Sjuganow)
● sozialistische Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' (Sprawedliwaja Rossija - Patrioty - Sa Prawdu): 28 Sitze (Parteivorsitzender Sergej Mironow)
● Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR): 23 Sitze (Parteivorsitzender Leonid Sluzkij)
● Neue Leute (Nowye Ljudi): 15 Sitze (Parteivorsitzender Aleksej Netschaew)
● Zwei Duma-Abgeordnete gehören keiner Fraktion an.
● Drei Abgeordnetenmandate sind derzeit unbesetzt (Duma o.D.).
Die LDPR ist antiliberal-nationalistisch-rechtspopulistisch ausgerichtet (SWP 14.10.2021; vergleiche KAS 21.9.2021). Die Partei Neue Leute wurde im Jahr 2020 gegründet und ist eine liberale Mitte-Rechts-Partei. Die Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' vertritt sozialpatriotische Inhalte (KAS 21.9.2021).
Die föderale Struktur der Russischen Föderation ist in der Verfassung festgeschrieben. Laut Verfassungsartikel 66 kann der Status von Föderationssubjekten in beiderseitigem Einvernehmen zwischen der Russischen Föderation und dem betreffenden Föderationssubjekt im Einklang mit dem föderalen Verfassungsgesetz geändert werden (Duma 6.10.2022). Russland besteht aus 83 Föderationssubjekten. Föderationssubjekte verfügen über eine eigene Legislative und Exekutive, sind aber weitgehend vom föderalen Zentrum abhängig (AA 22.2.2023b). Es besteht ein Trend der zunehmenden Zentralisierung des russischen Staates (ZOIS 3.11.2021; vergleiche FH 24.5.2023). Moskau sichert sich die Unterstützung der regionalen Eliten durch gezielte Zugeständnisse (ZOIS 3.11.2021).
Die 2014 von Russland vorgenommene Annexion der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol ist international nicht anerkannt (AA 22.2.2023b). Am 21.2.2022 wurden die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk von Putin als unabhängig anerkannt. Am 24.2.2022 startete Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine (Eur-Rat 16.8.2022). Im September 2022 fanden in den beiden ukrainischen 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie in den ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja 'Referenden' über den Beitritt zur Russischen Föderation statt. Laut den offiziellen Wahlergebnissen stimmten in der 'Volksrepublik' Donezk 99,23 % der Wähler für einen Beitritt, in der 'Volksrepublik' Luhansk 98,42 %, in Cherson 87,05 % und in Saporischschja 93,11 % (Lenta 27.9.2022). Die 'Referenden' in den vier von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig bezeichnet und international nicht anerkannt (UN 27.9.2022; vergleiche Standard 30.9.2022). Die Abstimmung fand nicht nur in Wahllokalen statt, sondern prorussische De-facto-Behörden gingen außerdem mit den Wahlurnen und in Begleitung von Soldaten von Tür zu Tür (UN 27.9.2022). Die 'Stimmabgaben' erfolgten unter Zwang und Zeitdruck (Rat der EU 28.9.2022). Demokratische Mindeststandards wurden nicht eingehalten (Standard 30.9.2022). Die 'Referenden' missachteten die ukrainische Verfassung sowie Gesetze und spiegeln nicht den Willen der Bevölkerung wider (UN 27.9.2022). Nach dem Ende der Scheinreferenden baten die Anführer der prorussischen Separatisten in den ukrainischen Regionen Luhansk und Cherson den russischen Präsidenten Putin um Annexion dieser Regionen (NDR/T 28.9.2022). Am 29.9.2022 wurde die 'staatliche Souveränität' und 'Unabhängigkeit' der Regionen Cherson und Saporischschja von Putin per Erlass anerkannt (RI 30.9.2022a; vergleiche RI 30.9.2022b). Im Kreml in Moskau fand am 30.9.2022 die Unterzeichnung der Verträge zum Russland-Beitritt der 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie der Regionen Saporischschja und Cherson statt (Kreml 30.9.2022). Am 3. und 4.10.2022 stimmten die beiden russischen Parlamentskammern der Annexion zu (Tass 4.10.2022). International wird die Annexion dieser vier ukrainischen Gebiete nicht anerkannt (Standard 30.9.2022).
Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (UN-OHCHR 16.3.2023; vergleiche HRW 21.4.2022). Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die rechtswidrige Annexion einiger ukrainischer Regionen hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, nämlich: Wirtschaftssanktionen; individuelle Sanktionen gegen unter anderem Wladimir Putin, den Außenminister Sergej Lawrow und Mitglieder der Staatsduma sowie des Nationalen Sicherheitsrats. Außerdem wurde das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt (Eur-Rat 12.5.2023). Auch die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt haben umfassende Sanktionen gegen Russland eingeführt (WKO 3.2023).
Sicherheitslage
Aufgrund der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine ist die Lage in Russland zunehmend unberechenbar. Am 23. und 24.6.2023 kam es im Südwesten Russlands zu einer bewaffneten Auseinandersetzung (EDA 27.6.2023). Am Morgen des 24.6.2023 übernahmen Angehörige der privaten paramilitärischen Organisation 'Gruppe Wagner' unter der Führung von Ewgenij Prigoschin die Kontrolle über zentrale Einrichtungen der russischen Streitkräfte in der Stadt Rostow am Don (BAMF 26.6.2023). Vorausgegangen waren ein seit Monaten andauernder Machtkampf zwischen dem Chef des Militärunternehmens und Verteidigungsminister Schojgu (BAMF 26.6.2023; vergleiche FA 12.5.2023, ISW 12.3.2023). Auch erfolgten unbestätigten Angaben zufolge Angriffe der regulären Streitkräfte auf ein Feldlager der Söldnertruppe. Im Tagesverlauf besetzte die Wagner-Gruppe weitere Militäreinrichtungen in den Regionen Rostow und Woronesch und rückte weitgehend ungehindert mit mehreren Tausend Kämpfern in Richtung Moskau vor - mit dem erklärten Ziel, die Militärführung um Verteidigungsminister Schojgu und Generalstabschef Gerasimow zu stürzen. Als Reaktion wurden in der Hauptstadt Truppen zusammengezogen, Kontrollpunkte eingerichtet und das Anti-Terror-Regime ausgerufen, welches den Sicherheitskräften eine weitreichende Kommunikationsüberwachung, Personenkontrollen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit erlaubt. Auf Vermittlung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko erklärte sich Prigoschin am Abend des 24.6.2023, mutmaßlich aufgrund des Ausbleibens erwarteter Unterstützung von Militär und Machteliten, zum Rückzug seiner Truppen bereit. Im Gegenzug sicherte die Regierung den am Aufstand beteiligten Söldnern Straffreiheit und Prigoschin persönlich darüber hinaus einen freien Abzug nach Belarus zu (BAMF 26.6.2023). Gemäß Berichten schoss die Wagner-Gruppe am 24.6.2023 Militärhubschrauber sowie ein Flugzeug ab (MOD 29.6.2023). Mittlerweile hat sich die Sicherheitslage vordergründig beruhigt, bleibt aber angespannt (EDA 27.6.2023). Gemäß einer Mitteilung des Nationalen Anti-Terrorismus-Komitees vom 26.6.2023 wurde das Anti-Terror-Regime in Moskau und Woronesch wieder aufgehoben (NAK 26.6.2023). Die Führungsriege der Wagner-Gruppe, darunter Ewgenij Prigoschin, kam bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Moskau am 23.8.2023 ums Leben (BBC 27.8.2023).
Aufgrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine kommt es vermehrt zu Sicherheitsvorfällen in russischen Grenzregionen. Vor allem die Grenzregionen Belgorod, Rostow, Brjansk und Kursk sind mit täglichem Beschuss und Drohnenangriffen konfrontiert (ACLED 8.6.2023; vergleiche ACLED 5.10.2023). In mehreren russischen Regionen nahe der Ukraine wurde der Notstand ausgerufen (AA 12.9.2023). Das Kriegsrecht wurde in Russland bislang nicht ausgerufen (Lenta 25.10.2023). Stattdessen spricht Russland nur von einer 'militärischen Spezialoperation' in der Ukraine (Kreml 9.6.2023; vergleiche Kreml 20.10.2023).
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern gezeigt haben, kann es in Russland (auch außerhalb der Kaukasus-Region) zu Anschlägen kommen. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 12.9.2023). In der Stadt Moskau und ihrer Umgebung kommt es häufig zu Drohnenangriffen (ACLED 7.9.2023; vergleiche Interfax o.D., AA 12.9.2023), was mehrmals zu Schließungen des Moskauer Luftraums sowie zur Schließung von Flughäfen führte (ACLED 7.9.2023). Mehrere russische Regionen, darunter auch Moskau, wurden in einem abgestuften System in erhöhte Alarmbereitschaft gesetzt. Diese Anordnungen geben den dortigen lokalen Behörden und Sicherheitskräften Befugnisse zu eingreifenden Sicherheitsmaßnahmen, Kontrollen, Durchsuchungen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit (AA 12.9.2023). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 27.6.2023).
Nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan haben Russland und Tadschikistan ihr Militärbündnis gestärkt und gemeinsame Übungen an der tadschikisch-afghanischen Grenze abgehalten, um die Grenzsicherheit zu erhöhen (USDOS 27.2.2023). Gemäß dem aktuellen Globalen Terrorismus-Index (2023), welcher die Einwirkung von Terrorismus je nach Land misst, belegt Russland den 45. von insgesamt 93 Rängen. Dies bedeutet, Russland befindet sich auf niedrigem Niveau, was den Einfluss von Terrorismus betrifft (IEP 3.2023).
Die folgende Karte stellt sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-20.10.2023 dar, wobei hier zwei Kategorien angezeigt werden: Kampfhandlungen (gelb) und Explosionen/'remote violence' (rot). Die dunkelgrauen Punkte beinhalten sowohl Kämpfe als auch Explosionen/'remote violence'. Wie auf der Karte zu sehen ist, konzentrieren sich die sicherheitsrelevanten Ereignisse auf westliche Teile Russlands (ACLED o.D.):
Sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-20.10.2023
ACLED o.D. [Quellenbeschreibung siehe Kapitel LänderspezifischeAnmerkungen]
Folter und unmenschliche Behandlung
Folter, Gewalt sowie unmenschliche bzw. grausame oder erniedrigende Behandlung und Strafen sind in Russland auf Basis des Artikel 21, der Verfassung verboten (Duma 6.10.2022). Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde von Russland 1987 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll hat Russland nicht unterzeichnet (UN-OHCHR o.D.). Die Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen durch systematische Gewaltanwendung wird gemäß Paragraph 117, Strafgesetzbuch mit Freiheitsbeschränkung von bis zu drei Jahren, Zwangsarbeit von bis zu drei Jahren oder Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren bestraft. Wird dieselbe Tat beispielsweise von mehreren Personen oder mit besonderer Grausamkeit begangen, ist das Opfer eine minderjährige Person oder wird die Tat zum Beispiel aus politischen, ideologischen oder religiösen Motiven begangen, hat dies Freiheitsentzug von 3 - 7 Jahren zur Folge. Gemäß Paragraph 286, Strafgesetzbuch führt die Anwendung von Folter im Rahmen der Überschreitung von Amtsbefugnissen zu Freiheitsentzug von 4 - 12 Jahren (RF 28.4.2023).
Wehrdienst und Rekrutierungen
Allgemeine Menschenrechtslage, Ombudsperson, Menschenhandel, Flüchtlinge
Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert gleiche Rechte und Freiheiten für alle Personen, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Nationalität, Sprache, Herkunft, sozialem Status, Wohnort, Religionszugehörigkeit usw. Gemäß Verfassungsartikel 55 dürfen die Rechte und Freiheiten der Menschen durch die föderale Gesetzgebung nur insoweit eingeschränkt werden, als dies aus folgenden Gründen notwendig ist: zum Schutz der Verfassung, der Moral, Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer Personen, zur Gewährleistung der Landesverteidigung sowie der nationalen Sicherheit (Duma 6.10.2022). Die Grundrechte werden in Russland zwar in der Verfassung garantiert, es besteht jedoch ein deutlicher Widerspruch zwischen verfassungsrechtlichen Normen und der Rechtswirklichkeit (AA 28.9.2022). Russland hat unter anderem folgende internationale Menschenrechtsverträge ratifiziert (UN-OHCHR o.D.):
● Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
● Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
● Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
● Internationales Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung
● Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
● Kinderrechtskonvention
● Behindertenrechtskonvention
Aufgrund von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine stimmte die UN-Generalversammlung im April 2022 für den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat (UN 7.4.2022). Die Menschenrechtssituation in Russland hat sich im Laufe der vergangenen Jahre sukzessive verschlechtert (EEAS 19.4.2022). Russland wird von der NGO Freedom House als unfrei in Bezug auf politische Rechte und bürgerliche Freiheiten eingestuft (FH 2023). Freiheitsrechte wurden durch die russische Regierung immer weiter eingeschränkt (SWP 19.4.2022). Um die politische Macht und Stabilität zu stärken, untergräbt Russlands politische Führung oft Bürger- und Menschenrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit (BS 2022). Die Regierung geht unerbittlich gegen Menschenrechtsorganisationen vor (FH 2023). Zahlreiche davon wurden aufgelöst oder werden in ihren Tätigkeiten beträchtlich behindert (UN-HRC 1.12.2022). 2022 wurde Memorial, eine der ältesten russischen Menschenrechtsorganisationen, auf Grundlage einer Gerichtsentscheidung aufgelöst (ÖB 30.6.2022; vergleiche Memorial o.D.). Die Behörden nutzen neben der Gesetzgebung über 'ausländische Agenten' und 'unerwünschte Organisationen' verschiedene weitere Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger unter Druck zu setzen. Im November 2022 schloss Präsident Putin mehrere prominente Menschenrechtsverteidiger aus dem Menschenrechtsrat des Präsidenten aus und ersetzte sie durch regierungsfreundliche Personen (AI 28.3.2023). Menschenrechtsanwälte geraten zunehmend unter Druck (ÖB 30.6.2022). Mehreren Menschenrechtsanwälten wurde die Anwaltslizenz entzogen, ohne ihnen ein Beschwerderecht einzuräumen (EUAA 16.12.2022b).
Es ist gesetzlich vorgesehen, dass Personen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen klagen können. Jedoch sind diese Mechanismen oft nicht effektiv (USDOS 20.3.2023). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Seit 16.9.2022 ist Russland keine Vertragspartei der vom Europarat geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mehr (Europarat 16.9.2022; vergleiche Europarat o.D.b). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt die Einhaltung der EMRK sicher. Bürger können sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, mit Beschwerden direkt an ihn wenden (Europarat o.D.). Seit 16.9.2022 haben russische Bürger kein Recht mehr, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen (SWP 19.4.2022).
Ombudsperson
Die Ombudsperson für Menschenrechte wird laut Artikel 103 der Verfassung der Russischen Föderation vom Parlament (Duma) ernannt und entlassen (Duma 6.10.2022). Zu den Aufgaben der Ombudsperson für Menschenrechte gehören die Kontrolle der Tätigkeiten staatlicher Organe sowie die Bearbeitung von Beschwerden, welche von Bürgern der Russischen Föderation, Staatenlosen oder anderen Personen eingereicht werden (OPMR o.D.a). Jährlich erstellt die Ombudsperson einen Tätigkeitsbericht (OPMR o.D.b). Die Befugnisse der Ombudsperson für Menschenrechte gelten als begrenzt (USDOS 20.3.2023; vergleiche OSCE 22.9.2022). In allen Regionen gibt es außerdem regionale Ombudspersonen, deren Wirksamkeit sehr variiert. Örtliche Behörden untergraben oft die Unabhängigkeit der Ombudspersonen (USDOS 20.3.2023).
Menschenhandel
Gemäß Paragraph 127 Punkt eins, des Strafgesetzbuches zieht Menschenhandel eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren nach sich (RF 28.4.2023). Das Strafgesetzbuch definiert den Begriff Menschenhandelsopfer nicht. Die meisten der an Behörden gemeldeten Menschenhandelsfälle werden von der Regierung nicht als Menschenhandel anerkannt, sondern anderen Gesetzesparagrafen zugeschrieben. Dadurch wird das Ausmaß des Problems verschleiert. Regierungsbeamte und die Polizei lassen sich regelmäßig bestechen, um Menschenhandelsfälle zu vertuschen. Die Regierung zeigt kaum Bemühungen zur Unterstützung von Menschenhandelsopfern. Auch existieren keine nationale Strategie und kein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von Menschenhandel. Die Regierung hat Aktivitäten mehrerer zivilgesellschaftlicher Gruppen, die gegen Menschenhandel ankämpfen, unterbunden (USDOS 29.7.2022). Menschenhandelsopfer werden regelmäßig inhaftiert, abgeschoben und gerichtlich verfolgt (FH 2023). Die am weitesten verbreitete Form von Menschenhandel in Russland ist der Handel mit Arbeitskräften. Sexhandel kommt vor (USDOS 29.7.2022). Gesetze, die sich gegen Zwangsarbeit richten, werden von der Regierung nicht wirksam umgesetzt (USDOS 20.3.2023). In der Russischen Föderation gibt es Schutzunterkünfte für Opfer von Menschenhandel. Für gewöhnlich werden diese Unterkünfte von örtlichen NGOs verwaltet (IOM 12.2022).
Flüchtlinge
Gesetzlich ist Asylgewährung vorgesehen. Personen, welche nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, wird von der Regierung das Recht auf temporären Schutz eingeräumt. In der Praxis wird dieses Prinzip von Behörden nicht konsequent umgesetzt (USDOS 20.3.2023). Für ausländische Flüchtlinge ist es de facto schwierig, einen endgültigen oder zeitlich begrenzten Flüchtlingsschutz zu erlangen (AA 28.9.2022). Die Anerkennungsrate von Asylwerbern, die nicht aus der Ukraine stammen, ist niedrig (UN-HRC 1.12.2022). Mit Stand Oktober 2022 besaßen ca. 93.700 Personen einen temporären Schutzstatus. Es mangelt an klaren Verfahrensregeln. Der Non-Refoulement-Begriff ist gesetzlich nicht ausdrücklich festgeschrieben (USDOS 20.3.2023). Für Personen mit besonderen Bedürfnissen sind keine besonderen Verfahrensmaßnahmen vorgesehen. Personen, welchen Asyl gewährt wurde, sind mit Integrationsschwierigkeiten konfrontiert (UN-HRC 1.12.2022).
Gemäß Berichten sind viele Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland in sogenannten Filtrationslagern interniert oder sonstigen Bewegungseinschränkungen ausgesetzt. Es wird über Fälle von Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt und Erniedrigung ukrainischer Staatsangehöriger sowie über Zwangsverschleppung ukrainischer Kinder nach Russland berichtet (AA 28.9.2022). Die russischen Behörden legen ukrainischen Flüchtlingen die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft nahe bzw. setzen sie diesbezüglich teilweise auch unter Druck (AI 28.3.2023). Mit Stand 3.10.2022 waren in der Russischen Föderation 2.852.395 Flüchtlinge aus der Ukraine registriert (UNHCR o.D.).
Meinungs- und Pressefreiheit, Internetfreiheit
Artikel 29 der Verfassung garantiert Meinungsfreiheit und verbietet Zensur (Duma 6.10.2022). Derzeit herrscht eine Kriegszensur (SWP 19.4.2022). Presse- und Meinungsfreiheit sind eingeschränkt (BS 2022; vergleiche UN-HRC 1.12.2022), insbesondere in Bezug auf kriegskritische Aussagen (UN-HRC 1.12.2022). Wer sich offen gegen den Krieg in der Ukraine ausspricht, muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen (AI 28.3.2023). Journalisten dürfen gemäß einer Entscheidung der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor ausschließlich Informationen der russischen Regierung verwenden, wenn sie über den Ukraine-Krieg berichten. Ansonsten drohen Geldstrafen und Blockierung von Webseiten (UN-HRC 1.12.2022). Die Verwendung der Begriffe Krieg, Angriff und Invasion im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist verboten. Stattdessen ist der Begriff der 'militärischen Spezialoperation' zu benutzen (SWP 19.4.2022). Die Diskreditierung der Armee kann gemäß Paragraph 280 Punkt 3, des Strafgesetzbuches zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren führen. Bei öffentlicher Verbreitung von Falschinformationen über die Armee droht eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren (Paragraph 207 Punkt 3, des Strafgesetzbuches) (RF 28.4.2023). Die Maßnahmen haben zur Folge, dass jegliche abweichende Meinung und alternative Informationen über den bewaffneten Konflikt in der Ukraine unterdrückt werden (FNSF 11.2022).
Die Situation unabhängiger Medien und Journalisten hat sich beträchtlich verschlechtert (EEAS 19.4.2022). Immer weniger Medien in Russland sind tatsächlich unabhängig von staatlicher Kontrolle tätig (FNSF 11.2022). Die Regierung subventioniert staatliche Medien mit mehreren Milliarden Rubel jährlich, was den Wettbewerb für unabhängige Medien erschwert (FH 18.10.2022). Laut Berichten betreiben unabhängige Medien in großem Stil Selbstzensur (USDOS 20.3.2023). Es gibt Berichte über Schikanierung von Journalisten, darunter strafrechtliche Verfolgung, Hausdurchsuchungen, Festnahmen, physische Angriffe und Drohungen, auch gegen Familienangehörige von Journalisten (UN-HRC 1.12.2022). Es herrscht diesbezüglich Straflosigkeit (AI 4.2023). Seit Kriegsbeginn wurde gegen Journalisten und Medienmitarbeiter, darunter Blogger, eine beträchtliche Anzahl strafrechtlicher Anklagen erhoben. Beinahe alle führenden unabhängigen Medien haben mittlerweile ihren Sitz ins Ausland verlegt. Nach Entziehung der Drucklizenz entzog der Oberste Gerichtshof im September 2022 der unabhängigen Nowaja Gaseta ['Neue Zeitung'] die Online-Medienlizenz. Die Nowaja Gaseta hatte alle ihre Aktivitäten in Russland bereits im März 2022 ausgesetzt. Mehrere Journalisten der Nowaja Gaseta gründeten einen Online-Vertrieb in Europa, welcher in Russland ebenfalls blockiert ist (EUAA 16.12.2022b). Mit Echo Moskwy wurde der einzig verbliebene landesweite und vom Kreml unabhängige Rundfunksender, mit TV Doschd der letzte unabhängige Fernsehkanal gesperrt (AA 28.9.2022).
Zahlreiche Journalisten und unabhängige Medien wurden als 'ausländische Agenten' und 'unerwünscht' eingestuft, darunter Meduza, Bellingcat und Kaukasischer Knoten (FCDO 12.2022) [zur Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' siehe Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten]. Als 'ausländische Agenten' werden laut den gesetzlichen Vorgaben Personen oder Vereinigungen eingestuft, welche ausländische Unterstützung erhalten oder in irgendeiner anderen Form unter ausländischem Einfluss stehen (Paragraph eins, des Gesetzes 'Über die Überwachung der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen'). 'Ausländische Agenten' müssen sich laut Paragraph 7, des oben genannten Gesetzes in ein Register eintragen lassen. Die Entscheidung der Behörde über die Aufnahme ins Register kann gerichtlich angefochten werden (RF 28.12.2022). Mit der Eintragung als 'ausländischer Agent' gehen umfassende Kennzeichnungs‐ und Berichtspflichten sowie zahlreiche Einschränkungen einher (ÖB 30.6.2022). Gemäß Paragraph 330 Punkt eins, des Strafgesetzbuches drohen bei Verstößen gegen diese Verpflichtungen u. a. Geld- oder Haftstrafen von bis zu fünf Jahren (RF 28.4.2023; vergleiche EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu 'ausländischen Agenten' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022) und trägt zur Selbstzensur bei (FH 18.10.2022).
Die gesamte Internet-Kommunikation wird von der Regierung überwacht (USDOS 20.3.2023). Ende Februar 2022 sperrten die Behörden viele Nachrichtenwebseiten, darunter BBC, Deutsche Welle, Bellingcat, Meduza, Mediazona und Radio Free Europe/Radio Liberty (FH 18.10.2022). Soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und Twitter wurden ebenfalls gesperrt. Der Facebook-Konzern Meta wurde als extremistische Organisation eingestuft (SWP 19.4.2022). Die Anti-Extremismus-Gesetzgebung wird häufig dazu verwendet, die Meinungsfreiheit zu beschränken (UN-HRC 1.12.2022). Über verschiedene Online-Plattformen, welche sich beispielsweise weigerten, bestimmte Inhalte zu entfernen, verhängte die russische Regierung sehr hohe Geldstrafen. Webseiteneigentümer sind berechtigt, Entscheidungen gerichtlich anzufechten. Dafür sind aber oft nur kurze Zeiträume vorgesehen (FH 18.10.2022).
Auf der Rangliste der Pressefreiheit 2023 von Reporter ohne Grenzen rangiert Russland gegenwärtig auf Platz 164 von 180 Staaten/Gebietseinheiten. Russland befindet sich zwischen Bangladesch und der Türkei und verschlechterte sich um neun Plätze gegenüber der Reihung des Vorjahres (RWB o.D.).
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition
Versammlungsfreiheit
Gemäß Artikel 31 der Verfassung haben Bürger der Russischen Föderation das Recht, friedliche Versammlungen, Demonstrationen und Mahnwachen abzuhalten (Duma 6.10.2022). Öffentliche Kundgebungen müssen genehmigt werden (SWP 19.4.2022). Es existieren zahlreiche Berichte über Einschränkungen der Versammlungsfreiheit (UN-HRC 1.12.2022; vergleiche BS 2022, AI 28.3.2023, USDOS 20.3.2023). Die russischen Behörden nehmen COVID als Vorwand, um öffentliche Aktivistenversammlungen pauschal zu verbieten. Regierungsfreundliche Massenveranstaltungen sind von diesem Verbot nicht betroffen (HRW 12.1.2023). Behörden weigern sich, friedliche Proteste zu erlauben, vor allem Anti-Kriegsproteste. Strafverfolgungsbehörden reagieren mit Gewalt auf friedliche Versammlungen (UN-HRC 1.12.2022). Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine fanden in verschiedenen Teilen Russlands Massenproteste dagegen statt. Die Proteste führten zu Massenverhaftungen und Polizeigewalt. Die massenhafte Einberufung von Reservisten (Mobilisierung) führte im September 2022 zu Protestwellen in verschiedenen russischen Regionen, insbesondere in Gebieten, wo ethnische Minderheiten beheimatet sind, beispielsweise in Dagestan (HRW 12.1.2023). Die Anti-Mobilisierungsproteste wurden regelmäßig mit Polizeigewalt sowie willkürlichen Massenverhaftungen von Aktivisten, Demonstranten und Journalisten beantwortet (EUAA 16.12.2022b). In Dagestan hielten die Massenproteste einige Tage an. Sie wurden von den Behörden gewaltsam niedergeschlagen (HRW 12.1.2023; vergleiche KR 17.2.2023), und es kam zu Massenverhaftungen (KU 17.2.2023). Im Zuge der Proteste in Dagestan wurden mehrere Strafverfahren gegen Protestteilnehmer wegen angeblicher Gewalt gegen die Polizei eröffnet (HRW 12.1.2023; vergleiche KR 17.2.2023). Seit 24.2.2022 fanden in Russland 19.673 Festnahmen von Kriegsgegnern statt (OWD-Info o.D.). Wegen der repressiven Gesetzgebung sind Demonstrationen in Russland kaum noch möglich (SWP 19.4.2022; vergleiche AA 28.9.2022). Behörden setzen Gesichtserkennungstechnologien ein, um Demonstranten zu identifizieren und zu verhaften (FH 2023; vergleiche AI 4.2023).
Vereinigungsfreiheit
Artikel 30 der Verfassung garantiert Vereinigungsfreiheit, darunter das Recht auf Gründung von Gewerkschaften (Duma 6.10.2022). Die Vereinigungsfreiheit wird von der Regierung beträchtlich eingeschränkt (USDOS 20.3.2023). Gewerkschaftsrechte sind gesetzlich geschützt, jedoch in der Praxis beschränkt. Streiks und Arbeiterproteste finden beispielsweise in der Autoindustrie statt, aber gewerkschaftliche Diskriminierung und Repressalien sind alltäglich. Arbeitgeber ignorieren oft Tarifverhandlungsrechte. Die größte Arbeitervereinigung arbeitet eng mit dem Kreml zusammen. Unabhängige Vereinigungen sind in mehreren Industriesektoren und Regionen aktiv (FH 2023).
Die Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' erlaubt dem Generalstaatsanwalt, ausländische oder internationale Organisationen als 'unerwünscht' zu verbieten, wenn sie die Verfassungsordnung, Verteidigungsfähigkeit oder Staatssicherheit Russlands bedrohen. Das Strafmaß reicht von Geldstrafen bis hin zu sechsjährigen Haftstrafen. Auch ausländische oder internationale NGOs sowie im Ausland lebende russische Bürger werden als 'unerwünscht' eingestuft, wenn sie mit 'unerwünschten' Organisationen im Zusammenhang stehen (EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu ‘unerwünschten Organisationen' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022). Gesetze wie 'unerwünschte Organisationen' und 'ausländische Agenten' schränken die Vereinigungsfreiheit beträchtlich ein (UN-HRC 1.12.2022) [zur Gesetzgebung über 'ausländische Agenten' siehe Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].
Opposition
Die Tätigkeiten von Oppositionsparteien werden eingeschränkt (UN-HRC 1.12.2022). Oppositionsvertreter sehen sich unter massivem Druck durch die Behörden, einschließlich Strafverfolgung mit drohenden Haftstrafen. In Ermittlungsverfahren und vor Gericht können sie nicht auf eine faire Behandlung bzw. einen fairen Prozess vertrauen (AA 28.9.2022). Durch überschießende Anwendung der Anti-Extremismus-Gesetzgebung werden politische Gegner behindert (UN-HRC 1.12.2022). Die letzten Duma- bzw. Parlamentswahlen im September 2021 waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 24.2.2022; vergleiche SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 24.2.2022). Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament. Sie werden allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vergleiche Russland-Analysen 1.10.2021). Neue politische Parteien können in der Regel nur dann registriert werden, wenn sie die Unterstützung der Machthaber im Kreml genießen (AA 28.9.2022; vergleiche BS 2022). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021).
Alexej Nawalnyj wäre im August 2020 beinahe einem Mordanschlag zum Opfer gefallen und ist seit Jänner 2021 inhaftiert. Seine politischen Organisationen sind zerschlagen (SWP 19.4.2022). Die Gerichtsverfahren, welche zur Inhaftierung des Oppositionsführers Nawalnyj führten, boten keine Garantien für ein faires Verfahren. Gemäß Berichten ist die strafrechtliche Verfolgung Nawalnyjs politisch motiviert. Die Haftbedingungen fügen Nawalnyjs Gesundheit beträchtlichen Schaden zu (UN-HRC 1.12.2022). Im März 2022 wurde Nawalnyjs Haftstrafe um neun Jahre verlängert, und im Juni 2022 wurde Nawalnyj ins Hochsicherheitsgefängnis IK-6 in der Region Wladimir verlegt. In diesem Gefängnis wird laut verschiedenen Berichten Folter angewandt. Mitarbeiter Nawalnyjs haben Russland verlassen oder wurden verhaftet. Seit Kriegsbeginn wurden auch weitere prominente Oppositionspolitiker verhaftet und gerichtlich verfolgt, darunter Wladimir Kara-Mursa, Ewgenij Rojsman, Ilja Jaschin und Leonid Gosman (EUAA 16.12.2022b).
Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppe auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen. Oppositionelle genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022).
Haftbedingungen
Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien (ähnelt dem freien Vollzug), Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien mit allgemeinem, strengem oder besonderem Regime (hier sitzt der überwiegende Anteil der Inhaftierten ein), oder in einem Gefängnis untergebracht (AA 28.9.2022). Das Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) des Europarats stattete in der Vergangenheit der Russischen Föderation regelmäßig Besuche ab (Europarat 6.10.2021). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Die Behörden gestatten Vertretern öffentlicher Aufsichtskommissionen, Gefängnisse regelmäßig zu besuchen, um die Haftbedingungen zu überwachen. Es gibt in fast allen Regionen öffentliche Aufsichtskommissionen. Menschenrechtsaktivisten äußern sich besorgt darüber, dass einige Kommissionsmitglieder behördennahe Personen sowie Personen mit Erfahrung im Gesetzesvollzug sind. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben haben Mitglieder von Aufsichtskommissionen das Recht, Insassen in Haftanstalten und Gefängnissen mit ihrer schriftlichen Genehmigung auf Video aufzunehmen und zu fotografieren. Kommissionsmitglieder dürfen außerdem Luftproben sammeln, andere Umweltinspektionen sowie auch Sicherheitsbewertungen durchführen und psychiatrische Einrichtungen in Gefängnissen betreten. Gefangene dürfen Beschwerden bei öffentlichen Aufsichtskommissionen oder beim Büro der Ombudsperson für Menschenrechte einreichen. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen wird diese Möglichkeit aber oft nicht genutzt. Laut Aktivisten riskieren nur Gefangene, die glauben, keine andere Option zu haben, die Folgen einer Beschwerde. Beschwerden, welche bei den Aufsichtskommissionen eingehen, konzentrieren sich häufig auf kleinere persönliche Anliegen (USDOS 20.3.2023).
Die Haftbedingungen entsprechen zum Teil nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. Die Probleme in den Haftanstalten reichen von Misshandlungen, fehlenden Resozialisierungsmaßnahmen bis hin zu mangelnder medizinischer Versorgung (ÖB 30.6.2022) und Nahrungsmittelknappheit (USDOS 20.3.2023). In Haftanstalten kommt es zu Folter (UN-HRC 1.12.2022; vergleiche AI 4.2023). Die dafür Verantwortlichen werden selten strafrechtlich verfolgt (AI 28.3.2023). Es kommt vor, dass Journalisten und Aktivisten, die über Folter in Gefängnissen berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023). Die Behörden verbieten Inhaftierten, insbesondere Andersdenkenden, häufig den Kontakt zur Außenwelt oder verlegen sie willkürlich in Strafzellen, um Druck auf sie auszuüben (AI 28.3.2023). Für politische Gefangene gestalten sich die Haftbedingungen gemäß Berichten besonders hart. Sie sind zusätzlichen Strafmaßnahmen ausgesetzt, beispielsweise Verbringung in Einzelhaft oder in die Psychiatrie. Mit Stand Dezember 2022 gab es laut der Menschenrechtsorganisation Memorial 488 politische Gefangene im Land. Gemäß Memorial ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen (USDOS 20.3.2023). Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in russischen Haftanstalten entsprechen vielfach nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Inhaftierten erfolgt regelmäßig in Schlafsälen. Die Lage in den Strafkolonien ist sehr unterschiedlich und reicht von Strafkolonien mit annehmbaren Haftbedingungen bis hin zu solchen, die laut NGOs als 'Folterkolonien' berüchtigt sind. Die Haftbedingungen in den Untersuchungshaftanstalten sind besser als in den Strafkolonien. Trotz rechtlich vorgesehener Höchstdauer verlängerten Gerichte die Haft in Einzelfällen über Jahre (AA 28.9.2022).
Für Haftanstalten verantwortlich ist das Justizministerium. Mit Stand 1.1.2023 gab es in Russland insgesamt 433.006 Inhaftierte. 25,5 % der Inhaftierten sind Untersuchungshäftlinge, 8,9 % der Inhaftierten sind weiblich, und 0,2 % der Inhaftierten sind minderjährig. In Summe gibt es 872 Haftanstalten, davon 204 Untersuchungshaftanstalten, 642 Strafkolonien, 8 Gefängnisse und 18 Jugendkolonien. Die offizielle Kapazität des Gefängnissystems beträgt 714.253 Haftinsassen. Die Auslastung betrug mit Stand 31.1.2021 67 %. Während die Gesamtanzahl der Inhaftierten im Jahr 2000 1.060.404 betrug, waren es im Jahr 2020 523.928 Inhaftierte (WPB o.D.). Es gibt Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen zu verhängen, um die Anzahl der Gefängnisinsassen zu verringern (AA 28.9.2022). 2022 begannen die Wagner-Gruppe sowie das Verteidigungsministerium Inhaftierte für den Ukraine-Krieg anzuwerben (ISW 11.5.2023; vergleiche MT 3.5.2023). Die Wagner-Gruppe ist ein privates Militärunternehmen (ZDF 4.5.2023).
Laut Berichten des 'Komitees Ziviler Beistand' müssen Nordkaukasier in Haftanstalten außerhalb des Nordkaukasus mit Diskriminierung rechnen, was sich zum einen aus einer grundsätzlich negativen Einstellung gegenüber Nordkaukasiern erklärt, zum anderen darin begründet ist, dass russische Veteranen des Tschetschenienkrieges überproportional im Strafvollzug beschäftigt sind. Laut dem 'Komitee zur Verhinderung von Folter' gibt es hingegen keine gezielte staatliche Diskriminierung. Es ist flächendeckend sichergestellt, dass muslimische Strafgefangene Zugang zu Gebetsräumen und Imamen haben. Allerdings werden außer medizinisch indizierten Ernährungsvorgaben keine Speisevorgaben religiöser oder sonstiger Art beachtet. Für muslimische Inhaftierte gestalten sich die Haftbedingungen im Nordkaukasus besser als in den anderen Teilen Russlands, die Möglichkeit zur freien Religionsausübung ist für Muslime im Gegensatz zum (christlichen) Rest der Russischen Föderation gewährleistet. Zudem gelten die materiellen Bedingungen in den offiziellen Haftanstalten in Tschetschenien meist als besser als in vielen sonstigen russischen Haftanstalten. Für tschetschenische Straftäter, an welchen die Sicherheitsbehörden kein besonderes Interesse haben, dürften sich ein Gerichtsstand und eine Haftverbüßung in Tschetschenien in der Regel eher günstig auswirken, da sie zudem auf den Schutz der in Tschetschenien prägenden Clanstrukturen setzen können. Dementsprechend haben tschetschenische Straftäter in der Vergangenheit wiederholt ihre Überstellung nach Tschetschenien betrieben (AA 28.9.2022).
Religionsfreiheit
Die Bevölkerung des Landes weist eine religiöse Vielfalt auf. Ca. 68 % sind russisch-orthodox, 7 % Muslime, und 25 % gehören unter anderem folgenden Gemeinschaften an: Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Judentum, Bahai usw. (USCIRF 4.2022). Gemäß einer Umfrage des Lewada-Zentrums von April 2023 bekennen sich 72 % der Befragten zur Orthodoxie, 7 % zum Islam, 13 % zu keiner Religion, 5 % zum Atheismus und ca. 3 % zu anderen Glaubensrichtungen - vor allem Katholiken, Protestanten und Buddhisten (LZ 16.5.2023). Verlässliche Zahlen zu den Mitgliedern bzw. Anhängern einzelner Gemeinschaften gibt es nicht, da ein System der Mitgliederregistrierung fehlt (MR 2022).
Artikel 28 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Die Wahl des Religionsbekenntnisses steht frei. Auch wird die Freiheit eingeräumt, ohne Bekenntnis zu leben. Religiöse Überzeugungen dürfen frei verbreitet werden. Gemäß Artikel 29 der Verfassung ist das Schüren von religiösem Hass verboten. Laut Verfassungsartikel 14 ist die Russische Föderation ein säkularer (weltlicher) Staat, und es gibt keine Staatsreligion. Staat und Religion sind laut Verfassung voneinander getrennt (Duma 6.10.2022). Gemäß Paragraph 3, des Gesetzes 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen' darf die Gewissens- und Glaubensfreiheit nur aus folgenden Gründen eingeschränkt werden: zum Schutz der Verfassung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und der gesetzlichen Interessen der Menschen und zur Gewährleistung der Landesverteidigung sowie der nationalen Sicherheit. Gemäß Paragraph 9, sind zur Gründung einer örtlichen religiösen Organisation mindestens zehn erwachsene Staatsbürger notwendig. Zentralisierte religiöse Organisationen bestehen aus mindestens drei örtlichen religiösen Organisationen. Laut Paragraph 11, unterliegen religiöse Organisationen einer staatlichen Registrierung. Die Verweigerung der staatlichen Registrierung einer religiösen Organisation kann gerichtlich angefochten werden (Paragraph 12,). Religiöse Vereinigungen können aufgelöst werden, wenn sie extremistisch tätig sind (Paragraph 14, des Föderalen Gesetzes 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen') (RF 29.12.2022c). Die Anti-Extremismus-Gesetzgebung wird in Russland überschießend angewandt (UN-HRC 1.12.2022) und wegen ihrer vagen Formulierungen kritisiert, welche breite Interpretationen sowie eine missbräuchliche Anwendung erlauben (EUAA 16.12.2022b). Beschwerden über den Umgang der Regierung mit dem Thema Religionsfreiheit nimmt die Ombudsperson entgegen (USDOS 15.5.2023).
Die Religionsfreiheit ist in Russland eingeschränkt (UN-HRC 1.12.2022). Behörden missbrauchen die Anti-Terrorismus- und Anti-Extremismus-Gesetzgebung, um friedliche religiöse Gruppen als terroristisch, extremistisch und unerwünscht einzustufen. Zu den betroffenen Gruppen gehören Zeugen Jehovas, vier protestantische Gruppen aus Lettland und der Ukraine, ein regionaler Zweig von Falun Gong sowie sieben mit Falun Gong verbundene NGOs. Solchen Gruppen ist die Religionsausübung verboten, und sie sind mit langen Haftstrafen, harten Haftbedingungen, Hausarrest, Razzien, Diskriminierung und Schikanierungen konfrontiert (USDOS 20.3.2023). Viele Muslime wurden in den letzten Jahren wegen ihrer angeblichen Zugehörigkeit zu verbotenen islamistischen Gruppen inhaftiert (FH 2023). Mindestens 20 angebliche Mitglieder von Hizb-ut-Tahrir wurden im Jahr 2022 im Rahmen politisch motivierter Gerichtsverfahren zu Haftstrafen von 11-18 Jahren verurteilt. Die Bewegung Hizb-ut-Tahrir strebt die Gründung eines Kalifats an, lehnt aber Gewaltanwendung zur Erreichung dieses Ziels ab. Hizb-ut-Tahrir wurde im Jahr 2003 in Russland als terroristische Organisation verboten (HRW 12.1.2023). Zahlreiche Haftstrafen erhielten friedliche Anhänger des gemäßigten muslimischen Theologen Said Nursi sowie der Missionsgruppe Tablighi Jamaat (USCIRF 4.2022; vergleiche USCIRF 5.2023). Die Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als stabilitätsbedrohend (USCIRF 4.2022). Mit Stand Dezember 2022 gab es laut der Menschenrechtsorganisation Memorial 488 politische Gefangene im Land, darunter 370 Personen, welche ungerechtfertigt wegen ihrer Religionsausübung inhaftiert sind. Gemäß Memorial ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen (USDOS 20.3.2023).
Religiöse Minderheiten sind Diskriminierung ausgesetzt (Sowa-Zentr 24.3.2023; vergleiche EEAS 19.4.2022). Orthodoxie, Islam, Judentum und Buddhismus sind als sogenannte traditionelle Religionen anerkannt (MR 2022). Das Föderale Gesetz 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen' räumt dem orthodoxen Christentum eine besondere Rolle ein (RF 29.12.2022c). Die russisch-orthodoxe Kirche genießt Privilegien (FH 2023; vergleiche BS 2022) und arbeitet im innen- und außenpolitischen Bereich eng mit der Regierung zusammen (FH 2023; vergleiche RAD 17.10.2022). Indigene Religionen wurden durch staatliche Programme unter einen gewissen Schutz gestellt. Sie sind jedoch, obwohl seit langer Zeit in Russland verwurzelt, nicht als traditionelle Religionen anerkannt. Ein Beispiel für eine indigene Religion stellt der Schamanismus dar. Die sogenannten traditionellen Religionen haben gesetzlich das Recht, an staatlichen Schulen Religionsunterricht anzubieten. Andere Religionsgemeinschaften dürfen an staatlichen Schulen nicht auftreten (MR 2022). Innerhalb der Politik nimmt Antisemitismus zu (USDOS 2.6.2022; vergleiche USCIRF 5.2023). Die Massenmedien bedienen sich antisemitischer Rhetorik (USDOS 15.5.2023). Nach Angaben der israelischen Regierung emigrierten im Jahr 2022 43.685 Personen von Russland nach Israel (TOI 11.1.2023). Vergleichsweise waren im gesamten Jahr 2019 15.930 Russen nach Israel ausgewandert (Reuters 18.8.2022).
Die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche hat, mit verschiedenen Nuancen und Dynamiken, Russlands militärisches Handeln in der Ukraine seit dem 24.2.2022 unverändert unterstützt (Russland-Analysen 23.2.2023). Religiöse Führer werden von der Regierung teils unter Druck gesetzt, um als Unterstützer des Krieges gegen die Ukraine aufzutreten (Forum 18 2.8.2022; vergleiche FH 2023).
Ethnische Minderheiten
Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert für alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte und Freiheiten. Die Staatssprache der Russischen Föderation ist Russisch. Die einzelnen Republiken sind berechtigt, ihre eigenen Staatssprachen festzulegen, wobei als Behördensprache parallel das Russische gilt (Artikel 68, der Verfassung) (Duma 6.10.2022). Das UN-Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung wurde von Russland im Jahr 1969 ratifiziert (UN-OHCHR o.D.). Der Vielvölkerstaat Russland umfasst mehr als 190 ethnische Minderheiten (MT 30.1.2023). In etwa 81 % der Bevölkerung sind ethnische Russen (AA 28.9.2022).
Fremdenfeindlichkeit ist weitverbreitet und richtet sich vor allem gegen Arbeitsmigranten aus dem Südkaukasus und Zentralasien sowie gegen Studierende aus Afrika (BS 2022; vergleiche ÖB 30.6.2022). Es kommt zu Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten (USDOS 20.3.2023). 'Racial Profiling' ist bei polizeilichen Personenkontrollen verbreitet. Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden Ausländer und Personen fremdländischen Aussehens oft Opfer von Misshandlungen durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. Ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 28.9.2022). In vielen Fällen werden ethnische Minderheiten aus dem Nordkaukasus und dem Fernen Osten von russischen Behördenvertretern diskriminiert (BS 2022). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 2023). Im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt werden Mitglieder ethnischer Gruppen, insbesondere Nordkaukasier, systematisch diskriminiert. Beispielsweise ist es Bürgern aus dieser Region verboten, auf öffentlichen Märkten in Moskau tätig zu sein (BS 2022).
In Russland sind 47 kleine indigene ethnische Minderheitengruppen offiziell anerkannt (MT 30.1.2023). Gemäß Berichten kommt es zu Verletzungen der Rechte indigener Völker. Diese haben bei Industrieprojekten unzureichende Mitspracherechte hinsichtlich ihrer Ressourcen und Land und Boden (UN-HRC 1.12.2022; vergleiche FA 9.12.2022). Der UN-Menschenrechtsausschuss zeigt sich besorgt über die Auflösung des 'Zentrums zur Unterstützung indigener Völker des Nordens'. Indigene Menschenrechtsverteidiger sind Schikanen ausgesetzt (UN-HRC 1.12.2022). Spirituelle indigene Führer werden vermehrt juristisch verfolgt (GFBV 15.12.2022). 2023 wurden die staatlichen Subventionen zur Förderung kleiner indigener Minderheiten gekürzt (WI 30.1.2023).
Ethnische Minderheiten aus dem Süden und Osten des Landes sowie ärmere Bevölkerungsgruppen finden sich in überproportionaler Zahl unter den in der Ukraine gefallenen Soldaten der russischen Armee (SWP 7.11.2022; vergleiche FP 23.9.2022, Russland-Analysen 21.12.2022).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Gemäß Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation haben Männer und Frauen gleiche Rechte und Freiheiten. Der Verfassungsartikel 114 schreibt die Bewahrung traditioneller Familienwerte fest (Duma 6.10.2022). Russland hat die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert (UN-OHCHR o.D.). Es existiert eine Nationale Handlungsstrategie für Frauen für den Zeitraum 2023-2030 (Regierung 29.12.2022).
Gemäß Paragraph 131, des Strafgesetzbuches kann Vergewaltigung eine bis zu lebenslange Freiheitsstrafe nach sich ziehen (RF 28.4.2023). Vergewaltigung innerhalb der Ehe gilt nicht als Straftat (UN-HRC 1.12.2022). Manchmal weigern sich Polizeibeamte, auf Vergewaltigung oder häusliche Gewalt zu reagieren, wenn die Tat nicht unmittelbar lebensbedrohlich für das Opfer ist. Behörden stufen im Regelfall Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung nicht als lebensbedrohlich ein (USDOS 20.3.2023). Häusliche Gewalt ist weitverbreitet (AA 28.9.2022). Eine gesetzliche Definition für den Begriff häusliche Gewalt fehlt (USDOS 20.3.2023). Strafverfolgungsbehörden sind wenig gewillt, Fälle häuslicher Gewalt gerichtlich zu verfolgen (UN-HRC 1.12.2022). Die Polizei ist nicht befugt, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, wenn das Opfer keine Anzeige erstattet (USDOS 20.3.2023). Die Anzahl der an die Behörden gemeldeten Fälle ist niedrig, weil Polizei und Justiz nicht angemessen auf die Thematik reagieren (HRW 12.1.2023). Oft drängt die Polizei Opfer häuslicher Gewalt zur Aussöhnung mit den Tätern. Die meisten Fälle häuslicher Gewalt, welche an Behörden herangetragen werden, werden entweder nicht bearbeitet oder an Schlichtungsstellen weitergeleitet. Schlichtungsstellen werden von Friedensrichtern geleitet und verfolgen eher das Ziel des Familienerhalts anstatt Bestrafung der Täter (USDOS 20.3.2023). Ein Opferschutzsystem fehlt (UN-CEDAW 30.11.2021). Opfer häuslicher Gewalt, welche Täter in Notwehr töten, werden im Regelfall inhaftiert (FH 2023).
Laut NGOs stellen von der Regierung betriebene Einrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt Sozialwohnungen, medizinische stationäre Betreuungsmöglichkeiten sowie Notunterkünfte zur Verfügung. Der Zugang zu diesen Dienstleistungen ist oft kompliziert und erfordert die Vorlage bestimmter Dokumente, nämlich eine örtliche Wohnsitzbescheinigung und den Nachweis eines niedrigen Einkommens. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und sind für Opfer nicht zugänglich (USDOS 20.3.2023). Für Opfer häuslicher Gewalt sind nicht genügend Notunterkünfte vorhanden (UN-HRC 1.12.2022). NGOs, die sich mit der Betreuung, Beratung und dem Schutz von Opfern häuslicher Gewalt beschäftigen, werden vermehrt als 'ausländische Agenten' eingestuft (AA 28.9.2022) [zum Begriff ‚ausländischer Agent‘ siehe Näheres im Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].
Diskriminierung von Frauen und Mädchen ist weit verbreitet und beruht auf der Rhetorik traditioneller Familienwerte (EEAS 19.4.2022). Patriarchalische Einstellungen und diskriminierende Stereotypen bzw. Rollenbilder halten sich hartnäckig (UN-CEDAW 30.11.2021). In der Politik, im öffentlichen Leben und als Unternehmerinnen sind Frauen unterrepräsentiert (BS 2022; vergleiche UN-CEDAW 30.11.2021). Die Politik thematisiert selten wichtige Angelegenheiten, welche Frauen betreffen (FH 2023). Frauen haben gleichen Zugang zu Bildung wie Männer (BS 2022). Bei der Kreditvergabe und auf dem Arbeitsmarkt erfahren Frauen Diskriminierung (USDOS 20.3.2023). Gesetzlich ist Frauen die Ausübung von 100 Berufen wegen deren hoher körperlicher Anforderungen verwehrt. Davon betroffen sind beispielsweise die Berufsbereiche Bergbau und Brandschutz (USDOS 20.3.2023; vergleiche AM 13.5.2021, RF 11.4.2023). Frauen sind im Durchschnitt schlechter bezahlt als Männer (ÖB 30.6.2022; vergleiche Regierung 29.12.2022). Das Armutsrisiko für Frauen ist hoch, so im Falle Alleinerziehender (Regierung 29.12.2022).
Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Gemäß Artikel 27 der Verfassung der Russischen Föderation haben alle Personen, welche sich rechtmäßig auf dem Territorium der Russischen Föderation aufhalten, das Recht auf Bewegungsfreiheit sowie Wahl des Aufenthalts- und Wohnorts. Alle Personen sind laut der Verfassung berechtigt, aus der Russischen Föderation auszureisen. Bürger der Russischen Föderation haben das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren. Gemäß Artikel 61 der Verfassung dürfen Bürger der Russischen Föderation nicht aus der Russischen Föderation ausgewiesen werden (Duma 6.10.2022). Gemäß Paragraph eins, des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit' sind Einschränkungen des Rechts auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts nur auf gesetzlicher Grundlage möglich. Gemäß Paragraph 8, kann dieses Recht unter anderem dann eingeschränkt werden, wenn in den betreffenden Regionen der Ausnahmezustand oder das Kriegsrecht herrscht. Entscheidungen in Bezug auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes können von den Bürgern gerichtlich angefochten werden (Paragraph 9,) (RF 27.1.2023).
Gemäß Paragraph 15, des Gesetzes ’Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' darf das Recht der Staatsbürger auf Ausreise aus der Russischen Föderation vorübergehend beschränkt werden. Von solchen Beschränkungen sind Personen betroffen, die zum Wehrdienst einberufen oder zum Wehrersatzdienst entsandt wurden (bis zur Beendigung des Wehrdiensts oder Wehrersatzdiensts); Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder unter Anklage stehen; Personen, die wegen Begehung einer Straftat verurteilt wurden (bis die Strafe verbüßt oder eine Strafbefreiung eingetreten ist); Personen, die gegen gerichtlich auferlegte Verpflichtungen verstoßen; Mitarbeiter des Föderalen Sicherheitsdiensts (FSB); sowie Personen, die zahlungsunfähig bzw. insolvent sind (RF 14.4.2023). Bürger, welche im Militärregister aufscheinen, dürfen ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (Paragraph 21, des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Die Regierung beschränkt Auslandsreisen ihrer Mitarbeiter, darunter Generalstaatsanwaltschaft, Innen- und Verteidigungsministerium usw. (USDOS 20.3.2023; vergleiche Bell 7.4.2023). Die Grenz- und Zollkontrollen eigener Staatsangehöriger durch russische Behörden entsprechen in der Regel internationalem Standard (AA 28.9.2022). Im Zuge von Grenzkontrollen kommt es zu Befragungen Ausreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen (AA 28.9.2022).
Auf Grundlage eines EU-Ratsbeschlusses ist seit 12.9.2022 das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt. Dies bedeutet nun unter anderem höhere Gebühren für einen Visumsantrag, Vorlage zusätzlicher Dokumente und längere Bearbeitungszeiten für Visa (Rat 12.5.2023). Auch die USA verhängten Visabeschränkungen, diese gelten für ca. 900 russische Amtsträger, darunter Mitglieder des Föderationsrats und des russischen Militärs (USDOS 2.8.2022). Weitere Länder (die baltischen Staaten, Tschechien, Niederlande) haben die Visavergabe an russische Staatsbürger eingeschränkt (DW 22.8.2022).
Meldewesen
Die Bürger der Russischen Föderation sind verpflichtet, ihren Aufenthalts- und Wohnort innerhalb des Landes registrieren zu lassen. Die Registrierung ist kostenlos (Paragraph 3,) (RF 27.1.2023). Die örtlichen Stellen des Innenministeriums sind gemäß Paragraph 4, die Meldebehörden (RF 27.1.2023; vergleiche AA 28.9.2022). Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Mieter benötigen eine Bescheinigung des Vermieters und werden damit vorläufig ohne Eintragung im Inlandspass registriert (AA 28.9.2022). Das staatliche Melderegister der Russischen Föderation ist nicht öffentlich zugänglich. Informationen werden natürlichen und nicht staatlichen juristischen Personen auf deren Anfrage nur bei Vorhandensein der Zustimmung derjenigen Person, deren Daten angefragt werden, erteilt; staatlichen Organen, soweit dies zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben erforderlich ist (ÖB 1.2.2023).
Die Registrierung des Aufenthaltsortes hat binnen 90 Tagen nach Wohnungsnahme zu erfolgen. Von der Registrierung des Aufenthaltsortes bleibt die Wohnsitzregistrierung unberührt. Aufenthalte bis zu einer Dauer von 90 Tagen bedürfen keiner Registrierung (Paragraph 5, des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit'). Beispiele für Aufenthaltsorte sind Hotels, Sanatorien, Campingplätze, medizinische Einrichtungen, Haftanstalten usw. (Paragraph 2,) (RF 27.1.2023). Die Aufenthaltsregistrierung (temporäre Registrierung) wird durch eine Bescheinigung in elektronischer oder in Papierform bestätigt (Gosuslugi o.D.). Temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notfallversorgung (ÖB 30.6.2022).
Bürger, welche ihren Wohnort wechseln, haben binnen sieben Tagen nach Wohnungsnahme die Registrierung zu veranlassen. Dabei ist ein Pass oder ein anderes Identitätsdokument vorzulegen. Anträge können auch elektronisch eingebracht werden, beispielsweise über das Portal Gosuslugi. Die Meldebehörde hat spätestens drei Tage nach Antragstellung die Registrierung vorzunehmen (Paragraph 6,) (RF 27.1.2023). Die Wohnsitzregistrierung (Propiska) wird im Pass vermerkt. Kinder bis zu einem Alter von 14 Jahren erhalten eine Registrierungsbescheinigung (Gosuslugi o.D.). Eine permanente Registrierung ist Voraussetzung für stationäre medizinische Versorgung, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Pensionszahlungen (ÖB 30.6.2022).
Grundversorgung und Wirtschaft
Wirtschaft
Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, um die wirtschaftliche Basis Russlands zu schwächen. Der Zugang Russlands zu den Kapital- und Finanzmärkten der EU wurde beschränkt. Für alle russischen Flugzeuge ist der Luftraum der EU geschlossen. Ebenso sind EU-Häfen für alle russischen Schiffe geschlossen. Transaktionen mit der russischen Zentralbank sind verboten. Mehrere russische Banken wurden aus dem SWIFT-System ausgeschlossen. Neue Investitionen in den russischen Energiesektor wurden verboten. Es gilt ein Einfuhrverbot für Eisen und Stahl aus Russland in die EU sowie ein Einfuhrverbot für Kohle, Holz, Zement, Gold, Rohöl, raffinierte Erdölerzeugnisse usw. (Rat 12.5.2023). Sanktionen gegen Russland verhängten außerdem die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt (WKO 3.2023). Der Krieg und die Sanktionen wirken sich auf Wirtschaftssektoren in Russland unterschiedlich aus. In Mitleidenschaft gezogen wurden der Industriesektor sowie der Binnenhandel. Hingegen zählt die Militärproduktion zu den Profiteuren der Sanktionen. Die Energiesanktionen ließen die Staatseinnahmen beträchtlich schrumpfen (WIIW o.D.). Die Wirtschaftssanktionen des Westens haben zu einem Braindrain und einer Kapitalflucht geführt (HF o.D.). Die Isolation Russlands zwingt verstärkt zu einer Eigenproduktion kritischer Waren, darunter Medikamente, Anlagen und Computertechnik (WKO 3.2023). Eine Einschätzung der wirtschaftlichen Situation in Russland ist derzeit schwierig (NDR/Tagesschau 2.8.2022; vergleiche Watson 3.2.2023).
Gemäß vorläufigen Daten des Föderalen Amts für Staatliche Statistik (Rosstat) ist das Bruttoinlandsprodukt im 1. Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahr um 1,9 % gesunken (Interfax 17.5.2023). Die Inflation betrug im April 2023 nach Angaben von Rosstat 0,38 % (Interfax 12.5.2023). Um den starken Verfall des Rubels aufzuhalten, führte die Regierung strenge Devisenbeschränkungen sowie weitere einschränkende Maßnahmen zur Stabilisierung der russischen Währung und der Wirtschaft ein (WKO 3.2023). Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2022 14,9 % des Bruttoinlandsprodukts (WIIW o.D.).
Korruption ist weitverbreitet (BS 2022; vergleiche HF o.D.). Eine Herausforderung für den Staat stellt die Schattenwirtschaft dar (BS 2022). Innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte ist Russland vom Importeur zum größten Weizenexporteur der Welt aufgestiegen (ZOIS 9.3.2023). Die Wirtschaft ist wenig diversifiziert (BS 2022) und stark von Öl- und Gasexporten abhängig (HF o.D.). Russland gehört historisch zu den größten Erdölproduzenten weltweit. Exporte von Öl und Gas haben traditionell mehr als zwei Drittel der russischen Ausfuhren ausgemacht. Es gelten Exportbeschränkungen für Holzwaren (WKO 3.2023). Um die sinkenden Exporte in die Europäische Union auszugleichen, handelt Russland verstärkt mit China, Indien und der Türkei (FT 19.8.2022).
Grundversorgung
Nach Angaben von Rosstat betrug im Jahr 2022 der Anteil der russischen Bevölkerung mit Einkommen unter der Armutsgrenze 10,5 %, das heißt 15,3 Millionen Personen (Rosstat 10.3.2023). Seit 2021 wird die Armutsgrenze neu berechnet. Die neue Berechnungsmethode wird als willkürliche Verschleierung der wahren Zustände kritisiert (AA 28.9.2022). Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern (vor allem Großfamilien), Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg ist die Armutsquote halb so hoch wie im Landesdurchschnitt. Prinzipiell ist die Armutsgefährdung auf dem Land höher als in den Städten (Russland-Analysen 21.2.2020a). Die Wirkung von Regierungsprogrammen, die sich dem Kampf gegen Armut im ländlichen Raum widmen, ist begrenzt. In den größeren Städten Russlands ist eine beträchtliche Anzahl von Menschen obdachlos (BS 2022).
Gemäß der Weltbank hatten im Jahr 2022 76 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu sicher verwalteten Trinkwasserdiensten (WB o.D.a). Nach staatlichen Angaben werden mit Stand 2023 87,9 % der Bevölkerung des Landes mit hochwertigem Trinkwasser versorgt. Der dementsprechende Anteil für die Stadtbevölkerung beträgt 94,3 % (NPR o.D.a). Im Welthunger-Index 2023 belegt die Russische Föderation Platz 26 von 125 Ländern. Mit einem Wert von 5,8 fällt die Russische Föderation in die Schweregradkategorie niedrig. Weniger als 2,5 % der Bevölkerung sind gemäß dem Welthunger-Index unterernährt (WHI o.D.). Laut der Weltbank hatten im Jahr 2022 89 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu einer (zumindest) Basisversorgung im Bereich Hygiene (WB o.D.b). Ein Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Mietkosten variieren je nach Region (IOM 12.2022).
Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 12.2022). Der Mindestlohn darf das Existenzminimum nicht unterschreiten (RN 16.1.2023). Das Existenzminimum wird per Verordnung bestimmt (AA 28.9.2022). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung RUB 15.669 [ca. EUR 184], für Kinder RUB 13.944 [ca. EUR 164] und für Pensionisten RUB 12.363 [ca. EUR 145] (Rosstat 10.1.2023). Die Höhe des monatlichen Mindestlohns beträgt für das Jahr 2023 RUB 16.242 [ca. EUR 191] (Duma 1.1.2023) und kann in jeder Region durch regionale Abkommen individuell festgelegt werden. Jedoch darf die Höhe des regionalen Mindestlohns nicht niedriger als der national festgelegte Mindestlohn sein. In der Stadt Moskau beträgt der Mindestlohn RUB 23.508 [ca. EUR 276] (RN 16.1.2023). Die primäre Versorgungsquelle der russischen Bevölkerung bleibt ihr Einkommen (AA 28.9.2022). Nach staatlichen Angaben betrug die Arbeitslosenrate im August 2023 3 % (Rosstat o.D.a). Die Arbeitslosenrate ist von Region zu Region verschieden (IOM 12.2022). Die versteckte Arbeitslosigkeit ist schwer einzuschätzen. Schwer am Arbeitsmarkt haben es ältere Arbeitnehmer. Besonders schwierig bis prekär ist die Lage für viele Migranten, welche überwiegend gering qualifiziert sind. Sie verdienen oft (wenn überhaupt) nur den Mindestlohn (AA 28.9.2022).
Sozialbeihilfen
Artikel 7 der russischen Verfassung definiert die Russische Föderation als Sozialstaat. Gemäß dem Verfassungsartikel 75 wird Bürgern soziale Unterstützung garantiert. Die Verfassung sieht eine obligatorische Sozialversicherung vor (Duma 6.10.2022). Es ist ein System der sozialen Sicherheit und sozialen Fürsorge in Russland vorhanden, welches Pensionen auszahlt und die vulnerabelsten Bürger unterstützt. Zum Kreis vulnerabler Gruppen zählen Familien mit mindestens drei Kindern, Menschen mit Behinderungen sowie ältere Menschen (IOM 12.2022). Der Staat bietet verschiedene Sozialleistungen an, wovon unter anderem folgende Personengruppen profitieren: Veteranen, Waisenkinder, ältere Personen, Alleinerziehende, Erwerbslose, Dorfbewohner (WSP o.D.), Menschen mit Behinderungen, Familien, Pensionisten (SFR o.D.a), Bewohner des hohen Nordens sowie Familienangehörige Militärbediensteter und von infolge der Ausübung ihrer Dienstpflichten verstorbenen Bediensteten des Innenressorts (Regierung o.D.). Das föderale Gesetz 'Über die staatliche Pensionsversorgung in der Russischen Föderation' zählt im Paragraph 5, folgende staatliche Pensionsleistungen auf: Pensionen für langjährige Dienste; Alters-; Invaliditäts-; Hinterbliebenen- und Sozialpensionen (RF 28.4.2023a).
Mit 1.1.2023 wurden der Pensions- und der Sozialversicherungsfonds zum neu geschaffenen 'Fonds für Sozial- und Pensionsversicherung der Russischen Föderation' (kurz 'Sozialfonds') verschmolzen (SFR 17.1.2023). Zu den Aufgaben des neu geschaffenen Sozialfonds gehört die Auszahlung von Pensionen und staatlicher finanzieller Hilfen. In den einzelnen Subjekten der Russischen Föderation gibt es territoriale Abteilungen des Sozialfonds (SFR 30.3.2023).
Arbeitslosenunterstützung
Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Sollte es dem Arbeitsamt nicht gelingen, der arbeitssuchenden Person binnen 10 Tagen einen Arbeitsplatz zu beschaffen, wird der betreffenden Person der Arbeitslosenstatus und somit eine monatliche Arbeitslosenunterstützung zuerkannt (IOM 12.2022). Während der ersten drei Monate erhält die arbeitslose Person 75 % des Durchschnittseinkommens des letzten Beschäftigungsverhältnisses, jedoch höchstens RUB 12.792 [ca. EUR 150]. Während der folgenden drei Monate beträgt die Höhe der Arbeitslosenunterstützung 60 % des Einkommens bzw. höchstens RUB 5.000 [ca. EUR 59]. Die Mindesthöhe der Arbeitslosenunterstützung beträgt RUB 1.500 [ca. EUR 18] (RG 23.11.2022). Um den Anspruch auf monatliche Arbeitslosenunterstützung geltend machen zu können, haben sich die Arbeitslosengeldbezieher alle zwei Wochen im Arbeitsamt einzufinden. Außerdem dürfen sie beispielsweise nicht in eine andere Region umziehen und keine Pensionsbezieher sein. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Sie stellen verschiedene Dienstleistungen zur Verfügung. Arbeitssuchende, die beim Rostrud registriert sind, dürfen an kostenlosen Fortbildungskursen teilnehmen, um so ihre Qualifikationen zu verbessern (IOM 12.2022).
Wohnmöglichkeiten, Sozialwohnungen
Artikel 40 der russischen Verfassung garantiert das Recht auf Wohnraum. Laut der Verfassung wird bedürftigen Personen Wohnraum kostenlos oder zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung gestellt (Duma 6.10.2022). Bürger ohne Unterkunft oder mit einer Substandard-Unterkunft und sehr geringem Einkommen dürfen kostenfreie Wohnungen beantragen (IOM 12.2022; vergleiche RF 28.4.2023b). Jedoch kann die Wartezeit bei einigen Jahren oder Jahrzehnten liegen. Ein Anrecht auf eine kostenlose Unterkunft haben Waisenkinder und Personen mit schwerwiegenden chronischen Erkrankungen (Tuberkulose etc.). Es gibt Schutzunterkünfte für Opfer von Menschenhandel und häuslicher Gewalt, für alleinerziehende Mütter und andere vulnerable Gruppen. Für gewöhnlich werden diese Unterkünfte von örtlichen NGOs verwaltet. Es gibt keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an (mindestens 12 %) (IOM 12.2022). Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum stellt ein Problem dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Wohnungskosten sind regional unterschiedlich (MK 17.3.2023; vergleiche Rosrealt o.D.). Es mangelt an ausreichendem Wohnraum für Familien (AA 28.9.2022).
Alterspension
Seit 2018 wird das Pensionsalter für Männer und Frauen allmählich angehoben. Im Jahr 2018 betrug das Pensionseintrittsalter 55 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer. 2028 soll das Pensionsalter auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer angehoben sein. Für bestimmte Personengruppen ist keine Erhöhung des Pensionsalters vorgesehen, beispielsweise für Schwerarbeiter und Personen in gefährlichen Berufsbereichen. Ebenfalls nicht betroffen von der Erhöhung des Pensionsalters sind Sozialpensionen, Invaliditätspensionen und Hinterbliebenenpensionen. Im Jahr 2022 waren für den Anspruch auf eine Alterspension Beschäftigungsverhältnisse von mindestens 13 Jahren erforderlich (SFR 15.1.2021).
Für das Jahr 2023 beträgt die Höhe des Existenzminimums für Pensionisten in Russland RUB 12.363 [ca. EUR 144]. Die Höhe des Existenzminimums für Pensionisten in einzelnen Landesteilen stellt sich wie folgt dar (SFR o.D.b):
● Moskau: RUB 16.257 [ca. EUR 189]
● Moskauer Gebiet: RUB 14.858 [ca. EUR 173]
● St. Petersburg: RUB 12.981 [ca. EUR 151]
● Tschetschenien: RUB 11.868 [ca. EUR 138]
● Dagestan: RUB 11.250 [ca. EUR 131]
Pensionisten, welche keiner Arbeit nachgehen und deren finanzielle Mittel unter dem Existenzminimum für Pensionisten liegen, erhalten einen Sozialzuschlag zur Pension. Dadurch erfolgt eine Anhebung bis zur Höhe des Existenzminimums (SFR o.D.b).
Medizinische Versorgung
Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert russischen Staatsbürgern das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen (Duma 6.10.2022). Eine gesetzliche Grundlage stellt das föderale Gesetz 'Über die Grundlagen des Gesundheitsschutzes der Bürger in der Russischen Föderation' dar (RF 28.4.2023d). Es existiert eine durch präsidentiellen Erlass festgelegte Strategie der Entwicklung des Gesundheitswesens in der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025 (Präsident 27.3.2023).
Das Basisprogramm der obligatorischen Krankenversicherung gewährleistet die kostenlose medizinische Versorgung für Bürger in allen Regionen Russlands. Das entsprechende Territorialprogramm umfasst Programme auf der Ebene der Subjekte der Russischen Föderation (Paragraph 3, des föderalen Gesetzes 'Über die obligatorische Krankenversicherung') (RF 19.12.2022). Der föderale Fonds der obligatorischen Krankenversicherung ist für die Umsetzung der staatlichen Politik zuständig (Regierung o.D.). Es besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Krankenversicherung, welche eine medizinische Versorgung auf höherem Niveau erlaubt (Sber Bank o.D.). Im Rahmen einer freiwilligen Krankenversicherung oder gegen direkte Bezahlung können entgeltliche medizinische Dienstleistungen in staatlichen und privaten Krankenhäusern in Anspruch genommen werden. Die Webseiten der einzelnen medizinischen Einrichtungen enthalten für gewöhnlich Preislisten, so zum Beispiel die Webseite der Poliklinik in Grosnyj/Tschetschenien: http://gr-polik6.ru/uslugi (IOM 12.2022). Für Leistungen privater Krankenhäuser müssen die Kosten selbst getragen werden.
Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos (ÖB 30.6.2022). Bestimmte Patientengruppen erhalten kostenlose oder preisreduzierte Medikamente. Befreit von Medikamentengebühren sind Kinder bis zu einem Alter von drei Jahren; Menschen mit Behinderungen; Veteranen; Patienten mit spezifischen Erkrankungen wie HIV/Aids, onkologischen Erkrankungen, Diabetes, psychiatrischen Erkrankungen usw. (EUAA 9.2022). Regionale Behörden dürfen kostenlose Medikamente für zusätzliche Patientengruppen zur Verfügung stellen (IOM 12.2022). Die Verfügbarkeit von Medikamenten schwankt. Die Beschaffung und Verteilung medizinischer Vorräte ist unzuverlässig, was zu Medikamentenknappheit und starken Preisschwankungen führt. Ursachen dafür sind unter anderem politische Sanktionen, welche Importe begrenzen, und der damit verbundene Umstieg auf einheimische Arzneimittel (EUAA 9.2022). Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können mehrere Monate betragen. Die Notfallversorgung ist nicht mehr überall gewährleistet. Durch Sparmaßnahmen sind in vielen russischen Verwaltungseinheiten die Notfall-Krankenwagen nur mit einer Person besetzt, welche die notwendigen Behandlungen nicht alleine leisten kann. Besonders angespannt ist die medizinische Versorgung für Kinder, es fehlen Physiotherapeuten und Psychologen (AA 28.9.2022). Mitunter gibt es Probleme bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB 30.6.2022).
In der Praxis müssen viele Leistungen von Patienten selbst bezahlt werden, obwohl die medizinische Versorgung für russische Staatsangehörige kostenfrei sein sollte (AA 28.9.2022). Patienten dürfen Beschwerden einreichen, wenn öffentliche medizinische Einrichtungen Gebühren für eigentlich kostenfreie Dienstleistungen einzuheben versuchen. Patientengebühren tragen zu steigender Ungleichheit bei. Zuzahlungen werden entweder von unversicherten Personen geleistet oder dienen dazu, die Leistungsdeckung der obligatorischen oder freiwilligen/privaten Krankenversicherung zu erhöhen. Beispiele für Zuzahlungen sind offizielle Zahlungen im öffentlichen oder Privatsektor oder informelle Zahlungen im öffentlichen Sektor, um beispielsweise eine spezielle Behandlung zu erhalten. Personen mit höherem Einkommen sowie Bewohner wohlhabenderer Städte wie Moskau und St. Petersburg leisten höhere Zuzahlungen, vor allem betreffend stationäre Behandlungen. Allerdings steigt die Höhe der Zuzahlungen gemäß einer Quelle aus dem Jahr 2018 für ambulante Leistungen für ärmere Bevölkerungsschichten rascher an (EUAA 9.2022). 27,76 % der Ausgaben im Gesundheitssektor entfielen im Jahr 2020 auf Zuzahlungen (WB o.D.c.).
Das Gesundheitssystem ist zentralisiert. Öffentliche Gesundheitsdienstleistungen gliedern sich in drei Ebenen: Die Primärversorgung umfasst allgemeine medizinische Leistungen, Notfallversorgung sowie einige spezielle Dienstleistungen. Die Sekundärversorgung beinhaltet eine größere Bandbreite spezieller medizinischer Leistungen, und die Tertiärversorgung bietet medizinische Leistungen auf Hightechniveau an. Wegen Personalmangels sind Mitarbeiter auf der Primärversorgungsebene oft überlastet. Es fehlt an Koordination zwischen den Ebenen Primär- und Sekundärversorgung. Dem öffentlichen Gesundheitssystem mangelt es an finanziellen Mitteln, Patientenorientierung sowie an Personal, vor allem in ländlichen Gebieten. Das medizinische Personal weist Ausbildungsdefizite auf. Viele Bedienstete im medizinischen Bereich sind wenig motiviert, was teilweise auf niedrige Gehälter zurückzuführen ist. Hinsichtlich verfügbarer Ressourcen und Dienstleistungen herrschen beträchtliche regionale Unterschiede (EUAA 9.2022). Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben (ÖB 30.6.2022). Die medizinische Versorgung ist außerhalb der Großstädte in vielen Regionen auf einfachem Niveau und in ländlichen Gebieten nicht überall ausreichend. Ein Drittel der Ortschaften in ländlichen Gebieten verfügt über keinen direkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Der Weg zum nächsten Arzt kann in manchen Fällen bis zu 400 Kilometer betragen (AA 28.9.2022). Einrichtungen, die hochmoderne Diagnostik sowie Behandlungen anbieten, sind vorwiegend in den Großstädten Moskau und St. Petersburg zu finden (EUAA 9.2022).
Zurückgekehrte Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Personen ohne Dokumente haben das Recht auf eine kostenlose medizinische Notfallversorgung (EUAA 9.2022).
Die folgende Webseite enthält eine Auflistung medizinischer Einrichtungen in der Russischen Föderation mitsamt Kontaktdetails: https://gogov.ru/clinics (IOM 12.2022).
Psychische Erkrankungen
In Russland existieren stationäre und ambulante Einrichtungen zur Behandlung psychischer Erkrankungen (EUAA 9.2022). In Moskau gibt es mehrere öffentliche psychiatrische Krankenhäuser: die Krankenhäuser Nr. 1, 15 und 22 (EUAA 9.2022; vergleiche PK1 o.D., PK 22 o.D.). In St. Petersburg befindet sich das öffentliche psychiatrische Krankenhaus Nr. 1 (EUAA 9.2022; vergleiche SPK1 o.D.). In manchen Regionen haben Patienten nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu psychischen Gesundheitseinrichtungen, da die meisten dieser Einrichtungen in Städten und weniger in entlegenen Gebieten zu finden sind. In einigen Regionen gibt es praktisch keine psychiatrischen Einrichtungen. Die Zahl ambulanter Einrichtungen sinkt. Teilweise wird die psychische Gesundheitsversorgung von der regionalen Ebene finanziert. Problematisch sind mangelnde finanzielle Ressourcen sowie dürftig ausgestattete Einrichtungen und fehlende Unterstützung durch NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Qualität der psychischen Gesundheitsversorgung ist niedrig. Die Zahl, der im psychischen Gesundheitsversorgungsbereich Beschäftigten sinkt (EUAA 9.2022).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung kostenlos. Anspruch auf Behandlung psychischer Erkrankungen haben unter anderem Staatsbürger, legal Beschäftigte sowie Personen mit Langzeitaufenthaltsberechtigungen, welche eine obligatorische Krankenversicherung und einen registrierten Wohnsitz in Russland aufweisen. Zugang zu psychiatrischer Notfallversorgung ist für alle Patienten kostenlos. In der Praxis sind Medikamente für stationäre Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos, im Gegensatz zu Medikamenten für ambulante Behandlungen. In diesen Fällen müssen Patienten die Kosten selbst tragen. Kostenrückerstattungen für verschriebene Medikamente gehen sehr mühsam vonstatten, sodass viele Patienten selbst das Geld für die Medikamente aufbringen müssen. Im Allgemeinen sind psychiatrische Medikamente in der gesamten Russischen Föderation verfügbar, vor allem in größeren Städten (EUAA 9.2022).
Drogenabhängigkeit
[…]
Diabetes
[…]
Hepatitis
[…]
HIV, Aids
[…]
Nierenerkrankungen (Dialyse usw.)
[…]
Tuberkulose
Tuberkulose ist im öffentlichen wissenschaftlichen Tuberkulose-Forschungsinstitut in Moskau behandelbar (ISOS 19.6.2020; vergleiche SWTF o.D.). In der Stadt Toljatti in der Region Samara gibt es das öffentliche Sanatorium Lesnoe, welches auf Tuberkulose spezialisiert ist. Das Sanatorium nimmt Patienten aus allen Regionen auf (EUAA 9.2022; vergleiche SSL o.D.). In Archangelsk befindet sich eine öffentliche Anti-Tuberkulose-Klinik (EUAA 9.2022; vergleiche SATK o.D.). Diese bietet ambulante und stationäre Betreuung von Tuberkulose-Patienten an und verfügt über Behandlungsmöglichkeiten für alle Tuberkulose-Fälle. Der Zugang zu Lungenspezialisten, Chirurgen und Behandlungszentren kann in ländlichen und spärlich besiedelten Gegenden beschränkt sein. Die Behandlung von Patienten mit Lungenerkrankungen erfolgt im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung kostenlos. Medikamente zur Behandlung von Lungenerkrankungen sind in ganz Russland theoretisch verfügbar, jedoch ist der Zugang zu diesen Medikamenten in größeren Städten viel besser. Mehrere russische NGOs bieten Unterstützung für Patienten mit Lungenerkrankungen an, hauptsächlich Kinder und Personen mit Behinderungen (EUAA 9.2022).
Rückkehr
Gemäß Artikel 27, der Verfassung und im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben haben russische Staatsbürger das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren (Duma 6.10.2022; vergleiche RF 14.4.2023). Jedoch kommt es de facto beispielsweise im Zuge von Grenzkontrollen zu Befragungen Einreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen. Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments nach Russland einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen beim Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 28.9.2022). Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme (ÖB 30.6.2022; vergleiche EUR-Lex 17.5.2007). Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, kann diese Person in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB 30.6.2022).
Rückkehrende haben - wie alle anderen russischen Staatsbürger - Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen (IOM 7.2022). Sozialleistungen hängen vom spezifischen Fall des Rückkehrers ab. Zurückkehrende Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Von Rückkehrern aus Europa wird manchmal die Zahlung von Bestechungsgeldern für grundsätzlich kostenlose Dienstleistungen (medizinische Untersuchungen, Schulanmeldungen) erwartet. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können nicht als spezifische Probleme von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB 30.6.2022).
Es sind keine Fälle bekannt, in welchen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (AA 28.9.2022). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2022). Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt (AA 28.9.2022).
Sollte ein Einberufungsbefehl ergangen sein, ist diesem bei Rückkehr Folge zu leisten (ÖB 12.12.2022). Bei Vorliegen eines Einberufungsbefehls werden russische Staatsangehörige aus Tschetschenien - wie auch andere Bürger - nach Rückkehr in die Russische Föderation eingezogen und nach einer Ausbildung im Ukraine-Krieg eingesetzt (ÖB 25.1.2023). Differenziert wird hier zwischen Wehrdienstleistenden oder Reservisten bzw. zur Mobilisierung einberufenen Personen, denn Grundwehrdienstleistende dürfen nicht im Ukraine-Krieg eingesetzt werden (VB 26.4.2023).
Dokumente
Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente sind in der Regel echt und inhaltlich richtig. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie beispielsweise Staatsangehörigkeitsausweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden und nur mit speziellen Untersuchungen erkennbar sind. Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amts hat die Anzahl der im Asylverfahren vorgelegten Vorladungen, Urteile und Beschlüsse, die sich als Fälschungen herausgestellt haben, in der letzten Zeit erheblich zugenommen (AA 28.9.2022). Das niederländische Außenministerium berichtet über manche gefälschte europäische Visa in echten russischen Reisepässen. In der Vergangenheit traten einerseits Fälle gefälschter Einreisestempel in echten russischen Reisepässen auf und andererseits echte russische Reisepässe, welche im Besitz anderer Personen waren (NL-MFA 4.2021).
Weder die Staatendokumentation, noch der Verbindungsbeamte oder die Österreichische Botschaft können die Bedeutung von Reisepassnummern, welche sich auf die ausstellenden Behörden beziehen, nachvollziehen (VB 4.3.2021).
EUAA Länderbericht zur medizinischen Versorgung vom 29.09.2022 (auszugsweise, mit deepl.com ins Deutsche übersetzt)
[..]
2. Das Gesundheitssystem
2.1. Organisation des Gesundheitswesens
Die Verfassung der Russischen Föderation garantiert der Bevölkerung Russlands das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung und medizinische Hilfe, die aus einem Gesundheitsbudget, Versicherungsbeiträgen und anderen Einnahmen finanziert wird. Seit der Verabschiedung der Verfassung der Russischen Föderation, in der das Recht auf unentgeltliche Gesundheitsversorgung festgeschrieben wurde, und der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung (CMI) im Jahr 1993 hat es mehrere Reformrunden im Gesundheitssektor gegeben.
Die russische Bezeichnung für die CMI lautet Обязательноемедицинское страхование; daher wird die CMI mit dem anglisierten Akronym OMS bezeichnet. Die Verwaltungsorganisation der Versicherung ist Федеральный фонд обязательного медицинского страхования (ФФОМС), die mit dem anglisierten Akronym FFOMS bezeichnet wird. Nach einer Phase der Dezentralisierung des Gesundheitssystems auf kommunale Regierungen in den 1990er-Jahren wurde das System Mitte der 2000er-Jahre aufgrund zunehmender Ungleichheiten in der Politik und der Finanzierung in den einzelnen Gebieten erneut zentralisiert.
Im Jahr 2014 wurde eine Reihe von Maßnahmen zur "Optimierung" des Gesundheitssystems beschlossen, um die Gesundheitskosten durch eine Verbesserung der Effizienz des Gesundheitssystems zu senken. Dazu gehörten die Zusammenlegung von Gesundheitszentren und Krankenhäusern, die Erhöhung der Gehälter des medizinischen Personals und die Ausstattung von Polikliniken und Krankenhäusern mit Hightech-Geräten. Diese Maßnahmen führten jedoch unbeabsichtigt zu einer Verringerung der Gesamtzahl der medizinischen Anbieter, wodurch Anbieter in den privaten Sektor gedrängt wurden, das Netz der Primärversorgung, insbesondere in ländlichen Gebieten, schrumpfte und Patienten vom öffentlichen in das private System gedrängt wurden.
Die im Juni 2019 vorgestellte Strategie für die Entwicklung des Gesundheitswesens in der Russischen Föderation bis 2025 sieht die Prävention von Krankheiten und den Ausbau der Primärversorgung und der Palliativdienste vor, um die unverhältnismäßige Konzentration auf die klinische/stationäre Versorgung und die Notfallversorgung auf Kosten von Prävention, Früherkennung, Rehabilitation und Palliativversorgung zu bekämpfen. Das derzeitige Gesundheitssystem ist jedoch zentralisiert, wobei einige Verwaltungs- und Haushaltsbefugnisse auf die regionale und kommunale Ebene übertragen wurden:
- Das russische Gesundheitsministerium (MoH) entwickelt die staatliche Gesundheitspolitik und -gesetzgebung und setzt sie um. Es beaufsichtigt die Leistungserbringung, die Arzneimittel, die sanitären und epidemiologischen Bedingungen, die Überwachung, den Föderalen Fonds für die medizinische Pflichtversicherung (FFOMS) und andere Aktivitäten.
- Die regionalen Gesundheitsabteilungen und -ministerien sind für die Verwaltung der regionalen Gesundheitsprogramme und -dienste zuständig, einschließlich des Gesundheitsschutzes, des Gesundheitspersonals und der Notfalldienste. Die Exekutivbehörden haben die Budgethoheit über die spezialisierte medizinische Versorgung. Die Regionen sind auch für die Verwaltung und Finanzierung der Primärversorgung zuständig.
- Die lokalen Behörden verwalten das Gesundheitssystem auf kommunaler Ebene, einschließlich der Überwachung und Analyse des Gesundheitszustands der Bevölkerung und der Leistungserbringung, der Koordinierung von Gesundheitsaktivitäten und der Umsetzung kommunaler Programme. Die Exekutivbehörden haben die Befugnis, die Kosten für die Notfallversorgung, die medizinische Grundversorgung in ambulanten und stationären Einrichtungen sowie die medizinische Versorgung von Frauen während der Schwangerschaft, während der Geburt und nach der Entbindung zu planen.
Zwischen den Regionen und Gemeinden gibt es erhebliche Unterschiede bei den verfügbaren Ressourcen und Dienstleistungen. Regionen mit besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten ziehen mehr Investitionen an, was zu höheren Gehältern und größeren Steuereinnahmen führt, die wiederum größere Gesundheitsbudgets ermöglichen. Die 10 reichsten Regionen verfügen über fast doppelt so viele Mittel für das Gesundheitswesen wie die ärmsten Regionen. Die großen Gebiete mit geringerer Bevölkerungszahl haben mit einer unzureichenden Versorgung mit medizinischen Einrichtungen und einem Mangel an qualifiziertem Personal und Ausrüstung zu kämpfen.
Einige große staatlich kontrollierte Unternehmen bieten ebenfalls Gesundheitsdienste an. Diese selektiv verfügbaren Dienste werden als 'Departmental Healthcare' bezeichnet und nicht vom russischen Gesundheitsministerium betrieben. Sie werden aus verschiedenen Quellen finanziert und verfügen über eine eigene Infrastruktur, die Polikliniken, Krankenhäuser und Sanatorien umfasst. Kontaktperson 1 erklärte, dass es "fast unmöglich" sei, statistische Daten über diese Komponente des Gesundheitssystems zu erhalten.
2.1.1. Öffentlicher Sektor
Die öffentlichen Gesundheitsdienste sind in Primär-, Sekundär- und Tertiärversorgung unterteilt: Die Primärversorgung umfasst allgemeine medizinische Dienste, Notfallversorgung und einige spezialisierte Dienste; die Sekundärversorgung umfasst ein breiteres Spektrum spezialisierter medizinischer Dienste und die Tertiärversorgung bietet hochtechnische medizinische Dienste. In den Städten sind die Polikliniken die wichtigsten Einrichtungen der Primärversorgung, während in dünn besiedelten, ländlichen Gebieten Feldkliniken (ФАП (FAP) - фельдшерско-акушерский пункт) für die Primärversorgung, Geburtshilfe und chirurgische Versorgung zuständig sind. Diese kleinen Kliniken sind mit den wichtigsten medizinischen Diagnose- und Behandlungsgeräten ausgestattet und werden von einem Feldscher (Arzthelfer) und häufig einer Hebamme betreut.
Das öffentliche Gesundheitssystem verfügt auch über ein ausgedehntes Netz von Krankenhäusern und eine hohe Anzahl von Leistungserbringern pro Patient. Die Art der Krankenhäuser in Russland reicht von großen, gut ausgestatteten Tertiärkrankenhäusern in regionalen Hauptstädten, die ein breites Spektrum an medizinischen und chirurgischen Verfahren abdecken, bis hin zu kleinen, einfachen Krankenhäusern in ländlichen Gebieten, die nur Gesundheitsversorgung für gängige klinische Bereiche anbieten. Spezialisierte Zentren für besondere Probleme wie Herz-Kreislauf- und perinatale Erkrankungen gibt es in der Regel nur in regionalen Hauptstädten. Darüber hinaus befinden sich die staatlichen Forschungs- und Behandlungszentren, die modernste Diagnostik und Behandlung anbieten und oft als Hightech-Medizin bezeichnet werden, vor allem in den Großstädten Moskau oder St. Petersburg.
Die Nutzung der Telemedizin hat ebenfalls exponentiell zugenommen, was durch die COVID-19-Pandemie in den Jahren 2020-2021 noch beschleunigt wurde. Die russische Regierung hat als Reaktion auf die zunehmende globale Nutzung der Informationstechnologie und die zunehmende Vernetzung versucht, die Telemedizin einzuführen. Ein Bestandteil ihres Programms zur Schaffung eines einheitlichen staatlichen Gesundheitsinformationssystems (USHIS) ist der "Termin beim Arzt in digitaler Form", der insbesondere die Verkürzung der Warteschlangen in Polikliniken ermöglicht. In der Praxis verfügen jedoch viele Einrichtungen nicht über ein medizinisches Informationssystem (MIS). In denjenigen, die über ein solches verfügen, stehen einige Ärzte dem Ganzen zwiespältig gegenüber, da einige befürchten, dass die Fernbetreuung von Patienten zu mehr medizinischen Fehlern führt.
Während das geltende Recht vorsieht, dass die Telemedizin nur für Konsultationen zur Vorbeugung, Diagnose und Überwachung des Gesundheitszustands eines Patienten sowie für die Beurteilung der Notwendigkeit eines persönlichen Termins genutzt werden kann, wird diese Regelung derzeit aktualisiert, um ihren breiteren Einsatz in Notfällen oder bei Bedrohung durch eine gefährliche Krankheit zu ermöglichen. Eine Behandlung kann nicht aus der Ferne verschrieben werden, ohne dass zuvor ein Arztbesuch stattgefunden hat. Es gibt keine besonderen Beschränkungen für die Art von Arzneimitteln, die danach durch Telemedizin verschrieben werden können. Elektronische Verschreibungen sind derzeit nur in bestimmten Regionen Russlands verfügbar. Telemedizinische Leistungen sind in der Regel nicht durch die staatliche Krankenversicherung erstattungsfähig, können aber im Rahmen von Pilotprogrammen, die in bestimmten Regionen zur Verfügung stehen und aus den regionalen Haushalten finanziert werden, kostenlos angeboten werden.
Zu den Stärken des öffentlichen Gesundheitssystems Russlands gehören der relativ erfolgreiche universelle Zugang in dringenden und Notfallsituationen sowie die Verfügbarkeit einer kostenlosen und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung in vielen Städten und regionalen Hauptstädten. Die heutige Bevölkerung hat auch die sowjetische Gesundheitsinfrastruktur mit Polikliniken und Krankenhäusern sowie medizinischen Campus in vielen Städten geerbt.
Zu den allgemeinen Schwächen des öffentlichen Gesundheitswesens gehören mangelnde Finanzierung, Patientenorientierung und Benutzerfreundlichkeit sowie vielerorts eine Unterbesetzung, insbesondere in ländlichen Gebieten. Das medizinische Personal erhält regelmäßig eine unzureichende und veraltete Berufsausbildung, und viele sind schlecht motiviert, was teilweise auf die niedrigen Löhne zurückzuführen ist.
Feldscher sind eine besondere Kategorie von medizinischem Personal, das in Russlands öffentlichem Gesundheitssystem beschäftigt ist. Der Begriff bedeutet übersetzt so viel wie "Arzthelfer". Der Kader der Feldscher entstand im 18. Jahrhundert, um als Armeesanitäter oder Dienstleister in ländlichen Gebieten ohne Ärzte zu dienen. Während der Sowjetzeit und danach ging die Zahl der Feldscher jedoch zurück, da sie zunehmend durch Krankenschwestern ersetzt wurden. Vor allem in ländlichen Gebieten sind Feldscher die ersten, die Patienten untersuchen, körperliche Untersuchungen durchführen, Diagnosen stellen und Fälle behandeln, während sie komplizierte Fälle an Ärzte überweisen. In städtischen Gebieten arbeiten Feldscher typischerweise unter einem Arzt. Feldscher arbeiten auch in Ambulanzen, Abteilungen für Hygiene und Epidemiologie sowie in Labors.
Die Überweisungen zwischen der Primärversorgung und den höheren Versorgungsebenen sind schlecht. Aufgrund begrenzter personeller Ressourcen sind die Primärversorger oft überlastet und nicht in der Lage, einen reibungslosen Übergang zu den höheren Ebenen zu gewährleisten, und es gibt nur wenig Koordination zwischen der Primär- und der Sekundärebene. Während 70 % der DVs Überweisungsbriefe verwenden, ist es weniger üblich, dass Fachärzte nach einer Behandlung mit dem überweisenden Arzt kommunizieren. Darüber hinaus kann der Primärversorger auch umgangen werden, indem dem Spezialisten ein Honorar gezahlt wird.
Ein weiterer wesentlicher Schwachpunkt der öffentlichen Gesundheitsdienste in Russland ist die Einführung kostenpflichtiger Leistungen im traditionell kostenlosen öffentlichen Bereich als Folge der reduzierten Bundesmittel für die gesetzliche Krankenversicherung, der Wirtschaftssanktionen und der Inflation. Öffentliche Einrichtungen können für Leistungen außerhalb des Programms der staatlichen Garantien für die medizinische Versorgung (PSG), das vom OMS abgedeckt wird, eine Gebühr erheben. Infolgedessen kann ein Patient einige Verfahren kostenlos in Anspruch nehmen, während er für andere wie Labortests und Diagnosen bezahlen muss. Es gibt ein Verfahren, mit dem sich Patienten offiziell beschweren können, wenn öffentliche medizinische Einrichtungen versuchen, Gebühren für Leistungen zu erheben, die eigentlich kostenlos sein sollten.
Ein Patient kann auch für qualitativ hochwertigere medizinische Geräte als die von der OMS abgedeckten extra bezahlen. Gebühren können auch dann erhoben werden, wenn der Patient nicht offiziell von einem Gesundheitszentrum an ein Krankenhaus überwiesen wird oder die Kosten nicht von der OMS übernommen werden. Besorgniserregend ist, dass die Patienten möglicherweise nicht wissen, welche Verfahren sie benötigen oder was von der Krankenkasse abgedeckt wird, und daher unnötige Kosten zahlen. Die Patientengebühren tragen auch zu größeren Ungleichheiten bei, da Haushalte mit höherem Einkommen für eine Behandlung zahlen können, die für Haushalte mit niedrigerem Einkommen unerschwinglich ist.
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2.2.2. Infrastruktur des Gesundheitswesens
Seit den 1990er Jahren haben die Reformen die Gesamtzahl der Krankenhäuser verringert und gleichzeitig die Ambulanzkapazitäten erweitert. Ländliche Gebiete waren zwischen 2005 und 2013 besonders betroffen, da die Zahl der Gesundheitseinrichtungen in ländlichen Gebieten um 75 % sank.
Russland verfügt über einen gut funktionierenden medizinischen Notdienst, der mit Ärzten und GA Ärzten besetzt ist. Der Rettungsdienst ist kostenlos und wird vom staatlichen Gesundheitssystem abgedeckt, ist in ganz Russland rund um die Uhr erreichbar und können über die Telefonnummer 03 aus dem Festnetz oder Festnetztelefonen oder 112 von Mobiltelefonen aus erreicht werden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Zahl der Notrufstationen um 30 % verringert. Der Rettungsdienst umfasst sowohl allgemeine als auch spezialisierte Ambulanzteams. Ein allgemeines Team besteht aus einem Arzt, einem Rettungssanitäter oder einer Krankenschwester und einem Fahrer zusammen, obwohl in kleineren Städten und den meisten ländlichen Gebieten bestehen die Teams aus einem Feldscher und einer Krankenschwester.
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2.4. Patientenpfade
Die Patienten können ihren Primärversorger, d. h. entweder einen Hausarzt oder einen Allgemeinmediziner, in einer ambulanten Einrichtung auswählen. In erster Linie werden die meisten Patienten die Versorgung bei dem Anbieter in Anspruch nehmen, bei dem sie registriert sind. Wenn ein Patient eine medizinische Behandlung benötigt, ordnet der Leistungserbringer die Behandlung an oder überweist den Patienten bei Bedarf an einen Spezialisten in einer ambulanten Einrichtung. Wenn weitere Untersuchungen erforderlich sind, wird der Patient zur stationären Behandlung in eine spezialisierte Einrichtung überwiesen.
Nach der Entlassung erfolgt die Nachsorge in einer ambulanten Einrichtung.
Es gibt auch einen Trend zur Umgehung des Hausarztes und direkt einen Facharzt aufzusuchen, insbesondere für Gynäkologie/Geburtshilfe, Chirurgie, Urologie, Augenheilkunde, Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde (HNO). Der Nachteil dieses Ansatzes ist die mögliche Unterbrechung der Kontinuität der Versorgung, da die Versorgung von verschiedenen Anbietern erfolgt.
Ein zweiter Patientenpfad ist der Notfallpfad: direkter Zugang zur Notfallversorgung und medizinischen Notdiensten. Patienten, die eine Notfallversorgung benötigen, oder jemand in ihrem Namen ruft das EMS-Team an, erklärt das dringende medizinische Problem und nennt den genauen Standort des Patienten. Diese Anrufe werden von medizinisch geschulten Disponenten entgegengenommen, die in der Regel nur Russisch sprechen. Manchmal werden die Anrufe an einen diensthabenden Arzt weitergeleitet, der über die erforderliche Reaktion entscheidet. Die EMS-Teams können den Patienten am Ort des Geschehens dringend versorgen oder ihn in ein geeignetes diensthabendes Krankenhaus zur sofortigen Überprüfung der Versorgung, gefolgt von einer Krankenhauseinweisung, falls erforderlich veranlassen.
3. Wirtschaftliche Faktoren
3.1. Vom Staat/von der öffentlichen Hand/Behörden bereitgestellte Gesundheitsdienste
Das Programm der staatlichen Garantien für die medizinische Versorgung (PSG) gewährleistet die kostenlose medizinische Versorgung der Verfassung und garantiert einheitliche Leistungen, die über einen einzigen nationalen Pool gezahlt werden. Ein Regierungserlass definiert das Leistungspaket innerhalb mehrerer Parameter:
1. Liste der Krankheiten: fast alle Krankheiten der Internationalen Klassifikation der Krankheiten sind enthalten; die Behandlung ist kostenlos.
2. Arten von Leistungen: Grundversorgung, ambulante Facharztversorgung, ambulante Dienste, ambulante Versorgung, Rehabilitationsversorgung, Palliativversorgung, spezialisierte stationäre Versorgung; die Behandlung ist kostenlos.
3. Hochtechnische Versorgung: umfasst nur selektive Versorgung; tertiäre Versorgung (hochspezialisierte Versorgung, die fortschrittliche und komplexe Behandlungen und Verfahren umfasst) kann nur für bestimmte Krankheiten.
4. Wartezeitbeschränkungen: Primärversorgung durch Bezirksärzte - innerhalb von 24 Stunden; Konsultationen durch ambulante Fachärzte - höchstens 14 Tage; instrumentelle Diagnostik und Laboruntersuchungen - 14 Tage; Computertomographie - 30 Tage; ambulante Versorgung – 20 Minuten nach Eingang eines Anrufs; hochtechnologische Versorgung (Tertiärversorgung) - 30 Tage.
5. Arzneimittel: Die Liste der Empfänger von ambulanten Arzneimitteln und die Liste der 788 unentbehrlichen Arzneimittel sind festgelegt.
Darüber hinaus werden bei der Planung und Evaluierung des PSG Nutzungsziele für jede Art von Pro-Kopf-Finanzierung und Stückkostenziel (normativ) für jede Versorgungsart sowie Kriterien der Versorgungsqualität (es gibt 25 Kriterien für die einzelnen Versorgungsarten) festgelegt. In der Praxis weist das PSG mehrere Einschränkungen auf. Es ist nicht klar definiert, welche Leistungen wie und bei welchen Erkrankungen in Anspruch genommen werden sollen, so dass es Raum für Verhandlungen zwischen Anbieter und Patient gibt. Außerdem haben sich die vom PSG abgedeckten Leistungen im Laufe der Zeit eingeschränkt oder entsprechen nicht den tatsächlichen Kosten.
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3.2. Öffentliche Krankenversicherung, nationale oder staatliche Deckung
Das OMS-System ist an den Wohnort und die Staatsbürgerschaft geknüpft, auch für Arbeitslose. Die OMS hat einen nahezu vollständigen Versicherungsschutz (99,2 %). Es deckt allgemeine medizinische Leistungen, spezialisierte medizinische Versorgung und Arzneimittel der VEDL, ausgenommen Leistungen für sozial bedeutsamen Krankheiten oder High-Tech-Verfahren, die von den Bundes- und Regionalbudgets abgedeckt werden Einige Regionen haben spezielle OMS-Fonds eingerichtet, um den Versicherungsschutz für ihre Einwohner zu erweitern. Einige Patientenkategorien erhalten je nach ihrem Status, ihrer Krankheit und der Dauer ihrer Behandlung kostenlose oder ermäßigte Medikamente. Für den Erhalt von kostenlosen Medikamente, muss ein Patient ein gültiges Rezept vorweisen können.
Inhaber föderaler Privilegien, die zum Erhalt kostenloser Medikamente (oder eines entsprechenden Geldwertes) berechtigt sind:
- Helden der Sowjetunion und der Russischen Föderation, ordentliche Ritter des Ordens des Ruhms und, im Falle ihres Todes, einige ihrer direkten Verwandten
- Helden der Arbeit und vollwertige Ritter des Ordens des Ruhmes der Arbeit
- Kinder im Alter von drei Jahren und darunter
- Behinderte Menschen (Gruppen römisch eins, römisch II und römisch III)
Inhaber von Bundesprivilegien, die Anspruch auf kostenlose Medikamente (oder einen entsprechenden Geldwert) haben:
- Behinderte Kinder (können gegebenenfalls auch spezielle Ernährung erhalten)
- Veteranen und einige ihrer Familienangehörigen, wenn die Veteranen verstorben sind
- Ehemalige minderjährige KZ-Häftlinge, Ghettobewohner während des Zweiten Weltkriegs
- Personen, die Strahlenschäden erlitten haben
Regionale Privilegierte (Listen der Kategorien werden je nach Region erstellt), die kostenlose Medikamente erhalten (oder gleichwertigen Geldwert) oder 50 % Ermäßigung auf den Medikamentenpreis:
- wie von der Region beschlossen
Patienten mit bestimmten Krankheiten haben Anspruch auf alle Medikamente kostenlos:
- HIV-Infektion und AIDS
- Onkologische Erkrankungen (unheilbare Patienten haben auch Anspruch auf kostenloses Verbandsmaterial)
- Lepra
- Diabetes (zusätzlich können diese Patienten Ethanol (zur Desinfektion), Insulinpens und -nadeln erhalten, und diagnostisches Material)
- Psychiatrische Erkrankungen (für Patienten, die in spezialisierten Industriebetrieben arbeiten, wo sie in Arbeitstherapie, Erlernen neuer Berufe im Anschluss an eine Beschäftigung in diesen Einrichtungen)
- Schizophrenie und Epilepsie
- Gaucher-Krankheit
- Zystische Fibrose
- Mukopolysaccharidose, Typen römisch eins, römisch II und VI
- Nicht spezifizierte plastische Anämie
- Hereditärer Mangel an Faktor römisch II (Fibrinogen), römisch VII (labil) und römisch zehn (Stewart-Prower)
Patienten mit bestimmten Krankheiten haben Anspruch auf kostenlose Arzneimittel für diese Krankheit:
- Zerebrale Lähmung
- Strahlenkrankheit
- Systemische chronische Hautkrankheiten
- Asthma
- Myokardinfarkt (erste 6 Monate)
- Multiple Sklerose
- Myopathie
- Pierre-Marie-Zerebellar-Ataxie
- Parkinson-Krankheit
- Helminthiasis (für bestimmte Gruppen von Personen)
Patienten, die an bestimmten Krankheiten leiden oder sich bestimmten Verfahren unterzogen haben und die Anspruch auf kostenlose Arzneimittel für ein Jahr haben:
- Myokardinfarkt
- Schlaganfall (zerebraler vaskulärer Unfall, Blutung oder Infarkt)
- Koronararterien-Bypass-Operation (CABG)
- Koronarangioplastie und Stenting
- Herz-Ablationsverfahren
Patienten mit 17 weiteren Krankheiten haben Anspruch auf kostenlose Arzneimittel zur Behandlung bestimmter Symptome:
Hepatozerebrale Dystrophie; Phenylketonurie; akute intermittierende Porphyrie; hämatologische Erkrankungen: Hämoblastose (Krankheiten mit anormaler Vermehrung des blutbildenden Gewebes wie Leukämie), Zytopenie (Krankheiten mit einem Mangel an zellulären Elementen des Blutes wie Granulozytopenie, Leukozytopenie, niedrige Thrombozytenzahl), hereditäre Hämopathien (Blutkrankheiten); Brucellose (schwer); rheumatische Erkrankungen: rheumatisches Fieber, rheumatoide Arthritis, systemischer Lupus erythematodes, Morbus Bechterew (Spondylitis ankylosans); Zustand nach Herzklappenoperationen; Zustand nach Transplantation von Organen und Geweben; Hypophysennanismus (Zwergenwuchs; Kleinwuchs; Wachstumsverzögerung); frühzeitige sexuelle Entwicklung; Myasthenie; chronische urologische Erkrankungen; Syphilis; Glaukom, Katarakt; Addison-Krankheit; Erkrankungen des Darms und urologische Erkrankungen, die zur Bildung eines Stomas führen, sowie primäre Immundefizienz (für Patienten unter 18 Jahren)
3.4. Sonstige soziale Sicherheit
Die soziale Sicherheit in Russland umfasst sowohl die Sozialhilfe (beitragsfreie Programme) als auch die Sozialversicherung (Alters- und Invaliditätsrenten), wobei sowohl Geld- als auch Sachleistungen wie kostenlose oder subventionierte Waren und Dienstleistungen (z. B. Mietzahlungen, Haushaltsgeräte, Medikamente, Transportmittel, usw.) umfasst sind. Die meisten Sozialleistungen werden auf der Grundlage persönlicher oder haushaltsbezogener oder Haushaltsmerkmalen, wie z. B. Mutterschaftsbeihilfen, Anzahl der Kinder oder Behinderungen gewährt. Infolgedessen erhalten schätzungsweise drei Viertel der Bevölkerung in irgendeiner Form Unterstützung. Russland hat kürzlich eine nationale Sozialinitiative angekündigt, die einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz verfolgt und die Sozialdienste auf den Haushalt oder das Individuum ausrichtet. Dies soll die Kundenerfahrung, die Qualität und die Zugänglichkeit von Sozialdiensten verbessern. Mit Ausnahme der Programme, die sich auf besondere Verdienste und besondere Arbeitsbedingungen beziehen, zielen die Sozialhilfeprogramme Russlands darauf ab, den Druck durch Einkommensverluste zu mildern.
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3.4.3. Altersrenten und Zuwendungen für Behinderte (und Hinterbliebene)
Rentenleistungen gibt es für ältere Erwachsene (Alter 60 Jahre für Männer und 55 Jahre für Frauen), Menschen mit Behinderungen und Hinterbliebene. Der Betrag der Altersrente hängt von der Anzahl der Beiträge und der Dauer des Versicherungsverlaufs der Person ab. Die Rentenreform wurde 2019 durch das Föderale Gesetz Nr. 350-FZ eingeleitet, mit dem das Renteneintrittsalter leicht angehoben wurde. Ab 2021 haben Frauen Anspruch auf Rentenleistungen, wenn sie 56,5 Jahren und Männer ab 61,5 Jahren Anspruch auf Rentenleistungen.
Menschen mit Behinderungen können eine monatliche Rente aus der Invaliditätsversicherung erhalten, die sich nach dem Verlust der Erwerbsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit. Darüber hinaus können Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs invalide waren, Weltkriegs, des Militärdienstes oder eines schweren Arbeitsunfalls eine staatliche Invaliditätsrente erhalten.
Anspruch auf eine monatliche Hinterbliebenenrente hat ein unterhaltsberechtigtes, nicht erwerbstätiges Familienmitglied, das ein Kind unter 14 Jahren oder ein behindertes Kind betreut; Kinder, Geschwister und Enkelkinder bis zum Alter von 18 Jahren (23 Jahre für Studenten, keine Grenze für Personen, die seit ihrer Kindheit behindert sind); und Witwer(innen), Eltern oder Großeltern, die 60 Jahre oder älter (Männer) bzw. 55 Jahre oder älter (Frauen) alt sind oder behindert.
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3.4.5. Mindestlohn
Der nationale Mindestlohn beträgt ab dem 1. Januar 2021 12 792 RUB, festgelegt durch das Föderale Gesetz Nr. 473-FZ vom 29. Dezember 2020 festgelegt, was einer Erhöhung um 22 % gegenüber 2019 entspricht. Das Arbeitsgesetzbuch legt fest, dass der Mindestlohn dem Existenzminimum der arbeitenden Bevölkerung entspricht, basierend auf dem Existenzminimum der arbeitenden Bevölkerung im zweiten Quartal des Vorjahres (Föderales Gesetz Nr. 421-FZ vom 28. Dezember 2017).
3.4.6. Maßnahmen zur Armutsbekämpfung
Etwa 13 % der russischen Bevölkerung gelten als arm, wobei die Spanne je nach Region von weniger als 1 % bis über 50 %, je nach Region reicht. Viele sind arm aufgrund von niedrigen Gehältern, die unter der Armutsgrenze liegen: Bis zu zwei Drittel der Armen leben in Haushalten, in denen mindestens ein Mitglied erwerbstätig ist. Die Mehrheit der Armen, 79 % im Jahr 2017, erhält zwar irgendeine Form der sozialen Sicherheit, die Programme nicht vorrangig auf die Armen ausgerichtet, und die Leistungen reichen nicht aus, um sie aus der Armut zu führen. Die meisten Programme der sozialen Sicherheit wählen die Begünstigten auf der Grundlage soziodemografischer Kategorien aus und gewähren unabhängig von der tatsächlichen Bedürftigkeit gleiche Leistungen.
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3.5.1. Kosten für Arztbesuche
Laut Gesundheitsinformations-Webseiten für Expatriates in Russland betragen die Kosten für eine Konsultation eines Haus- oder Facharztes im Allgemeinen 21,27 bis 91,88 EUR, eine zahnärztliche Beratung 42,54 bis 62,11 EUR, eine Übernachtung in einem Krankenhaus 42,54 bis 85,11 EUR und ein privates Einzelzimmer kostet bis zu EUR 463.68. OOP-Ausgaben werden zur Ergänzung der OMS- oder VMI-Versorgung oder von Patienten ohne Versicherung verwendet. Bei den OOP-Ausgaben kann es sich sowohl um offizielle Zahlungen im öffentlichen oder privaten Sektor als auch um informelle Zahlungen im öffentlichen Sektor, um eine bestimmte Behandlung zu erhalten, oder als Gratifikation. In 2015 zahlten 3 % der Patienten häufiger informell als formell und häufiger im öffentlichen als im privaten Sektor (29 % bzw. 22 %). Der Rückgang von 7 % im Jahr 2007 deutet darauf hin, dass die informellen Zahlungen allmählich abnehmen.
3.5.2. Kosten von Medikamenten
Die Medikamente in der VEDL sowie die Medikamente für Menschen mit sieben kostenintensiven Krankheitskategorien sind für einige Patientengruppen kostenlos, aber nicht für alle. Die Preise für Medikamente in der VEDL enthaltenen Medikamente werden vom Staat auf allen Ebenen - vom Hersteller bis zur Apotheke - streng kontrolliert. Für bestimmte Gruppen werden Medikamente vollständig erstattet. Medikamente für lebensbedrohliche und chronisch fortschreitende seltene Krankheiten ("Orphan Drugs") können in einigen Regionen kostenlos sein, je nach regionalem Budget. Allerdings sind nur 4 % der Bevölkerung von diesen durch diese Arzneimittelprogramme abgedeckt. Die Kosten für Orphan-Medikamente sind hoch und stellen eine zunehmende Belastung für die regionalen Haushalte dar: Zwischen 2012 und 2016 sind die Gesamtausgaben für die medizinische Versorgung von Bürgern mit seltenen (Orphan-)Krankheiten von 2,13 Milliarden RUB (24,4 Millionen EUR) auf 15,5 Milliarden RUB (177,61 EUR) gestiegen. Dies entspricht einem Viertel der regionalen Ausgaben für Arzneimittel (einschließlich der eingehenden föderalen Transfers). Die allgemeine Bevölkerung muss für ihre Medikamente selbst aufkommen. Dies gilt insbesondere für die ambulante Versorgung. Etwa die Hälfte der OOP-Ausgaben entfällt auf Arzneimittel und medizinische Artikel. Auch die Verfügbarkeit von Medikamenten ist nach wie vor uneinheitlich. Die Beschaffung und Verteilung von Medikamenten sind unzuverlässig, was zu Engpässen bei der Versorgung mit Arzneimitteln oder zu starken Preisschwankungen führt. Zu den Ursachen für dieses Problem sind unter anderem politische Sanktionen, die Importe einschränken, und die anschließende Verlagerung von importierten zu einheimischen Arzneimitteln.
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7. Psychiatrie
7.1. Allgemeine Informationen
Die Psychiatrie ist der Zweig der Medizin, der sich mit der Diagnose, Behandlung und Prävention von psychischen, emotionalen und Verhaltensstörungen befasst. In diesem Bericht bezieht sich die Psychiatrie auf psychische Erkrankungen, wie Stimmungsstörungen wie Depressionen, Angststörungen wie posttraumatische Belastungsstörung (PTSD); psychotische Störungen wie Schizophrenie, bipolare Schlafstörungen; und Suchtprobleme wie Alkohol- und Opioidabhängigkeit.
Art der psychiatrischen Erkrankungen
- Psychosen und Zustände der Demenz (Schizophrenie, schizoaffektive Psychosen, schizotypische Störung, affektive Psychose mit nicht kongruenten Wahnvorstellungen)
- Psychische Störungen nicht-psychotischer Art (einschließlich: organische nicht-psychotische Störungen, einschließlich nichtpsychotische Störungen, einschließlich epilepsiebedingter Störungen; affektive nichtpsychotische Störungen, einschließlich bipolarer Störungen, Angststörungen, dissoziative, stressbedingte, somatoforme und andere nicht psychotische psychische Störungen; andere nicht psychotische Störungen, Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen und nicht spezifizierte nicht psychotische Störungen)
- Störungen der Persönlichkeit und des Verhaltens von Erwachsenen;
- Mentale Retardierung "3
- Anzahl der Patienten, die beratende und medizinische Hilfe erhalten (gemischte Gruppe, schwer zu kategorisieren aber Patienten, die professionelle psychiatrische Hilfe suchten und eine Beratung, Behandlung oder beides)
- Alkoholismus und Alkoholikerpsychosen
- Sucht und Drogenmissbrauch
Stigmatisierung, mangelnde Befolgung der ICD10-Leitlinien, Zurückhaltung bei der Meldung und Abneigung, eine Behandlung in Anspruch zu nehmen, legen nahe, diese Zahlen mit Vorsicht zu betrachten. Nach Angaben der WHO waren die 5 häufigsten psychiatrischen Erkrankungen, die 2019 zu Todesfällen und DALY-Verlusten führten Selbstverletzungen, Alkoholmissbrauchsstörungen, Drogenmissbrauch, zwischenmenschliche Gewalt und Gewalt und Essstörungen.
7.1.2. Nationale Politiken und Programme
Der Zugang zur psychischen Gesundheitsversorgung und die Rechte des Einzelnen sind im russischen Bundesgesetz verankert, das für alle russischen Staatsbürger und in Russland lebenden Ausländer gilt. Artikel 16 des Gesetzes über die psychische Gesundheitsfürsorge und die Garantien der Bürgerrechte im Rahmen der Versorgung enthält eine Liste psychosozialer Dienstleistungen und sozialer Unterstützungsmaßnahmen die vom Staat garantiert werden:
- Psychische Notfallversorgung;
- Beratung für Diagnose, Behandlung, psychopräventive und rehabilitative Leistungen in stationären und ambulanten Einrichtungen;
- alle Formen der psychiatrischen Untersuchung, die zu einer vorübergehenden Behinderung führen;
- soziale Unterstützung und Beschäftigungshilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen;
- Lösung von Problemen im Zusammenhang mit dem Sorgerecht;
- Rechtsberatungen und andere Arten von Rechtshilfe in psychiatrischen und psychoneurologischen Einrichtungen;
- soziale Betreuung und Pflege für behinderte und ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen;
- Bildung für Menschen mit Behinderungen und Kinder mit psychischen Erkrankungen;
- psychiatrische Unterstützung bei Naturkatastrophen und Unglücksfällen.
Um die psychische Gesundheitsversorgung und die soziale Unterstützung für diejenigen, die sie benötigen, zu gewährleisten, hat der Staat stationäre und ambulante Einrichtungen für die psychische Gesundheitsfürsorge geschaffen und diese, wenn möglich in der Nähe der Wohnorte der Patienten. Außerdem hat er allgemeine und berufliche Bildungseinrichtungen für Kinder mit psychischen Erkrankungen.
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Die wichtigsten Einrichtungen für die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen aus dem öffentlichen und privaten Gesundheitssektors sind:
- St Petersburg Psychiatric Hospital of Specialised Type (with Intense Observation)
- St Petersburg Psychiatric Hospital no.1 named afterP. P. Kashchenko
- St Petersburg Bechterev Centre Addiction clinic (alcoholism, drugs, gambling, etc.); network of clinics in 20+ areas
7.2. Zugang zur Behandlung
7.2.1. Struktur der psychischen Gesundheitsversorgung im öffentlichen Gesundheitssystem in Russland
In jeder Region Russlands, d. h. in der Oblast, der Republik usw., ist ein leitender Psychiater für die Organisation der psychiatrischen Versorgung zuständig und sorgt für die Koordinierung der psychiatrischen Versorgung, ihre Kontinuität und die allgemeine Aufsicht. Die psychiatrische Versorgung wird durch die bereits beschriebenen sekundären und tertiären Einrichtungen angeboten. Diagnose- und Behandlungsangebote im primären Gesundheitssektor sind heute selten. Die psychiatrische Notfallversorgung wird durch den öffentlichen Gesundheitsdienst gewährleistet. Es gibt spezialisierte psychiatrische GA-Teams in Großstädten, die aus einem Psychiater und einem Feldscher (Arzthelferin) oder Krankenschwester bestehen. In ländlichen Gebieten wird die psychiatrische Notfallversorgung von allgemeinen GA-Teams übernommen. Es gibt separate psychiatrische Abteilungen für akute und stabile Erkrankungen, für Kinder, Jugendliche und erwachsene Patienten. Große psychiatrische Krankenhäuser verfügen auch über Intensivstationen, somatische, infektiöse und TB Stationen sowie Sanatorien. Spezialisierte Einrichtungen bieten Betreuung für Patienten mit nicht psychotischen Problemen. So behandeln beispielsweise "narkologische Krankenhäuser" und Dispensarien "narkologische" Probleme, einschließlich Alkoholmissbrauch.
Patienten, die nicht in der Lage sind, Aktivitäten des täglichen Lebens auszuführen, und die eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung benötigen, die keine Angehörigen haben, die ihnen helfen könnten, werden in psycho-neurologische "Internate" - Langzeiteinrichtungen, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche geöffnet sind. Nicht dringende wird in psycho-neurologischen Dispensarien mit 5 oder mehr Psychiatern oder in psychiatrischen Ambulanzen in regulären ambulanten Einrichtungen von Polikliniken. Andere Einheiten der Ambulante Einrichtungen sind Tages- und Nachtpflegeeinrichtungen, therapeutische Arbeitswerkstätten, spezialisierte Einheiten in Fabriken und Wohnheimen.
Die psychische Gesundheitsversorgung im öffentlichen System wurde kritisiert (siehe auch "Grenzen der Zugänglichkeit und Qualität der psychischen Gesundheitsversorgung"). Während der dritten Welle der Reform der psychischen Gesundheit wurde ein staatlicher Rahmen als Orientierungshilfe geschaffen. Darin wurde auf die unzureichende Nutzung von psychosozialer Therapien, das Fehlen multidisziplinärer Teams für psychische Gesundheit und die Tendenz, Patienten häufig für lange Zeit in Krankenhäuser einzuweisen, da die psychische Gesundheitspflege im psychosozialen Versorgung im Primärsektor, der behördenübergreifenden Zusammenarbeit und der Nachsorgedienste in Randgebieten. Die Standard-Diagnosetechniken, das klinische Gespräch, die Kommunikation mit dem Patienten und die Beobachtung wurden durch vereinfachte, schnelle Verfahren und Fragebögen ersetzt, was zu einer die Qualität der Versorgung gesenkt hat, da die Patientenbelastung der Psychiater gestiegen ist.
7.2.2. Die Praxis der Psychiatrie in Russland
Das russische psychiatrische System wird von verschiedenen Seiten kritisiert. Psychologie wird in Russland nicht als medizinisches Fachgebiet betrachtet, und es besteht eine wichtige Unterscheidung zwischen Psychologen und klinischen Psychologen. Klinische Psychologen werden an medizinischen Universitäten ausgebildet und arbeiten in medizinischen Einrichtungen neben Psychiatern. Psychologen dürfen weder Diagnosen stellen noch Behandlungen verschreiben. Sie werden an nicht-medizinischen Universitäten ausgebildet und sind nicht als Ärzte qualifiziert.
In Russland gibt es kein Gesetz das die Tätigkeit von Psychologen regelt, und es gibt keine verlässlichen Statistiken über die Zahl der Psychologen. Diagnostische Beobachtungen oder Empfehlungen von Ärzten anderer Fachrichtungen werden nur als vorläufige Beweise angesehen. Neznanov und Vasileva stellen fest, dass das russische Recht betont, dass die Einweisung in eine spezialisierte Einrichtung nur zum Zwecke der Behandlung dienen soll.
Personen, die gefährliche Handlungen begehen, können nach dem Strafgesetzbuch der Russischen Föderation mit richterlicher Genehmigung und den erforderlichen Beweisen unfreiwillig in ein Krankenhaus eingewiesen werden. Extremfälle werden in eine sichere psychiatrische Einrichtung eingewiesen und alle sechs Monate von einer psychiatrischen Kommission neu bewertet, die dann gegebenenfalls weitere Entscheidungen über die Notwendigkeit und die Art der Behandlung trifft.
In der Praxis vermeiden ambulante psychiatrische Kliniken die nicht freiwillige Einweisung und ziehen es vor, Patienten sofort in ein Krankenhaus einzuweisen, da sie eine unmittelbare Gefahr darstellen. Wie russische Psychiater festgestellt haben, werden Patienten, bei denen eine Psychose oder Demenz diagnostiziert wurden, bei ihrer Ankunft gezwungen, Einverständniserklärungen für Krankenhausaufenthalte und Behandlungen zu unterschreiben. Etwa 20 % sind jedoch nicht in der Lage, eine informierte Zustimmung zu geben, so dass ihre Zustimmung gefälscht wird.
7.2.3. Beschränkungen der Zugänglichkeit und Qualität der psychischen Gesundheitsversorgung
In einigen Regionen haben Patienten nur sehr eingeschränkten Zugang zur psychischen Gesundheitsversorgung, da sich die meisten Einrichtungen in städtischen Gebieten befinden und in abgelegenen und dünn besiedelten Gebieten viel seltener sind, während andere Regionen nur Tageskliniken und Rehabilitationsabteilungen beherbergen. In einigen Regionen, gibt es praktisch keine psychiatrischen Einrichtungen. Patienten, die in ländlichen und/oder abgelegenen Gebieten wohnen, müssen oft in die nächstgelegene Stadt oder Regionalhauptstadt fahren, um auf eigene Kosten eine angemessene Versorgung zu bekommen. Einkommensschwächere Regionen verfügen über weniger Ressourcen im Gesundheitswesen und können daher eine geringere Qualität der Versorgung bieten.
Die Verfügbarkeit von ambulanten Einrichtungen ist kontinuierlich zurückgegangen; so ist beispielsweise die Zahl der ambulanten Einrichtungen beispielsweise von 173 im Jahr 2005 auf 92 im Jahr 2015 und 74 im Jahr 2020 gesunken.
Die Zahl der Psychotherapiepraxen wurde von 1 095 im Jahr 2005 über 727 im Jahr 2013 auf 676 im Jahr 2015 reduziert. In 2012-2013 waren 150 Rehabilitationsdienste für 83 der 85 föderalen Subjekte Russlands geplant, aber 56,7 % davon befanden sich 2015 noch in der Entwicklung, während 43,3 % bereits vor der 3. Welle der Reformen der psychischen Gesundheitsfürsorge, allerdings unter anderem Namen, in Betrieb waren. 2014 war eine weitere Herausforderung im Zusammenhang mit dem Mangel an ambulanter Versorgung die Notwendigkeit für Psychiatriepatienten soziale Unterstützung durch ihre Familien benötigen, um unabhängig leben zu können. Diejenigen ohne familiäre Unterstützung wurden in sogenannten "Internaten" untergebracht. Eine solche Unterbringung kann Auswirkungen haben auf Patienten, die in ländlichen und/oder abgelegenen und dünn besiedelten Gebieten leben. Waisenkinder und Einzelgänger Menschen, die keine soziale Unterstützung haben oder obdachlos sind, haben oft große Schwierigkeiten Zugang zur Pflege haben. Savenko und Perekhov berichteten 2014 in der Psychiatric Times, dass ein Drittel der Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern in Russland unter unhygienischen Bedingungen untergebracht sind, mit 15 Personen in einem Raum mit vergitterten Fenstern und ohne Trennwände oder ohne Zugang zu einer Toilette. Sie behaupten auch, dass eine schätzungsweise 90 % der Patienten keine genauen Informationen über ihre Diagnose oder Behandlung und erhalten keinen Zugang zu ihren medizinischen Unterlagen.
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7.4. Kosten der Behandlung
Die psychische Gesundheitsfürsorge wird im Rahmen des OMS allen anspruchsberechtigten Patienten in Russland kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Preise für Behandlungen im privaten Sektor sind 30-50 % höher, und die Kosten sind in wohlhabenderen Regionen höher als in ärmeren.
Öffentliche Einrichtungen müssen sich an die offiziell veröffentlichten Preise halten, während die Preise in privaten Einrichtungen durch den privaten Gesundheitsmarkt reguliert werden.
7.5. Kosten für Medikamente
Psychiatrische Arzneimittel sind im Allgemeinen in der gesamten Russischen Föderation zugänglich. Theoretisch sind Psychopharmaka in der gesamten Russischen Föderation zugänglich, doch ist die Verfügbarkeit in städtischen und insbesondere in großstädtischen Regionen wesentlich besser. Die Apotheken, insbesondere die krankenhausübergreifenden Apotheken, legen Vorräte an, um spezifische Engpässe abzufedern. Die wichtigsten Psychopharmaka sind in Russland zugelassen, und nur zugelassene Medikamente können legal hergestellt oder ins Land eingeführt werden. Einige, aber nicht alle, sind in der der VEDL. Die Preise für die in der VEDL aufgeführten Medikamente werden vom Staat reguliert und streng kontrolliert.
Die in psychiatrischen Einrichtungen verschriebenen Medikamente dürfen die offiziellen Preise nicht überschreiten. Das Registrierungsverfahren ist langwierig, teuer und umständlich und kann den Zugang zu neueren Medikamenten, die in anderen Ländern entwickelt wurden. In den letzten Jahren hat der Staat erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Produktion von Medikamenten in Russland zu fördern und die Abhängigkeit von Einfuhren zu verringern.
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10. Pulmologie
10.1. Allgemeine Informationen
Die Pulmologie befasst sich mit der Epidemiologie, den Mechanismen, der Prävention und der Diagnose von Krankheiten die den Respirationstrakt betreffen. Im Kontext dieses Berichts bezieht sich die Pulmologie auf Tuberkulose (TB), Asthma und chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD).
10.1.1. Epidemiologischer Kontext
Laut Rosstat gab es im Jahr 2018 52 833 000 Fälle von Erkrankungen der Atmungsorgane Organen. Im Jahr 2019 wurden 54 273 000 Fälle gemeldet. Im Jahr 2018 gab es pro 1 000 Einwohner 369,8 Fälle von Erkrankungen der Atmungsorgane und im Jahr 2019 waren es 356,2 Fälle pro 1 000 Einwohner. Es gibt keine konsistenten Daten zur Prävalenz oder Inzidenz von Krankheiten, die aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht oder Region.
Diese Zahlen setzen sich aus aggregierten Daten für die folgenden Krankheiten zusammen, die vom MoH: Erkrankungen der Atemwege: Lungenentzündung; Allergische Rhinitis (Heuschnupfen); Akute Laryngitis und Tracheitis; Chronische Erkrankungen der Mandeln und Polypen, Peritonsillarabszess; Chronische und nicht spezifizierte Bronchitis, Emphysem; akute obstruktive Laryngitis [Krupp] und Epiglottitis; Asthma, Status asthmaticus; interstitielle, eitrige Lungenerkrankungen, andere Erkrankungen des Rippenfells und andere chronisch obstruktive Lungenerkrankungen.
Es gibt statistische Belege für einen Rückgang der TB-Raten. Mehrere Studien haben die Raten geschätzt.
Was die Todesfälle bei Patienten betrifft, so ist Tuberkulose bei infizierten Patienten häufig mit HIV kombiniert. Die Zahl terminaler TB/HIV-Koinfektionen ist jedoch zwischen 2010 und 2019 zurückgegangen. Im Jahr 2017 lag die jährliche TB-Mortalitätsrate mit 6,5 Todesfällen pro 100.000 Einwohner offenbar unter der Mindestrate von 7,4 Todesfällen pro 100 000 Einwohner, die 1989 dokumentiert wurde.
Die WHO berichtete, dass Krebserkrankungen der Luftröhre, der Bronchien und der Lunge zusammen die dritthäufigste Todesursache in Russland war, mit einer geschätzten Todesrate von 37,3 Todesfällen pro 100 000 Einwohner und waren im Jahr 2019 für schätzungsweise 949,2 DALYs verantwortlich. COPD rangierte ebenfalls hoch als Russlands achthäufigste Todesursache, mit schätzungsweise 25,1 Todesfällen pro 100 000 Einwohner und einer Rate von 614 DALYS pro 100 000 Einwohner. Asthma verursachte weniger Todesfälle, mit nur 1,2 Fällen pro Bevölkerung im Jahr 2019 und 120 verlorenen DALYs.
Regionale Unterschiede in der Verteilung von chronischen Atemwegserkrankungen (CRDs) werden in den in den vom Föderalen Staatlichen Statistikdienst veröffentlichten Statistiken, die in einer Studie von 2017 über chronische Atemwegserkrankungen im Norden Russlands zitiert wird. Aus dieser Studie geht hervor, dass in dieser nördlichen Region - einem Gebiet, das 70 % der Landmasse des Landes ausmacht und 17,8 % der Gesamtbevölkerung Russlands ausmacht – eine doppelt so stark von CRD betroffen ist wie der Rest des Landes. Dies ist auf eine größere Anzahl von Risikofaktoren zurückzuführen, wie z. B. industrielle Luftverschmutzung, berufliche Risiken und Rauchen.
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10.2. Zugang zur Behandlung
10.2.1. Struktur und Organisation des Systems der Lungenheilkunde
Gesundheitsversorgung in Russland
(a) Öffentliches Gesundheitssystem
In Russland werden Patienten mit Verdacht auf eine Lungenerkrankung zunächst in der primären Gesundheitsversorgung behandelt und bei Bedarf an ein Krankenhaus der Sekundärversorgung überwiesen. Die Patienten werden zunächst von einem Bezirksinternisten oder Hausarzt untersucht. Hausärzte führen in der Regel diagnostische Routineuntersuchungen durch, wie z. B. ein komplettes Blutbild, eine Röntgenaufnahme der Brust, eine Spirometrie oder ein grundlegendes Stoffwechselprofil usw. Wenn eine Diagnose noch unklar und sind weitere Konsultationen und/oder Tests erforderlich, wird der Patient an einen Lungenfacharzt in derselben Poliklinik oder Konsiliarpoliklinik überwiesen. Viele Lungenärzte arbeiten im Gegensatz zu Ärzten in anderen Ländern nicht auf Intensivstationen, sondern ambulant als Berater. Patienten, die einen Krankenhausaufenthalt benötigen, werden entweder in einer internistischen oder pulmologischen Abteilung eines städtischen oder regionalen Krankenhauses aufgenommen. Die letztgenannte Abteilung gibt es nur in großen regionalen oder städtischen Krankenhäusern. Daher werden Patienten in unmittelbarer in der Nähe dieser Einrichtungen und in Gebieten mit hohem Einkommen, die in der Regel über eine bessere medizinische und in einkommensstarken Gebieten, die in der Regel über eine bessere medizinische Versorgung verfügen, einen ausreichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung bei pulmologischen Erkrankungen haben. Patienten mit akutem oder schwerem Atemversagen werden auf der Intensivstation behandelt. Patienten mit pulmonaler Tuberkulose (PTB) werden in spezialisierten Einrichtungen, so genannten Anti-TB-Dispensaries, behandelt, die die über ambulante und stationäre Abteilungen sowie über Sanatorien für genesende Patienten verfügen.
Ab 2014 wurden alle Patienten mit positivem Abstrich zur stationären Behandlung in die Dispensary stationär aufgenommen, und ausstrichnegative Patienten wurden in der Ambulanz behandelt. Alle Patienten mit TB und Todesfälle durch TB in der Region wurden registriert. Jeder Patient, der eine Diagnose erhielt, musste einen Fragebogen ausfüllen, um soziodemografische Merkmale zu erfassen, medizinische Symptome und eventuelle Verzögerungen. Die WHO-Strategie zur Tuberkulosebekämpfung - direkt beobachtete Kurzzeitbehandlung (DOTS, auch TB-DOTS genannt) - war 2014 aktiv, ebenso wie das MDR-TB-Managementprogramm, eine Strategie für das Medikamentenmanagement und ein laufendes Screening gemäß der WHO-Diagnosedefinition.
(b) Privates Gesundheitssystem
Gesundheitsversorgung und Behandlungen für bestimmte pulmologische Erkrankungen sind auch im privaten Gesundheitssektor. Im Jahr 2014 gab es keine privaten Gesundheitsdienstleister, die TB behandelten.
Zwei Beispiele für private Behandlungszentren, die ambulante Klinik- und stationäre anbieten, sind:
- JSC "Medicine" in Moskau, das Prävention, Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen des Atmungssystems wie Bronchitis, Asthma, obstruktive Lungenerkrankungen Bronchitis, Asthma, obstruktive Lungenerkrankung und multiple Bronchiektasen, Lungenentzündung, allergische Alveolitis und Fieber unklarer Genese, sowie Tests und diagnostische Maßnahmen wie Röntgen, Ultraschall Untersuchung und Bronchoskopiepunktion; und
- das Nationale Medizinisch-Chirurgische Zentrum Pirogov in Moskau, das akute und chronische Bronchitis, chronischen Husten und Kurzatmigkeit verschiedener Ätiologien, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Asthma bronchiale, Lungenentzündung und interstitielle Lungenerkrankungen Erkrankungen.
10.2.2. Beschränkungen des Zugangs der Patienten zur Gesundheitsversorgung bei pulmologischen Erkrankungen in Russland
Der Zugang zu Fachärzten für Pulmologie, Thoraxchirurgen und Behandlungszentren kann in ländlichen und dünn besiedelten, abgelegenen Gebieten eingeschränkt sein und kann sich als schwierig erweisen. Die meisten Patienten in Die meisten Patienten in diesen Gebieten werden in nahe gelegene Städte oder regionale Hauptstädte überwiesen, um von einem Lungenfacharzt oder Thoraxchirurgen untersucht zu werden. Die Reisekosten sind vom Patienten selbst zu tragen, was unerschwinglich sein und ihren Zugang zur Gesundheitsversorgung beeinträchtigen können. Patienten mit geringem Einkommen sind auf die öffentliche Gesundheitsversorgung angewiesen und haben in ärmeren Gegenden einen niedrigeren Standard der Gesundheitsversorgung.
10.2.3. Ressourcen
(a) Einrichtungen
Das führende nationale Zentrum für Pulmologie ist die Abteilung für Pulmologie und die Klinik für Pulmologie und Beatmungsmedizin an der römisch eins.M. Sechenov Ersten Moskauer Staatlichen Medizinischen Universität, die für sich in Anspruch nimmt, die beste medizinische Universität Russlands zu sein. Die Mitarbeiter der dieser Abteilung arbeiten gemeinsam in den pulmonalen, konsultativen und diagnostischen Abteilungen und der Abteilung für Funktionsdiagnostik des Universitätsklinikums № 4.536F
(b) Personal
Es gibt keine Statistiken über die Verfügbarkeit von Lungenärzten in den in den verschiedenen Regionen Russlands. Im Jahr 2018 gab es in Russland 732 Thoraxchirurgen, was einer geschätzten Rate von 0,05 Thoraxchirurgen pro 10 000 Einwohner entspricht. Allerdings sind in einigen Regionen - Autonomer Bezirk Nenetzkij, Jüdisches Autonomes Gebiet, Tschukotskij Autonomer Bezirk, die Republiken Altai, Tyva und Khakasiay und andere - gab es keine Thoraxchirurgen Chirurgen zur Verfügung. Physiologe oder Physiater ("фтизиатр" auf Russisch) ist eine medizinische Fachrichtung in Russland. Diese Ärzte diagnostizieren und behandeln TB-Patienten sowohl stationär als auch ambulanten Einrichtungen. Im Jahr 2018 gab es in Russland 7 015 Physiologen, was einer geschätzten Rate von 0,48 Physiologen pro 10 000 Einwohner. Von diesen Spezialisten waren 3 158 ambulante Bezirksärzte Physiologen, was einer geschätzten Rate von 0,22 Physiologen pro 10 000 Einwohner entspricht.
10.3. Versicherung und nationale Programme
Wie die Gesundheitsfürsorge für die breite Bevölkerung wird auch die pulmologische Gesundheitsfürsorge durch das staatliche Krankenversicherungssystem OMS abgedeckt. Die Gesundheitsversorgung wird russischen Staatsbürgern, Personen mit ständigem Wohnsitz oder Langzeitvisum und/oder rechtmäßig Beschäftigten gewährt, die eine OMS-Police besitzen und in Russland gemeldet sind. Zurückkehrende russische Migranten und ausländische Migranten in Russland sind durch die OMS abgedeckt, sobald sie als rechtmäßige Einwohner registriert sind. Dringende Behandlungen werden generell kostenlos angeboten.
Die OMS deckt die pulmologische Behandlung aller anspruchsberechtigten Patienten ab, einschließlich invasiver Verfahren und Operationen. Der OMS deckt Medikamente in stationären Einrichtungen, z. B. in öffentlichen Krankenhäusern, ab, nicht jedoch ambulant verschriebene Medikamente. Es gibt keine universelle Medikamentenabdeckung per se, aber bestimmte Patientenkategorien haben Anspruch auf subventionierte oder ermäßigte Preise, wenn sie ein gültiges Rezept haben, und einige haben auch Anspruch auf kostenlose Medikamente. Die unzureichende Finanzierung blieb auch 2017 ein Problem: Die staatlichen Gesundheitsausgaben blieben unter dem von der WHO empfohlenen Minimum von 6 % und betrugen etwa 4 % des BIP.
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10.4. Kosten der Behandlung
10.4.1. Überblick
Die pulmologische Versorgung ist im Rahmen des OMS für alle anspruchsberechtigten Patienten in Russland kostenlos. Die Behandlungspreise sind im privaten Sektor 30 % bis 50 % höher als im öffentlichen Gesundheitssystem. Auch sind die Kosten in wohlhabenderen Regionen höher als in ärmeren Regionen. Öffentliche Einrichtungen müssen sich an die offiziell veröffentlichten Preise halten, während die Preise in privaten Einrichtungen durch den privaten Gesundheitsmarkt reguliert werden.
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10.5. Kosten der Medikamente
10.5.1. Überblick
Medikamente für pulmologische Erkrankungen sind theoretisch in ganz Russland zugänglich, aber der Zugang ist in städtischen und insbesondere in großstädtischen Regionen wesentlich besser. Die Apotheken, insbesondere die Krankenhausapotheken, legen einen Vorrat an Medikamenten an, um spezifische Engpässe abzufedern. Die wichtigsten Arzneimittel gegen Lungenkrankheiten sind in Russland zugelassen, und nur zugelassene Medikamente dürfen legal hergestellt oder ins Land eingeführt werden. Viele sind in der nationalen VEDL aufgeführt. Die Preise für die Medikamente auf dieser Liste sind staatlich geregelt und werden streng kontrolliert, und die in öffentlichen Einrichtungen verschriebenen Medikamente müssen sich an die von den regionalen OMS-Fonds festgelegten Preise halten.
Das Registrierungsverfahren ist teuer und umständlich und kann die Verfügbarkeit neuerer, in anderen Ländern entwickelter Medikamente einschränken. In den letzten Jahren hat der Staat erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Herstellung von Medikamenten in Russland zu fördern und die Abhängigkeit von Importen zu verringern.
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EUAA Bericht vom 03.10.2023, Antwort auf eine Anfrage zur Russischen Föderation: Behandlung von politischer Opposition und abweichender Meinung (15.02.-25.09.2023)
1. Allgemeine Entwicklungen
Nach der umfassenden Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 haben die autoritären Tendenzen des Regimes unter Präsident Wladimir Putin spürbar zugenommen. In ihrem Bemühen, jegliche Opposition gegen den Krieg und abweichende Meinungen zu unterdrücken, haben die Behörden die Rechte und individuellen Freiheiten weiter eingeschränkt. Wie das russische SOVA-Forschungszentrum feststellte, haben alle drei Zweige der Regierung - Legislative, Exekutive und Judikative - aktiv an der Unterdrückung der Antikriegsproteste beteiligt. Infolgedessen sahen sich Tausende von Personen sowohl in Straf- als auch in Verwaltungsverfahren konfrontiert, die sich auf "die alten antiextremistischen Rechtsnormen" und "die neu verabschiedeten Gesetze zur Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten".
Die russischen Behörden führen eine strenge Informationskontrolle durch und betrachten jegliche abweichende Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine als rechtswidrig. Im Index 2023 von Reporter ohne Grenzen (RSF) liegt Russland auf Platz 164 von 180 Ländern, was einen Rückgang um 10 Punkte gegenüber dem RSF-Index 2022. RFS stellte fest, dass fast alle unabhängigen Medien im Land entweder verboten, blockiert oder als "ausländische Agenten" oder "unerwünschte Organisationen" bezeichnet wurden, während andere mit militärischer Zensur zu kämpfen haben. Nach einem von Präsident Putin am 14. Juni 2022 unterzeichneten Gesetz hat die Generalstaatsanwaltschaft die "totale Kontrolle" über die Medienaktivitäten im Land. Dazu gehört die erweiterte Befugnis, Informationsquellen zu blockieren und den in Russland ansässigen Medien die Registrierungs- und Sendelizenzen zu entziehen, wenn sie "ungenaue Informationen" verbreiten, die Handlungen der russischen Armee und von Beamten im Ausland "diskreditieren", "die Behörden nicht respektieren", für Sanktionen eintreten, zu Demonstrationen aufrufen sowie sich an "Propaganda, Rationalisierung und (oder) Rechtfertigung von Extremismus". In Absprache mit dem Außenministerium ist die Generalstaatsanwaltschaft befugt, als Reaktion auf die Schließung russischer Medien durch andere Länder die Registrierung und Sendelizenzen ausländischer Medien zu widerrufen. Ende Dezember 2022 waren mehr als 9 000 Websites auf Ersuchen der Generalstaatsanwaltschaft blockiert.
Im Jahr 2022 wurden vermehrt Anhänger von Alexej Nawalny strafrechtlich verfolgt, während gegen Mitglieder der Opposition verschiedene Verwaltungs- und Strafverfahren eingeleitet wurden. Im Februar 2023 wurde gegen mindestens 23 Personen wegen ihrer Kontakte zu Nawalnys "extremistischen Organisationen" ermittelt. Im Juni 2023 verurteilte ein Gericht den ehemaligen Leiter des Hauptquartiers der Nawalny-Stiftung in der Stadt Ufa zu siebeneinhalb Jahren Haft in einer Strafkolonie "wegen zweier mit Extremismus zusammenhängender Anklagen und des Vorwurfs, für eine NRO zu arbeiten, die gegen Personen und deren Rechte verstößt".12 Im selben Monat wurde ein ehemaliger Koordinator des Nawalny-Hauptquartiers in Lipezk wegen Beteiligung an einer extremistischen Organisation angeklagt, weil er sich angeblich an Nawalnys Organisation beteiligt hatte, nachdem diese 2021 verboten worden war. Anklage wegen Beteiligung an einer extremistischen Organisation wurde auch gegen einen Einwohner von Rybinsk erhoben, weil er während einer Kundgebung zur Unterstützung von Alexej Nawalny Graffiti auf Gebäude und Bushaltestellen gemalt hatte. Am 4. Juni 2023 fanden in ganz Russland Kundgebungen zur Unterstützung von Nawalny statt.
Im Zeitraum zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 20. August 2023 verzeichnete die Menschenrechtsgruppe OVD-Info 19 786 Verhaftungen wegen "Anti-Kriegshaltung". Davon fanden fast 19 100 während der Proteste statt und rund 330 Verhaftungen erfolgten nach den Protesten. Mehr als 360 Verhaftungen standen im Zusammenhang mit Aktivitäten wie Posts in sozialen Medien, privaten Gesprächen und der Verwendung von Symbolen. Darüber hinaus registrierte OVD-Info im selben Zeitraum 525 Fälle von außergerichtlichem Druck auf Personen, die an Anti-Kriegs-Aktivitäten beteiligt waren, darunter Belästigung am Arbeitsplatz (155 Fälle), Drohungen (129 Fälle), Absage von Veranstaltungen (69 Fälle), Sachbeschädigung (64 Fälle), Verweisung von einem Studienort (61 Fälle) und Angriffe (22 Fälle).
Zusätzlich zu Zensur und Repression überwachen die Geheimdienste die Bevölkerung in großem Umfang, wobei in der U-Bahn installierte Gesichtserkennungssysteme zur Verhaftung von Demonstranten eingesetzt werden. Am 4. Juli 2023 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Fall, in dem es um die Verhaftung eines einzelnen Demonstranten ging, der über soziale Medien und Überwachungskameras in der Moskauer U-Bahn identifiziert worden war, fest, dass die in Moskau installierte Gesichtserkennungstechnologie gegen Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) und Artikel 10 (Meinungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Der EGMR stellte außerdem fest, dass zwischen 2017 und 2022 in ganz Moskau mehr als 220 000 Überwachungskameras installiert wurden.
Quellen zufolge wurden russische Bürger ermutigt, Personen, die sie eines Fehlverhaltens verdächtigen, bei der Polizei oder dem Föderalen Sicherheitsdienst (FSB) anzuzeigen, weil sie sich in Restaurants, Zügen oder Klassenzimmern unterhalten, in der U-Bahn Symbole zur Unterstützung der Ukraine tragen oder in den sozialen Medien aktiv sind. In den Schulen wurde ein patriotischer und militarisierter Lehrplan eingeführt, der die Freiheit von Lehrern, die den Behörden kritisch gegenüberstehen, stark einschränkt.
In Tschetschenien gibt es Berichten zufolge Fälle von Folter, außergerichtlichen Tötungen, gewaltsamem Verschwindenlassen und willkürlichen Inhaftierungen. Dies geschieht in einem Umfeld, in dem die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung stark eingeschränkt sind, wobei Fälle von Gewalt gegen Journalisten mangels angemessener Ermittlungen ungeklärt bleiben. Am 4. Juli 2023 wurden die Enthüllungsjournalistin der Nowaja Gaseta, Elena Milashina, die zuvor Morddrohungen von Ramsan Kadyrow erhalten hatte, und der Rechtsanwalt Alexander Nemov während ihres Besuchs in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, wo sie einem Gerichtsurteil für Zarema Musayeva beiwohnen wollten, angegriffen und schwer verletzt. Zarema Musajewa, die Mutter des tschetschenischen Aktivisten Abubakar Jangulbajew, die im Januar 2022 von tschetschenischen Strafverfolgungsbeamten in Nischni Nowgorod festgenommen wurde, wurde wegen Betrugs und Angriffs auf die Behörden zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt.
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4. Gesetze zur Bestrafung von politischem Dissens und Opposition und ihre Anwendung in der Praxis
Zu den politisch motivierten Repressionen in Russland gehört ein breites Spektrum an verwaltungs- und strafrechtlichen Anklagen, z. B. im Zusammenhang mit Extremismus und Terrorismus, Veruntreuung von Geldern und Störung der öffentlichen Ordnung.
Im Jahr 2022 stieg die Zahl der Personen, die wegen Rechtfertigung des Terrorismus verurteilt wurden, um 35 % (264 Verurteilte) und die Zahl derer, die wegen Anstiftung zum Extremismus verurteilt wurden (334 Verurteilte), um 20 % im Vergleich zu 2021. Auffällig ist auch, dass von den 65 Anklagen wegen "Aufstachelung zu Hass oder Feindschaft oder Erniedrigung der Menschenwürde aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe" im Jahr 2022 63 Verfahren gegen Internetnutzer eingeleitet wurden, weil sie die Behörden und Strafverfolgungsbehörden kritisiert hatten, unter anderem in Bezug auf die COVID-19-Beschränkungen und den Krieg in der Ukraine.
Im April 2023 verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das den Entzug der erworbenen Staatsbürgerschaft in Fällen ermöglicht, in denen Personen, die die russische Staatsbürgerschaft erworben haben, Handlungen begehen, die als Bedrohung der nationalen Sicherheit gelten. Die Liste umfasst eine Reihe von Straftaten des Strafgesetzbuchs, darunter die Verletzung der territorialen Integrität des Landes, Sabotagedelikte, Fahnenflucht, öffentliche Aufforderung zum Angriffskrieg, Gründung einer gemeinnützigen Organisation, die gegen die Rechte der Bürger verstößt, Beschädigung von Soldatengräbern, Anschläge auf das Leben von Persönlichkeiten des Staates oder des öffentlichen Lebens, Befürwortung von Sanktionen, Rehabilitierung des Nazismus, Diskreditierung der russischen Streitkräfte sowie Straftaten im Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Das Gesetz wird am 26. Oktober 2023 in Kraft treten.
Im Juli 2023 brachte eine Gruppe von Abgeordneten aus den von Russland besetzten Gebieten Krim, Sewastopol und Luhansk einen Gesetzentwurf in die untere Parlamentskammer, die Staatsduma, ein, der den Entzug der Staatsbürgerschaft von Personen vorsieht, die sich eines Verbrechens oder einer Handlung schuldig gemacht haben, die "die nationale Sicherheit Russlands gefährdet", selbst wenn die Staatsbürgerschaft durch Geburt erworben wurde. Laut OVD-Info "umfasst die Liste solcher Straftaten beispielsweise Desertion, Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation und Aufrufe zum Extremismus". Informationen über den Status des Gesetzes konnten in den von der EUAA konsultierten Quellen innerhalb der für diese Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht gefunden werden.
Nach Angaben von OVD-Info waren am 25. September 2023 713 Personen wegen ihrer Anti-Kriegs-Aktivitäten in Strafverfahren angeklagt. Laut OVD-Info wurden in 78 Regionen Strafverfahren eingeleitet, und 229 Personen wurden der Freiheit beraubt, unter anderem in Untersuchungshaftanstalten, Strafkolonien und bei medizinischer Zwangsbehandlung.
Auf der Grundlage der Daten von OVD-Info zeigt die nachstehende Tabelle die Anzahl der Personen, die im Zeitraum vom 24. Februar 2022 bis zum 23. August 2023 aufgrund verschiedener Artikel des Strafgesetzbuches wegen Antikriegsaktivitäten strafrechtlich verfolgt wurden. In den Fällen, in denen eine Person nach verschiedenen Artikeln des Strafgesetzbuches verfolgt wurde, wird jedes Vergehen separat erfasst.
4.1. "Kriegszensur"-Gesetze
4.1.1. Verbreitung von "falschen" Informationen
Am 18. März 2023 wurde Artikel 207.3 des Strafgesetzbuchs über die Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die russischen Streitkräfte und die russischen staatlichen Institutionen geändert, um die Strafbarkeit der Verbreitung falscher Informationen über die Unterstützung der russischen Streitkräfte durch Freiwilligenverbände, Organisationen oder Einzelpersonen zu erweitern. Abhängig von den konkreten Umständen des Falles kann das Strafmaß nach Artikel 207.3 zu einer Höchststrafe von 15 Jahren Gefängnis führen. Die Höchststrafe von 15 Jahren Haft gilt beispielsweise, wenn die Straftat aus politischem, ideologischem, rassischem, nationalem oder religiösem Hass oder aus Hass gegen eine bestimmte soziale Gruppe begangen wird.
Im Juni 2023 berichtete die Menschenrechtsgruppe Setevye Svobody (Net Freedoms Project), dass 56 Personen auf der Grundlage von Artikel 207.3, auch in Kombination mit anderen Artikeln, verurteilt wurden. Die Bandbreite der von den Gerichten auf der Grundlage von Artikel 207.3 verhängten Strafen lässt sich anhand der folgenden Fälle veranschaulichen. Im März 2023 verurteilte ein Moskauer Bezirksgericht einen Rentner zu sieben Jahren Gefängnis für zwei Kommentare in den russischen sozialen Medien VKontakte und begründete die Verurteilung mit politischem Hass. Im Juni 2023 wurde ein Blogger wegen seiner Kommentare auf Telegram zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt. Neben der Anklage nach Artikel 207.3 wurde er auch wegen Straftaten im Zusammenhang mit der Rehabilitierung des Nazismus und der Aufstachelung zum Hass verurteilt. Im selben Monat verurteilte ein Gericht in Kostroma einen ehemaligen Koordinator der Kostroma-Zentrale von Alexej Nawalny in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft für sechs Beiträge in sozialen Medien, die sich auf Antikriegsdemonstrationen im Ausland, zivile Opfer in der Ukraine und das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren bezogen. Im Juli 2023 wurde ein Schulpsychologe wegen eines im März 2022 in den sozialen Medien geposteten Kommentars zu einer neunmonatigen Arbeitsstrafe verurteilt. Im August 2023 wurde eine Architektin, Künstlerin und politische Aktivistin, die sich seit Mai 2022 in Haft befand, zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie im März 2022 auf VKontakte über zivile Opfer in der Ukraine infolge der russischen Angriffe gepostet hatte.
Im März 2023 wurde der freiberufliche Journalist Andrej Nowaschow gemäß Artikel 207 Absatz 3 zu acht Monaten Haft verurteilt, weil er in sozialen Medien einen Artikel über den Beschuss von Mariupol durch die russischen Streitkräfte veröffentlicht hatte. Im September 2023 wurde der Journalist und Redakteur der Nachrichten-Website Novy Fokus in Chakassien, Mikhail Afanasyev, wegen eines Artikels über Mitglieder der chakassischen Bereitschaftspolizei, die sich weigerten, in der Ukraine zu kämpfen, zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Beide Journalisten gehörten zu den ersten Medienschaffenden, die nach Artikel 207.3 angeklagt wurden, nachdem dieser im März 2022 in das Strafgesetzbuch des Landes aufgenommen worden war.
4.1.2. Diskreditierung des russischen Militärs und staatlicher Institutionen
Artikel 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und Artikel 280.3 des Strafgesetzbuches über die Diskreditierung des Einsatzes der russischen Streitkräfte und staatlicher Einrichtungen wurde im März 2023 geändert, um Handlungen zu bestrafen, die auf die Diskreditierung von Freiwilligenverbänden, Organisationen oder Einzelpersonen, die die russischen Streitkräfte unterstützen, abzielen. Während Artikel 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten eine Geldstrafe von 30 000 bis 1 000 000 Rubel [ca. 300 - 10 045 Euro] vorsieht, reicht das Strafmaß nach Artikel 280.3 des Strafgesetzbuches je nach Schwere der Tat von einer Geldstrafe von 100 000 Rubel [ca. 1 005 Euro] bis zu maximal sieben Jahren Gefängnis. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit nach Artikel 280 Absatz 3 tritt im Falle eines wiederholten Verstoßes innerhalb eines Jahres nach der Anklageerhebung nach Artikel 20 Absatz 3 Absatz 3 ein.
Wie OVD-Info feststellte, wird Artikel 20.3.3. des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten als "das beliebteste Instrument zur Verfolgung von Antikriegsäußerungen" verwendet, wobei Menschen für Handlungen wie die Teilnahme an Antikriegsversammlungen und die Durchführung einsamer Proteste, die Verteilung von Antikriegsflugblättern, das Tragen von Kleidung und Accessoires in den Farben der ukrainischen Flagge und die Weitergabe von Informationen über Angriffe auf Zivilisten mit Geldstrafen belegt werden. Zwischen März 2022 und August 2023 verzeichnete OVD-Info 7 683 Fälle von Anklagen nach Artikel 20.3.3. Im August 2023 wurden 149 Fälle registriert, was den niedrigsten Stand seit März 2022 darstellt. Im Vergleich dazu wurden die meisten Fälle im März, April und Mai 2022 registriert (916, 949 bzw. 800 Fälle).
Im April 2023 reichten die Menschenrechtsgruppen OVD-Info, Memorial und Russia Behind Bars zusammen mit Anwälten, die mit OVD-Info zusammenarbeiten, beim Verfassungsgericht der Russischen Föderation eine Beschwerde ein, in der sie geltend machten, dass Artikel 20.3.3. des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, der die Äußerung von Antikriegspositionen unter Strafe stellt, gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Gewissensfreiheit verstößt. Im Juni 2023 stellte das Verfassungsgericht fest, dass die genannte Rechtsvorschrift mit der Verfassung des Landes im Einklang steht, weshalb die Richter es ablehnten, die Beschwerden zu prüfen.
Wie das SOVA-Forschungszentrum feststellte, wurde im Jahr 2022 die strafrechtliche Verfolgung gemäß Artikel 280.3 wegen wiederholter Diskreditierung der Handlungen der russischen Behörden und der russischen Streitkräfte größtenteils durch in den sozialen Medien verbreitete Inhalte ausgelöst. Die Strafverfahren wurden jedoch auch wegen Aktivitäten wie dem Verteilen von Flugblättern, der Teilnahme an pazifistischen Aktionen und dem Verunstalten von Transparenten zur Förderung der "Sonderoperation" in der Ukraine eingeleitet. Im März 2023 wurde ein alleinstehender Vater aus der Stadt Efremov in der Region Tula wegen einer Antikriegszeichnung seiner 12-jährigen Tochter zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Im Mai 2023 wurde ein ehemaliger Lehrer aus Syktyvkar wegen eines Beitrags auf VKontakte, der sich auf die Explosion auf der Brücke über die Straße von Kertsch bezog, zu einer fünfeinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt und gleichzeitig nach Artikel 205.2 über "öffentliche Aufrufe zur Durchführung terroristischer Aktivitäten, öffentliche Rechtfertigung des Terrorismus oder Propagierung des Terrorismus" angeklagt. Im Juni 2023 wurde Oleg Orlow, einer der bekanntesten russischen Menschenrechtsaktivisten und Ko-Vorsitzender des Memorial Human Rights Defence Centre, wegen eines Artikels, den er im November 2022 veröffentlicht hatte, nach Artikel 280.3 wegen "wiederholter Verunglimpfung" der russischen Streitkräfte angeklagt; ihm drohen bis zu drei Jahre Haft in einer Strafkolonie. Das Verfahren war zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Anfrage noch nicht abgeschlossen.
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Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Ukraine, Bescheinigung für Auslandsukrainer vom 30.08.2023
1. Ist die gegenständliche vorliegende Aufenthaltskarte ident mit den Aufenthaltskarten in der Ukraine (Ausstellungsformat, Inhalt, Aussteller, Gültigkeitsdatum usw.)?
Gemäß dem Dokumenteninformationssystem des Bayerischen Landeskriminalamts sehen Bescheinigungen für Auslandsukrainer folgendermaßen aus:
Gemäß einem Beschluss des ukrainischen Ministerkabinetts werden Bescheinigungen für Auslandsukrainer in Form von Büchlein (70x200 mm) mit hartem Einband in blauer Farbe ausgestellt. Der Beschluss des Ministerkabinetts enthält ein Muster für die Bescheinigung für Auslandsukrainer, wie unten dargestellt. Auf der Vorderseite finden sich folgende Angaben: Ukraine – Bescheinigung für Auslandsukrainer. Die Innenseite der Bescheinigung für Auslandsukrainer enthält folgende Angaben:
[linke Seite]:
• Nationale Kommission für Fragen in Bezug auf Auslandsukrainer
• BESCHEINIGUNG Serie ______________ № _________________
• Foto 30x40 mm
• Familienname
• Vorname(n)
• Geburtsdatum und -ort
• [Kürzel] M.P.
• Staatsbürgerschaft / staatenlos
• Staat des ständigen Aufenthalts
[rechte Seite]:
• Dieses Dokument bestätigt die Tatsache der Statusgewährung „Auslandsukrainer“.
• Ausstellungsdatum
• Gültigkeitsdauer
• Leiter der Nationalen Kommission – Unterschrift
• [Kürzel] M.P.
2. Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um diese Aufenthaltskarte zu erhalten?
Gemäß Paragraph 3, des Gesetzes „Über die Auslandsukrainer“ setzt die Gewährung des Status „Auslandsukrainer“ Folgendes voraus:
(1) ukrainische nationale Identität;
(2) ukrainische ethnische Abstammung oder Herkunft aus der Ukraine;
(3) schriftliche Äußerung des Wunsches, den Status eines Auslandsukrainers zu
erhalten;
(4) Mindestalter von 16 Jahren;
(5) Nicht-Vorhandensein der ukrainischen Staatsbürgerschaft.
3. Welche Rechte werden mit dieser Aufenthaltskarte verbunden?
Gemäß Paragraph 9, des Gesetzes „Über die Auslandsukrainer“ genießen Auslandsukrainer, welche sich in der Ukraine auf gesetzlicher Grundlage aufhalten, dieselben Rechte und Freiheiten wie ukrainische Staatsbürger und haben auch dieselben Pflichten – mit denjenigen Ausnahmen, die von der Verfassung, ukrainischen Gesetzen oder internationalen Abkommen festgelegt sind. Personen, welche den Status „Auslandsukrainer“ erhalten haben, haben das Recht auf Arbeit, wie für die Staatsbürger der Ukraine vorgesehen. Für Auslandsukrainer werden jährlich Aufnahmekontingente für höhere Bildungseinrichtungen der Ukraine festgelegt. Auslandsukrainer sind zum Erwerb der ukrainischen Staatsbürgerschaft in der Art und Weise berechtigt, wie dies durch das Gesetz „Über die Staatsbürgerschaft der Ukraine“ bestimmt ist.
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation: Behandlung von Personen mit ukrainischem Hintergrund vom 24.10.2023
1. Welche Maßnahmen setzen russische Behörden bei Einreise in die Russische Föderation, wenn es sich um russische Staatsbürger, welche eine ukrainische Aufenthaltskarte haben, handelt? Macht es einen Unterschied, wenn der russische Staatsbürger unmittelbar davor im Ausland für eine längere Zeit (mind. 1 Jahr) aufhältig war oder für mehrere Jahre in der Ukraine lebte?
Die Österreichische Botschaft Moskau berichtet Folgendes:
Im Rahmen der Internetrecherche konnten keine Informationen darüber gefunden werden, ob und welche Maßnahmen russische Behörden im Speziellen bei der Einreise russischer Staatsangehöriger mit ukrainischer Aufenthaltskarte in die RF setzen. Es konnten allerdings Berichte darüber gefunden werden, wonach generell russische Staatsangehörige nach ihrer Rückkehr in die RF von den Grenzbehörden eingehend befragt würden.
So heißt es zB. in einem Artikel vom 16. Februar (offenbar 2023; Мужчин, возвращающихся из-за границы допрашивают в РФ! Новые сюрпризы от пограничников | ВЕСËЛЫЙ ЭКОНОМЩИК | Дзен (dzen.ru)):
„In den letzten 2 Wochen sind Informationen von Freunden, Bekannten und einigen Kollegen aus dem Internet bekannt geworden, dass man an der Grenze Männer stichprobenartig in ein Vernehmungszimmer führt und mit ihnen ein unangenehmes Gespräch führt. Anfangs sei das Gespräch mit den Grenzbehörden mit Fragen wie: „Wohin sind Sie gereist? Was war der Reiseweck? Wie lange waren Sie weg? Mit wem?“ banal, aber nach einigen Standardfragen werde der Dialog „heißer“: „Vor der Mobilisierung davongelaufen? Zeigen Sie Ihre Flugtickets! Wann wurden die gekauft? Namen der Eltern und Verwandten? Dies führe sogar so weit, dass man gebeten werde, das Telefon, Kommunikation und Fotos herzuzeigen.“
In weiterer Folge werden Kriterien aufgeführt, wer sich auf ein „Treffen“ mit den Grenzbeamten vorbereiten solle und wer beruhigt nach Hause zurückkehren könne:
„-) In den meisten Fällen würden Männer befragt, die mehr als 1 bis 3 Monate im Ausland waren, sie fielen hundertprozentig unter die Aufmerksamkeit und das Interesse der Grenzbehörden.
-) Falls Sie eine Einberufung zum Militärdienst erhalten haben, kehren Sie grundsätzlich nicht zurück, denn Sie könnten eine Geldstrafe bekommen oder zur verwaltungsstrafrechtlichen oder gerichtlichen Verantwortung gezogen werden.
-) Kehren Sie nicht über Moskau, Sotchi, Novosibirsk oder St. Petersburg zurück, dort fängt man die Männer am öftesten heraus. Versuchen Sie, falls möglich, in einer kleinen Stadt einzureisen.
-) Besser nicht über Drittstaaten fliegen, denn wie die Praxis zeigt, kann sich die Dauer des Gesprächs verdoppeln, falls Sie über ein Drittland geflogen sind und sich dort mehr als 6 Stunden aufgehalten haben.
-) Vergessen Sie nicht, ihr Telefon zu säubern, falls Sie mit Dritten über WhatsApp oder Telegram die Situation in Russland besprochen und Ihre Meinung zum Ausdruck gebracht haben.“
Zu diesem Artikel gibt es allerdings einen Kommentar, wonach dessen Verfasser zehn Monate im Ausland gewesen und unbehelligt eingereist sei. Die Grenzformalitäten hätten nur wenige Minuten gedauert.
Unter dem Link Пограничники начали пристально досматривать мужчин, которые вернулись из-за границы — Секрет фирмы (secretmag.ru) findet sich ein etwas älterer Artikel vom 24.10.2022, wonach die Grenzbehörden am Flughafen in Ekaterinburg verstärkt damit begonnen hätten, Männer zu kontrollieren, die aus dem Ausland in die RF zurückgekehrt seien. Sie wurden befragt, ihre Pässe wurden einbehalten und man bitte sie, eine unbestimmte Zeit zu warten. Viele Männer hätten sich nach der Teilmobilisierung in Georgien, Armenien, Kasachstan und Kirgisien versteckt. Die ÖB Moskau hat keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt dieser Artikel zu überprüfen. (ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (19.10.2023): Auskunft der Botschaft, per E-Mail)
2. Mit welchen Maßnahmen haben russische Bürger zu rechnen, wenn diese eine verwandtschaftliche Beziehung zu ukrainischen Staatsbürgern haben, selbst dort geboren sind oder lange dort lebten (z. B. Überwachung, Einschränkungen in den Sozialleistungen, Entlassung, Denunzierung vor Behörden, Inhaftierung, Unterstellung einer oppositionellen Einstellung usw.)?
Die Österreichische Botschaft Moskau berichtet Folgendes:
Im Rahmen der Internetrecherche konnten keine Hinweise darauf gefunden werden, dass russische Staatsangehörige per se aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen zu ukrainischen Staatsangehörigen oder weil sie dort geboren sind oder lange dort lebten, mit Maßnahmen russischer Behörden wie in der Frage angegeben, zu rechnen hätten. Es konnten aber Hinweise darauf gefunden werden, dass russische Staatsangehörige von Gerichten zu Verwaltungsstrafen verurteilt wurden (in der RF sind Gerichte auch zur Ahndung von Verwaltungsübertretungen zuständig), weil sie Handlungen gesetzt haben, die von den Gerichten als Verwaltungsübertretungen qualifiziert wurden, wobei von den Verurteilten als Motiv Verwandtschaft mit Personen ukrainischer Herkunft angegeben wurde.
So findet sich zB. unter dem Link Петербуржца оштрафовали за поддержку Украины в социальных сетях (turbopages.org) ein Artikel vom 26.08.2023 über die Verurteilung eines Einwohners St. Peterburgs, der vom Bezirksgericht Kolpinski in St. Petersburg gem. Artikel 20 Punkt 3 Punkt eins, des russ. Kodex über Verwaltungsübertretungen („Aufreizung zum Hass oder Feindschaft sowie Erniedrigung der Menschenwürde“) zu 10.000 RUB Geldstrafe verurteilt wurde, weil er – so das Urteil - auf einer Social-Media-Plattform auf seinem Account Informationsmaterial veröffentlicht habe, das negative Äußerungen über die russische Armee, die Spezialoperation in der Ukraine und den Präsidenten der RF enthalte sowie ein Video zur Unterstützung der Ukraine. Das Gericht befand, dass diese Materialien Anzeichen der Erniedrigung der Menschenwürde aus politischem und ideologischem Hass oder Feindschaft enthielten. Der Verurteilte habe seine Schuld eingestanden und seine Beiträge mit den Emotionen, die dadurch hervorgerufen worden wären, dass seine Frau und seine Schwiegermutter ukrainische Wurzeln hätten, erklärt. Die Daten zu dieser Strafsache finden sich auch auf der offiziellen Website des Bezirksgerichts des Bezirks Kolpinski der Stadt St. Petersburg (Колпинский районный суд города Санкт-Петербурга (sudrf.ru). Dieser zufolge ist die Verurteilung am 10.10.2023 in Rechtskraft erwachsen (ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (19.10.2023): Auskunft der Botschaft, per E-Mail).
3. Mit welchen Maßnahmen haben russische männliche Bürger zu rechnen, die lange in der Ukraine lebten und nunmehr zurückkehren müssen? Werden sie nunmehr vorrangig einberufen, oder erleiden sie sonstige Repressalien?
Die Österreichische Botschaft Moskau berichtet Folgendes:
Die Rechtsgrundlagen der Einberufung zum russischen Militärdienst sind im föderalen Gesetz N 53-FZ „Über die militärische Verpflichtung und den Militärdienst“ vom 28.03.1998 idgF geregelt (Федеральный закон "О воинской обязанности и военной службе" от 28.03.1998 N 53-ФЗ (последняя редакция) \ КонсультантПлюс (consultant.ru). Dabei ist zwischen der Einberufung zum Grundwehrdienst und der Einberufung im Rahmen einer (Teil)Mobilisierung zu unterscheiden.
[...]
Eine Recherche mit den Begriffen „Russland“ und „Rückkehr aus der Ukraine“ hat eine Vielzahl von Treffern über den Austausch von Kriegsgefangenen zwischen diesen beiden Ländern, aber keinerlei Hinweise auf Maßnahmen speziell gegen russische Staatsangehörige, die lange in der Ukraine lebten und in die RF zurückkehren, gebracht. Auch Hinweise auf deren vorrangige Einberufung haben sich für die ÖB Moskau nicht ergeben. Die ÖB Moskau hat aber keine Möglichkeit festzustellen, ob und inwieweit auf russische Staatsangehörige im Allgemeinen und auf solche, die lange in der Ukraine lebten, im Speziellen Druck ausgeübt oder angedroht wird, um sie zum Abschluss von Verträgen als Zeitsoldaten zu bewegen.
ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (19.10.2023): Auskunft der Botschaft, per E-Mail
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Russische Föderation: Zuerkennung der ukrainischen Staatsbürgerschaft vom 24.10.2023
1. Gibt es für in der Ukraine geborene russische Staatsbürger eine vereinfachte Zuerkennung der ukrainischen Staatsbürgerschaft? Wenn ja, wie erfolgt diese, und werden derzeit an russische Staatsbürger ukrainische Staatsbürgerschaften verliehen?
Zusammenfassung:
Der nachfolgend zitierten Quelle ist zu entnehmen, dass es kein vereinfachtes Verfahren für russische, in der Ukraine geborene Bürger zum Erwerb der ukrainischen Staatsbürgerschaft gibt. Solche Personen unterliegen dem gewöhnlichen Verfahren. Gemäß dem ukrainischen Staatsbürgerschaftsgesetz kann eine Person die Staatsbürgerschaft durch Geburt oder durch territoriale Abstammung erwerben. Auch beispielsweise Personen, die sich große Verdienste um die Ukraine erwarben oder deren Zulassung zur ukrainischen Staatsbürgerschaft im staatlichen Interesse liegt, kann die ukrainische Staatsbürgerschaft verliehen werden.
Einzelquelle:
Der Vertrauensanwalt der Österreichischen Botschaft Kyjiw berichtet, dass gemäß dem ukrainischen Staatsbürgerschaftsgesetz eine Person die Staatsbürgerschaft durch Geburt oder durch territoriale Abstammung erwerben kann. Paragraph 7, dieses Gesetzes definiert, dass eine Person dann ukrainischer Staatsbürger ist, wenn sie als Kind von rechtmäßig in der Ukraine aufhältigen Ausländern in der Ukraine geboren wurde und die Staatsbürgerschaft der Eltern durch Geburt nicht erwarb. […].
Eine andere Methode, die ukrainische Staatsbürgerschaft zu erwerben, ist in Paragraph 8, desselben Gesetzes dargelegt. Nämlich haben eine ausländische oder staatenlose Person sowie ihre minderjährigen Kinder das Recht, die ukrainische Staatsbürgerschaft durch territoriale Abstammung zu erwerben, wenn die Person selbst oder zumindest einer der Elternteile, (Ur-)Großvater oder -mutter, Bruder oder Schwester, Sohn oder Tochter oder Enkelkind auf dem Territorium der Ukraine geboren wurden oder dort vor dem 24.8.1991 ständig wohnten (Gesetz „Über die Rechtsnachfolge der Ukraine“) oder wenn die Person selbst oder zumindest einer der Elternteile, (Ur-)Großvater oder -mutter, Bruder oder Schwester in anderen Gebieten geboren wurden oder dort ständig lebten. Diese Gebiete müssen Teile der (West-)Ukrainischen Volksrepublik, des ukrainischen Staats, der Ukrainischen SSR oder der Karpatenukraine/Transkarpatien gewesen sein.
Weiters berichtet der Vertrauensanwalt Folgendes: Um den Erwerb der ukrainischen Staatsbürgerschaft gemäß dem etablierten Verfahren zu registrieren, muss gemeinsam mit dem Antrag auf Erwerb der ukrainischen Staatsbürgerschaft eine Verpflichtungserklärung zur Aufgabe der ausländischen Staatsbürgerschaft eingereicht werden. Zusätzlich muss die ausländische Person eine Verpflichtungserklärung zur Rückgabe ihres Reisepasses einreichen, einen Strafregisterauszug vorlegen und beweisen, dass sie über einen legalen Aufenthalt in der Ukraine verfügt.
Auch folgenden Personen kann, so bestimmte Kriterien erfüllt sind, die ukrainische Staatsbürgerschaft verliehen werden, schreibt der Vertrauensanwalt unter Berufung auf Paragraph 9, des ukrainischen Staatsbürgerschaftsgesetzes: Personen, die sich große Verdienste um die Ukraine erwarben oder deren Zulassung zur ukrainischen Staatsbürgerschaft im staatlichen Interesse liegt; ausländische Personen, welche Vertragssoldaten im Dienste der ukrainischen Streitkräfte oder der Nationalgarde und Träger einer staatlichen ukrainischen Auszeichnung sind; ausländische Personen, die Bürger von Staaten sind, welche vom ukrainischen Parlament als Aggressor- oder Besatzerstaaten eingestuft werden, und die in einem solchen Staat Verfolgung erlitten.
Schlussfolgerung des Vertrauensanwalts: Es gibt kein vereinfachtes Verfahren für russische, in der Ukraine geborene Bürger zum Erwerb der ukrainischen Staatsbürgerschaft. Solche Personen unterliegen dem gewöhnlichen Verfahren.
ÖB – Österreichische Botschaft Kyjiw [Österreich] (18.10.2023): Auskunft des Vertrauensanwaltes, per E-Mail
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt der belangten Behörde (Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes vom 09.01.2023, Einvernahme durch das Bundesamt vom 18.04.2023, Bescheid vom 14.06.2023 und Beschwerdeschriftsatz vom 17.07.2023), durch Einvernahme der BF im Rahmen zweier öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht am 15.09.2023 (Verhandlungsprotokoll 1) und am 13.12.2023 (Verhandlungsprotokoll 2) sowie durch Sichtung der im Laufe des Verfahrens in Vorlage gebrachten bzw. vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Beweismittel.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person der BF:
2.1.1. Die Identität der BF steht aufgrund der Vorlage von Identitätsdokumenten in Original (russischer Reisepass, Nr. römisch 40 , ausgestellt am 26.05.2021, gültig bis 26.05.2031; Geburtsurkunde ausgestellt am 10.03.1998), fest (AS 59 ff). Daraus ergibt sich auch zweifelsfrei, dass die BF russische Staatsangehörige ist und über ein gültiges österreichisches Schengen-Visum C verfügt (AS 65). Die vorgelegten Dokumente stehen mit den angegebenen Daten der BF zu ihrer Identität in Einklang. Dass die BF sowohl ethnische Ukrainerin ist und sich auch zum christlichen Glauben bekennt, steht aufgrund ihrer diesbezüglich gleichbleibenden Angaben fest, ebenso, dass sie verwitwet ist und eine erwachsene Tochter hat. Die Feststellungen zu den Sprachkenntnissen basieren auf den gleichbleibenden Angaben der BF im gesamten Verfahren sowie auf ihrer Herkunft und auf dem persönlichen Eindruck, den sie in der hg. mündlichen Verhandlung vermittelte sowie ihren Angaben zum Grundschulbesuch in der Ukraine, als auch in Russland vergleiche Seite 1-2 des Erstbefragungsprotokolls; AS 51ff: Datenblatt zum Einvernahmeprotokoll; Seite 3 und 5 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 5-6 des Verhandlungsprotokolls 2).
2.1.2. Die Feststellungen zum Lebenslauf der BF (ihre Geburt und ihr Aufwachsen in der Ukraine und in der Russischen Föderation, ihre Schulbildung und ihr Hochschulbesuch, Berufserfahrung sowie die Bestreitung ihres Lebensunterhalts) gründen auf den diesbezüglich im Wesentlichen gleichbleibenden sowie schlüssigen Angaben der BF im Verwaltungsverfahren und in der hg. mündlichen Verhandlung. Es ergaben sich keine Hinweise an den durchwegs detailreichen Angaben der BF hinsichtlich ihres Lebenslaufs in Russland zu zweifeln vergleiche Seite 1-2 des Erstbefragungsprotokolls; Seite 4 des Einvernahmeprotokolls sowie das Datenblatt AS 55ff; Seite 5-6 des Verhandlungsprotokolls vom 1). Dass die BF über ein abgeschlossenes Hochschulstudium sowie Management- Marketinglehrgang verfügt steht auch im Einklang mit den vorgelegten Abschlusszeugnissen (AS 117-121; AS 131-135). Dass die BF nach ihrer Schul- und Studienzeit durchgängig als Bankangestellte erwerbstätig war, gab sie ebenfalls gleichbleibend an und machte hierzu auch umfangreiche Ausführungen in der mündlichen Verhandlung und legte auch ihr Arbeitsbuch im behördlichen Verfahren vor (AS 79-115). Ihr letztes Dienstverhältnis kündigte die BF nach ihren eigenen Angaben, als sie zu Besuch bei ihrer Tochter in Deutschland war, weshalb das vorangegangene Dienstverhältnis bei der römisch 40 Bank nach 26 Jahren im Jahr 2020 beendet wurde, konnte nicht genau festgestellt werden, weil die BF auffallend in diesem Zusammenhang nur vage und spekulative Angaben machte. So gab die BF in der mündlichen Verhandlung an, dass es keine Beschwerden hinsichtlich ihrer Arbeit gegeben habe und sie meine gekündigt geworden zu sein, weil sie den Ausweis für die Auslandsukrainer beantragt habe und nach der Pension in die Ukraine umziehen habe wollen. Woher diese Annahmen gründen oder dass ihr dies gesagt wurde oder wie ihre angebliche Kündigung von Seiten des Arbeitgebers begründet wurde, gab die BF aber nicht an, obwohl sie über eine Hochschulausbildung verfügt und eine Leitungsfunktion innehatte. Es ist nicht nachvollziehbar, dass im Fall einer Kündigung, wenn auch nur „vorausgeschoben“ diese nicht in irgendeiner Weise begründet wird oder man dann auch nicht nachfragt, wenn man nach so langer Zeit in einer Leitungsfunktion gekündigt wird vergleiche Seite 4 des Einvernahmeprotokolls; Seite 9 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 13 des Verhandlungsprotokolls 2) auch eine Bekämpfung der Kündigung brachte sie nicht vor. Auffallend ist auch, dass die BF nie angab, wann genau sie gekündigt wurde und so hat sie die ukrainische Aufenthaltskarte erst im September 2021 erhalten und zudem hat sie, obwohl sie die ukrainische Aufenthaltskarte beantragte und erhielt, dennoch zwei weitere Anstellungen in einer Bank erhalten und die eine endete, weil nach Angaben der BF das Projekt endete und die letzte Anstellung kündigte die BF selbst (Seite 8, 9 des Verhandlungsprotokolls 1).
Die Feststellungen zum Familienstand der BF und zu ihrem verstorbenen Ehemann basieren auf ihren diesbezüglich gleichbleibenden Angaben im gesamten Verfahren vergleiche Seite 1 des Erstbefragungsprotokolls; AS 55: Datenblatt; Seite 4 des Einvernahmeprotokolls; Seite 5 und 9 des Verhandlungsprotokolls 1).
Die Feststellungen zu der erwachsenen Tochter der BF gründen ebenso auf ihren übereinstimmenden Angaben im gesamte Verfahren vergleiche Seite 3 des Erstbefragungsprotokolls; AS 55: Datenblatt; Seite 4 des Einvernahmeprotokolls; Seite 5 des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 7 des Verhandlungsprotokolls 2).
Dass die BF vor ihrer Asylantragstellung bereits einmal auf Besuch nach Österreich reiste, gab sie glaubhaft und nachvollziehbar in der mündlichen Verhandlung an und stimmen ihre Angaben auch mit den abgebildeten Aus-und Einreisestempeln aus dem Jahr 2021 in ihrem russischen Auslandsreisepass überein (AS 65; Seite 8 des Verhandlungsprotokolls 1:
„RI: Wann haben Sie die Russische Föderation zuletzt genau verlassen?
BF: Am 22.02.2022. Ich habe Dokumente.
RI: Wohin sind Sie eingereist?
BF: Nach Berlin.
RI: Mit welcher Berechtigung?
BF: Ich hatte ein österreichisches Schengenvisum.
RI: Warum hatten Sie ein österreichisches Visum?
BF: Weil meine Tochter in römisch 40 studierte, habe ich die entsprechenden Unterlagen vorgelegt und habe ein Touristenvisum C für fünf Jahre bekommen.
RI: Wann haben Sie Ihren Reisepass ausstellen lassen?
BF: Ich kann mich nicht erinnern, wann ich meinen Pass bekommen habe, aber das Visum im Oktober. Vorher war ich in Österreich im Dezember 2021.“;
Seite 7 des Verhandlungsprotokolls 2).
Die Feststellungen zum ukrainischen Aufenthaltstitel der BF basieren einerseits auf ihren diesbezüglich ausführlichen Angaben, der eingeholten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 30.08.2023 (Bescheinigung Auslandsukrainer) und der auch in Original vorgelegten ukrainischen Aufenthaltskarte (OZ 3; Seite 8 des Verhandlungsprotokolls 1). Die Angaben der BF und das vorgelegte ukrainische Dokument sind auch vor dem Hintergrund der Anfragebeantwortung plausibel. Dass die BF nicht ambitioniert versuchte die ukrainische Staatsbürgerschaft zu erlangen, gründet auf ihren Angaben im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, wonach die BF sich lediglich in nicht näher genannten Foren informierte und nach der ersten Beschwerdeverhandlung beim ukrainischen Konsulat in Österreich einmal per Mail eine Anfrage bezüglich dem Erhalt der ukrainischen Staatsbürgerschaft stellte, aber nachdem sie keine Antwort erhielt, keine weiteren Versuche der Kontaktaufnahme unternahm und sich auch nicht weiter bei offiziellen Stellen informierte welche Unterlagen sie für den Erhalt der ukrainischen Staatsbürgerschaft benötigen würde und ob sie die Voraussetzungen für den Erhalt der ukrainischen Staatsbürgerschaft erfüllen würde. Damit zeigte die BF geringe Ambitionen die ukrainische Staatsbürgerschaft zu erhalten bzw. , dass Sie sich nicht von der russischen Staatsbürgerschaft abwendet und kein wirkliches Interesse hat diese abzugeben. So erkennt man auch hier, dass die BF nicht glaubhaft gegen das politische System in Russland auftritt. (Seite 15 des Verhandlungsprotokolls:
„BF: Ich würde gerne die ukrainische Staatsangehörigkeit erwerben, aber ich habe mich erkundigt, das ist nicht möglich.
RI: Haben Sie schon mal angefragt, bei der Ukraine?
BF: Ich habe in den Foren gelesen, und es stand, dass die Konsulate alle geschlossen sind und sie bedienen die ukrainischen Staatsbürger, die im Ausland Flüchtlinge sind.
RI: Haben Sie in Österreich schon einmal beim Konsulat angefragt?
BF: Nein.
RI: Werden Sie dort noch anfragen?
BF: Ja, ich werde das machen.“;
Seite 5, 7 des Verhandlungsprotokolls2; Beilage 18 oder Beilage OZ 13: Screenshot der E-Mail der BF an das ukrainische Konsulat).
Die Feststellungen zu den regelmäßigen Besuchen der BF bis 2013 in der Ukraine und dass die BF bzw. ihre Familie in römisch 40 eine Wohnung hat, gründen auf ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung und dem vorgelegten Grundbuchsauszug betreffend die Wohnung in der Ukraine (AS 127: Grundbuchauszug, Grundstück in der Ukraine; Seite 7 des Verhandlungsprotokolls 1:
„RI: Haben Sie seit 1982 irgendwann wieder in der Ukraine gelebt?
BF: Wir haben in römisch 40 eine Wohnung. Ich bin jedes Jahr mindestens einmal, manchmal auch zweimal im Jahr dorthin gefahren. Meine Mutter lebte in römisch 40 ein halbes Jahr und im Sommer brachte ich meine Tochter über den Sommer dorthin. Als sie klein war, verbrachte sie den ganzen Sommer bei der Oma.
RI: Wann war Ihre Mutter das letzte Mal in römisch 40 ?
BF: Im Jahr 2013. Bis zu den Ereignissen im Jahr 2014. Als die Zugverbindung zwischen Russland und der Ukraine abgebrochen war, und meine Mutter aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr Zugfahren konnte, blieb sie ständig in Moskau. Sie reiste nur mehr mit uns nach Europa. Meine Mutter hat einen Daueraufenthaltstitel für die Ukraine.
RI: Wann waren Sie dann das letzte Mal in römisch 40 ?
BF: Auch im Jahr 2013.“).
2.1.3. Die Feststellungen zu den Familienangehörigen der BF ergeben sich aus den diesbezüglich gleichbleibenden Angaben im behördlichen Verfahren, die sie im gerichtlichen Verfahren bestätigte. Dass die BF noch Freundinnen in Russland hat, mit denen sie auch regelmäßig Kontakt hat und zumindest auch selten ihrer Schwägerin schreibt, legte die BF glaubhaft in der mündlichen Verhandlung dar (Seite 7, 9, 11 des Verhandlungsprotokolls 1).
2.1.4. Die Feststellungen betreffend die Vorerkrankungen, Behandlungen, Medikamenteneinnahme und den aktuellen Gesundheitszustand der BF gründen sich einerseits auf die im Verfahren vorgelegten ärztlichen Bescheinigung, einem elektronischen Rezept für mehrere Medikamente und andererseits auf den Angaben der BF in den mündlichen Verhandlungen (Seite 3f des Verhandlungsprotokolls 1 samt Beilage; Seite 3 des Verhandlungsprotokolls 2). Die Asthma-Erkrankung sowie auch die Gastritis und Gallensteine wurden bereits vor 20 bzw. 14 Jahren in Russland diagnostiziert und nimmt sie seitdem ein Medikament wegen ihrer Asthma-Erkrankung. Dass es sich bei ihren Erkrankungen um ein schwerwiegendes Problem handelt oder in der Vergangenheit die BF Probleme betreffend Behandlungsmöglichkeiten in Russland hatte, brachte sie zu keinem Zeitpunkt im Verfahren vor. Somit steht fest, dass die BF im Entscheidungszeitpunkt an keiner lebensbedrohenden physischen oder psychischen Erkrankung leidet. Hinzu kommt, dass den Länderberichten zur medizinische Versorgung zu Folge, diese in der Russischen Föderation flächendeckend gewährleistet ist. Die BF stammt aus Moskau, wo die medizinische Versorgung im Vergleich zu ländlichen Gebieten oder im Nordkaukasus, noch umfangreicher gewährleistet ist. Auch psychiatrische und psychologische Behandlungen sind in der Russischen Föderation, insbesondere auch in Großstädten, wo die BF herstammt, verfügbar vergleiche Pkt. römisch II.1.5.:
„[…] Die Art der Krankenhäuser in Russland reicht von großen, gut ausgestatteten Tertiärkrankenhäusern in regionalen Hauptstädten, die ein breites Spektrum an medizinischen und chirurgischen Verfahren abdecken, bis hin zu kleinen, einfachen Krankenhäusern in ländlichen Gebieten, die nur die allgemeinen Bereiche der klinischen Praxis anbieten. Spezialisierte Zentren für besondere Probleme wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und perinatale Erkrankungen sind in der Regel nur in regionalen Hauptstädten zu finden. Darüber hinaus gibt es nationale föderale Forschungs- und Behandlungszentren, die modernste Diagnostik und Behandlung anbieten, die oft als medizinische Hightech-Versorgung bezeichnet werden, befinden sich überwiegend in den Städten Moskau oder St. Petersburg angesiedelt. […] Um die psychische Gesundheitsversorgung und die soziale Unterstützung für diejenigen, die sie benötigen, zu gewährleisten, hat der Staat stationäre und ambulante Einrichtungen für die psychische Gesundheitsfürsorge geschaffen und diese, wenn möglich in der Nähe der Wohnorte der Patienten. Außerdem hat er allgemeine und berufliche Bildungseinrichtungen für Kinder mit psychischen Erkrankungen. […] Die wichtigsten Einrichtungen für die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen aus dem öffentlichen und privaten Gesundheitssektors sind: […] St Petersburg Psychiatric Hospital of Specialised Type (with Intense Observation), St Petersburg Psychiatric Hospital no.1 named afterP. P. Kashchenko, St Petersburg Bechterev Centre Addiction clinic (alcoholism, drugs, gambling, etc.)“).
2.1.5. Aufgrund des Alters der BF – 55 Jahre – und ihrem Gesundheitszustand sowie der Tatsache, dass die BF über eine mehrjährige Arbeitserfahrung in der Russischen Föderation als Bankangestellte verfügt, steht fest, dass sie arbeitsfähig ist. Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der BF gründet auf dem Auszug aus dem Strafregister.
2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der BF:
2.2.1. Die BF brachte im Wesentlichen bis auf den Angriffskrieg in der Ukraine und einer unterstellten oppositionellen Gesinnung aufgrund ihres ukrainischen Aufenthaltstitels bzw. ihrer ukrainischen Volksgruppenzugehörigkeit keine anderen Fluchtgründe vor. Nur sehr allgemein und spekulativ gab die BF eine Bedrohung und drohende Haft wegen ihres Auslandsaufenthalts und Gespräche/Onlinechats mit ukrainischen Familienangehörigen über den Krieg an sowie eine regimekritische Einstellung an.
Zu Beginn ist hierbei anzuführen, dass unumstritten ist, dass Russland seit Februar 2022 in der Ukraine einen Angriffskrieg führt, die Annexion und Invasion der Krim, Unterstützung von Separatisten in den Oblasten Donezk und Luhansk bereits im Jahr 2014 erfolgten, jedoch stellt dies per se keinen asylrelevanten individuellen Fluchtgrund für die BF dar: So reiste die BF laut ihren Angaben und den Aus- und Einreisestempeln in ihrem russischen Auslandsreisepass legal in der Vergangenheit bereits im Dezember 2021 auf Besuch nach Österreich und Deutschland zu ihrer Tochter. Wie sie selbst durchgehend angab, habe es bei ihren bisherigen Ein- und Ausreisen und Visaantrag keine Probleme gegeben und reiste die BF auch legal am 22.02.2022 nach Deutschland, Berlin vergleiche Seite 5f des Einvernahmeprotokolls; Seite 8 des Verhandlungsprotokolls 1). Hinzu kommt, dass die 55-jährige BF in ihrem Herkunftsstaat gemäß ihren eigenen Angaben auch nicht vorbestraft ist, nie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politischen aktiven Bewegung oder Gruppierung war und nie verhaftet wurde. Die BF verneinte auch durchgehend explizit damals einen Fluchtgrund gehabt zu haben, als sie die Russische Föderation verlassen hat und auf Urlaub zu ihrer Tochter gekommen zu sein. Ebenso verneinte sie jemals Probleme mit den russischen Behörden gehabt zu haben, weder bei der Passausstellung noch sei sie zu irgendeiner Zeit von jemanden verfolgt oder bedroht worden (Seite 6 des Einvernahmeprotokolls:
„F: Das heißt Sie haben die Russische Föderation am 22.02.2022 nicht wegen einer persönlichen Bedrohung verlassen, sondern nur weil Sie ihre Tochter in Deutschland besuchen wollten, ist das richtig? A: Das stimmt. Ich hatte nicht vor um Asyl in der EU anzusuchen. Ich wurde in der Russischen Föderation nie und zu keiner Zeit von jemanden verfolgt oder bedroht, weder von staatlicher Seite noch von Dritten.“;
Seite 8, 12 des Verhandlungsprotokolls 1:
„RI: Hatten Sie damals einen Fluchtgrund, als Sie die Russische Föderation verlassen haben?
BF: Nein, ich bin auf Urlaub zu meiner Tochter gekommen. Ich habe ein Ticket hin und retour gekauft. Am 08.03. sollte ich zurück nach Moskau fliegen. Ich habe dort Arbeit gefunden, ich musste arbeiten, ich war interessiert dort weiter zu arbeiten.
RI: Hatten Sie jemals Probleme mit den russischen Behörden?
BF: Nein.
RI: Hatten Sie sonst irgendwelche Probleme in Moskau oder in der Russischen Föderation?
BF: Nur, dass ich meine Arbeit verloren habe, damals 2020. Sonst hatte ich keine Probleme. Ich arbeitete und konnte meine Familie erhalten.
RI: Hatten Sie Probleme bei der Ausstellung des Reisepasses?
BF: Nein.“).
Somit steht zweifelsfrei fest, dass die BF Russland legal im Februar 2022 verlassen hat, um ihre Tochter in Deutschland zu besuchen, weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr.
2.2.2. Dass der BF nunmehr im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation eine Verfolgung, Bedrohung, Inhaftierung oder Haftstrafe aufgrund ihrer (unterstellten) regimekritischen Einstellung droht, wie sie nur sehr spekulativ, vage und steigernd im Beschwerdeverfahren vorbringt ist an sich vor dem Hintergrund zu ihrer Person, zu ihrem bloß passiven und nicht im großen Ausmaß getätigten politischen „Posts“ und vor dem Hintergrund der Länderberichte nicht glaubhaft.
So brachte die BF bei der Einvernahme vor der belangten Behörde nur sehr allgemein und spekulativ zu ihrem Fluchtgrund vor, dass mit Kriegsbeginn für sie die Russische Föderation nicht mehr existiere und sie sich nicht vorstellen kann, wieder dort zu leben. Im Falle ihrer Rückkehr habe sie das Gefühl aufgrund ihrer pro-ukrainischen Einstellung verfolgt oder diskriminiert zu werden. Verneinte aber gleichzeitig jemals an Demonstrationen in der Russischen Föderation teilgenommen zu haben, noch jemals für eine politische Partei tätig gewesen zu sein oder behördlich gesucht oder jemals in Haft gewesen zu sein. Auch auf Nachfrage konkretisiert die BF ihre Rückkehrbefürchtungen kaum und gibt lediglich an, womöglich in der Russischen Föderation von der Außenwelt abgeschirmt zu werden, bei der Passkontrolle befragt zu werden oder möglich ist, dass sie dann unter Beobachtung stehen werde oder dass sie keine Arbeit finden werde. Die BF drückt sich nur sehr vage aus und gibt auch nur allgemein an, dass wenn „man“ etwas macht, was dem Regime nicht passt, kann man finanziell bestraft oder eingesperrt werden. Konkrete Anhaltspunkte, weshalb die BF persönlich Verfolgungshandlungen, über eine mögliche angeführte Diskriminierung oder einer Befragung bei der Passkontrolle hinausgehend, befürchtet, machte die BF damit nicht glaubhaft (Seite 5-7 des Einvernahmeprotokolls).
Auch in der mündlichen Verhandlung machte die BF vage Angaben, die vor dem Hintergrund der Länderinformationen nicht plausibel erscheinen. Zu ihren konkreten Rückkehrbefürchtungen gab sie einerseits an aufgrund ihres Auslandsaufenthaltes einvernommen zu werden und andererseits habe die BF einen ukrainischen Familiennamen und würde deshalb über ihre Einstellung über den ukrainischen Krieg befragt werden. Die BF führte nur allgemein aus, dass für eine Meinung die gegen Krieg ist derzeit eine Strafverfolgung vorgesehen sei, wenn die BF Kriegshandlugen und Kriegsverbrechen der russischen Armee erzählen würde (Seite 12-13 des Verhandlungsprotokolls 1). Laut der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 24.10.2023 (Behandlung von Personen mit ukrainischen Hintergrund) geht entgegen dem Vorbringen der BF hervor, dass keine Informationen vorliegen, wonach russische Behörden Maßnahmen bei der Einreise russischer Staatsangehöriger mit ukrainischer Aufenthaltskarte in die Russische Föderation setzen. Es liegen nur Berichte vor, dass russische Staatsangehörige generell nach ihrer Rückkehr in die Russische Föderation von den Grenzbehörden eingehend befragt werden würden. Wobei hierbei hervorzuheben ist, dass lediglich Einzelfälle angeführt werden und in den meisten Fällen wurden Männer befragt und werden Männer genauer als Frauen bei der Einreise kontrolliert und in Zusammenhang mit einer möglichen Flucht vor dem Militärdienst befragt. So ist nicht plausibel, dass die BF bei der Einreise von Grenzbeamten aufgrund ihres ukrainischen Hintergrunds bedroht oder festgenommen oder auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit befragt wird. So ist die BF wie bereits ausgeführt wurde, legal ausgereist, um ihre Tochter zu besuchen und war vor ihrer Ausreise in der Russischen Föderation in keiner Weise politisch oder regimekritisch über soziale Medion oder im Rahmen eine Demonstration tätig und hatte nach eigenen Angaben keine Probleme mit den russischen Behörden, sodass eine Bedrohung im Falle einer Rückreise in ihren Herkunftsstaat, weil die BF persönlich den Krieg schrecklich findet, nicht nachvollziehbar. Die BF kann daher nachvollziehbar erklären warum sie das Land verlassen hat, zumal sie auch ein Visum für die Einreise nach Österreich hatte und seitens der russischen Behörden bei der Ausreise keine Probleme verursacht wurden. Dass alle russischen Staatsbürger nach Beginn des Krieges im Jahr 2022 zurückkehren müssen liegt nicht vor zumal die BF auch nicht verpflichtet ist an Kriegshandlungen teilzunehmen oder einen Wehrdienst zu absolvieren.
In weiterer Folge ist aber auch zum Entscheidungszeitpunkt aufgrund der während dem Beschwerdeverfahren geringen gesetzten Aktivitäten der BF insbesondere gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine nicht glaubhaft, dass ein Interesse der russischen Behörden an der BF aufgrund ihrer regimekritischen Einstellung erweckt wurde und der BF im Falle auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. Die BF legte in der mündlichen Verhandlung zwei Fotos vor, auf dem ihre Tochter mit Maske und die BF lediglich von hinten bei einer Demonstration gegen den Ukraine-Krieg in Deutschland im Februar 2022 zu sehen sein soll (Beilage A und B des Verhandlungsprotokolls 1; Seite 6 des Verhandlungsprotokolls 2). Hierbei handelt es sich jedoch bei der ersten und letzten Demonstration bei der die BF ohne aktive Rolle, ohne Transparent, bei einer großen Demo in Berlin mit ihrer Tochter mitgegangen ist und auch in keiner Weise öffentlichkeitswirksam auftrat (Seite 13, 15 des Verhandlungsprotokolls 1:
„RI: Sind Sie außer einmal in Berlin, jemals öffentlich bis zum heutigen Tag, gegen die russische Regierung, gegen den Ukrainekrieg, gegen Putin aufgetreten?
BF: Nein, offiziell nicht.“).
Die BF gab zwar bei der mündlichen Verhandlung an, dass sie in Russland angeben würde, dass sie gegen den Krieg sie, weil Russland ihr Heimatland angegriffen habe und Ukrainer, die für sie Familie sei, tötet (Seite 14 des Verhandlungsprotokolls 1). Im Widerspruch hierzu, trat die BF aber bis 2022 auch nicht nach der Annektierung der Krim im Jahr 2014 in Russland nie politisch oder kritisch auf, nahm an keiner Demonstration teil oder war auch nicht bei der Opposition (Seite 14-15 des Verhandlungsprotokolls 1). Für das erkennende Gericht ist eine politische Einstellung der BF aus diesem Grund nicht glaubhaft. Die BF gab auf Vorhalt an, dass sie sich in der Vergangenheit nie politisch engagiert hat, weil sie ja arbeiten habe müssen und ihre Familie erhalten musste. Die BF reagierte ausweichend und blieb in ihren Angaben vage und spekulativ. In diesem Zusammenhang ist aber anzuführen, dass im Widerspruch hierzu, die BF durchgängig bei einer russischen Bank angestellt war und ihr Ehemann, ein Russe ebenfalls als Geschäftsmann erwerbstätig war und die BF sich auch nach dessen Tod, auch nach dem Tod ihrer Mutter und während ihre Tochter bereits in Europa studierte vor dem Krieg 2022 nie politisch engagierte oder äußerte (Seite 15 und 16 des Verhandlungsprotokolls 1:
„RI: Das heißt, Ihrer Freundin ist es möglich, proukrainisch über WhatsApp und VPN mit Ihnen zu sprechen und es ist trotzdem noch nichts passiert?
BF: Ja, aber dieses Programm VPN schaltet die IP-Adresse des Anrufers auf ein anderes Land um. Derzeit werden alle diese VPN Stationen geschlossen.
RI: Es ist ihr trotzdem bis jetzt nichts passiert.
BF: Nein, sie redet nur mit mir und nicht mit jemand anderen. In letzter Zeit reden wir nur über die Preise, sie sagt, über VPN kann sie nur proukrainische Sendungen in der Welt anschauen, sie kann dort keine ukrainischen Sendungen anschauen. Wir reden nicht über das Thema Krieg.
RI: Warum sollte ich nun annehmen, dass Sie, wenn Sie in die Russische Föderation zurückkehren, gegen den Ukraine Krieg öffentlich auftreten, wenn Sie es auch bisher nicht gemacht haben?
BF: Ich weiß nicht, wie man öffentlich auftritt, weil ich mich nie mit öffentlichen Auftritten beschäftigt habe. Es reicht nur, wenn ich meine Meinung im Gespräch z. B. mit dem Hauswart ausspreche, und dann dafür bestraft werde.“;
Seite 16 des Verhandlungsprotokolls 2:
„RI: Wo haben Sie gelebt in den letzten Jahren in Russland?
BF: In Moskau.
RI: Seit wann sind Sie oppositionell eingestellt?
BF: Ich habe Putin nicht gewählt. Ich bin der Meinung, dass Russland nichts Gutes von einem KGB-Offizier erwarten kann.
RI: Haben Sie jemals Nawalny unterstützt in Russland?
BF: Ich kann mich nicht genau erinnern. Es hat eine Kundgebung gegeben am Platz, das heißt römisch 40 . Ansonsten war ich bei keiner Partei dabei. Ehrlich gesagt gefiel mir Nawalny nicht gut als Politiker. Nemzov hat mir besser gefallen, aber er wurde umgebracht. Das was mich am meisten beeinflusst hat, war als Russland die Ukraine überfallen hat und Krim besetzt hat.
RI: Was haben Sie dagegen gemacht?
BF: Es hat keine Protestbewegung in Russland gegeben. Ich wiederhole das noch einmal. Ich habe meine Familie erhalten, vier Personen. Mein Mann war in Pension und meine Mutter. Ich hatte eine minderjährige Tochter. Wir haben beschlossen, dass wir zumindest die Tochter retten werden, indem wir sie zwecks Ausbildung in das Ausland schicken werden. Sie hat dann in römisch 40 zu studieren begonnen. In dem Jahr, wo meine Tochter zu studieren begonnen hat, ist mein Mann an Krebs erkrankt. Er ist in einem Jahr gestorben. Im September 2018 ist meine Mutter an Krebs gestorben.
RI: Wann ist Ihre Mutter verstorben?
BF: Im Juni 2021.“).
Weiters gab die BF in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage ihrer Rechtsberaterin erstmals an, dass sie Mitglied in einer Telegramm Gruppe sei, in der kritisch über den Ukraine Krieg geschrieben werde. Die BF führte näher aus, Mitglied der Gruppe römisch 40 zu sein, wo sie zum Beispiel Artikel der „ römisch 40 “ lese und weiterleite, in denen über die Situation im Ukraine-Krieg berichtet wird (Seite 18 des Verhandlungsprotokolls). Dies konnte die BF mit der aufgetragenen Vorlage von Posts und näheren Behandlung in der zweiten Verhandlung bestätigen (OZ 13; Beilage 1-18 des Verhandlungsprotokolls 2, zumeist zweiseitig bedruckt). In diesem Zusammenhang ist jedoch besonders auffällig, dass es sich durchgängig nicht um kritische Äußerungen der BF handelt, die sie selbst verfasste, sondern die BF in einer ukrainischen Telegramm Chat-Gruppe „ römisch 40 “ Informationen zumeist von der „ römisch 40 “ zum Ukraine-Krieg weiterleitet und diese bis auf drei Posts im Zeitraum zwischen der ersten und zweiten Verhandlung, nachdem die BF aufgefordert wurde Posts vorzulegen, erst von der BF gepostet wurden (Seite 7-9 des Verhandlungsprotokolls 2; (Beilage 10: hat die BF am 06.04.2022 zu einem Kommentar eines „abonnierten“ Musikers drei „Klatschende Hände“ Emojis abgegeben; Beilage 15 Rückseite: hat die BF eine Information zu einem getöteten General am 11.06.2023 weitergeleitet; Beilage 16 Rückseite: EU-Parlament fordert die Freilassung von Jugendlichen, am 16.06.2023 von der BF weitergeleitet). Anzumerken ist auch, dass diese Inhalte der DW öffentlich sind und daher für alle zugänglich, die BF daher hier keine eigenen Inhalte oder Meinungen kundmachte. Die restlichen vorgelegten Posts der BF datieren von Ende September 2023 bis Anfang Dezember 2023 (Beilage 1-7; 11, 13-15). Auch ist die BF nur unter einem Akronym „ römisch 40 “, nicht mit ihrem vollen Namen in der Telegramm-Chatgruppe „passiv“, im Sinne von Weiterleiten von Informationen/Nachrichten/Berichte, aktiv und auf ihrem Profilbild – mit Sonnenbrille – nicht erkennbar (Beilage 12: Regeln der Chatgruppe und Registrierungsbeitrag der BF).
Dass Weiterleiten von Informationen der BF, insbesondere von Berichten der „ römisch 40 “ zum Ukraine-Krieg in der geschlossenen Telegramm-Chatgruppe, kann, wenn überhaupt, weil die BF dort anonym nur mit einem Akronym auftritt, gemäß der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 24.10.2023 zu einer Verwaltungsstrafe führen. Darin wird aber auch nur von einem Einzelfall berichtet und stellt eine Verwaltungsstrafe nicht die Intensität einer Verfolgungshandlung dar. Auch in den EUAA Berichten zur Behandlung von politischen Oppositionellen und abweichender Meinung vom 03.10.2023 ist zu erkennen, dass Personen von strafrechtlichen Strafbestimmungen betroffen sind, wenn sie Anti-Kriegs-Aktivitäten begehen. Doch die BF hat sich nicht an solchen Tätigkeiten mit ihren Klardaten beteiligt. Sie war passiv unter einem Akronym tätig und in Foren mit ihren Namen, sodass sie erkennbar ist, gar nicht. Bei 713 Anklagen. Wobei bei 74 Strafverfahren in 78 Regionen 229 Personen eine Freiheitsentziehung erhielten. Es ist daher nicht ableitbar, dass die BF mit ihren Tätigkeiten von einer solchen Freiheitsentziehung betroffen ist. So sind hier politische Aktivisten, z.B. Co-Chair von Memorial in Russland und Terroristen und Extremisten betroffen, zu dieser Personengruppe die BF keinesfalls zählt.
Das erkennende Gericht geht aufgrund der nicht glaubhaften politischen Einstellung der BF, die sich kaum bis zur ersten mündlichen Beschwerdeverhandlung in irgendeiner Weise politisch oder regimekritisch äußerte und auch nunmehr nicht öffentlichkeitswirksam regimekritisch auftritt, nicht davon aus, dass die BF in Russland weitermacht und sich regimekritisch äußern würde oder sich politisch engagieren würde, so hat sie dies auch vor ihrer Ausreise nie getan. Die BF blieb auch in weiterer Folge in der mündlichen Verhandlung unglaubwürdig. Sie versuchte sich steigernd als politische Oppositionelle bereits vor Ausreise darzustellen, so gab sie an, an einer Kundgebung für Nawalny teilgenommen zu haben am Platz Boltonaje (Seite 16 des Verhandlungsprotokolls), konnte sich aber nicht genau erinnern. Versuchte sie sich danach damit zu begründen, dass sie ihre Familie versorgen musste, dies auch nicht in Abrede gestellt wird, aber sie äußerte sich auch dahingehend, dass es keine Protestbewegung in Russland gegeben habe. Gerade auch hier zeigt sich, dass die BF ein Desinteresse an der russischen Politik zur Ukraine aufweist, zumal sie sonst mitbekommen haben müsste, dass zehntausende Menschen in Moskau für den Frieden im Jahr 2014 und danach im Rahmen von Großdemos demonstrierten (z.B https://www.spiegel.de/politik/ausland/krim-krise-friedensdemonstration-in-moskau-a-958796.html). Doch gab sie selbst bei Antragsstellung bzw. vor dem BFA bereits an nicht politisch aktiv gewesen zu sein. Es ist sohin auch nicht davon auszugehen, dass der BF eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. Auch auf den weiteren von der BF genutzten sozialen Medien (Instagram, Youtube, Facebook) hat die BF nie etwas gepostet, sondern schaut sich die unterschiedlichsten Beiträge an und hat einen Koch und Musiker abonniert, wo sie, gemäß Beilagen zwei oppositionelle Beiträge „geliked“ hat. Die BF zeigte in der mündlichen Verhandlung dem erkennenden Gericht auch ihre Telegramm Chatgruppe, ihren Instagram Account oder auch Facebook Account, wonach die BF von den 100erten „Likes“ auf Instagram nach Angaben der BF ca. 10 Sachen seien, die sie oppositionell „geliked“ hat (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls). Außerdem konsumiert die BF kritische Videos auf Youtube, aber kommentiert die selbst wiederrum nicht (Seite 12 des Verhandlungsprotokolls). Dass die BF eine regimekritische Organisation mit Geld unterstützt haben soll, ist nicht glaubhaft. So konnte die BF nicht angeben, um wie viel Geld es sich bei dieser Unterstützung gehandelt haben sollen und gab nicht nachvollziehbar als ehemalige Bankangestellte an, die Höhe der Spende nicht zu wissen und keine Informationen zum Ablauf der Spende zu haben (Seite 12-13 des Verhandlungsprotokolls 2:
„BFV: Wie viel Geld haben Sie gespendet?
BF: Ehrlich gesagt, weiß ich das jetzt nicht mehr. Das war im Frühjahr.
RI: D.h. Sie spenden €5000 und am Konto sehen Sie gar nicht wie viel Sie gespendet haben? Sie spenden und am Konto wird es nicht weniger. Das ist ein bisschen komisch.
BF: Das war keine große Summe. So viel Geld habe ich nicht.
RI: Sie müssen am Konto sehen, dass Geld weggekommen ist, sonst ist es ja keine Spende?
BF: Dort steht nicht, dass Geld wurde zur Unterstützung für „ römisch 40 “ gespendet. Es ist ein anonymes Postfach.
RI: Das müssen Sie auch nachweisen können.“).
Schließlich ist auch anzuführen, dass eine jahrelange oppositionelle Einstellung der BF vor dem Hintergrund, dass sie über 26 Jahre bei einer der größten russischen Bank in Leitungsfunktionen gearbeitet hat und nie oppositionell aufgetreten ist, nicht glaubhaft ist. Wie von der belangten Behörde in der mündlichen Verhandlung dargelegt ist zudem auffallend, dass die BF auch nach mehrmaligen nachfragen, nach ihren Accounts in den sozialen Netzwerken, nicht angab auch einen „ römisch 40 Account“ zu haben. Auf Vorhalt, weshalb sich die BF, die vorbringt eine oppositionelle Gesinnung zu haben, nicht auf ihrem Account im größten russischen sozialen Netzwerk mit mindestens 106 Bekannte oder Freunde, nicht aktiv kritisch gegen Putin oder ihren vorgebrachten Unmut über den Ukraine Krieg äußert, reagierte die BF ausweichend und gab nicht nachvollziehbar an, bei römisch 40 nur Beträge anzuschauen und sonst Telegramm zu benutzen (Seite 14-15 des Verhandlungsprotokolls:
„BehV: Ist der Chat römisch 40 eine geschlossene Gruppe?
BF: Ja.
BehV: Außer diesen Accounts in den sozialen Netzwerken, die Sie heute dargelegt haben, haben Sie keine anderen Accounts?
BF: Ich habe einen Account auf Instagram, Telegram, Youtube, Facebook, aber das verwende ich nicht.
BehV: Sonst keine?
BF: Nein.
BehV: Haben Sie einen römisch 40 Account?
BF: Ja und römisch 40 .
BehV: Ich habe mir diesen Account angesehen. Dieser Account lautet auf Ihren vollen Namen.
BF: Ja.
BehV: Sie sind eigentlich bis zuletzt da drinnen aktiv gewesen.
BF: Ich schaue einfach die Kommentare und schaue wieder raus. Ich bin schockiert, aufgrund dessen was dort vor sich geht. In römisch 40 habe ich nur Filmserien und Frauengruppen.
BehV: Würden Sie mir zustimmen, dass römisch 40 das größte soziale Netzwerk in Russland ist?
BF: Ja, vor allem für Leute meines Alters.
BehV: Nun behaupten Sie ja eine oppositionelle Gesinnung zu haben. Meine Frage, warum posten Sie dort nicht aktiv Regime kritische Äußerungen oder den Unmut über den Ukraine Krieg?
BF: Ich verwende es nicht. Ich gehe rein, schaue mir das durch, was mich interessiert. Ich suche etwas, schaue mir das an und dann gehe ich wieder raus. Es gibt keine Kommentare oder irgendetwas. Ich schaue mir die Sachen durch, welche Position meine Freunde und Bekannte vertreten. Es gibt auch Leute bei römisch 40 die mich anschreiben oder mich ansprechen. Das bezog sich nicht auf die Kritik.
BehV: Sie haben einen Account im größten russischen sozialen Netzwerk. Dort haben Sie zu mindestens 106 Bekannte oder Freunde, geben nun an eine oppositionelle Einstellung zu haben und geben keine einzige oppositionelle Meinung wieder. Warum ist das so?
BF: Ich habe Telegram benutzt.
[…]
BF: Ich verwende römisch 40 nicht, oder schon lange nicht mehr.
RI: Wann haben Sie römisch 40 Account das letzte Mal benutzt?
BF: Ich schaue ständig hinein. Vorgestern das letzte Mal.“).
Insgesamt steht somit fest, dass die BF nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer geringen politischen Aktivitäten und nicht nach außen tretenden politischen Einstellung von den russischen Behörden im Falle einer Rückkehr bei der Einreise bedroht oder verfolgt oder eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht der BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch russische Behörden oder durch andere Personen.
2.2.3. Eine Verfolgung als alleinstehende, verwitwete Frau oder wegen Zwangsverheiratung brachte die BF zu keinem Zeitpunkt im Verfahren vor und ist auch amtswegig insbesondere vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen nicht erkennbar. Es muss den Länderberichten zufolge die Situation von Frauen im Nordkaukasus von der in anderen Regionen Russlands unterschieden werden. Eine Verfolgung von Frauen mit „selbstbestimmten“ Lebensstil in der Russischen Föderation – also eine Verfolgung als alleinstehende, verwitwete Frau, die ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit bestreitet – außerhalb des Nordkaukasus kann nicht festgestellt werden. Die BF stammt aus Moskau, also außerhalb des Nordkaukasus, und kann sich wieder in ihrer Eigentumswohnung niederlassen.
Eine aktuelle Verfolgung aus religiösen Gründen brachte die BF ebenfalls nicht substantiiert vor. Sie ist Angehörige des orthodoxen Christentums, das in der Russischen Föderation laut den Länderinformationen zu einer traditionellen Hauptreligion mit rund 68% Angehörigen zählt. Vielmehr genießt die russisch-orthodoxe Kirche sogar Privilegien und arbeitet im innen- und außenpolitischen Bereich eng mit der Regierung zusammen. Auch sind vor dem Hintergrund des Lebenslaufs der BF (Schule, Universität, Erwerbstätigkeit, Pension) keine weiteren Probleme oder Verfolgungsvorfälle ersichtlich (Seite 6 des Einvernahmeprotokolls).
Dass die BF im Falle der Rückkehr allein wegen ihres Aufenthalts in Österreich oder der Antragstellung auf internationalen Schutz im Falle der Rückkehr einer Gefährdung ausgesetzt ist oder wie die BF angibt, als Angehörige der Volksgruppe der Ukrainer von der Russischen Föderation Verfolgung aus ethnischen Gründen droht, abgeschirmt wird, sodass man keine Verbindungen mehr zur Außenwelt hat, vielleicht am Flughafen verhaftet wird, ist vor dem Hintergrund der Länderberichte und wie auch oben bereits dargelegt nicht objektivierbar und insofern nicht glaubhaft (Seite 6 des Einvernahmeprotokolls). Laut den allgemeinen Länderinformationen ist Russland ein multinationaler Staat, in dem Vertreter von mehr als 160 Völkern leben und für alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte und Freiheiten verfassungsgesetzlich garantiert werden.
Es ergibt sich aus den aktuellen Länderberichten, denen zufolge Rückkehrer, bis auf einer Befragung Einreisender im Zuge von Grenzkontrollen, mit keinerlei Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert sind. So sind auch keine Fälle bekannt, in welchen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten. Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr in die Russische Föderation für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten, dies trifft aber auf die BF ebenso nicht zu. So gab die BF explizit vor dem Bundesamt an bei ihrer Ausreise nie vorgehabt zu haben in der EU um Asyl anzusuchen und in Russland nie sowie zu keiner Zeit von jemanden verfolgt oder bedroht worden zu sein, weder von staatlicher Seite noch von Dritten. Sie stammt aus Moskau und reiste bis jetzt bereits zuvor auch nach Österreich und wieder retour und zuletzt auch legal nach Deutschland, ohne jemals Probleme bei der Aus- und Einreise gehabt zu haben.
Dies deckt sich auch mit der eingeholten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Behandlung von Personen mit ukrainischem Hintergrund vom 24.10.2023, wonach der BF, entgegen ihrem allgemeinen Vorbringen, keine Bedrohung oder Gefährdung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu den Ukrainerinnen im Falle einer Rückkehr droht. So konnten laut der Anfragebeantwortungen keine Informationen gefunden werden, dass russische Behörden Maßnahmen bei der Einreise russischer Staatsangehöriger mit ukrainischer Aufenthaltskarte setzen. Lediglich, wie bereits ausgeführt und auch in den allgemeinen Länderinformationen enthalten, kommt es generell zu Befragungen von russischen Staatsangehörigen durch Grenzbehörden. Hierbei ist auch anzuführen, dass nach den Artikeln zu den Befragungen an der Grenze, immer nur von Männern berichtet wird, - die Anfrage war nicht auf Männer eingeschränkt - , die nach allgemeinen Fragen zu ihrer Reise und dem Zweck der Reise insbesondere nach einer Flucht vor der Mobilisierung gefragt worden sein sollen und von keinen Befragungen von Frauen berichtet wird. Wobei auch ein Kommentar angeführt wurde, wonach es nach einem 10-monatigen Auslandsaufenthalt die Grenzformalitäten nur wenige Minuten gedauert hätten. Ebenso gibt es nach den Länderinformationen auch keine Hinweise wonach Staatsangehörige per se aufgrund verwandtschaftlicher Beziehung zu ukrainischen Staatsangehörigen oder weil sie dort geboren sind oder lange dort lebten, mit Maßnahmen russischer Behörden, wie Inhaftierung, Überwachung, Einschränkung in den Sozialleistungen, Entlassung, Denunzierung von Behörden oder Unterstellung einer oppositionellen Einstellung zu rechnen hätten. Es liegen lediglich Hinweise vor, dass es zu einer Verwaltungsstrafe kommen kann, weil Verwandtschaft mit Personen ukrainischer Herkunft als Motiv von den Verurteilten angegeben wurde. So liegt ein Bericht vor, dass jemand in St. Petersburg zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil er – so das Urteil - auf einer Social-Media-Plattform auf seinem Account Informationsmaterial veröffentlicht habe, das negative Äußerungen über die russische Armee, die Spezialoperation in der Ukraine und den Präsidenten der Russischen Föderation enthalte sowie ein Video zur Unterstützung der Ukraine. Von einer allenfalls drohenden Verwaltungsstrafe, die in einem Einzelfall in den Länderinformationen angeführt wurde, kann aber nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine drohende Inhaftierung, Überwachung, Folter, Einschränkung in den Sozialleistungen, Entlassung, Denunzierung von Behörden oder Unterstellung einer oppositionellen Einstellung der BF aufgrund ihres Auslandsaufenthalts, nach legaler Ausreise und ihrem ukrainischen Hintergrund, abgeleitet werden. Auch unter der Annahme, dass die BF wegen der Weiterleitung von Informationen zum Ukrainekrieg eine Verwaltungsstrafe erhält, erreicht eine Verwaltungsstrafe keinesfalls die Intensität einer Verfolgungshandlung.
Die BF reiste nach Deutschland, wie auch bereits zuvor nach Österreich, um ihre Tochter zu besuchen. Die BF war und ist keiner konkreten und individuell gegen sie gerichteten Verfolgung oder Bedrohung in ihrem Herkunftsstaat ausgesetzt. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht der BF weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch russische Behörden oder durch andere Personen.
2.3. Zu den Feststellungen zu einer möglichen Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat:
2.3.1. Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat, ergeben sich aus den o.a. Länderberichten zur Russischen Föderation und aus den Feststellungen zu ihren persönlichen Umständen. Die Sicherheitslage in der Russischen Föderation ist insbesondere für gewöhnliche Bürger stabil.
Dass die BF wieder in einer Wohnung leben könnte, basiert auf ihren gleichbleibenden und schlüssigen Angaben im gesamten Verfahren, wonach sie auch vor ihrer Ausreise durchgehend in ihrer Wohnung in Moskau lebte, die nach dem Tod ihrer Mutter nunmehr in ihrem Eigentum steht. Gründe die gegen eine Rückkehr in ihre Wohnung sprechen, brachte die BF nicht vor (Seite 6 des Verhandlungsprotokolls 1:
„RI: Wo haben Sie da gewohnt, in einer Wohnung oder einem Haus?
BF: Ich hatte mit meiner Mutter im gemeinsamen Eigentum eine Wohnung. Meine Mutter ist im Sommer 2021 verstorben, die Wohnung steht jetzt in meinem Eigentum.“).
2.3.2. Entsprechend den Länderberichten besteht, wenn auch mit längerer Wartezeit, die Möglichkeit einer Sozialwohnung bzw. kann die BF staatliche finanzielle Unterstützung in Anspruch nehmen oder auch auf Unterstützung ihrer Tochter zurückgreifen, die in Deutschland wohnt und als Architektin erwerbstätig ist und aus diesem Grund eine Unterstützung anzunehmen ist. Hinzu kommt, dass die BF mit 55 Jahren nach den Länderinformationen auch in naher Zukunft einen Anspruch auf Alterspension hat. Im Jahr 2018 betrug das Pensionseintrittsalter 55 Jahre für Frauen und soll bis 2028 auf 60 Jahre angehoben sein. Im Jahr 2022 waren für den Anspruch auf eine Alterspension Beschäftigungsverhältnisse von mindestens 13 Jahren erforderlich. Die BF war über 26 Jahre als Bankangestellte erwerbstätig und ist im 56. Lebensjahr und hat demnach auch in naher Zukunft einen Anspruch auf eine Alterspension (Existenzminimum in Moskau: RUB 16.257 [ca. EUR 189]). Bis dahin wäre ihr es auch zumutbar ihren Lebensunterhalt wieder durch Erwerbsarbeit zu bestreiten, denn so hatte die BF auch nachdem das Arbeitsverhältnis bei der römisch 40 Bank endete noch zwei weitere Anstellungen in einer Bank, das letzte Dienstverhältnis kündigte die BF selbst von Deutschland aus und kann aus diesem Grund nicht angenommen werden, dass es der BF nicht möglich wäre wieder eine Anstellung als Bankangestellte zu finden.
Dass die BF nicht Gefahr läuft, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft im Falle einer Rückkehr nicht befriedigen zu können, steht einerseits auf Grund der Länderfeststellungen zur Grundversorgung und andererseits auf Grund der Feststellungen zur Person der BF fest: Sie ist arbeitsfähig, ist gesund, spricht fließend Russisch und lebte die letzten ca. 30 Jahre in der Russischen Föderation in Moskau in einer Wohnung (Eigentum). Sie ist demnach dort aufgewachsen und sozialisiert worden, sohin mit den russischen Gepflogenheiten vertraut. Zudem ist die BF gebildet, arbeitsfähig und konnte auch bisher selbstständig mit ihrer Arbeit und gegebenenfalls Unterstützung ihrer Tochter ihren Lebensunterhalt finanzieren und regeln. Dass die BF eine Registrierung erlangen und dadurch das Sozialsystem der Russischen Föderation in Anspruch nehmen kann, steht auf Grund der Länderberichte, laut denen auch Rückkehrer, wie alle russischen Staatsangehörige durch das Wohlfahrtssystem Leistungen beziehen können (Punkt römisch II.1.5.), und dem Umstand fest, dass die BF über einen russischen Reisepass verfügt, mit dem sie sich anmelden kann.
2.3.3. Dass die BF im Falle einer Rückkehr auch nicht in ihrem Recht auf Leben gefährdet ist oder gefährdet ist, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder zu einer Todesstrafe verurteilt zu werden, geht aus dem Länderinformationsblatt zur Russischen Föderation hervor vergleiche Punkt römisch II.1.5.); dies wurde von der BF auch nicht glaubhaft behauptet. Laut den Länderfeststellungen besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrerinnen.
Auch auf Grund des Gesundheitszustandes der BF haben sich keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Rückkehr in die Russische Föderation iSd Artikel 3, EMRK unzulässig machen würden. Aktuell nimmt die BF römisch 40 wegen Asthma und das Medikament römisch 40 gegen eine Depression ein. Zudem gab die BF im Verfahren auch an, dass sie schon seit 20 Jahren an Asthma leide und auch seit 14 Jahren an einer chronischen Gastritis zu leiden und Gallensteine zu haben, aktuell nimmt sie deswegen lediglich das gleiche Medikament (einen Spray) wie auch schon in Russland wegen ihrer Asthma Erkrankung. Dass sie aktuell wegen der angegebenen Gastritis oder den Gallensteinen eine medizinische Behandlung oder Medikamente bedürfte, gab die BF nicht an und legte diesbezüglich auch keine medizinischen Unterlagen vor (Seite 3 des Verhandlungsprotokolls 1 und 2). Gegebenenfalls bedarf es regelmäßige ärztliche Kontrolluntersuchungen auch hinsichtlich psychischer Probleme eine fachärztliche Abklärung, jedoch gibt die BF in der mündlichen Verhandlung auch an, dass sie weder eine ambulante noch eine stationäre Psychotherapie mache (Seite 4 des Verhandlungsprotokolls 1). Laut den Länderberichten wird die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation von staatlichen und privaten Einrichtungen zu Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung. Jeder russische Staatsbürger, egal ob er einer Arbeit nachgeht oder nicht, ist von der Pflichtversicherung erfasst. Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Auch wurde die BF in der Russischen Föderation nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung in der Vergangenheit schon ärztlich behandelt und hat die BF ihre Vorerkrankungen zum Teil bereits seit über 10 Jahren, wodurch erkennbar ist, dass die medizinischen Einrichtungen zur Kontrolle des gesundheitlichen Zustandes der BF gegeben sind. Auch Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Die BF stammt auch aus einer Großstadt Russlands, wo die medizinische Versorgung und Verfügbarkeit eher noch besser ist. Somit steht insgesamt fest, dass die BF im Herkunftsstaat medizinische Versorgung im Bedarfsfall erhalten und sie an keinen sonstigen schweren psychischen oder psychisch akut lebensbedrohlichen und in der Russischen Föderation nicht behandelbaren Erkrankung leidet.
2.4. Zu den Feststellungen zur Situation der BF in Österreich:
2.4.1. Die Feststellungen zur legalen Einreise der BF, die Antragstellung auf internationalen Schutz und dem weiteren Verfahrensgang ergeben sich aus dem unstrittigen Akteninhalt, insbesondere auch aus den vorgelegten russischen Reisepass samt österreichischen Schengenvisum C und den abgebildeten Ein- und Ausreisestempel, fest. Dass die Intention ihrer Reise nach Deutschland im Februar 2022 der Besuch ihrer Tochter war, die zuvor in Österreich studierte und deshalb die BF über ein österreichisches Visum verfügt (Seite 8 des Verhandlungsprotokolls 1:
„RI: Wann haben Sie die Russische Föderation zuletzt genau verlassen?
BF: Am 22.02.2022. Ich habe Dokumente.
RI: Wohin sind Sie eingereist?
BF: Nach Berlin.
RI: Mit welcher Berechtigung?
BF: Ich hatte ein österreichisches Schengenvisum.
RI: Warum hatten Sie ein österreichisches Visum?
BF: Weil meine Tochter in römisch 40 studierte, habe ich die entsprechenden Unterlagen vorgelegt und habe ein Touristenvisum C für fünf Jahre bekommen.“),
gab sie so gleichbleibend im gesamten Verfahren an und steht auch mit der Visabeantragung für ein Touristenvisum und den nachweislich früheren Ein- und Ausreisen in Einklang (AS 65; Seite 6 des Einvernahmeprotokolls).
2.4.2. Die Feststellungen zu den sonstigen Lebensumständen der BF in Österreich (sprachliche und soziale Integration) beruhen auf den diesbezüglich schlüssigen Angaben in der mündlichen Verhandlung (Seite 10-11 des Verhandlungsprotokolls 1:
„RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ich lerne Deutsch selber. Ich habe einen Test abgelegt, aber ich wurde noch zu keinem Kurs eingeladen.
RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?
BF: Nein.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach?
BF: Frau römisch 40 führte Deutschkurse durch in unserem Heim, sonst nichts. Ich bin derzeit nur mit ukrainischen Flüchtlingen in Eisenstadt in Kontakt.“; Seite 6 des Verhandlungsprotokolls).
Die geringen Deutschkenntnisse der BF wurden auch durch den persönlichen Eindruck in der hg. mündlichen Verhandlung bestätigt (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls 1: „RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen teilweise verstanden und auf Deutsch beantwortet hat.“). Sonstige Aus- und Fortbildungen brachte die BF nicht vor, ebenso auch keine Vereinsmitgliedschaft oder auch keine ehrenamtliche Tätigkeit. Auch die Feststellungen zum Privatleben, Familienangehörigen im Bundesgebiet und ihre Freizeitgestaltung, gründen auf den Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung. Die BF hat zwar verschiedene soziale Kontakte im Bundesgebiet kennengelernt, aber bezieht sie sich hierbei auch vorwiegend auf lose Bekanntschaften aus dem Deutschkurs oder dem Grundversorgungsquartier und berichtete sie vielmehr von einer ukrainischen Freundin ihrer Tochter, bei der sie kurz wohnte und aktuell in telefonischen Kontakt steht (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls 1). Einen freundschaftlichen Kontakt zu Österreichern, verneinte die BF, wobei hier auch der erst knapp einjährige Aufenthalt im Bundesgebiet glaubhaft ursächlich hierfür ist.
Der Bezug von Grundversorgung und die fehlende Selbsterhaltungsfähigkeit stehen aufgrund des GVS-Auszuges und den glaubhaften Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung fest. Der Wohnsitz der BF steht aufgrund des ZMR-Auszuges fest und steht mit den Angaben der BF in Einklang.
2.4.3. Dass der Aufenthalt der BF nie geduldet war, steht auf Grund des IZR-Auszuges fest und wurde von ihr auch nie behauptet. Auch wurde nie von der BF vorgebracht, dass sie Zeugin oder Opfer von strafbaren Handlungen oder Opfer von sonstiger Gewalt war.
2.5. Zu den Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Russischen Föderation:
2.5.1. Die den Länderfeststellungen vergleiche Punkt römisch II.1.5.) zu Grunde liegenden Berichte und konkreten Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation wurden der BF übermittelt und in der mündlichen Verhandlung dargelegt, die BF erstattete dazu keine schriftliche Stellungnahme und trat den Berichten nicht entgegen.
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.
Hinsichtlich den ukrainischen Hintergrund der BF wurden die gestellten Anfragen an die Staatendokumentation miteinbezogen sowie auch zwei EUAA Berichte zur medizinischen Versorgung und die Behandlung von politischer Opposition in der Russischen Föderation berücksichtigt. Die BF brachte mit der Stellungnahme vom 10.10.2023 (OZ 13) sowie in der mündlichen Verhandlung am 13.12.2023 weitere Länderinformationen ein, wobei es sich bei zwei um Englische Berichte handelt ohne Übersetzung und sich auf die allgemeine Menschenrechtslage in der Russischen Föderation beziehen, die bereits mit den eingeführten Länderberichten abgedeckt und berücksichtigt wurden. Ein konkreter Bezug zur BF und weshalb die weiteren einzelnen Zeitungsartikel, zum Teil in russischer oder ukrainischer Sprache gegenständlich relevant sind, wurde ebenfalls in der mündlichen Verhandlung nicht dargetan und stehen diese Berichte auch nicht im Widerspruch zu den vom Bundesverwaltungsgericht eingebrachten, aktuellen, umfangreichen Länderinformationen, welche sich im Unterschied zu den einzelnen Zeitungsartikel auf eine Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beziehen.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zulässigkeit und Verfahren:
Gemäß Artikel 130, Absatz eins, Ziffer eins, B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.
Gemäß Paragraph 6, BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da im vorliegenden Verfahren keine Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, liegt gegenständlich Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG geregelt (Paragraph eins, leg.cit.). Gemäß Paragraph 58, Absatz 2, VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, des Agrarverfahrensgesetzes und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer eins, BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß Paragraph 28, Absatz eins, VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, Ziffer eins, B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
3.1.1. Die zulässige und rechtzeitige Beschwerde wurde am 17.07.2023 beim Bundesamt eingebracht und ist nach Vorlage am 20.07.2023 beim Bundesverwaltungsgericht eingegangen. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.
Das Verwaltungsverfahren wurde in wesentlichen Punkten rechtmäßig durchgeführt und der BF wurde insbesondere durch die Erstbefragung und die Einvernahmen vor dem Bundesamt sowie den mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht– unter Zuhilfenahme einer geeigneten Dolmetscherin – ausreichend rechtliches Gehör gewährt. Der maßgebliche Sachverhalt steht fest.
Zu A)
3.2. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. (Paragraph 3, AsylG 2005) des angefochtenen Bescheides:
3.2.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, Asylgesetz ist einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist und glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (in der Folge GFK) droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) verweist).
Nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen gefürchtet hätte (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074). Die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung muss zudem in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen (VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185; VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).
Auch wenn in einem Staat allgemein schlechte Verhältnisse bzw. sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen sollten, so liegt in diesem Umstand für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr iSd GFK. Um asylrelevante Verfolgung erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht vergleiche das Erkenntnis des VwGH vom 19.10.2000, 98/20/0233).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz dann zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010).
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd Zivilprozessordnung (ZPO) zu verstehen. Es genüge daher, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG Paragraph 45,, Rz 3). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setztet positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (VwGH 19.03.1997, 95/01/0466).
Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt ist die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben ist (Paragraph 11, Absatz eins, AsylG 2005).
3.2.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens, des festgestellten Sachverhaltes und der Beweiswürdigung ergibt sich, dass die behauptete Furcht der BF, in ihrem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist. Aus den in der Beweiswürdigung dargelegten Gründen machte die BF keine asylrelevante Verfolgung aufgrund ihres Antrages auf internationalen Schutz in Österreich sowie dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, glaubhaft. Sie selbst ist bereits im Dezember 2021 von Russland nach Österreich und Deutschland hin- und hergereist und schließlich am 22.02.2022 mit ihrem österreichischen Visum nach Deutschland gereist und stellte Anfang 2023 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Es hat bei der letzten Ausreise der BF keine Fluchtgefahr gegeben und die BF wurde auch vor ihrer Ausreise zu keinem Zeitpunkt von russischen Behörden oder Dritten verfolgt, bedroht oder gefährdet. Die Gefahr aufgrund ihres Aufenthalts in Österreich oder ihren ukrainischen „Wurzeln“ sowie ihren Kontakt zu Verwandten in der Ukraine einer Verfolgung ausgesetzt zu sein war unsubstantiiert und auch vor dem Hintergrund der Länderberichte, insbesondere der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation nicht objektivierbar. So stellt eine mögliche Befragung im Rahmen der Grenzkontrollen keine Verfolgung im Sinne der GFK dar.
Die BF reiste legal zuvor bereits nach Österreich und Deutschland ein und aus, um in Österreich sowie Deutschland ihre Tochter zu besuchen. Bei ihrem letzten Besuch kehrte sie nicht heim und stellte in Deutschland sowie nach der Überstellung nach Österreich hier im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz, weil Russland einen Angriffskrieg in der Ukraine startete. In diesem Umstand liegt kein Konnex zu einem Konventionsgrund und somit keine Verfolgungsgefahr iSd GFK vor.
Schließlich brachte die BF als reinen Nachfluchtgrund vor, aufgrund ihrer (exil)politischen Aktivitäten und Einstellung im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation eine Verfolgung und Bedrohung zu fürchten.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann eine exilpolitische Tätigkeit im Ausland einen asylrelevanten Nachfluchtgrund gemäß Paragraph 3, Absatz 2, zweiter Satz AsylG 2005 bilden. Dabei hat der Verwaltungsgerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass es bei der Beurteilung der Gefährdungssituation von „Rückkehrern“ regelmäßig entscheidend darauf ankommt, ob der Asylwerber infolge seiner exilpolitischen Tätigkeit ins Blickfeld der zuständigen Behörden seines Herkunftsstaates geraten konnte. Bei Beurteilung dieser Frage sind zwei Gesichtspunkte auseinander zu halten. Zunächst geht es darum, ob der Asylwerber so in Erscheinung getreten ist, dass er als auffällig regierungskritisch identifizierbar war. Die Bejahung führt zur zweiten Frage, ob die Behörden des Herkunftsstaates in irgendeiner Form – zB durch Informanten oder Medienberichte – von seinem Auftreten Notiz genommen haben oder nehmen könnten vergleiche VwGH vom 07.09.2023, Ra 2022/19/0053; VwGH vom 03.11.2022, Ra 2021/19/0259, mwN).
In diesem Zusammenhang ist das kürzlich ergangene EuGH-Urteil vom 21.09.2023 in der Rs C-151/22 S, A/Niederlande auszugsweise betreffend Zuerkennung von Asyl wegen behaupteter Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung anzuführen. Der Urteilstenor lautet:
„1. Artikel 10, Absatz eins, Buchst. e und Absatz 2, der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass es ausreicht, damit die Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung eines Antragstellers, der die nachteilige Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger in seinem Herkunftsland noch nicht erweckt hat, unter den Begriff „politische Überzeugung“ fallen kann, dass der Antragsteller geltend macht, er bringe diese Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zum Ausdruck oder habe sie zum Ausdruck gebracht. Dies greift der Bewertung, ob die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung wegen dieser politischen Überzeugung begründet ist, nicht vor.
2. Artikel 4, Absatz 3 bis 5 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung begründet ist, berücksichtigen müssen, dass diese politische Überzeugung wegen des Maßes der Überzeugung, mit dem sie geäußert wird, oder wegen der vom Antragsteller eventuell ausgeübten Aktivitäten zur Förderung dieser Überzeugung die nachteilige Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger im Herkunftsland dieses Antragstellers erwecken kann oder erweckt haben konnte. Es wird jedoch nicht verlangt, dass eben diese Überzeugung beim Antragsteller so tief verwurzelt ist, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht davon absehen könnte, sie zu äußern und sich damit der Gefahr von Verfolgungshandlungen im Sinne von Artikel 9, dieser Richtlinie auszusetzen.
Wie in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt ist das Ausmaß der politischen Überzeugung der BF und ihren Äußerungen gerade nicht so groß und hat die BF lediglich an einer großen Demonstration gegen den Ukraine-Krieg in Deutschland teilgenommen und in den sozialen Medien lediglich Informationen und Berichte zum Ukraine-Krieg in einer geschlossenen Telegramm Chatgruppe unter einem Akronym weitergeleitet, aber selbst keine kritischen Äußerungen gegen Putin oder den Krieg verfasst. Vor ihrer Ausreise war die BF im Unterschied in keiner Weise politisch oder regimekritisch tätig, noch trat sie bis zum Entscheidungszeitpunkt öffentlichkeitswirksam regimekritisch auf und erweckten die von der BF festgestellten ausgeübten Aktivitäten und die Feststellungen zu ihrer Person und bisherigen Leben in der Russischen Föderation nicht glaubhaft die nachteilige Aufmerksamkeit der russischen Behörden als potenzieller Verfolger im Herkunftsstaat der BF und der BF folglich gerade keine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. Mit anderen Worten die BF ist mit ihren „passiven“ (exil)politischen Aktivitäten in sozialen Medien oder durch den Besuch von regimekritischen Beiträgen oder Accounts nicht so in Erscheinung getreten ist, dass sie als auffällig regierungskritisch identifizierbar ist und somit nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in das Interesse der russischen Behörden geraten ist und ihr keine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird.
Der BF droht damit nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Falle ihrer Rückkehr individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch russische Behörden oder durch andere Personen aufgrund ihrer geringen (exil)politischen Aktivitäten.
Hinzukommt, dass generell alle russische Staatsangehörige bei der Einreise nach einem längeren Auslandsaufenthalt von einer Befragung durch Grenzbeamten laut Länderinformationen betroffen sein können, aber laut der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 24.10.2023 gerade Männer genauer bei der Einreise insbesondere vor dem Hintergrund der Wehrdienstpflicht kontrolliert und befragt werden. Auch die Weiterleitung von Berichten der „Deutschen Welle“ und Informationen könnte gegebenenfalls zu einer Verwaltungsstrafe führen, aber erreicht dies nicht die geforderte Intensität einer Verfolgungshandlung.
3.2.3. Es kann auch keine konkrete und individuelle Verfolgung aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit der BF festgestellt werden. Ebenso droht der BF auch keine geschlechtsspezifische Gewalt oder eine Zwangsheirat noch eine Verfolgung wegen ihrer Eigenschaft als Frau oder wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden oder verwitweten Frauen. Die BF führte in der Russischen Föderation einen „selbstbestimmten“ Lebensstil. Die Situation von Frauen im Nordkaukasus ist von der in anderen Regionen Russlands zu unterscheiden und stammt die BF aus Moskau, wo sie studierte, arbeitete und weiterhin in ihrer Eigentumswohnung leben kann.
In Ermangelung von der BF individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu prüfen, ob sie im Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale – etwa wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe russischen Juden oder zur Religionsgruppe des Judentums – unabhängig von individuellen Aspekten einer über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehenden „Gruppenverfolgung“ ausgesetzt wäre. Für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung ist zwar nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048, mit Verweis auf VfGH 18.09.2015, E 736/2014).
Die orthodoxen Christen zählen mit rund 68% zu einer traditionellen Hauptreligion in der Russischen Föderation und genießen de facto eine herausgehobene Stellung. Eine Verfolgung aus religiösen Gründen wurde von der BF auch nicht substantiiert vorgebracht.
Ebenso ist auch eine Gruppenverfolgung der BF als Ukrainerin aus ethnischen Gründen nicht erkennbar, so umfasst der Vielvölkerstaat Russland mehr als 190 ethnische Minderheiten und garantiert die russische Verfassung für alle ethnische Gruppen gleiche Rechte und Freiheiten. Auch aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung von russischen Staatsangehörigen mit ukrainischen Aufenthaltskarte oder ukrainischen Hintergrund.
3.2.4. Der BF droht aus den in der Beweiswürdigung dargelegten Gründen bei ihrer Wiedereinreise in die Russischen Föderation daher keine asylrelevante Gefahr. Zurückkehrende werden wegen der Stellung eines Asylantrages im Ausland oder ihrem Aufenthalt im Ausland nicht verfolgt vergleiche Punkt römisch II.1.5.).
3.2.5. Im Ergebnis ist daher der Ausspruch in Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides zu bestätigen und die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. abzuweisen.
3.3. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. (Paragraph 8, AsylG) des angefochtenen Bescheides:
3.3.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen, so ist dem Fremden gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß Artikel 2, EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Artikel 3, EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Unter realer Gefahr ist eine ausreichend echte, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen vergleiche VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre. Weiters müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus.
Die Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen, die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikel 3, EMRK zu gelangen.
Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Artikel 3, EMRK auch sonst gültigen Maßstab des „real risk“, wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat vergleiche VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582; 31.05.2005, 2005/20/0095).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137; VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016).
3.3.2. Es sind keine Umstände amtsbekannt, dass in der Russischen Föderation aktuell eine solche extreme Gefährdungslage besteht, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung iSd Artikel 2 und 3 EMRK ausgesetzt ist. Wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt, ist die Situation in der Russischen Föderation auch nicht dergestalt, dass eine Rückkehr der BF für sie als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde; in der Russischen Föderation ist aktuell eine Zivilperson nicht alleine aufgrund ihrer Anwesenheit einer solchen Bedrohung ausgesetzt.
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Artikel 3, EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen vergleiche zum Ganzen zuletzt VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153; 26.6.2019, Ra 2019/20/0050, jeweils mwN).
Überdies hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Artikel 3, EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt vergleiche VwGH 23.3.2017, Ra 2017/20/0038 bis 0040; 6.11.2018, Ra 2018/01/0106, jeweils mwN; sowie EGMR 13.12.2016, 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 189 ff; EGMR 1.10.2019, 57467/15, Savran gegen Dänemark, Rz 44 ff ).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt und unter Bezugnahme auf die diesbezügliche ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgesprochen, dass es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Artikel 3, EMRK widersprechende Behandlung drohen würde. Es reicht für den Asylwerber nicht aus, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage zu berufen vergleiche VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134, mit Verweis auf EGMR 05.09.2013, 61204/09, römisch eins gegen Schweden; siehe dazu auch VwGH 18.03.2016, Ra 2015/01/0255; 19.06.2017, Ra 2017/19/0095; 05.12.2017, Ra 2017/01/0236;).
3.3.3. Das Vorbringen der BF zu den Fluchtgründen ist nicht glaubhaft (siehe Beweiswürdigung); es bestehen daher keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass das Leben oder die Freiheit der BF im Falle ihrer Rückkehr aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Ansichten bedroht ist (siehe Punkt römisch II.3.2.).
3.3.4. Vor dem Hintergrund der genannten Erkenntnisquellen und den darauf basierenden Feststellungen finden sich weder Anhaltspunkte dafür, dass der BF bei einer Rückkehr bzw. Einreise in ihren Herkunftsstaat mit der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer Gefährdungssituation im Sinne des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 ausgesetzt ist, noch das „außergewöhnliche Umstände“ der Rückkehr bzw. Einreise der BF in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen. Es steht fest, dass der BF in der Russischen Föderation die notdürftigste Lebensgrundlage nicht fehlt:
Die BF verbrachte den Großteil ihres Lebens bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2022 in der Russischen Föderation, wo sie die Grundschule abschloss als auch die Universität besuchte, erwerbstätig war und mit ihrer Familie lebte. Sie hat im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation Zugang zum Sozialsystem und zur Krankenversicherung und verfügt über eine Eigentumswohnung und mit zumindest zwei Freundinnen in der Russischen Föderation auch ein kleines soziales Netz, das sie auch unterstützten kann. Auch die berufstätige Tochter kann die BF von Deutschland aus unterstützen. Die BF spricht neben Ukrainisch auch perfekt Russisch und ist mit der russischen Kultur vertraut. Die BF kann – wie bereits vor ihrer Ausreise – wieder in ihrer Eigentumswohnung wohnen und ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit bestreiten oder auch in naher Zukunft eine Pension beziehen, weil die BF durchgängig nach ihren Hochschulabschlüssen erwerbstätig war und über eine mehr als 26-jährige Berufserfahrung in verschiedenen Banken verfügt. Der BF ist es somit möglich, ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse zu befriedigen.
3.3.5. Die BF ist abgesehen von einer Depression, Gastritis, Gallensteine und Asthma gesund. Es bedarf nur regelmäßige Kontrolluntersuchungen. Medikamente nimmt sie zum Entscheidungszeitpunkt wegen ihrer Depression und wegen ihrer Asthmaerkrankung. Außerdem nimmt sie Hormontabletten. An Asthma leidet die BF schon seit über 20 Jahren und wurden ihre Erkrankungen, auch die Gastritis, die sie seit 14 Jahre hat, in der Russischen Föderation behandelt. Die BF nimmt die gleichen Asthma-Medikamente, die sie zuvor auch in Russland einnahm. Aus den Länderberichten zur medizinischen Versorgung in der Russischen Föderation ergibt sich, dass die medizinische Versorgung flächendeckend gewährleistet ist. Auch internistische und psychiatrische Behandlungen sind in der Russischen Föderation, insbesondere auch im Herkunftsort Moskau möglich. Es kann jedenfalls nicht festgestellt werden, dass sie an akuten und lebensbedrohlichen Erkrankungen leidet, welche in der Russischen Föderation nicht behandelbar sind und im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat allenfalls zu einer Überschreitung der hohen Eingriffsschwelle des Artikel 3, EMRK führen würden, sodass auch ihre gesundheitliche Verfassung einer Abschiebung nicht entgegensteht (zur Judikatur hinsichtlich der Abschiebung kranker Fremder vergleiche VfSlg. 18.407/2008).
Letztlich konnte auch nicht festgestellt werden, dass im gesamten Gebiet der Russischen Föderation – trotz der vom Bundesverwaltungsgericht nicht außer Acht gelassenen in einigen Regionen angespannten Sicherheitssituation – derzeit eine „extreme Gefahrenlage“ vergleiche etwa VwGH 16. 4. 2002, 2000/20/0131) im Sinne einer dermaßen schlechten wirtschaftlichen oder allgemeinen (politischen) Situation herrschen würde, die für sich genommen bereits die Zulässigkeit der Rückkehr als unrechtmäßig erscheinen ließe.
Unter Berücksichtigung der Länderberichte und der persönlichen Situation der BF steht in einer Gesamtbetrachtung im gegenständlichen Fall fest, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in die Russischen Föderation (Russland-Moskau) nicht in eine ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen wird, eine Verletzung ihrer durch Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden. Es liegen keine exzeptionellen Gründe vor, die einer Rückkehr in die Russische Föderation entgegenstehen. Die Prüfung der maßgeblichen Kriterien führt im konkreten Fall zu dem Ergebnis, dass der BF eine Rückkehr möglich und auch zumutbar ist. Sie kann sich auch an jedem anderen Ort in der Russischen Föderation niederlassen und registrieren lassen.
3.3.6. Da kein „real risk“ besteht, dass die Rückführung der BF in ihren Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK führend wird und keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gegen eine Abschiebung in die Russische Föderation sprechen, vorliegen, ist der BF der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen.
3.3.8. Das Bundesamt hat daher der BF den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu Recht nicht zuerkannt. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides ist daher abzuweisen.
3.4. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch III. bis römisch VI. des angefochtenen Bescheides (Entscheidung über die Rückkehrentscheidung und damit in Zusammenhang stehende Absprüche):
3.4.1. Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht zu erteilen ist.
Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß Paragraph 57, Absatz eins, AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt (Ziffer eins,), wenn dies zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel notwendig ist (Ziffer 2,) oder wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Ziffer 3,).
Die BF befindet sich seit Jänner 2023 im Bundesgebiet. Der Aufenthalt der BF ist im Bundesgebiet nicht im Sinne der soeben dargelegten Bestimmung geduldet bzw. zur Gewährleistung einer Strafverfolgung erforderlich. Sie ist weder Zeugin oder Opfer von strafbaren Handlungen noch Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im verwaltungsbehördlichen, noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren behauptet wurde.
3.4.2. Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Die BF ist als Staatsangehörige der Russischen Föderation keine begünstigte Drittstaatsangehörige und es kommt ihr kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, weil mit der erfolgten Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz das Aufenthaltsrecht nach Paragraph 13, AsylG 2005 mit der Erlassung dieser Entscheidung endet.
Die BF verfügt zwar über ein österreichisches Schengenvisum C (Reisevisum), welches ihr bis zu einer Gesamtaufenthaltsdauer von 90 Tagen sowie als „Multi“ Visum zu mehreren Einreisen erteilt wurde (Artikel 24, ff Visakodex). Die Aufenthaltsdauer von 90 Tagen, hat die BF mit der Einreise in Deutschland und damit in den Schengenraum am 22.02.2022 bereits im Mai 2022 überschritten und verblieb in Deutschland, wo sie im April 2022 einen Asylantrag stellte, bis sie am 09.01.2023 nach Österreich überstellt wurde und einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
3.4.3. Ob eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, ergibt sich aus Paragraph 9, Absatz eins bis 3 BFA-VG: Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist nach Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen: die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Ziffer eins,), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Ziffer 2,), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Ziffer 3,), der Grad der Integration (Ziffer 4,), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Ziffer 5,), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Ziffer 6,), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Ziffer 7,), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Ziffer 8,) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet war (Ziffer 9,).
Gemäß Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruhen, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraphen 45 und 48 oder Paragraphen 51, ff. NAG) verfügten, unzulässig wäre.
3.4.4. Nach Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangte eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn darf eine Ausweisung nicht erlassen werden, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden schwerer wiegen, als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wurde – die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen vergleiche VfSlg. 18.224/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423).
3.4.4.1. Vom Begriff des „Familienlebens“ in Artikel 8, EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, Appl. 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, Appl. 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Artikel 8, EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des „Familienlebens“ in Artikel 8, EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammenleben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind vergleiche etwa VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423; 08.06.2006, 2003/01/0600; 26.01.2006, 2002/20/0235, worin der Verwaltungsgerichtshof feststellt, dass das Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern nicht automatisch mit Erreichen der Volljährigkeit beendet wird, wenn das Kind weiter bei den Eltern lebt).
Im Bundesgebiet hat die BF keine Familienangehörigen oder sonstige familienähnliche Beziehungen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen die BF greift sohin nicht in das Familienleben der BF ein.
3.4.4.2. Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen vergleiche EGMR 16.06.2005, Fall Sisojeva ua., Appl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554).
Bei der Beurteilung der Frage, ob die BF in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da – abseits familiärer Umstände – eine von Artikel 8, EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist vergleiche Thym, EuGRZ 2006, 541). Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH 15.03.2016, Ra 2016/19/0031; VwGH 23.06.2015, Ra 2015/22/0026).
Die BF befindet sich nunmehr seit Jänner 2023, sohin seit ca. einem Jahr im Bundesgebiet und kommt demnach ihrem kurzen Inlandsaufenthalt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung zu. Auch wenn man davon ausginge, dass die BF über geschütztes Privatleben iSd Artikel 8, EMRK in Österreich verfügte, wäre der Eingriff verhältnismäßig:
Die BF reiste legal mit einem österreichischen Schengenvisum C nach Deutschland, wo sie am 26.04.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte und beschloss nicht mehr nach Russland zurückzukehren. Am 09.01.2023 wurde die BF von Deutschland nach Österreich überstellt, wo sie auch den gegenständlichen Asylantrag zur Umgehung der Bestimmungen über die Niederlassungs- und Aufenthaltsbestimmungen stellte. Der Aufenthalt der BF gründet seither auf ihrem – von Anfang an unbegründeten – Asylantrag; ihr Aufenthalt war während des Asylverfahrens rechtmäßig. Das Verfahren über den – einzigen – Asylantrag der BF dauerte nur ca. ein Jahr; die BF hat das Verfahren nicht verzögert und sie ist unbescholten.
Im Vergleich zu den noch stark ausgeprägten Bindungen zum Herkunftsstaat sind die Bindungen der BF zu Österreich noch zu gering:
Die BF setzte erste Integrationsschritte: Sie besuchte einen Deutschkurs in der Grundversorgungsunterkunft und hat sich erste Deutschkenntnisse angeeignet. Sie knüpfte lose soziale, hauptsächlich ukrainische Kontakte zu einer Freundin ihrer Tochter und im Deutschkurs. Ihr Lebensunterhalt wird seit Asylantragstellung durch staatliche Leistungen aus der Grundversorgung finanziert und die BF ist nicht selbsterhaltungsfähig. Die BF ist nicht ehrenamtlich tätig, kein Mitglied in einem Verein und ist auch in keiner Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet.
Im Gegensatz dazu verfügt sie über starke Bindungen zur Russischen Föderation, wo sie bis zu ihrer letzten Ausreise und ihren Auslandsaufenthalt zu Besuchszwecken, seit ihrem 15. Lebensjahr durchgehend lebte, studierte, verheiratet und erwerbstätig war die Landessprachen Russisch fließend spricht und hat auch von Österreich aus Kontakt zu ihren Freunden in Russland.
Dass der Fremde strafrechtlich unbescholten ist, vermag weder sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (zB VwGH 25.2.2010, 2009/21/0070; 13.10.2011, 2009/22/0273; 19.4.2012, 2011/18/0253).
Das Interesse der BF an der Aufrechterhaltung ihres Privatlebens in Österreich ist noch zusätzlich dadurch geschwächt, dass sie sich bei allen Integrationsschritten ihres unsicheren Aufenthalts und damit auch der Vorläufigkeit ihrer Integrationsschritte bewusst sein musste. Die BF durfte sich hier bisher nur auf Grund ihres Visums zu Besuchszwecken sowie ihres Antrags auf internationalen Schutz aufhalten, der zu keinem Zeitpunkt berechtigt war vergleiche zB VwGH 20.2.2004, 2003/18/0347; 26.2.2004, 2004/21/0027; 27.4.2004, 2000/18/0257; sowie EGMR 08.04.2008, Fall Nnyanzi, Appl. 21.878/06, wonach ein vom Fremden in einem Zeitraum, in dem er sich bloß aufgrund eines Asylantrages im Aufnahmestaat aufhalten durfte, begründetes Privatleben per se nicht geeignet war, die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffes zu begründen). Auch der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Artikel 8, Absatz 2, EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine, über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügte. In diesem Fall muss sich der Beschwerdeführer bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg. 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013).
Vor diesem Hintergrund wiegt in Anbetracht der erst sehr kurzen Aufenthaltsdauer, der kaum vorhandenen sprachlichen, beruflichen sowie sozialen Integration der BF das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung schwerer als ihr Interesse an der Aufrechterhaltung ihres Privatlebens in Österreich.
In einer Gesamtabwägung überwiegen die Interessen der BF an der Aufrechterhaltung ihres Privat- und Familienlebens in Österreich vor dem Hintergrund der erst kurzen Aufenthaltsdauer, der noch vorhandenen Bindungen zur Russischen Föderation und dass die BF den Kontakt zu ihrer Tochter in Deutschland wie bisher über Besuche und Urlaubsaufenthalte aufrecht erhalten kann, die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens nicht. So verfügt die BF über ein „Multi“ Visum C, welches noch bis Ende 2026 gültig ist und die BF zur mehrmaligen Ein- und Ausreise sowie einer bis zu 90-tägigen Aufenthaltsdauer berechtigt, sodass sie weiterhin auch den persönlichen Kontakt zu ihrer Tochter mittels Besuche aufrecht erhalten kann.
3.4.5. Daher ist bei der Interessensabwägung gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung nicht unverhältnismäßig in das Privat- und Familienleben der BF eingreift, zumal dem Schutz der öffentlichen Ordnung ein hoher Stellenwert zukommt.
Daher ist die Beschwerde abzuweisen, soweit sie sich gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung wendet.
3.4.6. Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Nach Paragraph 50, Absatz eins, FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach Paragraph 50, Absatz 2, FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Artikel 33, Ziffer eins, GFK), es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005).
Nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
Eine derartige Empfehlung besteht für die Russische Föderation nicht.
Die Zulässigkeit der Abschiebung der BF in ihren Herkunftsstaat ist gegeben, weil den der Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz zugrundeliegenden Feststellungen zufolge keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des Paragraph 50, FPG ergibt.
Da somit alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung und die gesetzte Frist für die freiwillige Ausreise vorliegen, ist die Beschwerde der BF gegen Spruchpunkt römisch III. bis römisch fünf. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraphen 52, Absatz 2, Ziffer 2, in Verbindung mit Absatz 9, FPG sowie Paragraphen 10,, 57 AsylG 2005 und Paragraph 9, BFA-VG als unbegründet abzuweisen.
3.4.7. Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach Paragraph 55, Absatz 2, FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides. Dies, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, jene Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
Derartige Gründe wurden im Verfahren nicht vorgebracht und es liegen keine Anhaltspunkte vor, die eine längere Frist erforderlich machen würden.
Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen – im Rahmen der rechtlichen Beurteilung bereits wiedergegebenen – Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
Im gegenständlichen Fall war die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz bereits aufgrund des bloß allgemeinen, äußert vagen und spekulativen Fluchtvorbringens der BF und aktueller Länderberichte sowie auch der vorgebrachte Nachfluchtgrund im Rahmen der Beweiswürdigung zu treffen. Auch verfahrensrechtlich wurden keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen.
Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen, auch der Abwägung des Privat- und Familienlebens, auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung zu Fragen des Artikel 8, EMRK wurde bei den Erwägungen römisch II.3.4. wiedergegeben. Insoweit die dort angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
ECLI:AT:BVWG:2024:W272.2275439.1.00