Bundesverwaltungsgericht
10.01.2024
W272 2277429-1
W272 2277421-1/5E
W272 2277422-1/5E
W272 2277426-1/3E
W272 2277424-1/3E
W272 2277428-1/3E
W272 2277429-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von 1. römisch 40 , geb. römisch 40 , 2. römisch 40 , geb. römisch 40 , 3. römisch 40 , geb. römisch 40 , 4. römisch 40 , geb. römisch 40 , 5. römisch 40 , geb. römisch 40 und 6. römisch 40 , geb. römisch 40 , alle Staatsangehörigkeit SYRIEN, die Minderjährigen vertreten durch ihre Eltern römisch 40 und römisch 40 , alle vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Spruchpunkt römisch eins. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg vom 19.07.2023, Zahlen: 1. römisch 40 , 2. römisch 40 , 3. römisch 40 , 4. römisch 40 , 5. römisch 40 und 6. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.12.2023, zu Recht:
A)
römisch eins. Den Beschwerden wird stattgegeben und römisch 40 sowie römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
römisch II. römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 und römisch 40 wird gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 34, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
römisch III. Gemäß Paragraph 3, Absatz 4, AsylG 2005 wird römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 und römisch 40 eine befristete Aufenthaltsberechtigung in der Dauer von drei Jahren erteilt.
römisch IV. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 und römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind nach traditionellen Ritus verheiratet und die Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers, des minderjährigen Viertbeschwerdeführers, des minderjährigen Fünftbeschwerdeführers und des minderjährigen Sechstbeschwerdeführers (in Folge: BF1, BF2, BF3, BF4, BF5 und BF6 oder alle gemeinsam: BF). Sie sind syrische Staatsangehörige und reisten unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten der BF1 und die BF2 für sich und ihre minderjährigen Kinder BF3-BF6 am 20.08.2022 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF1 und der BF2 statt. Als Fluchtgrund gaben sie im Wesentlichen die schlechte Sicherheitslage und Krieg an.
2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) nahm den BF1 und die BF2 am 01.06.2023 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch niederschriftlich zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz ein.
2.1. Der BF1 gab zusammengefasst zu seinem Fluchtgrund an, dass er Syrien illegal verlassen habe, weil er von der Sicherheitsbehörde gesucht werde, weil er an mehreren Demonstrationen gegen das syrische Regime teilgenommen habe. Er sei für das syrische Regime ein Verräter, denn er habe den Militärdienst nie geleistet und sei auch vor dem Militärdienst geflüchtet. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien werde er verhaftet und getötet.
Im Rahmen der Einvernahme legte der BF1 eine Kopie des syrischen Reisepasses, Personalausweises, Militärbuches, diverse Zeugnisse, Bestätigungen gemeinnütziger Arbeiten und Empfehlungsschreiben vor.
2.2. Die BF2 gab im Wesentlichen zu ihren Fluchtgründen an, dass sie Syrien schlepperunterstützt verlassen habe, weil ihr Stamm in Syrien generell in Gefahr sei, der Familienname gefährde sie und es sei weder für sie noch für ihre Familie sicher gewesen. Sie sei müde von den ständigen Reisen von einem Ort zum anderen und kenne bis jetzt keine Stabilität und keine Sicherheit.
Im Rahmen der Einvernahme legte die BF2 eine Kopie des syrischen Personalausweises und diverse Zeugnisse vor.
3. Das Bundesamt wies mit den nunmehr angefochtenen – im Spruch bezeichneten – Bescheiden vom 19.07.2023 (zugestellt am 26.07.2023) die Anträge der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ab (Spruchpunkt römisch eins.). Gleichzeitig erkannte es den BF gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt römisch II.) und erteilte den BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr (Spruchpunkt römisch III).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die BF Syrien aufgrund des anhaltenden Bürgerkriegs und daraus resultierender Sicherheitsbedenken verlassen haben. Sie haben in ihrem Herkunftsstaat keine asylrelevanten Probleme aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit, ethnischen Zugehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Die BF haben auch keine Probleme mit Ämtern und Behörden gehabt und seien nicht politisch oder parteipolitisch tätig gewesen sowie deswegen verfolgt worden. Das Vorbringen des BF1 er befürchte aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen sowie das Vorbringen der BF2 aufgrund der Zugehörigkeit zu ihrer Familie als politisch Oppositionelle im Visier der syrischen Behörden zu seien, haben sie nicht glaubhaft machen können.
Mit Bescheid vom 16.08.2023 berichtigte das Bundesamt die korrekte Schreibweise des Namens der BF2 auf römisch 40 und nicht wie versehentlich falsch geschrieben: römisch 40 .
4. Mit Schriftsatz vom 22.08.2023 (eingebracht am 22.08.2023) brachten die BF wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde gegen den Spruchpunkt römisch eins. dieser Bescheide ein. Es sei davon auszugehen, dass der BF1 in Syrien als Oppositioneller gelte, weil er an Demonstrationen teilgenommen habe, weil ihr Familienname mit oppositionellen Aktivitäten verbunden sei und weil er den Militärdienst unterlassen habe. Diese Probleme hinsichtlich des Familiennamens bestehen auch für die BF2 bis BF6 und die ihren Asylantrag auch von BF1 ableiten. Bei einer Rückkehr befürchte die Tötung oder eine Inhaftierung. Die belangte Behörde sei den Anforderungen eines mangelfreien Ermittlungsverfahrens nicht nachgekommen, durch unterbliebenes genaues Nachfragen greifen die mangelhaften Ermittlungen auf inhaltliche Thematiken des Antrages auf internationalen Schutz durch. Obwohl die BF zahlreiche Anhaltspunkte für eine oppositionelle Gesinnung und einer daher rührenden Verfolgungsgefahr genannt habe, liegen keine Ermittlungen hinsichtlich der konkreten Gefährdung der BF im Sinne einer Prognoseentscheidung vor. Der BF1 habe im November 2011 eine erneute Ladung von der Parteisicherheit und vom Militär erhalten; zu diesem Zeitpunkt habe das Regime Zugriff auf die Herkunftsregion der BF und dort die Vorherrschaft. Ab 2012 sei die Region dann wieder von der oppositionellen FSA zurückerobert und bis 2019 gehalten worden, nachdem das syrische Regime ihr Bestreben ehemalige Gebiet zurückzuerobern erneut priorisiert habe. Mit dieser Entwicklung im Gedanken, sei der BF1 mit seiner Familie B2-B6 zuerst in das von der Opposition kontrollierte Gouvernement Idlib und dann über die Türkei nach Europa geflohen. Auch die in den angefochtenen Bescheiden getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig. Hätte die belangte Behörde die aktuellen öffentlich zugänglichen Länderberichte herangezogen, so hätte sie zu der Feststellung kommen müssen, dass die BF Verfolgung aufgrund ihrer oppositionellen Gesinnung droht. Darüber hinaus wäre ersichtlich geworden, dass das Vorbringen der BF, sie würde in Syrien der Gefahr unterlaufen inhaftiert, gefoltert und hingerichtet zu werden durchaus glaubhaft. Die BF seien vor dem Assad Regime aus ihrem ursprünglichen Herkunftsort in der Region Hama geflohen, weil das syrische Regime die Region Hama mit einer Vielzahl militärischer Einsätze und von Luftangriffen in ihre Kontrolle gebracht habe und somit die Gefahr bestanden sei, dass der BF1 rekrutiert werden. Die Schwelle, um als Oppositioneller zu gelten, sei niedrig. Die belangte Behörde habe es in Folge unterlassen, differenzierte Feststellungen zur oppositionellen Einstellung der BF und der damit einhergehenden Gefahr der Zwangsrekrutierung des BF1 zu treffen bzw. habe sie zu diesen entscheidungswesentlichen Punkten keine Ermittlungen angestellt. Der BF1 wolle nicht an Kriegsverbrechen teilnehmen und er und seine Familie sei gegen das Regime. Ausgehend von diesen Feststellungen hätte die belangte Behörde erkennen müssen, dass den BF in Syrien asylrelevante Verfolgung aufgrund ihrer politischen Überzeugung drohe. Die BF und vor allem der BF1 fallen in mehrere der angeführten Risikoprofile der jüngsten UNHCR Erwägungen und seien daher direkt von einer Verfolgung durch das syrische Regime bedroht. Schließlich beantragten die BF eine Zeugeneinvernahme, Einsichtnahme in Beweismittel: Youtube Video, Versorgung Verwundeter sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
5. Das Bundesamt legte die Beschwerden und die Akten des Verwaltungsverfahrens am 01.09.2023 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
6. Am 06.12.2023 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung in Anwesenheit der BF, ihrer Rechtsberaterin als gewillkürte Vertreterin und eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch durch. Die belangte Behörde verzichtete schriftlich auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung (OZ 3). Ergänzend brachte das Bundesverwaltungsgericht die aktuellen Länderinformationen zu Syrien in das Verfahren ein.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung verzichteten die BF auf die Einvernahme des mit Beschwerde beantragten Zeugen.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zur Person und zum Verfahrensgang der BF:
1.1.1. Die Identität der BF steht fest. Sie sind syrische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennen sich zum muslimischen Glauben. Die Erstsprache der BF ist Arabisch. Der BF1 und die BF2 sprechen außerdem ein bisschen Englisch.
Der BF1 und die BF2 heirateten im Oktober 2014 nach traditionellen Ritus, aber ließen ihre Ehe nie staatlich registrieren oder eintragen. Der BF1 und die BF2 sind die Eltern des minderjährigen BF3, BF4, BF5 und BF6.
Gemäß Artikel eins, syrisches Personalstatutsgesetz, Gesetz Nr. 59 vom 17.09.1953, zuletzt ÄndG Nr. 4/2019 vom 07.02.2019 (sPSG), ist die Eheschließung ein Vertrag zwischen einem Mann und einer Frau, durch den ihnen der Umgang miteinander erlaubt wird und der die Begründung des gemeinschaftlichen Lebens und die Zeugung von Nachkommen bezweckt. Für die Wirksamkeit der Eheschließung bedarf es der Anwesenheit zweier männlicher Zeugen oder eines Mannes und zweier Frauen, welche sämtlich islamischen Glaubens sind, geistige und körperliche Reife aufweisen und das Angebot und die Annahme hören sowie begreifen, was damit beabsichtigt wird (Artikel 12, sPSG) sowie allenfalls eines Ehevormunds. Gemäß Artikel 30, des Dekrets No. 26/2007 über den zivilen Status gelten Ehen erst als rechtsgültig und daher durchsetzbar, wenn sie im Zivilregister eingetragen wurden. Im Falle einer außerhalb eines Gerichtes abgeschlossenen Ehe (sogenannte traditionelle Ehe) muss deren Gültigkeit zunächst durch den Richter (in der Regel vor Scharia-Gerichten) bestätigt werden. Die Bestätigung der Gültigkeit der Ehe kann auch rückwirkend erfolgen. Danach muss eine Abschrift der Bestätigung der Eheschließung durch das Gericht innerhalb von zehn Tagen an das zuständige Standesamt weitergeleitet werden, das anschließend die Registrierung der Ehe im Zivilregister vornimmt, wodurch die Ehe Rechtsgültigkeit erlangt (Artikel 40 -, 46, sPSG).
Gemäß Artikel 129, Absatz eins, sPSG gilt das in wirksamer Ehe geborene Kind als vom Ehemann abstammend, wenn seit der Eheschließung die Mindestdauer einer Schwangerschaft verstrichen ist, und der körperliche Kontakt der Ehegatten nicht unmöglich gewesen ist, also wenn nicht etwa einer der Ehepartner wegen Inhaftierung oder Aufenthalts an einem fernen Ort über die Dauer der Schwangerschaft hinaus abwesend war.
1.1.2. Der BF1 wurde am römisch 40 in römisch 40 , in der Provinz Hama in Syrien geboren, wo er aufwuchs und 12 Jahre die Grundschule bis 2003 besuchte. Danach studierte er von 2005 bis 2011 in Aleppo Wirtschaft mit Informatikbereich. Während seiner Schul- und Studiumszeit wurde sein Lebensunterhalt von seinem Vater, der Lehrer war, finanziert. Im Anschluss arbeitete der BF in der Landwirtschaft seiner Familie bis ca. 2019 bevor er an die syrisch-türkische Grenze sowie 10 Monate später 2020 in die Türkei ausreiste.
Die BF2 wurde am römisch 40 ebenfalls in römisch 40 , in der Provinz Hama in Syrien geboren, wo sie 12 Jahre die Grundschule besuchte. Danach begann die BF2 in Aleppo ein Lehramtsstudium von 2009-2011/12, welches sie nicht abschloss. Ihr Lebensunterhalt wurde bis zur Hochzeit durch ihren Vater, der Lehrer war und später von ihrem traditionellen Ehemann finanziert. Die BF2 bekam Kinder und sorgte sich um die Kinder, bis sie mit ihrem Mann und Kinder Syrien endgültig im Jahr 2020 verließ.
Der BF3 wurde am römisch 40 und der BF4 am römisch 40 ebenfalls in römisch 40 in Syrien geboren, wo sie bis zur Ausreise 2019/20 im Familienverband aufwuchsen.
Der BF5 wurde am römisch 40 und der BF6 am römisch 40 in römisch 40 , in der Türkei geboren, wo sie im Familienverband aufwuchsen und bis zur Weiterreise nach Österreich im Jahr 2022 gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern lebten.
1.1.3. In Syrien lebt die Mutter sowie ein Bruder und drei Schwestern des BF1 und weitere Verwandte (Onkel und Tanten) in einem Flüchtlingslager in römisch 40 sowie in einer angrenzenden Stadt römisch 40 (phonetisch) an der syrisch-türkischen Grenze in Nordwestsyrien, außerhalb des syrischen Herschaftsgebietes. Zwei Schwestern des BF1 sind in Deutschland aufhältig, ein Bruder in Holland sowie ein weiterer Bruder in Belgien. Der Vater des BF1 ist bereits im Jahr 2016 krankheitsbedingt verstorben.
In Syrien lebt noch eine Schwester der BF2 in römisch 40 . Ihre Mutter ist bereits verstorben sowie auch ein Bruder, welcher Arzt in Deutschland war. Der Vater und ihre Geschwister leben in Holland; ein Bruder der BF2 ist in Österreich aufhältig. Die BF2 hat keine Familienangehörigen mehr in ihrem Herkunftsort römisch 40 .
Die BF haben zu ihren Familienangehörigen regelmäßig telefonischen Kontakt.
1.1.4. Der BF1 lebte ausgenommen seiner Studienzeit in Aleppo, durchgehend bis ca. 2019 in römisch 40 (auch römisch 40 geschrieben), ebenso auch die BF2, die bis zum 18. Lebensjahr in römisch 40 , danach mit ihren Eltern und Geschwistern für drei Jahre 2009-2012 auch nach Aleppo ging und im Anschluss wieder zurückkehrte. Nach 2019 mit dem Einmarsch des syrischen Regimes, zuvor war römisch 40 im Oppositionsgebiet, flüchteten die BF in ein Zeltlager an der syrisch-türkischen Grenze in die Provinz Idlib, wo sie sich 10 Monate aufhielten und im Anschluss 2020 in die Türkei weiterreisten. Das Herkunftsgebiet der BF, die Ortschaft römisch 40 liegt nordöstlich von der Stadt römisch 40 , im derzeit von der syrischen Regierung beherrschten Gebiet.
1.1.5. Die BF reisten Mitte 2020 von Syrien illegal in die Türkei und nach ca. 2 Jahren weiter über Bulgarien, Serbien sowie Ungarn schlepperunterstützt nach Österreich ein und stellten der BF1 und die BF2 für sich und ihre Kinder, die minderjährigen BF3- BF6 am 20.08.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit gegenständlichen Bescheid vom 19.07.2023 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.), hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten stattgegeben (Spruchpunkt römisch II.) und den BF eine Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Die BF erhoben fristgerecht am 22.08.2023 Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. der gegenständlichen Bescheide. Der Status der BF der subsidiär Schutzberechtigten erwuchs in Rechtskraft.
1.1.6. Die BF sind gesund und leiden an keinen schweren (lebensbedrohenden) psychischen oder physischen Erkrankungen.
1.1.7. Die volljährigen BF sind arbeitsfähig und in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Der BF3, BF4, BF5 und BF6 sind unmündige Minderjährige und somit strafunmündig.
1.2. Zum Fluchtvorbringen der BF:
1.2.1. Die BF stammen aus der Ortschaft römisch 40 , welche nordöstlich von der Stadt römisch 40 , im gleichnamigen Gouvernement gelegen, und die nähere Umgebung stehen unter der Kontrolle des syrischen Regimes. Die Ortschaft römisch 40 stellt den Herkunftsort der BF dar.
1.2.2. Nicht glaubhaft ist, dass der BF1 und auch die BF2 bereits vor ihrer Ausreise alleine aufgrund ihres Nachnamens und der Teilnahme des BF1 an Demonstrationen im Jahr 2011/12 von den syrischen Behörden gesucht wurden oder weiterhin werden. Der BF1 und die BF2 hatten keine Probleme mit den syrischen Behörden, waren und sind weder Mitglied einer politischen Partei oder anderen Gruppierung und ist die BF2 auch nicht politisch, regimekritisch oder journalistisch tätig sowie der BF1 seit 2012 auch nicht mehr regimekritisch und war nie journalistisch tätig.
1.2.3. In Syrien besteht ein verpflichtender Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Syrische männliche Staatsangehörige können bis zum Alter von 42 Jahren zum Wehrdienst eingezogen werden. Der BF1 befindet sich mit seinen 38 Jahren im wehrpflichtigen Alter hinsichtlich des gesetzlich vorgesehenen Militärdienstes beim syrischen Regime im Gebiet unter dessen Kontrolle.
Der BF1 hat seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet und ist von diesem auch nicht befreit. Er hat mit seiner Volljährigkeit im Jahr 2003 ein Militärbuch erhalten und aufgrund seines Studiums in Aleppo mehrere Aufschübe für den Militärdienst zur syrischen Armee erhalten. Der letzte Aufschub ist im Jahr 2011 abgelaufen. Er hat den verpflichteten Wehrdienst daher nicht verweigert, sondern sich einer wahrscheinlichen Einziehung zum Wehrdienst durch Aufenthalt im Oppositionsgebiet, Flucht sowie den Auslandsaufenthalt entzogen. Er befindet sich weiters in einem Alter und Gesundheitszustand, welche ihn als Soldaten für die syrische Armee interessant machen. Gerade Wehrpflichtige aus ehemaligen Oppositionsgebieten werden von den syrischen Behörden herangezogen und rekrutiert.
Die Möglichkeit des Freikaufens vom Wehrdienst in der syrischen Armee stellt für den BF1 keine ihm zumutbare Alternative bzw. Lösung dar.
Im Falle einer Rückkehr besteht für den BF 1 aufgrund der derzeitigen allgemeinen Situation in seinem Heimatort und seiner Heimatregion aktuell eine unmittelbar konkrete Gefahr zum syrischen Wehrdienst eingezogen zu werden. Der BF1 würde den Militärdienst aus politischen und oppositionellen Gründen glaubhaft verweigern. Das syrische Regime ist in der Lage, im Herkunftsgebiet des BF in römisch 40 , zu rekrutieren. Der Dienst als Grundwehrdiener ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit dem Zwang zur Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen verbunden, im Falle einer Weigerung würde er zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden, die mit Folter oder dem sofortigen Einzug zum Wehrdienst einhergehen kann.
Die Haft sowie die damit verbundene Folter drohen dem BF1, da er sich dem Wehrdienst durch seine illegale Ausreise aus Syrien bzw. Flucht ins Ausland entzogen hat und die syrische Regierung ihm deswegen eine oppositionelle Gesinnung unterstellen würde. Dabei spielt auch die Herkunftsregion für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern eine große Rolle. Syrer aus (ehemaligen) Oppositionsgebieten, wie es auch Hama ist, werden dabei eher verdächtigt, als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten.
Auch besteht im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet für den BF1 die Gefahr bereits bei der Einreise – über den Flughafen Damaskus oder Flughafen Latakia oder Hama oder auch über den Landweg am Grenzübertritt– von den syrischen Streitkräften kontrolliert, verhaftet und zum Wehrdienst bei der syrischen Armee eingezogen zu werden.
1.2.4. Es wird festgestellt, dass dem BF1 im Fall einer Rückkehr nach Syrien aus Gründen seiner politischen Ansichten oder einer zumindest unterstellten oppositionellen Gesinnung wegen Wehrdienstverweigerung von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter einer konkreten Verfolgung und Gefährdung ausgesetzt ist.
1.2.5. Die BF2 ist im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifischer Gewalt als Frau ohne familiäres Netzwerk sowie ohne sozialen Schutz insbesondere durch männliche Familienangehörigen in ihrem Herkunftsort ausgesetzt. Zudem droht ihr eine konkrete, individuelle Reflexverfolgungs- oder Bedrohungsgefährdung aufgrund der Entziehung einer wahrscheinlichen Einberufung zum Wehrdienst ihres traditionell angetrauten Ehemanns durch die gemeinsame illegale Ausreise, ihrer Herkunft aus einem früheren Oppositionsgebiet und einer damit einhergehenden zumindest unterstellten oppositionellen Gesinnung. Dies wird durch die Ausreise durch weitere Angehörige des BF 1 und der BF 2 verstärkt, wodurch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass die BF 2 aufgrund einer zumindest unterstellten politischen Einstellung gegen das Regime, von den syrische Kräfte bedroht, gefoltert, vergewaltigt bzw. inhaftiert und dort einer Folter ausgesetzt sein wird.
Für die minderjährigen BF (BF3-BF6) wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht und konnte auch amtswegig abgesehen von der allgemeinen volatilen Sicherheitslage und Bürgerkriegssituation keine sie persönlich betreffende Verfolgungsgründe festgestellt werden.
1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationen
- die aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation zu Syrien aus dem COI-CMS (Country of Origin Information-Content Management System), Version 9 vom 17.07.2023;
- der EASO –Leitfaden November 2021 sowie auszugsweise die aktualisierten EUAA Country Guidance Februar 2023;
- der EASO Bericht „Syria Situation of returnees from abroad“ June 2021;
- die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, März 2021
- der EUAA Bericht: Syria Targeting of Individuals vom September 2022
- die Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigen Auslandsaufenthalt [a-12132-2] vom 14.06.2023
- die Anfragebeantwortung zu Syrien: Reisepässe der syrischen Regierung für Männer im wehrdienstfähigen Alter; mögliches Sicherheitsrisiko für diese Personengruppe, im Ausland (insbesondere in der Türkei) einen Reisepass zu beantragen [a-12067-1]
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Eheschließungen, deren Voraussetzungen und Eheregistrierung vom 05.05.2017 sowie Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht Henrich/Dutta/Ebert: Syrien, Arabische Republik Stand 06.05.2021
Politische Lage
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 % des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum November 2022-März 2023] nicht wesentlich verändert (AA 29.3.2023). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in den Gebieten unter seiner Kontrolle nicht grundlegend angefochten, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden substanziellen militärischen Unterstützung Russlands bzw. Irans und Iran-naher Kräfte. Allerdings gelang es dem Regime nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol in diesen Gebieten durchzusetzen. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht (AA 29.3.2023). Der von den Vereinten Nationen geleitete Friedensprozess, einschließlich des Verfassungsausschusses, hat 2022 keine Fortschritte gemacht (HRW 12.1.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert (AA 29.3.2023). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell und sorgen dafür, dass diese nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden (HRW 12.1.2023).
Im Äußeren gewannen die Bemühungen des Regimes und seiner Verbündeten, insbesondere Russlands, zur Beendigung der internationalen Isolation [mit Stand März 2023] unabhängig von der im Raum stehenden Annäherung der Türkei trotz fehlender politischer und humanitärer Fortschritte weiter an Momentum. Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vergleiche SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon - (CMEC 16.5.2023; vergleiche Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen, wenngleich sich die Bewahrung der EU-Einheit in dieser Sache zunehmend herausfordernd gestaltet (AA 29.3.2023).
Syrische Arabische Republik
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 2.5.2023). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer der Alawiten und anderer religiöser Minderheiten (FH 9.3.2023) und die alawitische Minderheit hat weiterhin einen im Verhältnis zu ihrer Zahl überproportional großen politischen Status, insbesondere in den Führungspositionen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Nachrichtendienste, obwohl das hochrangige Offizierskorps des Militärs weiterhin auch Angehörige anderer religiöser Minderheitengruppen in seine Reihen aufnimmt (USDOS 15.5.2023). In der Praxis hängt der politische Zugang jedoch nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten. Alawiten, Christen, Drusen und Angehörige anderer kleinerer Religionsgemeinschaften, die nicht zu Assads innerem Kreis gehören, sind politisch entrechtet. Zur politischen Elite gehören auch Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft, doch die sunnitische Mehrheit des Landes stellt den größten Teil der Rebellenbewegung und hat daher die Hauptlast der staatlichen Repressionen zu tragen (FH 9.3.2023).
Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba'ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba'ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige (USDOS 20.3.2023). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft infrage stellen könnten (FH 9.3.2023). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch die Verfassung und den bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v.a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich (AA 29.3.2023).
Dem ehemaligen Berater des US-Außenministeriums Hazem al-Ghabra zufolge unterstützt Syrien beinahe vollständig die Herstellung und Logistik von Drogen, weil es eine Einnahmemöglichkeit für den Staat und für Vertreter des Regimes und dessen Profiteure darstellt (Enab 23.1.2023). Baschar al-Assad mag der unumschränkte Herrscher sein, aber die Loyalität mächtiger Warlords, Geschäftsleute oder auch seiner Verwandten hat ihren Preis. Beispielhaft wird von einer vormals kleinkriminellen Bande berichtet, die Präsident Assad in der Stadt Sednaya gewähren ließ, um die dort ansässigen Christen zu kooptieren, und die inzwischen auf eigene Rechnung in den Drogenhandel involviert ist. Der Machtapparat hat nur bedingt die Kontrolle über die eigenen Drogennetzwerke. Assads Cousins, die Hisbollah und Anführer der lokalen Organisierten Kriminalität haben kleine Imperien errichtet und geraten gelegentlich aneinander, wobei Maher al-Assad, der jüngere Bruder des Präsidenten und Befehlshaber der Vierten Division, eine zentrale Rolle bei der Logistik innehat. Die Vierte Division mutierte in den vergangenen Jahren 'zu einer Art Mafia-Konglomerat mit militärischem Flügel'. Sie bewacht die Transporte und Fabriken, kontrolliert die Häfen und nimmt Geld ein. Maher al-Assads Vertreter, General Ghassan Bilal, gilt als der operative Kopf und Verbindungsmann zur Hisbollah (Spiegel 17.6.2022).
Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).
Institutionen und Wahlen
Syrien ist nach der geltenden Verfassung von 2012 eine semipräsidentielle Volksrepublik. Das politische System Syriens wird de facto jedoch vom autoritär regierenden Präsidenten dominiert. Der Präsident verfügt als oberstes Exekutivorgan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Generalsekretär der Ba'ath-Partei über umfassende Vollmachten. Darüber hinaus darf der Präsident nach Artikel 113, der Verfassung auch legislativ tätig werden, wenn das Parlament nicht tagt, aufgelöst ist oder wenn "absolute Notwendigkeit" dies erfordert. De facto ist die Legislativbefugnis des Parlaments derzeit außer Kraft gesetzt. Gesetze werden weitgehend als Präsidialdekrete verabschiedet (AA 29.3.2023).
Der Präsident wird nach der Verfassung direkt vom Volk gewählt. Seine Amtszeit beträgt sieben Jahre. Seit der letzten Verfassungsänderung 2012 ist maximal eine einmalige Wiederwahl möglich. Da diese Verfassungsbestimmung jedoch erstmals bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zur Anwendung kam, war es dem aktuellen Präsidenten Baschar al-Assad erlaubt, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2021 erneut zu kandidieren. Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt werden nach Artikel 85, vom Obersten Verfassungsgericht überprüft und müssen Voraussetzungen erfüllen, die Angehörige der Opposition faktisch weitgehend ausschließen. So muss ein Kandidat u. a. im Besitz seiner bürgerlichen und politischen Rechte sein (diese werden bei Verurteilungen für politische Delikte in der Regel entzogen), darf nicht für ein "ehrenrühriges" Vergehen vorbestraft sein und muss bis zum Zeitpunkt der Kandidatur ununterbrochen zehn Jahre in Syrien gelebt haben. Damit sind im Exil lebende Politikerinnen und Politiker von einer Kandidatur de facto ausgeschlossen (AA 29.3.2023). Bei den Präsidentschaftswahlen, die im Mai 2021 in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie einigen syrischen Botschaften abgehalten wurden, erhielt Bashar al-Assad 95,1 % der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von rund 77 % und wurde damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 % und 3,3 % der Stimmen (Standard 28.5.2021; vergleiche Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als 'weder frei noch fair' und als 'betrügerisch', und die Opposition nannte sie eine 'Farce' (Standard 28.5.2021).
Das Parlament hat nicht viel Macht. Dekrete werden meist von Ministern und Ministerinnen vorgelegt, um ohne Änderungen vom Parlament genehmigt zu werden. Sitze im Parlament oder im Kabinett dienen nicht dazu, einzelne Machtgruppen in die Entscheidungsfindung einzubinden, sondern dazu, sie durch die Vorteile, die ihnen ihre Positionen verschaffen, zu kooptieren (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden die Wahlen für das "Volksrat" genannte syrische Parlament mit 250 Sitzen statt, allerdings nur in Gebieten, in denen das Regime präsent ist. Auch diese Wahlen wurden durch die weitverbreitete Vertreibung der Bevölkerung beeinträchtigt. Bei den Wahlen gab es keinen nennenswerten Wettbewerb, da die im Exil lebenden Oppositionsgruppen nicht teilnahmen und die Behörden keine unabhängigen politischen Aktivitäten in dem von ihnen kontrollierten Gebiet dulden. Die regierende Ba'ath-Partei und ihre Koalition der Nationalen Progressiven Front erhielten 183 Sitze. Die restlichen 67 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, die jedoch alle als regierungstreu galten (FH 9.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7 % (BS 23.2.2022). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.7.2020).
Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba'ath-Partei (MEI 24.7.2020). Die vom Regime und den Nachrichtendiensten vorgenommene Reihung auf der Liste ist damit wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen. Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien quasi zu managen und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren (BS 23.2.2022). Zudem gilt der Verkauf öffentlicher Ämter an reiche Personen, im Verbund mit entsprechend gefälschten Wahlergebnissen, als zunehmend wichtige Devisenquelle für das syrische Regime (AA 29.3.2023). Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022).
Im September 2022 fanden in allen [unter Kontrolle des syrischen Regimes stehenden] Provinzen Wahlen für die Lokalräte statt. Nichtregierungsorganisationen bezeichneten sie ebenfalls als weder frei noch fair (USDOS 20.3.2023).
Sicherheitslage
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 29.3.2023). Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) veröffentlichte eine Karte mit Stand Dezember 2022, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind. Es gibt Gebiete, in denen mehr als Akteur präsent ist (UNCOI 1.2023) [Anm.: die ausländischen Verbündeten des Regimes wie Iran, Russland und libanesische Hizbollah fehlen - siehe Karten weiter unten]:
Quelle: UNCOI 1.2023 (Stand: 12.2022)
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:
CC 12.6.2023 (Stand: 31.3.2023)
Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023).
Die CoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Mitte des Jahres 2016 hatte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der 'wichtigsten' Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt, kontrolliert (Reuters 13.4.2016). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.3.2023).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:
Zenith 11.2.2022
Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022).
Im Gouvernement Dara'a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten 'Versöhnungsabkommens'. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).
Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nicht-identifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).
Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vergleiche DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vergleiche CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vergleiche BAMF 6.12.2022).
Der UN-Sicherheitsrat schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Mit mehreren Tausend Kämpfern sowie deren Angehörigen, die sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF befinden, sowie einer vermutlich dreistelligen Zahl von im Untergrund aktiven Kämpfern bleibt IS jedoch ein relevanter asymmetrischer Akteur (AA 29.3.2023). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle und Attentate (DIS 29.6.2020). Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien, und zeigte bei zwei Anschlägen im Jahr 2022 seine anhaltende Fähigkeit zu komplexen Operationen (AA 29.3.2023).
Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich zehn bis 15 Angriffe auf die Regierungsstreitkräfte pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).
Zum IS-Angriff vom 20.1.2022 in al-Hassakah siehe das Unterkapitel Nordost-Syrien im Kapitel Sicherheitslage.
Zivile Todesopfer landesweit
Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche sowohl Zivilisten als auch Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von 'Massakern', bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vergleiche SNHR 1.1.2021). Die folgende Grafik zeigt die von SNHR dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2021 getötet wurden, wobei SNHR insgesamt 1.271 getötete Zivilisten zählte, davon 299 Kinder und 134 Frauen (SNHR 1.1.2022):
SNHR 1.1.2022
Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.2021 bis 30.6.2023 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern. Demnach kamen im Jahr 2022 5.949 Menschen ums Leben und im ersten Halbjahr 2023 2.796 Personen (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):
[…]
Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 1.1.2020-30.6.2023 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):
ACLED o.D.; *2023: Zeitraum 1.1.-30.6.2023
Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).
Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).
Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien
Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Team“ (IIT) zu ermitteln. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.3.2017 sowie Chlorgas am 25.3.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 1.3.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 7.4.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds“). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.5.2019 wiederholt Chlorgas in Kabana/Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 1.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (1.8.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.1.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.9.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.1.2022). In einem weiteren Bericht vom 1.2.2022 kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.10.2016 in Kafr Zeita eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 1.2.2022).
Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 Prozent der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021).
Auch wenn es im Jahr 2022 kein Einsatz von chemischen Waffen berichtet wurde, so wird davon ausgegangen, dass das Regime weiterhin über ausreichende Vorräte von Sarin und Chlor verfügt, und über die Expertise zur Produktion und Anwendung von Chlor-hältiger Munition verfügt. Das Regime erfüllte nicht die Forderungen der Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) Conference of the States Parties, weshalb seine Rechte in der Organisation suspendiert bleiben (USDOS 20.3.2023).
Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln
Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Z.B. wurden im Juni 2022 bei der Explosion einer Landmine in Dara’a zehn Menschen getötet und 28 verletzt. Laut dem Humanitarian Needs Overview der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und - Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.3.2023).
"Versöhnungsabkommen" (auch "Beilegungsabkommen")
Die syrischen Behörden nutzen sogenannte "reconciliation agreements" [in anderen Quellen auch als "settlement agreements" - Beilegungsabkommen - bezeichnet] seit Beginn des Konfliktes (NMFA 5.2022). Die Evakuierung der von Rebellen gehaltenen Gemeinde Daraya im August 2016 markierte dabei einen Wendepunkt in der Nutzung von Versöhnungsabkommen durch die syrische Regierung als Strategie zur Rückeroberung der von Rebellen gehaltenen Gebiete. Bis zur Vereinbarung in Daraya waren in verschiedenen Gemeinden in ganz Syrien örtlich begrenzte Waffenstillstände eingesetzt worden. Sowohl die lokalen Waffenstillstände als auch die Versöhnungsvereinbarungen sind eine militärische Strategie, mit der Rebellengebiete entweder sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt zum Einlenken gezwungen werden sollen, um Menschen und Gebiete in den Staat wiedereinzugliedern (MEE 28.3.2018). Das Verfahren ist grundsätzlich für Personen gedacht, die im Sicherheitsapparat aktenkundig sind oder die von den Behörden im Zusammenhang mit einer offenen Angelegenheit gesucht werden. Sowohl Kombattanten als auch Zivilisten können Versöhnungsvereinbarungen unterzeichnen. Es gibt lokale und individuelle Versöhnungsabkommen (NMFA 5.2022).
Lokale Versöhnungsabkommen in ehemaligen Oppositionsgebieten
Die "Versöhnungsprozesse" scheinen ad hoc durchgeführt zu werden, was bedeutet, dass sie variieren und keine eindeutige Beschreibung des Prozesses gegeben werden kann. Für die praktische Umsetzung der Vereinbarungen ist ein "Versöhnungsausschuss" zuständig. Dieses Gremium ist kein Gericht. Es gibt kein materiell-rechtliches Verfahren und das Justizministerium ist nicht beteiligt. Das Ergebnis ist kein Urteil, sondern eine Sicherheitserklärung. Der Inhalt des Abkommens kann nicht angefochten werden. Die betreffende Person gibt ihre leichten Waffen ab und erklärt schriftlich, dass sie von Widerstandstätigkeiten absehen wird. Im Gegenzug verspricht die syrische Regierung, die Vorwürfe aus dem Strafregister zu streichen und den Namen der Person von den Fahndungslisten zu entfernen. Männer, die noch ihren Militärdienst ableisten müssen, haben sechs Monate Zeit, sich beim Rekrutierungsbüro zu melden. Es gibt Quellen, die berichten, dass diejenigen, die freigelassen werden, ein Dokument erhalten (NMFA 5.2022).
Der Abschluss der "Versöhnungsabkommen" folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat. Die Vereinbarungen mit Rebellentruppen werden meist am Ende einer Belagerung durch Regierungstruppen abgeschlossen (ÖB Damaskus 12.2022). Laut der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD), eine 2018 gegründete zivilgesellschaftliche Basisbewegung aus Syrien, gehörten zu den Taktiken bisher auch Belagerungen, bei denen das Regime die Menschen in diesen Gebieten nicht nur der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten beraubte, sondern sie auch mit Luftangriffen und Granaten beschoss, die Infrastruktur zerstörte und Zivilisten tötete, um das Gebiet schließlich zur Kapitulation und zur Unterzeichnung eines Versöhnungsabkommens zu zwingen (SACD 8.11.2021). Im Allgemeinen bieten die Versöhnungsverfahren zwei Möglichkeiten: eine Versöhnungsvereinbarung zu unterzeichnen und weiterhin im Regierungsgebiet zu leben oder in das Oppositionsgebiet im Nordwesten Syriens zu ziehen (NMFA 5.2022). Die Vereinbarungen beinhalten oft die Evakuierung der Gebiete von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden (ÖB Damaskus 12.2022). Sie werden also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche OFPRA 13.12.2022) und sind de facto Kapitulationsvereinbarungen (NMFA 5.2022; vergleiche SACD 8.11.2021, TIMEP 15.10.2021).
Die von der Regierung angebotenen Versöhnungsabkommen sind an verschiedene Bedingungen geknüpft (STDOK 8.2017). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden (STDOK 8.2017), oder den Männern im wehrpflichtigen Alter wird eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert (AA 29.3.2023). Im Rahmen von Versöhnungsabkommen gemachte Garantien der Regierung werden jedoch nicht eingehalten. Die syrischen Behörden haben Einzelpersonen verhaftet, nachdem ihnen die Freilassung zugesichert wurde, und Vereinbarungen über die Freistellung von der Wehrpflicht, über den Dienstort neuer Wehrpflichtiger (BS 23.2.2022) oder zur Schonfrist vor dem Einzug zum Militärdienst wurden gebrochen (AA 29.3.2023). Es wird von willkürlichen Verhaftungen von Personen berichtet, die sich zuvor mit der syrischen Regierung "versöhnt" hatten (UNHRC 7.2.2023; vergleiche HRW 12.1.2023) und es kommt trotz Abkommen zu Verhaftungen und dem Verschwinden von früheren Kämpfern in deren Häusern oder an Checkpoints. Es gibt Berichte über die gezielte Tötung von ehemaligen Kämpfern, die sich nunmehr den syrischen Streitkräften angeschlossen haben (ÖB Damaskus 12.2022). Beispielsweise in "versöhnten" Gebieten in Dara'a kam es zu Tötungen von Personen durch Unbekannte (SHRC 26.1.2023; vergleiche USDOS 20.3.2023), wobei in Anbetracht der Konfliktlage vermutet wird, dass das Regime und der Iran hinter vielen dieser Operationen stehen (SHRC 26.1.2023).
Der Abschluss von "Versöhnungsabkommen" in bestimmten Gebieten schützt die dortige Bevölkerung nicht vor dem willkürlichen, rücksichtslosen Verhalten der dort präsenten regierungsfreundlichen Milizen (OFPRA 13.12.2022). Diese Menschenrechtsverletzungen decouragieren auch die Rückkehr von geflüchteten Personen. Durch mehrere Gesetzeserlässe wurde die Regierung 2019 zur Konfiskation des Eigentums von "Terroristen" ermächtigt. Als Terroristen werden vor allem auch viele Oppositionelle gelistet (ÖB Damaskus 12.2022).
Generell lässt sich seitens der Regierung das Bestreben feststellen, möglichst schnell wieder staatliche Strukturen in den eroberten Gebieten zu etablieren. Allerdings gibt es offenbar große Herausforderungen für die syrische Regierung, dieses Bestreben flächendeckend umzusetzen (ÖB Damaskus 12.2022).
Individuelle Versöhnungsabkommen
Soweit bekannt, gibt es auch individuelle Versöhnungsabkommen für Syrer, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehren wollen, bzw. für Vertriebene, die in ein Gebiet unter der Kontrolle der Behörden zurückkehren. Der Abschluss eines individuellen Versöhnungsabkommens ist auch hier kein genau definiertes Verfahren und kann von Person zu Person und von Botschaft zu Botschaft variieren; in der Regel beinhaltet es jedoch die Unterzeichnung eines Dokuments in einer Botschaft, in dem die Person ihre "Straftat" zugibt. Versöhnungsabkommen bieten allerdings keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen (NMFA 5.2022).
Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien
Mittlerweile hat das Assad-Regime, unterstützt von Russland und Iran, unterschiedlichen Quellen zu Folge zwischen 60 % (INSS 24.4.2022; vergleiche GIS 23.5.2022) und 70 % des syrischen Territoriums wieder unter seine Kontrolle gebracht (USCIRF 11.2022; EUAA 9.2022). Im November 2022 kontrolliert die Regierung die meisten größeren Städte des Landes, darunter die Großstädte Damaskus, Aleppo, Homs und Hama (CRS 8.11.2022; vergleiche EUAA 9.2022). Ausländische Akteure und regierungstreue Milizen üben erheblichen Einfluss auf Teile des Gebiets aus, das nominell unter der Kontrolle der Regierung steht (AM 23.2.2021; vergleiche SWP 3.2020, FP 15.3.2021, EUI 13.3.2020) Anmerkung, siehe dazu auch das Überkapitel Sicherheitslage). Folgende Karte mit Stand 23.5.2023 veranschaulicht diese territoriale nominelle Dominanz der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten und das komplexe Verhältnis zum selbsternannten Autonomiegebiet im Nordosten, das hier als "halbautonome kurdische Zone" bezeichnet wird:
Quelle: DW 30.6.2023
Die zivilen Behörden haben nur begrenzten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Organisationen, die in Syrien operieren, darunter russische Streitkräfte, die libanesische Hizbollah, die iranischen Revolutionswächter (IRGC) und regierungsnahe Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defence Forces - NDF), deren Mitglieder zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen haben (USDOS 20.3.2023). Auch innerhalb einzelner Regionen unterscheidet sich die Lage von Ort zu Ort und von Betroffenen zu Betroffenen. Somit ist eine pauschale Lagebeurteilung nicht möglich (AA 29.3.2023).
Die Sicherheitslage zwischen militärischen Entwicklungen und Menschenrechtslage
Ungeachtet der obigen Ausführungen bleibt Syrien bis hin zur subregionalen Ebene territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren derzeit rund 20 Prozent der Grenzen des Landes. Obwohl die syrischen Zollbehörden offiziell für die Grenzübergänge zum Irak (Abu Kamal), zu Jordanien (Nasib) und zum Libanon (al-Arida, Jdeidat, al-Jousiyah und al-Dabousiyah) zuständig sind, liegt die tatsächliche Kontrolle bei anderen: Die libanesische Grenze ist von der Hizbollah besetzt, die auf der syrischen Seite Stützpunkte eingerichtet hat (Zabadani, al-Qusayr), von denen aus sie die Bergregion Qalamoun beherrscht. Auch die irakischen schiitischen Milizen verwalten beide Seiten ihrer Grenze von Abu Kamal bis at-Tanf (WI 10.2.2021).
Vor allem Aleppo, die größte Stadt Syriens und ihr ehemaliger wirtschaftlicher Motor, bietet einen Einblick in die derzeitige Lage: Die Truppen des Regimes haben die primäre, aber nicht die ausschließliche Kontrolle über die Stadt, weil die Milizen, auch wenn sie nominell mit dem Regime verbündet sind, sich sporadische Zusammenstöße mit Soldaten und untereinander liefern und die Einwohner schikanieren. Die Rebellen sind vertrieben, kein ausländischer Akteur hat ein Interesse an einer erneuten Intervention, um das Regime herauszufordern, und die Bevölkerung ist durch den jahrelangen Krieg zu erschöpft und verarmt und zu sehr damit beschäftigt, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, um einen weiteren Aufstand zu führen. Außerdem konnten die meisten Einwohner der Stadt, die in von der Opposition gehaltene Gebiete oder ins Ausland vertrieben wurden, nicht zurückkehren, vor allem, weil sie entweder die Einberufung oder Repressalien wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Aufstand fürchten (ICG 9.5.2022). Gebiete, in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, werden nun auch verstärkt durch die Geheimdienste überwacht (Üngör 15.12.2021).
Andere Regionen wie der Westen des Landes, insbesondere die Gouvernements Tartus und Latakia (Kerneinflussgebiete des Assad-Regimes), blieben auch im Berichtszeitraum von aktiven Kampfhandlungen vergleichsweise verschont. Unverändert kam es hier nur vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Latakia und Idlib (AA 29.3.2023).
Unabhängig von militärischen Entwicklungen kommt es laut Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen, insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.11.2021) [Anm.: Siehe dazu Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Die UN-Untersuchungskommission für Syrien hält es für wahrscheinlich, dass das Regime, seine russischen Verbündeten und andere regimetreue Kräfte Angriffe begangen haben, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet sind und möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen. Dem Regime nahestehende paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufige Verstöße und Misshandlungen, darunter Massaker, wahllose Tötungen, Entführungen von Zivilisten, extreme körperliche Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, und rechtswidrige Festnahmen (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung und andere Konfliktparteien setzen weiterhin Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategie zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein (GlobalR2P 31.5.2023; vergleiche CC 3.11.2022). In Zentral-, West- und Südsyrien kommt es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen (GlobalR2P 1.12.2022) [Anm.: Siehe auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Aus den Gouvernements Dara'a, Quneitra und Suweida wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 gezielte Tötungen, Sprengstoffanschläge, Schusswechsel, Zusammenstöße und Entführungen gemeldet, an denen Kräfte der syrischen Regierung und regierungsfreundliche Milizen, ehemalige Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, IS-Kämpfer und andere nicht identifizierte Akteure beteiligt waren (EUAA 9.2022).
Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versucht der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen 'Hort der Ruhe' in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 1.7.2022; vergleiche EUAA 9.2022). Allerdings kommt es seit Anfang 2020 zu wiederholten Anschlägen in Damaskus und Damaskus-Umland bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen werden (TSO 10.3.2020; vergleiche COAR 25.10.2021). Darunter war z. B. die Bombenexplosion eines Militärbusses am 20.10.2021 in einem dicht besiedelten Gebiet von Damaskus, bei welcher 14 Personen getötet wurden (HRW 13.1.2022). Im Zeitraum April 2022 bis Juli 2022 wurden sechzehn Anschläge in und um Damaskus gemeldet, welche Personen mit Regimenähe zum Ziel hatten (AN 1.7.2022).
In Gebieten wie Daraʿa, der Stadt Deir ez-Zor und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihrer Macht missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des IS, mit schweren Zerstörungen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren konfrontiert (ICG 13.2.2020).
Der Islamischer Staat (IS) verfügt über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun (AA 29.11.2021; Anmerkung, Siehe dazu auch Abschnitt "Provinz Deir ez-Zour / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet"). Der IS ist unter anderem im Osten der Provinz Homs aktiv. Es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021; vergleiche DIS 5.2022).
Von Februar bis April versuchen verarmte Syrer durch die Trüffelsuche Geld zum Überleben zu verdienen - trotz Lebensgefahr (France 24 8.3.2023) aufgrund der Präsenz von IS-Kämpfern und zahlreichen Landminen in der Wüste Zentralsyriens (TAZ 24.3.2023). Bei einem weiteren IS-Angriff Mitte Februar kamen 53 Zivilisten bei der Trüffelsuche ums Leben (Ha'aretz 17.2.2023). Mittlerweile soll der IS mindestens 150 Trüffelsucher im heurigen Jahr getötet haben (BBC 17.4.2023).
Verschiebungen bei der militärischen Präsenz von Russland und Iran
Die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine haben begonnen, sich spürbar auf Russlands militärische und diplomatische Haltung in Syrien auszuwirken (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Russland ist seit 2015 eine dominante militärische Kraft in Syrien und trägt dazu bei, das syrische Regime an der Macht zu halten (NYT 19.10.2022). Allerdings versucht Russland nun auch, seine Position in Europa zu stärken, indem es im Stillen seine Präsenz und sein Engagement in Syrien reduziert. Berichten zufolge wurden diese Soldaten teilweise durch russische Militärpolizisten ersetzt (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Die Bemühungen Russlands, seine Präsenz in Syrien zu verringern, haben auch diplomatische Manöver mit Iran und der Türkei ausgelöst. Iran hat das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in Ostsyrien auszubauen (CC 3.11.2022).
Israelische Luftschläge
Um die Präsenz Irans zu bekämpfen und die Weitergabe von Waffen an die Hizbollah zu verhindern, hat Israel häufig Luftangriffe gegen die syrische Regierung und die vom Iran unterstützten Milizen in ganz Syrien durchgeführt (CC 3.11.2022). Die israelischen Luftschläge gingen in den letzten Jahren in die Hunderte (Haaretz 18.2.2023).
Im Jahr 2021 erhöhte sich bereits das Ausmaß der israelischen Luftangriffe mit mindestens 56 Konfliktvorfällen (CC 3.11.2022). Im November 2021 wurde von zwei israelischen Angriffen auf Ziele in der Umgebung von Damaskus berichtet (NPA 3.11.2021). Am 28.12.2021 wurden Hafenanlagen in Latakia durch Luftschläge schwer beschädigt (AA 29.3.2023). Im Jahr 2022 fanden 31 israelische Luftangriffe statt, davon 19 im dritten Quartal 2022 (CC 3.11.2022). Seit Beginn 2022 kam es zudem zu israelischen Angriffen u. a. auf den Flughafen von Damaskus, wo sowohl zivile wie militärische Landebahnen getroffen wurden (JP 11.6.2022), bzw. der Flughafen vorübergehend gesperrt wurde (Ha'aretz 30.1.2023, vergleiche AA 29.3.2023). Auch gab es am 5.7.2022 nahe der Stadt Tartus einen israelischen Angriff auf Luftabwehrsysteme (JP 5.7.2022).
Im Jahr 2023 erfolgten weitere Luftangriffe, darunter ein Angriff auf den internationalen Flughafen Damaskus am 2.1.2023 (Ha'aretz 18.2.2023) und auf den Flughafen Aleppo am 7.3.2023 (Standard 7.3.2023). Seither gab es auch weitere Angriffsziele in Zusammenhang mit iranischen Milizen und der Hizbollah, darunter ein Ort im Stadtteil Kafr Sousa in Damaskus mit je nach Quelle divergierenden Zahlen zu den Todesopfern, welche von fünf bis 15 Personen reichten (Ha'aretz 18.2.2023). Laut syrischer Version wurde in Kafr Sousa eine iranische Schule (Ha'aretz 18.2.2023) getroffen, während andere Quellen von einem militärischen Ziel ausgehen - hauptsächlich mit Iran-Konnex (Ha'aretz 22.2.2022). Bei einem Raketenangriff Israels auf den Flughafen in Aleppo, zum Beispiel am 1. Mai, wurde nach Angaben syrischer Staatsmedien ein Soldat getötet. Sieben weitere Menschen, darunter zwei Zivilisten, seien verwundet worden, berichteten staatliche syrische Medien unter Berufung auf einen Militärvertreter. Der Flughafen sei nach dem Angriff außer Betrieb gewesen. Auch einige Orte in der Nähe wurden demnach getroffen (Standard 2.5.2023). In der Region Aleppo sind pro-iranische Milizen besonders präsent (ORF 2.5.2023) Anmerkung, Zu iranischen Waffenlieferungen über die Flughäfen Lattakia, Damaskus und Aleppo unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe nach den Erdbeben siehe Unterkapitel Gouvernment Latakiya). Mittlerweile soll die Beunruhigung der Bevölkerung wachsen, weil sie immer mehr bei diesen Angriffen in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach Russland sollen zunehmend auch syrische Kräfte sich weigern, mit iranischen Verbänden gemeinsam zu patrouillieren (Zenith 24.2.2023).
US-Luftschläge in Syrien
Auch die USA gingen immer wieder gezielt mit Luftschlägen gegen Iran-nahe Akteure, aber auch ranghohe Kommandeure des sogenannten IS vor. Zugleich wurden US-Stützpunkte und von US-Kräften gesicherte Anlagen wiederholt Ziel von Drohnen- und Raketenangriffen, die nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte auf Iran-nahe Milizen zurückzuführen sind (AA 29.3.2023).
Dem deutschen Auswärtigen Amt zufolge kann daher in keinem Landesteil Syriens von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (AA 29.3.2023).
Rechtsschutz und Justizwesen
Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge (regimekontrollierte Gebiete)
Der rechtliche Status von Frauen
Zu den Gesetzen, die Frauen diskriminieren, gehören Straf-, Familien-, Religions-, Personenstands-, Arbeits-, Staatsangehörigkeits-, Erbschafts-, Renten- d Sozialversicherungsgesetze (USDOS 20.3.2023), darunter Obsorgeangelegenheiten (FH 9.3.2023). Außerdem stehen Verfahrensrechte nicht allen syrischen Bürgern in gleichem Ausmaß zur Verfügung, zum Teil, weil Auslegungen des religiösen Rechts die Grundlage für Elemente des Familien- und Strafrechts bilden und Frauen diskriminieren (USDOS 20.3.2023).
Personenstandsgesetz von 1953 (mit Nivellierungen)
Im muslimisch dominierten multireligiösen und multiethnischen Syrien haben die unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften seit Langem das Recht, bestimmte Angelegenheiten des Familienrechts entsprechend ihren jeweiligen religiösen Vorschriften zu regeln (SLJ 3.10.2019). Im Allgemeinen wird das Familienrecht durch das Personenstandsgesetz (qanun al-ahwal al-shakhsiyya) von 1953 geregelt, eine Kodifizierung islamischen Rechts. Das Gesetz gilt für alle Syrer, aber bestimmte Ausnahmen gelten für Drusen, Christen und Juden, die ihre eigenen religiösen Gesetze in Bezug auf Heirat, Scheidung, Kindesunterhalt, Mitgift, Testamente und Erbschaft anwenden können (MPG 2018). Andere Bereiche wie Vormundschaft und Vaterschaft gelten jedoch für alle Syrer, unabhängig von ihrer Religion - nach einer zeitweisen Ausnahme für Katholiken (Landinfo 22.8.2018). Das Personenstandsrecht und die Scharia-Gerichte, die dieses Recht anwenden, haben Vorrang gegenüber den nicht-muslimischen Gerichten (Eijk 2013).
Nicht nur die verschiedenen Religionsgruppen, auch die unterschiedlichen Konfessionen haben eine jeweils eigene Gesetzgebung in bestimmten rechtlichen Angelegenheiten den Personenstand betreffend (Eijk 2013). So existiert ein kodifiziertes Familienrecht für Katholiken, Protestanten sowie für die Armenisch-, Griechisch- sowie Syrisch-Orthodoxen Kirchen u. a. in verschiedenen Personenstandsgesetzen (MPG 2018). Das Gesetz unterscheidet hingegen nicht zwischen den verschiedenen islamischen Konfessionen und gilt für Sunniten, Alawiten und andere schiitische Gruppen gleichermaßen (ausgenommen sind hiervon Drusen, wenn man diese als muslimische Gruppe ansieht) (Eijk 2016).
Am 25.3.2021 ist mit der Unterschrift des Präsidenten das Gesetz Nr. 13/2021 zum Erlass eines neuen Personenstandsgesetzes (PSG) verabschiedet worden. Das neue Gesetz ersetzt das Personenstandsgesetz von 2007. Gegenstand der enthaltenen Neuerungen sind insbesondere die Automatisierung und Informatisierung von Registerprozessen und ihre Vereinfachung; u. a. soll es Erleichterungen bei der Beantragung von Urkunden geben (VfSt 30.3.2021). Bezüglich Heirat, Scheidung, Kinderobsorge und Erbschaft sind Frauen weiterhin im Personenstandsgesetz diskriminiert (HRW 12.1.2023).
Eheschließung
Religionsverschiedenheit ist ein Hindernis für die Eheschließung in Syrien. So ist die Ehe einer muslimischen Frau mit einem nicht-muslimischen Mann nichtig. Eine Ehe zwischen einem muslimischen Mann und einer nicht-muslimischen Frau, sofern diese dem Christentum oder Judentum angehört, ist gültig (MPG 2018, vergleiche USDOS 2.6.2022). Inwieweit eine Ehe mit einer Jesidin rechtmäßig ist, ist unklar (MPG 2018). Im Jahr 2019 erfolgten Änderungen. Das Heiratsalter wurde für Männer wie Frauen von 17 auf 18 Jahre erhöht. Der Ehemann und die Ehefrau können nun ihre jeweiligen Bedingungen im Ehevertrag festschreiben, wenn diese weder islamisches noch syrisches Recht verletzen. Sollte islamisches oder syrisches Recht hingegen verletzt sein, werden diese Bedingungen nichtig, aber der Ehevertrag behält seine Gültigkeit (LoC 8.4.2019).
Der Zuständige des Gerichts kann die Ehe im Gericht oder zuhause schließen. Das Brautpaar muss nicht anwesend sein. Die Frau kann auch durch ihren Vormund vertreten werden. Eine Vertretung wird entsprechend in der Eheschließungsurkunde/Heiratsurkunde vermerkt (NMFA 5.2022) [Anm.: zur Praxis von diesbezüglichen Vermerken bei der Bestätigung informeller Heiraten siehe weiter unten.]. Theoretisch braucht eine erwachsene Frau nicht die ausdrückliche Zustimmung ihres Vaters oder Vormunds, um eine traditionelle Ehe eingehen zu können. Auf die Anwesenheit des Vormunds der Frau wird jedoch großer Wert gelegt, weil von ihm erwartet wird, dass er die Interessen der Familie und der Braut schützt (NMFA 6.2021). In den unterschiedlichen Strömungen des islamischen Rechts ist es umstritten, ob eine erwachsene, voll geschäftsfähige Frau ihre Ehe ohne ihren Ehevormund schließen kann. Ein erwachsener Mann kann seine Ehe ohne einen Ehevormund schließen (MPG o.D.a). Stellvertretung bei der Ehe (tawkîl) ist gemäß Artikel 8, PSG zulässig und durchaus üblich (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Die Mitwirkung des Staates ist für die Wirksamkeit der Eheschließung nicht erforderlich. Vielmehr stellen die Eheschließung an sich und die Mitteilung bzw. Registrierung der Eheschließung bei Gericht oder einer anderen Behörde getrennte Vorgänge dar. Die Registrierung ist verpflichtend und kann entweder vor oder nach der Eheschließung erfolgen (MPG o.D.a). Das Scharia-Gericht (oder religiöse Behörde) meldet die geschlossenen gesetzlichen Heiraten dem Zivilregister (NMFA 5.2022).
Paare, bei denen ein Partner ausländischer Staatsbürger ist, benötigen eine Genehmigung des Innenministeriums, denn dies gilt als Frage der nationalen Sicherheit (SLJ 3.10.2019).
Eine informelle Heirat mit Bezeichnungen wie sheikh, ‘urfi und katb al-kitab (NMFA 5.2022) - auch unter der Bezeichnung „traditionelle Ehe“ (SLJ 3.10.2019) - ist eine islamische Heirat, die ohne die Involvierung einer kompetenten Autorität geschlossen wird (NMFA 5.2022). Gründe für eine traditionelle Ehe können sein, dass das Paar unterschiedlichen islamischen Konfessionen angehört, dass es gegen die Wünsche der Familie heiratet, oder es sich um eine polygame Ehe handelt (mit oder ohne Wissen der ersten Ehefrau), die grundsätzlich im syrischen Personenstandsrecht erlaubt, jedoch strukturell beschränkt ist. Ein Mann kann einer solchen Ehe auch zustimmen, um dem unehelichen Kind seiner Frau einen Vater und somit einen Familiennamen zu geben (Eijk 2013). Ein Richter kann weiterhin eine informelle Heirat ratifizieren, wenn die Bedingungen im ersten Absatz (des Gesetzes) nicht gegeben sind. Das kann auch als Möglichkeit für die Heirat von Minderjährigen genutzt werden, ohne das eine Dispens durch den Richter nötig ist (NMFA 5.2022).
Ein weiterer Grund für informelle Heiraten ist, dass Männer, die in der Armee [Anm.: je nach Zeitpunkt vor oder nach der Gesetzesänderung 2019 nur Berufsoldaten oder auch andere - siehe auch weiter unten] dienen, eine Genehmigung der Armee für eine Eheschließung benötigen (Eijk 2013). Männer müssen nämlich sonst Dokumente vorlegen, welche belegen, dass ihre militärdienstlichen Verpflichtungen erfüllt sind (STJ 3.10.2019). Im Jahr 2019 benötigte z.B. jeder in der Altersgruppe zwischen 18 und 42 Jahren die Erlaubnis seiner Militäreinheit für eine Heirat. Viele Männer, egal ob Wehrdienstpflichtige oder Deserteure schlossen daher informelle Ehen, welche sie dann bei einem Scharia-Gericht ratifizieren ließen. Letzteres soll ohne Erlaubnis des Militärs möglich gewesen sein, wenn die Frau schwanger war oder schon ein Kind geboren hatte. Mit mehreren Änderungen im Personenstandsgesetz im Jahr 2019, Artikel 40, Absatz 1, benötigen nur Berufssoldaten eine Erlaubnis zur Heirat. Ob ein Deserteur seine informelle Heirat durch ein Scharia-Gericht bestätigen lassen kann, das beim Zivilregister registriert ist, hängt hauptsächlich davon ab, ob diese informelle Heirat bestätigt wird (NMFA 5.2022).
Da eine Ehe auch formlos zustande kommen kann, gibt es oft keine vorherige Anzeige der Eheabsicht bei Gericht. Zudem können die Brautleute in vielen Fällen die erforderlichen Dokumente nicht beibringen. Der Bedarf, die informell geschlossene Ehe zu registrieren, entsteht immer dann, wenn für ein Kind aus dieser Ehe Dokumente (z.B. eine Geburtsurkunde oder die Staatsbürgerschaftsurkunde) ausgestellt werden sollen. Das Gesetz bestimmt, dass eine Registrierung der bereits geschlossenen Ehe im Nachhinein erfolgen darf, wenn festgelegte Anforderungen erfüllt sind. Im Fall einer Schwangerschaft der Ehefrau oder des Vorhandenseins von Kindern aus dieser Ehe ist diese leichter nachweisbar. Können bestimmte Unterlagen zur Gültigkeit der außergerichtlichen Eheschließung nicht vorgelegt werden, besteht die Möglichkeit, eine einvernehmliche Feststellungsklage über das Bestehen der Ehe zu erheben. Bei der Feststellungsklage werden lediglich Tatsachen festgehalten, die von den Parteien selbst vorgebracht werden. Das Gericht überprüft die vorgebrachten Behauptungen nicht (MPG o.D.a).
Scharia-Gerichte können diese informellen Ehen ratifizieren, wobei die Bestätigung in schriftlicher Form erfolgt, aber die Dokumente werden inhaltlich wie formal je nach Gericht unterschiedlich nach Gutdünken der Richter ausgestellt. Zum Beispiel ist die Anwesenheit des Brautpaars oder seiner Repräsentanten nicht zwingend im Dokument erwähnt. Es wird auch nicht immer explizit erwähnt, ob ein Gatte oder eine Gattin durch eine andere Person vertreten wurde (NMFA 5.2022).
Das Datum der Eheschließung wird bei einer nachträglichen Registrierung vom Gericht bestimmt. Wenn das Gericht die traditionelle Eheschließung als gültig anerkennt, ist das Datum der traditionellen Eheschließung das Datum der Eheschließung, nicht das Datum der Registrierung. Da es auch möglich ist, Kinder ex post facto zu registrieren (oftmals gleichzeitig mit der Registrierung der Ehe), und Kinder im Kontext einer Ehe geboren werden sollten, sollte das Hochzeitsdatum hierbei jedenfalls vor dem Geburtsdatum der Kinder liegen. Daher würde es laut der Einschätzung einer Expertin für syrisches Ehe- und Familienrecht Sinn machen, dass das Gericht das Datum der traditionellen Eheschließung als das „echte Hochzeitsdatum“ festlegt (Eijk 4.1.2018).
Ein Gerichtsbeschluss wird besonders in Fällen gewählt, in denen ein Gatte verstorben, verschwunden, die Adresse unbekannt ist, nicht im Gericht erscheinen kann oder sich weigert, seine informelle Heirat zu bestätigen oder zu registrieren. Der Weg kann auch gewählt werden, wenn beide Gatten nicht vor Gericht erscheinen können. Ein Anwalt initiiert als Vertreter einer der beiden Eheleute das Verfahren zur Ratifizierung der außergerichtlichen Heirat. Dieses Verfahren war weit verbreitet, als die Genehmigung des Registrierungsbüros für den Militärdienst von Nöten war, und der Gatte nicht im Gericht erscheinen konnte (NMFA 6.2021).
In Bezug auf christliche Ehen werden vom Staat Ehen, die in einer Kirche geschlossen werden, als gültige Ehen anerkannt. Nach der Zeremonie sendet die Kirche die Unterlagen an das Zivilregisterbüro (Ejk 2013).
Kinderehe und Zwangsehe
Frühe und Zwangsehen sind ein Problem in Syrien. Besonders vertriebene Familien verheiraten ihre jungen Töchter als wahrgenommene Absicherung gegen sexuelle Gewalt oder aufgrund wirtschaftlichen Drucks (FH 9.3.2023).
Nach Gesetzesänderungen liegt mittlerweile das Ehemündigkeitsalter für Männer und Frauen bei 18 Jahren (SLJ 3.10.2019, vergleiche OSS 18.1.2023) [Anm.: bzgl. eines möglichen Schlupfloches siehe auch obigen Abschnitt]. Einige Ausnahmen erlauben Richtern, die Autorisierung und Registrierung von Heiraten ab dem Alter von 15 Jahren, wenn ein Zusammenleben und eine Schwangerschaft oder sexuelle Beziehungen stattgefunden haben. Diese Ausnahmen werden frei angewendet, auch wenn sie oft auf falschen Berichten beruhen (SJAC 7.10.2021). Wenn Minderjährige mit einer Dispens des Richters eines Familiengerichts heiraten, wird die Dispens in einem Zug mit der Eheschließung erteilt. Es ist nicht bekannt, in welchem Ausmaß die Dispens im Ehevertrag erwähnt wird (NMFA 5.2022).
Die meisten Ehen von Minderjährigen werden jedoch außerhalb der Scharia-Gerichte geschlossen, und dann von den Scharia-Gerichten nach den gesetzlichen Bestätigungsverfahren und der Bezahlung der Geldbuße ratifiziert. Andere Strafen wie etwa eine Haft werden selten angewendet. Ein Antrag auf Ratifizierung stellt oft das Gericht vor vollendete Tatsachen, z. B. wenn die Frau bereits schwanger ist oder bereits Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind oder die Ehe nicht angefochten wird (NMFA 6.2021).
Außerdem hat eine Frau das Recht, eine von ihrem Vormund auferlegte Ehe ohne ihre ausdrückliche Zustimmung für ungültig zu erklären. Ebenso sehen die neuen Änderungen vor, dass Frauen das Recht haben, ohne die Zustimmung ihres Vormunds zu heiraten, wenn sie 18 Jahre alt sind (LoC 8.4.2019).
Scheidung
[…]
Anerkennung von Kindern, Vormundschaft, Sorgerecht und Staatsbürgerschaft
Das in wirksamer Ehe geborene Kind gilt als vom Ehemann abstammend, wenn seit der Eheschließung die Mindestdauer einer Schwangerschaft verstrichen ist, und der körperliche Kontakt der Ehegatten nicht unmöglich gewesen ist, also wenn nicht etwa einer der Ehepartner über die Dauer der Schwangerschaft hinaus abwesend war (z. B. Gefängnis). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so gilt das Kind als vom Ehemann abstammend, wenn er das Kind anerkennt oder seine Vaterschaft gerichtlich geltend macht (MPG o.D.b).
Das islamische Recht sieht zwei Konzepte des Sorgerechtes für Kinder vor: Erstens die Vormundschaft (wilāya), welche immer der Vater, bzw. dessen Seite der Familie (Großvater des Kindes) innehat, und zweitens die physische Obsorge, welche bei der Mutter, bzw. proritär bei ihrer Seite der Familie (Großmutter des Kindes), liegt. Für die Obsorge steht eine Vergütung durch den Vormund zu, abhängig von dessen finanziellen Verhältnissen (MPG o.D.b). Mit Vollendung des 15. Lebensjahres erlischt bei Mädchen und mit 13 Jahren bei Buben das Recht auf Personenobsorge mütterlicherseits. Im Falle einer Scheidung kann die Mutter die physische Obsorge über die Kinder bis zu dieser Altersgrenze erhalten (USDOS 2.6.2022), wobei die Altersgrenze hierbei von der Konfession abhängt (STDOK 8.2017). Die Gesetze bezüglich Vormundschaft (wilāya) sind laut syrischem Personenstandsrecht für alle Religionen/Konfessionen anzuwenden. Zur Obsorge (ḥaḍāna) verfügen jedoch die jüdischen und christlichen Gemeinden über eigene Regelungen (Eijk 2013).
Frauen können das Obsorgerecht auch verlieren. Etwa wenn die Mutter Christin, der Vater aber Muslim ist, könnte der Vater im Falle einer Scheidung argumentieren, dass die Mutter die Kinder nicht richtig erziehen kann (STDOK 8.2017). Es gibt auch Fälle, in denen christliche Männer zum Islam konvertiert sind und vor Scharia-Gerichten das volle Sorgerecht, also Obsorge und Vormundschaft, für ihre Kinder eingefordert haben (Eijk 2013). Geht die Mutter eine neue Ehe ein, verliert sie ebenfalls das Recht auf Obsorge (MPG o.D.b). Selbst wenn die Mutter die Obsorge innehat, besitzt der Vater stets die Vormundschaft über die Kinder und somit Entscheidungsgewalt über ihre Ausbildung oder die Reisebewegungen der Kinder. Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden. Auch nach dem Tod des Vaters geht die Vormundschaft nicht auf die Mutter, sondern auf die Familie des Vaters über. Kinder können so als Druckmittel benutzt werden, um die Frau dazu zu bringen, sich nicht scheiden zu lassen oder auf Unterhaltszahlungen zu verzichten. Im Falle einer Scheidung zeigen die Gerichtsdokumente der Scheidungsverhandlung, wem das Obsorgerecht zugesprochen wurde. Ein gesondertes Dokument über den Zuspruch der Obsorge ist nicht bekannt (STDOK 8.2017).
Das Gesetz erlaubt die Weitergabe der Staatsbürgerschaft durch die Mutter nur, wenn das Kind in Syrien geboren wurde, und der Vater „unbekannt“ ist. In der Praxis wird betroffenen Kindern die Staatsbürgerschaft jedoch nicht immer zuerkannt (STDOK 8.2017 - Anmerkung, zur Lage von Kindern ohne Registrierung oder registrierte Vaterschaft siehe auch weiter unten). Wenn ein Kind im Ausland geboren wurde, kann es die syrische Staatsbürgerschaft nur erlangen, wenn der Vater syrischer Staatsbürger ist. Die Mutter kann ihre syrische Staatsbürgerschaft nicht an ein im Ausland geborenes Kind weitergeben (USDOS 20.3.2023).
Wenn eine Geburt nicht registriert wird, führt dies für das Kind zu bestimmten Einschränkungen im Zugang zu Leistungen, wie Abschlusszeugnissen, Zugang zu Universitäten, Zugang zu formaler Beschäftigung oder Dokumenten (STDOK 8.2017). Die Zahl unregistrierter Kinder oder Kinder ohne dokumentierte Vaterschaft, bzw. unbekannte Vaterschaft, stieg vor allem aufgrund illegaler/informeller Trauungen, des Verlustes von Identitätsdokumenten (besonders bei der Flucht oder Vertreibung, gegebenenfalls auch durch den Tod des Kindsvaters), mangelnden Zugangs zu Regierungsbehörden zwecks Beantragung von Dokumenten oder auch z. B. durch falsche Identitäten bei ausländischen Kämpfern. 70 % der befragten IDPs in einer Umfrage des Norwegian Refugee Council fehlten wichtige Identitätsdokumente (Fanack 27.5.2022).
Heiratsdokumente
Ein "bayān zawāj" ist ein Auszug aus einer Heiratsurkunde und enthält eine Reihe von Feldern oder Abschnitten. Die "raqm al-wathīqa" (Dokumentennummer) ist eine codierte Nummer, die sich auf die Provinz, das zuständige Standesamt und die Seriennummer des Dokuments bezieht. Die Dokumentennummer ist die Nummer des Heiratsdokuments und wird vom Scharia-Gericht oder im Falle von Christen oder Drusen von einem anderen Familiengericht vergeben. Die "raqm al-wāqiʿa" (Vorgangsnummer) bezieht sich auf die Nummer des registrierten Vorfalls (wie Geburt, Tod, Heirat, Scheidung und damit zusammenhängende Vorfälle) und den Ort, an dem der Vorfall registriert wurde. Die Vorgangsnummer wird von den Standesämtern vergeben. Das "tārīḫ al-ʿaqd" (wörtlich "das Datum des Vertrags") bezieht sich auf das Datum der Eheschließung - entweder das Datum, an dem die Ehe vor einem oder durch einen Eheschließungsbeamten des Gerichts geschlossen wurde, oder das Datum der Eheschließung, das durch die rückwirkende Ratifizierung einer traditionellen Ehe durch das Gericht bestimmt wurde. Im Falle einer rückwirkenden Ratifizierung einer traditionellen oder "Urfi-Ehe" entspricht dieses Datum - wenn es korrekt ist, wie die Quelle hinzufügt - dem Datum der Eheschließung, das in der Gerichtsentscheidung zu finden ist (NMFA 6.2021).
Der Heiratsurkunde/Eheschließungsurkunde (sakk zawaj) beinhaltet drei Zahlen auf der oberen linken Seite: as-sahifa (Seitenzahl), al-asas (Laufnummer) und as-sidjil (Registrierungsbuchnummer des Zivilregisterarchivs). Kopien der Heiratsurkunde ergehen an das jeweilige Zivilregisterbüro der Eheleute, sodass ihre Ehe dort als registriert aufscheint. Das kann mehrere Tage dauern. Manche Paare bringen lieber selbst die Kopien zu den Registrierungsbüros, um das Prozedere zu beschleunigen, bzw. als Vorsichtsmaßnahme (NMFA 5.2022).
Im Fall einer nachträglichen Ratifizierung einer informellen Heirat kann in der Zwischenzeit eine Schwangerschaft vorliegen, was der Richter bei der Ratifizierung vermerken kann, was aber kein Standardvorgehen darstellt (NMFA 5.2022).
Außerhalb der regimekontrollierten Gebiete
Der militärische und politische Zerfall Syriens hat auch Auswirkungen auf das Familienrecht, weil die einzelnen politischen Gruppen in ihren Herrschaftszonen zum Teil eigene Normensysteme gebildet haben und anwenden (MPG 2018).
Folter und unmenschliche Behandlung
Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 12.1.2023). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie "verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 29.3.2023). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023), wobei die jüngsten Betroffenen erst elf Jahre alt waren (HRW 13.1.2022). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 29.3.2023). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023).
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).
Eine realistische Möglichkeit zur Einforderung einer strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte besteht nicht. Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 29.3.2023).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten (darunter laut SNHR drei Todesfälle durch Folter im Jahr 2022), Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die Berichte dazu betreffen u. a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Folteropfer der SDF starben im Zeitraum Januar 2014 bis Juni 2022 SNHR zufolge mindestens 83 Menschen durch Folter, darunter ein Kind und zwei Frauen (SNHR 26.6.2022).
Anmerkung: Für weitere Informationen zu den Arten und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen siehe auch das Kapitel zur Sicherheitslage sowie besonders die Kapitel zur Menschenrechtslage und zur Todesstrafe sowie das Kapitel Haftbedingungen. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst.
Korruption
Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2022 liegt Syrien mit einer Bewertung von 13 von 100 Punkten (0=highly corrupt, 100=very clean) auf dem vorletzten Platz 178 von 180 untersuchten Ländern (TI 2023). Laut einer von der syrischen NGO The Day After (TDA) im September 2022 durchgeführten Studie geben mehr als 70 % aller Familien, die in den vom Regime kontrollierten Gebieten leben, an, dass Korruption ihre Lebensbedingungen stark beeinträchtigt, wobei der Anteil mit 81 % der befragten Familien in Damaskus am höchsten ist. Darüber hinaus zeigen die Daten, dass dieses Phänomen, wenn auch in geringerem Maße, in allen anderen Regionen weit verbreitet ist. - Die Quote in den Gebieten der [kurdischen] Autonomieverwaltung beträgt in etwa 57 % und in Idlib und A'zaz kommt sie auf ungefähr 50 % (TDA 9.2022).
Korruption war bereits vor dem Bürgerkrieg weit verbreitet und beeinflusste das tägliche Leben der Syrer (FH 1.2017). Sie wurde im Laufe des Konfliktes noch viel schlimmer (BS 29.4.2020, vergleiche NLI 4.6.2021). Der Machtmissbrauch der syrischen Behörden war eine der Hauptursachen für den Aufstand im Jahr 2011. Die zunehmende Gesetzlosigkeit, von der Syrien im Laufe des Krieges betroffen war, die florierende Kriegswirtschaft und der Kaufkraftverlust der Gehälter der syrischen Staats- und Regimebediensteten erhöhten die Anreize und Möglichkeiten für Korruption (NLI 4.6.2021). Das Gesetz sieht strafrechtliche Konsequenzen für amtliche Korruption vor, die Regierung setzt diese jedoch nicht effektiv durch. Beamte üben häufig korrupte Praktiken aus, ohne dafür bestraft zu werden. Korruption ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem bei Polizei, Sicherheitskräften, Migrationsbehörden und überhaupt in der Regierung (USDOS 20.3.2023).
Der Bürgerkrieg hat neue Möglichkeiten für Korruption in der Regierung, den regierungstreuen Streitkräften und im Privatsektor geschaffen. Ausländische Verbündete profitieren von undurchsichtigen Verträgen und Handelsabkommen mit der Regierung. Selbst grundlegende staatliche Dienstleistungen und humanitäre Hilfe sind Berichten zufolge von der demonstrierten Loyalität zur Assad-Regierung abhängig, oder werden andernfalls vorenthalten (FH 9.3.2023). Bewegungseinschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie schufen 2020 noch mehr Möglichkeiten für Korruption, weil diejenigen, welche es sich leisten konnten, Bestechungsgelder an Beamte und Sicherheitskräfte zahlten, um die Regeln zu umgehen (FH 2021).
Personen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten, die versuchen, offizielle Korruption aufzudecken oder zu kritisieren sehen sich Repressalien ausgesetzt, einschließlich Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis und Inhaftierung (FH 9.3.2023).
Mitglieder und Verbündete des Machtapparats sollen einen Großteil der syrischen Wirtschaft besitzen oder kontrollieren (FH 9.3.2023). Während die Bevölkerung durch den Kollaps der Wirtschaft immer mehr unter Druck gerät, gelingt es dem Machtzirkel um Bashar al-Assad ihren Reichtum auszubauen, z. B. indem sie trotz internationaler Sanktionen mittels ihrer Firmen zig Millionen US-Dollar von UN-Hilfsgeldern lukrieren (FP 1.2.2023) - mutmaßlich 23 % aller UN-Gelder für Syrien im Wert von 68 Mio. US-Dollar in den Jahren 2019 bis 2020 (SLDP 12.2022).
Die Mitgliedschaft in der Baʿath-Partei oder enge familiäre Beziehungen zu einem prominenten Parteimitglied oder einem mächtigen Regimebeamten helfen beim wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Aufstieg. Partei- oder Regimeverbindungen erleichterten die Zulassung zu besseren Schulen, den Zugang zu lukrativen Arbeitsplätzen und den Aufstieg und die Macht innerhalb der Regierung, des Militärs und der Sicherheitsdienste. Das Regime reservierte bestimmte prominente Positionen, wie z. B. Gouverneursposten in den Provinzen, ausschließlich für Mitglieder der Baʿath-Partei (USDOS 12.4.2022). Die Duldung von Korruption sichert dem Regime das Stillhalten von Personen sowie deren Verbleib auf Regimeseite, ohne dass ihm Kosten entstehen (BS 23.2.2022).
Korruption ist auch in den Oppositionsgebieten weitverbreitet. Pro-türkischen Milizen wird Plündern, Erpressung und Diebstahl vorgeworfen. Lokalverwaltungen und AktivistInnen beklagen, dass nur wenig von der internationalen Hilfe ankommt, die im Ausland Oppositionsvertetern übergeben wrid und erheben den Verdacht der Bereicherung. HTS monopolisiert den Treibstoffhandel und Schlüsseldienstleistungen in seinem Gebiet. HTS konfisziert oder zerstört Güter und beschlagnahmt Besitz von abwesenden EigentümerInnen - oft zur Verteilung an ihre Kommandanten (FH 9.3.2023).
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.
Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.
Zu den Themen Wehrdienst und Desertion darf auch auf die folgenden Anfragebeantwortungen verwiesen werden (abrufbar auf ecoi.net sowie dem Koordinationsboard (KoBo) der Staatendokumentation:
In Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung:
- SYRI_SM_Wehrdienst_2022_01_27_KE
- SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Wehrdienstgesetze_2022_09_16_KE
- SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Bestrafung+Wehrdienstverweigerung,+Desertion_2022_09_16_KE
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951] (ACCORD)
- SYRI_SM_MIL_Einberufung_über_syrische_Botschaft_2023_03_21_K
- SYRI_RF_MLD_Kommunalbediensteten Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_29_K
- SYRI_RF_MLD_Zivile Angestellte des öffentlichen Diensts Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_28_K
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Genehmigung der Ausreise eines Staatsangestellten durch den Vorgesetzten; Kontrolle bei Ausreise; Folgen illegaler Ausreise und zuständige Behörde; Folgen bei unerlaubtem Fernbleiben vom Arbeitsplatz; Ausreisegenehmigung für männliche Staatsangestellte im wehrdienstpflichtigen Alter [a-12103-1] (ACCORD)
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Reisepässe der syrischen Regierung für Männer im wehrdienstfähigen Alter; mögliches Sicherheitsrisiko für diese Personengruppe, im Ausland (insbesondere in der Türkei) einen Reisepass zu beantragen [a-12067-1] (ACCORD)
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Unterliegen Palästinenser, die den Wehrdienst absolviert haben, auch einer Pflicht zum Reservedienst? (ACCORD)
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Tauglichkeitskriterien der syrischen Armee; Einsatz von Wehrpflichtigen mit starker Sehschwäche [a-11869] (ACCORD)
- SYRI_RF_MLD_Staatenlosigkeit_2022_12_15_KE
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Restriktionen bei der Beschaffung von Dokumenten für Syrer im Ausland im Wehrpflichtsalter, die der Wehrpflicht nicht nachgekommen sind und keine Ersatzzahlungen geleistet haben [a-11903] (ACCORD)
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Möglichkeit eines Familienbesuchs ohne Sanktionen trotz nicht abgeleisteten Militärdienst [a-11857-1] (ACCORD)
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Abgabe des Wehrdienstbuches und des Personalausweises zu Beginn des Wehrdienstes und Einbehaltung der Dokumente bis zur Ausmusterung von der Militärbehörde [a‑11840] (ACCORD)
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Zöllner als Teil des Sicherheitsapparats, Desertion, militärische und polizeiliche Aufgaben von Zöllnern im Krieg [a-11786] (ACCORD)
In Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung:
- SYRI_SM_MIL_ergänzende+AFB+zu+Wehrdienstpflicht+in+Gebieten+außerhalb+Regierungskontrolle+2022_10_14_KE
- SYRI_SM_MIL_Zwangsrekrutierung,+Kontrolle+Idlib_2022_03_17_KE
- SYRI_MIL_Zwangsrekrutierung+von+Frauen+für+YBJ+bzw.+SDF_2022_09_22_KE
- SYRI_SM_Rekrutierungspraxis YPG_2023_03_02_KE
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Höchstalter für die „Wehrpflicht“ im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet; unterlagen Altersvorgaben für „Wehrpflicht“ seit ihrer Einführung Schwankungen/Änderungen? [a-11932] (ACCORD)
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Stadt Ar-Raqqa: Bedrohung von Kommunalbediensteten bzw. insbesondere von Fahrern für die staatliche/städtische Müllentsorgung oder Angestellten in der Wasserversorgung durch die kurdische Selbstverwaltung (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) [a-12103-2] (ACCORD)
- Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen; Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnung im Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101] (ACCORD)
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.3.2023). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 29.3.2023). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023; vergleiche ICWA 24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vergleiche Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vergleiche ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vergleiche BAMF 2.2023).
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).
Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vergleiche AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 29.3.2023).
Rekrutierungspraxis
Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023; vergleiche NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vergleiche NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vergleiche ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Das Gesetz verbietet allerdings die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vergleiche FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 29.3.2023).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
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Reservedienst
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Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
In Syrien besteht seit 2011 de facto eine unbefristete Wehrpflicht (AA 29.3.2023), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte. Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Zuletzt erließ der syrische Präsident einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vergleiche SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vergleiche NMFA 5.2022).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara'a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Alle Eingezogenen können dagegen laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus dem Bericht nicht hervor.]
Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts
Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vergleiche FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen [als vor dem Konflikt] und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vergleiche DRC/DIS 8.2017).
Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Männer mit deutlich sichtbaren medizinischen Problemen, die nicht wehrdiensttauglich sind, weiterhin freigestellt. Die medizinischen Ausschüsse, welche die Personen untersuchen, sind jedoch eher streng in ihren Urteilen. In einigen Fällen wurden Männer mit einem bestimmten Gesundheitszustand dennoch in die Armee einberufen, um militärische Tätigkeiten außerhalb des Feldes auszuüben (EUAA 9.2022). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020).
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022). Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis, sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt – manchmal sogar Jahre danach – trotzdem eingezogen zu werden (STDOK 8.2017). Auch berichtet eine Quelle, dass Grenzbeamte von Rückkehrern trotz entrichteter [offizieller] Befreiungsgebühr Bestechungsgelder verlangen könnten, oder dass Personen mit gesundheitlichen Problemen, die eigentlich vom Wehrdienst befreit sein sollten, mitunter Bestechungsgelder bezahlen müssen, um eine Befreiung zu erwirken (DIS 5.2020).
Polizeidienst als Befreiung vom Wehrdienst
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Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland
Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vergleiche SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 31 (Rechtsexperte 14.9.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu. Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 29.3.2023).
Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen "Versöhnungsprozess" bereinigen (NMFA 5.2022).
Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u.a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird ("bayan harakat"). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).
Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdienstes
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Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten
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Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst
Rechtssicherheit
In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist eine Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB Damaskus 12.2022).
Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien verringern ausgesprochene Todesurteile zum Teil auf lebenslange harte Strafarbeit oder stellen eine Freilassung in Aussicht. In der Rechtspraxis kommen die Amnestien aufgrund großzügig ausgelegter Ausnahmetatbestände und prozeduralen Hindernissen jedoch nur in Einzelfällen zur Anwendung (AA 29.3.2023), dabei oftmals infolge der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Amtsträger im Justiz- und Sicherheitswesen (AA 29.3.2023; vergleiche EB 9.6.2022).
Amnestien allgemein
Seit März 2011 [Anm.: bis Oktober 2022] hat der syrische Präsident 21 Amnestiedekrete erlassen [Ende Dezember 2022 folgte ein weiteres Amnestiedekret, s. weiter unten], wobei in den meisten dieser Dekrete die Strafen der Begnadigten für die verschiedenen Verbrechen und Vergehen ganz oder teilweise aufgehoben wurden (SNHR 16.11.2022). Der syrische Präsident hat dabei für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden (STDOK 8.2017; vergleiche SNHR 16.11.2022, MED 10.2021). Über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und Deserteure ist nur sehr wenig bekannt (DIS 5.2020; vergleiche SNHR 16.11.2022). Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben die Amnestien wiederholt als intransparent sowie unzureichend kritisiert (STDOK 8.2017; vergleiche EB 3.4.2020, MED 10.2021) und als ein Propagandainstrument der Regierung bezeichnet (DIS 5.2020; vergleiche MED 10.2021).
Die Amnestiedekrete resultierten im Allgemeinen nur in der Entlassung einer begrenzten Anzahl von gewöhnlichen Kriminellen, und nicht von jenen, deren Verhaftung politisch motiviert ist (USDOS 20.3.2023). Der Ausschluss von politischen Gefangenen von den Amnestien ist der Haft- und Gerichtspraxis in Syrien teilweise inhärent. Willkürlich Verhaftete werden in der Regel ohne Anklage für längere Zeit festgehalten, und die Inhaftierten werden oft nicht über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert (MED 10.2021; vergleiche USDOS 20.3.2023). Die Amnestien schlossen Gefangene aus, die nicht eines Verbrechens angeklagt wurden (USDOS 20.3.2023).
Erhebungen der Menschenrechtsorganisation Syrian Network for Human Rights (SNHR) ergaben, dass im Zeitraum März 2011 bis Oktober 2022 rund 7.350 Personen im Rahmen von 21 Amnestiedekreten aus diversen Zivil- und Militärgefängnissen der syrischen Regierung sowie aus Haftanstalten unterschiedlicher Zweigstellen des Sicherheitsapparats entlassen wurden. Darunter befanden sich rund 6.100 Zivilisten und 1.250 Militärangehörige. Dem stellt SNHR eine Anzahl von rund 123.300 Personen gegenüber, die in zeitlicher Nähe zu den Amnestien verhaftet wurden oder gewaltsam verschwanden (SNHR 16.11.2022).
Eine begrenzte Anzahl von Gefangenen kam im Zuge lokaler Beilegungsabkommen mit dem Regime frei. Während des Jahres 2022 verstießen Regimekräfte gegen frühere Amnestieabkommen, indem sie Razzien und Verhaftungskampagnen gegen Zivilisten und frühere Mitglieder der bewaffneten Oppositionsgruppen in Gebieten durchführten, in denen zuvor Beilegungsabkommen mit dem Regime unterzeichnet worden waren (USDOS 20.3.2023).
Einer Quelle zufolge respektiert die syrische Regierung Amnestien nun eher als früher (DIS 5.2020). Durch verschiedene Amnestien für Deserteure und Wehrdienstverweigerer werden Strafen zwar zumindest stellenweise erlassen, der zwangsweise Einzug in den Militärdienst wurde durch die Amnestien jedoch nicht beendet und wird unverändert fortgesetzt (AA 29.3.2023; vergleiche USDOS 20.3.2023, NMFA 5.2022, MED 10.2021). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen (AA 29.3.2023). Das Narrativ der Amnestie oder der milden Behandlung ist höchst zweifelhaft: Es spielt nicht nur eine Rolle, ob zum Beispiel Familienmitglieder für die FSA (Freie Syrische Armee) oder unter den Rebellen gekämpft haben, sondern das Regime hegt auch ein tiefes Misstrauen bezüglich des Herkunftsgebiets. Es spielt eine große Rolle, woher man kommt, ob man aus Gebieten mit vielen Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten geflohen ist, zum Beispiel Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs (Üngör 15.12.2021). Ein Syrien-Experte merkte in diesem Zusammenhang auch an, dass die Durchsetzungsfähigkeit des Präsidenten bei den Amnestiedekreten vor Ort angezweifelt werden kann, und Vergeltung ein weitverbreitetes Phänomen ist (Balanche 13.12.2021).
Kürzlich erlassene Amnestien
Präsident Assad erließ am 21.12.2022 mit dem Legislativdekret Nr. 24 eine Generalamnestie, die unter anderem für die Tatbestände "interne und externe Desertion" gilt, so diese vor dem Inkrafttreten des Erlasses begangen wurden (SANA 21.12.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syriens leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (MEMO 22.12.2022).
Im Mai 2022 hat Präsident Assad mit dem Gesetzesdekret Nr. 7/2022 eine Generalamnestie für "terroristische Verbrechen" erlassen, welche von Syrern vor dem 30.4.2022 begangen wurden, mit Ausnahme derjenigen Straftaten, die zum Tod eines Menschen geführt haben und die im Antiterrorismusgesetz Nr. 19 von 2012 und im Strafgesetzbuch, das durch das Gesetzesdekret Nr. 148 von 1949 und dessen Änderungen erlassen wurde, festgelegt sind (SO 3.5.2022). "Terrorismus" ist ein Begriff, mit dem die Regierung die Aktivitäten von Rebellen und oppositionellen Aktivisten beschreibt (MEE 2.5.2021). Nach dem Militärstrafgesetzbuch geahndete Vergehen fallen nicht unter diese Amnestie. Laut SNHR wurden mindestens 586 Personen im Zusammenhang mit dem Amnestiedekret aus der Haft entlassen (SNHR 16.11.2022). Das Amnestiedekret wurde laut Human Rights Watch (HRW) allerdings willkürlich und ohne Transparenz umgesetzt und führte nur zur dokumentierten Freilassung einer kleinen Zahl von Inhaftierten, gemessen an den Tausenden von Personen, die nach wie vor verschwunden sind, viele davon seit 2011, ohne dass es Informationen über ihren Verbleib gibt (HRW 12.1.2023).
Am 25.1.2022 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 3/2022 eine Generalamnestie für "interne" und "externe Desertion", die vor diesem Datum begangen wurde (SANA 25.1.2022). Die Amnestie umfasst Straftaten nach Artikel 100 ("interne Desertion") und 101 ("externe Desertion") des Militärstrafgesetzbuchs (Gesetzesdekret Nr. 61 von 1950) (SO 27.1.2022; vergleiche SNHR 16.11.2022), schließt jedoch die Artikel 102 ("Flucht zum Feind, Flucht vor dem Feind") und 103 ("Flucht durch Verschwörung und Flucht in Kriegszeiten") aus (SO 27.1.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syriens leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (SNHR 16.11.2022).
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vergleiche AA 29.3.2023). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Artikel 102, bei Überlaufen zum Feind und gemäß Artikel 105, bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.3.2023).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vergleiche DIS 5.2020).
Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben (AA 29.3.2023). Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vergleiche Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).
Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
"Versöhnungsabkommen" und Rückkehr von Wehrpflichtigen
Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).
In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch (HRW) berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines "Versöhnungsabkommens" zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter "Versöhnungsabkommen" zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 29.3.2023).
Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber "wahnsinnig", als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021).
Allgemeine Menschenrechtslage
Die Menschenrechtslage in Syrien wird weiterhin - auch bei Wahrnehmung regionaler Unterschiede - vom deutschen Auswärtigen Amt als 'katastrophal' eingestuft (AA 29.3.2023). Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2023). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht verschiedener Akteure und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNCOI 7.2.2023).
Regierungsgebiete
Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic geht davon, dass die syrische Regierung weiterhin Morde, Folter und Misshandlungen begeht, die sich gegen Personen in Haft richten, darunter auch Praktiken, welche zum Tod in der Haft führen. Hinzukommen willkürliche Haft und Verschwindenlassen. Die UN-Kommission sieht hierin ein Muster von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Im Berichtszeitraum wurden auch Fälle umfassender Verletzungen von Prozessrechten und des Rechts auf ein faires Verfahren im syrischen Justizstrafsystem dokumentiert (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt nennt in Bezug auf die beiden vorhergehenden Berichte [Anm.: vor dem Bericht vom 7.2.2023] der UN-Kommission gezielte als auch wahllose Tötungen, nicht zuletzt durch völkerrechtswidrige Angriffe des Regimes und seiner Verbündeten auf die syrische Zivilbevölkerung in Form von Artilleriebeschuss und Luftschlägen. Hinzukommen: Folter, willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen und Verschwindenlassen, kollektive Bestrafungen vermeintlicher Mitwissender und Familienangehöriger, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten. Nach Einschätzung der UN-Kommission liegt die Verantwortung für die - in absoluten Zahlen betrachtet - große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften des syrischen Regimes, welche Militär, Sicherheits- und Geheimdienste und in den National Defense Forces (NDF) organisierte Milizen umfassen (AA 29.3.2023, vergleiche UNCOI 8.2.2022, UNCOI 17.8.2022). Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führen etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töten (USDOS 20.3.2023).
In Deutschland wurden in den Jahren 2021 und 2022 zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Syriens wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bzw. Beihilfe dazu, verurteilt (HRW 12.1.2023).
Personen, welche glaubwürdig in Gewaltverbrechen involviert sind, Organisationen innerhalb oder verbunden mit der syrischen Regierung sowie auch der sogenannte Islamische Staat unterliegen weiterhin Sanktionen durch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Großbritannien (HRW 12.1.2023). Die syrische Regierung nutzt die Erdbebenkatastrophe unterdessen, um für ein Ende westlicher Sanktionen zu werben (BAMF 13.2.2023). Die umfassenden Sanktionen gegen Syriens Machthaber, Unternehmer und Institutionen haben bislang nicht dazu geführt, dass Verhaltensänderungen eingetreten, politische Zugeständnisse erfolgt oder Menschenrechtsverletzungen abgestellt worden wären (SWP 4.2020). [Zu den Aus- und Nebenwirkungen der breiter gefassten Sanktionen auf die syrische Wirtschaft siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit (BS 29.4.2020).
Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 wurden international nicht anerkannt und inmitten einer repressiven Ausgangslage und von Anschuldigungen von Wahlbetrug weder als fair noch frei eingestuft. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien - auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 20.3.2023). - Siehe auch Kapitel Politische Lage und zur Muslimbruderschaft siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen).
Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Personen mit Verbindungen zu lokalen Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 20.3.2023).
Weiterhin besteht laut deutschem Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes in umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert (AA 29.3.2023). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie, auch RückkehrerInnen und Personen in zurückeroberten Gebieten, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben. Es kommt auch weiterhin zu Beschlagnahmungen von Eigentum und Einschränkungen des Zugangs für Rückkehrende in ihre Herkunftsgebiete (HRW 12.1.2023). Ganze Städte und Dörfer wurden durch erzwungenes Verlassen ('forced deportations') entvölkert (BS 29.4.2020). Berichten zufolge zögern die Menschen in kürzlich vom Regime zurückeroberten Gebieten aus Angst vor Repressalien, über die dortigen Vorgänge zu reden (USDOS 12.4.2022).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023). Außerdem sind Fälle von verhafteten Personen wegen ihres Kontakts zu Verwandten oder Freunden in von der Opposition kontrollierten Gebieten bekannt, bzw. wegen des Reisens zwischen den Gebieten der Regierung und anderer Organisationen. Es gibt auch Beispiele für Verhaftungen zwecks Rekrutierung (SNHR 17.1.2023).
Nach Angaben des Syrian Network for Human Rights (SNHR) sind seit März 2011 fast 15.000 Menschen an den Folgen von Folter gestorben, die meisten von ihnen durch syrische Regierungstruppen (HRW 13.1.2022). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023).
Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021). Für das Jahr 2022 dokumentierte SNHR 2.221 Fälle willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen, darunter 148 Kinder und 457 Frauen. Dabei führte das Amnestiedekret vom 30.4.2022 nicht zu einem Rückgang willkürlicher Verhaftungen. 228 der im Jahr 2022 willkürlich Verhafteten waren zurückgekehrte Geflüchtete oder Binnenvertriebene. Auch wenn besonders der Militärgeheimdienst Verhaftungen vornimmt, so gehen willkürliche Verhaftungen von einer Vielzahl von Akteuren aus, insbesondere der Polizei, einer Vielzahl von konkurrierenden Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023) Laut UNO ist in derartigen Fällen ein zentralisiertes Muster von Verlegungen in den Raum Damaskus erkennbar. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen hiernach verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Oft werden die Familien unter Androhung von Gewalt und Repressionen zu Stillschweigen verpflichtet. Die VN und IKRK haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (AA 29.11.2021).
Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Dieses macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021). Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu verwendet, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen. (AA 29.3.20223).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 20.3.2023).
Für das Jahr 2021 (USDOS 12.4.2022) und 2022 lagen keine bestätigten Berichte über den Einsatz der verbotenen Chemiewaffen vor, wobei Syrien weiterhin über reichlich Chemiewaffen sowie über das Knowhow zu deren Produktion und Einsatz verfügt (USDOS 20.3.2023). Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z. B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017, kurz vor dem tödlicheren Einsatz von Sarin in Khan Shaykhun (USDOS 12.4.2022).
Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus und der Cholera sowie über Menschenrechtsverletzungen seitens des Regimes aus. Es verbietet die Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Spannungen und Probleme, mit denen religiösen und ethnischen Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 20.3.2023).
Im April 2022 aktualisierte das syrische Regime sein Cyberkriminalität-Gesetz, Gesetz Nr. 20 (2022), welches nun alle online getätigten Äußerungen unter schwere Strafen stellt, die verschiedene vage Strafbestände wie z. B. die Untergrabung 'des Ansehens des Staates' oder 'der nationalen Einheit' betreffen (FH 9.3.2023). Es bleibt zwar vage, welche Tatbestände genau unter das Gesetz fallen, doch die möglichen Strafen wurden drastisch erhöht: Nach Angaben der staatlich-syrischen Nachrichtenagentur Sana können Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren oder Geldstrafen von bis zu 15 Millionen syrischen Pfund verhängt werden. Menschenrechtsgruppen vermuten, dass der einzige Zweck dieses Gesetzes darin besteht, abweichende Meinungen zu verbieten (Qantara 28.6.2022). Die syrischen Behörden überwachen Online-Aussagen z. B. in Blogs und sozialen Medien sowohl von SyrerInnen im Land als auch außerhalb Syriens. Das Ausmaß der Überwachung der 'normalen BürgerInnen' soll im Jahr 2021 im Vergleich zu Beginn der Krise abgenommen haben, weil die Behörden sich aufgrund ihres (wiedererlangten) Einflusses weniger vor deren Aussagen fürchten. Kritik im Internet über die Wirtschaftskrise verbreitete sich so (NMFA 5.2022) - besonders auch in eigentlich loyalen Kreisen (FH 9.3.2023). Aber dies kann später trotzdem für die Betreffenden zum Problem werden. Gefangene werden teilweise nach ihren Konten in den Sozialen Medien befragt oder sogar zur Erlangung der Zugangsdaten gefoltert (NMFA 5.2022). Die Bestrafung abweichender Aussagen ist auch bei variierendem Einsatz des Überwachungsinstrumentariums hart (FH 9.3.2023).
Die Regierung weitete im Jahr 2022 die Manipulation von Internet-Diensten und -Inhalten wie auch Textnachrichten aus, einschließlich Falschnachrichten zur Unterminierung der Glaubwürdigkeit von Menschenrechtsgruppen und anderen humanitären Organisationen. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z. B. von E-Mails und Sozialen Medien von Gefangenen, AktivistInnen und anderen ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites, Hackangriffe und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein. Verhaftungen schüren die Sorge, dass die Behörden InternetbenutzerInnen jederzeit für Online-Aktivitäten, die als Bedrohung der Regimekontrolle wahrgenommen werden, verhaften könnten (USDOS 20.3.2023). Meta, der Firma zu der Facebook und WhatsApp gehören, z. B. entdeckte und entfernte im Oktober 2021 drei Hackergruppen der Syrian Electronic Army. Diese hatten Zugangsdaten zu Facebook-Konten und weitere sensible Informationen (z. B. Fotos, Kontaktlisten, Informationen über die verwendeten Geräte) gesucht (NMFA 5.2022)
Am 28.3.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem den Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die angebliche falsche oder übertriebene Nachrichten im Ausland verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist nun jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder anderweitig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das die Verbreitung von Nachrichten bestraft, die als Imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.4.2022). Das Gesetz verbietet überdies die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Die syrische Regierung hat auch die Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.5.2020).
Die Verfassung garantiert nominell die Pressefreiheit, aber in der Praxis werden die Medien stark eingeschränkt, und JournalistInnen, die kritisch über den Staat berichten, sind Ziele der Zensur sowie von Verhaftungen, Folter und Tod in Gefangenschaft. Alle Medien benötigen eine Erlaubnis des Innenministeriums. Private Medien im Regierungsgebiet gehören generell Personen mit Verbindungen zum Regime (FH 9.3.2023).
JournalistInnen sind in Syrien allgemein gefährdet, besonders durch Regimekräfte und extremistische Gruppen. Laut Committee to Protect Journalists (CPJ) wurden zwischen 2011 und 2022 142 MedienmitarbeiterInnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Weitere fünf wurden verhaftet und acht Personen gelten mit Stand Dezember 2022 als vermisst (FH 9.3.2023).
Die akademische Freiheit ist stark eingeschränkt. UniversitätsprofessorInnen im Regierungsgebiet werden wegen abweichender Meinungen entlassen oder inhaftiert und einige wurden aufgrund ihrer Unterstützung von Oppositionellen getötet (FH 9.3.2023).
Staatliche und nicht-staatliche Akteure begehen Akte sexueller Gewalt gegen Männer, Buben, Transgender-Frauen und non-binäre Menschen. Gemäß Artikel 520 des syrischen Strafrechts ist 'unnatürlicher Geschlechtsverkehr' mit bis zu drei Jahren Gefängnis strafbar (HRW 12.1.2023, FH 9.3.2023).
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
[…]
Haftbedingungen, Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.3.2023). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind überdies stark überfüllt. Es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind (USDOS 20.3.2023). Diese Lage geht mit grassierenden Krankheiten, einschließlich COVID-19 (AA 29.3.2023), und mit einer entsprechend hohen Sterberate einher (USDOS 20.3.2023). Die hygienischen Zustände sind laut Auswärtigem Amt "katastrophal". Dies gilt generell, jedoch in besonderem Maße für diejenigen Gefängnisse, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind (AA 29.3.2023), und laut US-Außenministerium insbesondere in Hafteinrichtungen der Sicherheits- und Nachrichtendienste (USDOS 20.3.2023).
Besondere Bedürfnisse von Frauen werden kaum oder gar nicht berücksichtigt. Berichten zufolge müssen Frauen in Gefängnissen ohne jegliche Unterstützung entbinden und für ihre Kinder sorgen. Eine Versorgung mit Milch oder Hygieneartikeln erfolgt allenfalls durch Besucher, sofern sie in der entsprechenden Haftanstalt erlaubt sind (AA 29.3.2023).
Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen [Anm.: zu Hinrichtungen und Tod durch Folter - siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtlichen Tötungen sowie Folter und unmenschliche Behandlung] von Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt. Neben gewaltsamen Todesursachen ist eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auch auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).
Anmerkung: Weitere Informationen zu den Hafteinrichtungen (z. B. Saydnaya Gefängnis) sowie dortigen Zuständen und Menschenrechtsverletzungen befinden sich besonders in den Kapiteln je zu Folter und Todesstrafe. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst. Mehr zu Art und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen durch die jeweiligen bewaffneten Gruppen ist auch im Kapitel zur Sicherheitslage zu ihren jeweiligen Gebieten nachlesbar.
Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen
Todesfälle in der Haft und standrechtliche Hinrichtungen wurden in Hafteinrichtungen aller Parteien dokumentiert (UNHRC 17.11.2021). Keine der Konfliktparteien in Syrien veröffentlicht Informationen über den Verbleib von Gefangenen und die Gründe für ihre Verhaftung, noch stellen sie Dokumentationen zu den Urteilen zur Verfügung - auch nicht bei Verhängung der Todesstrafe. Daher ist der Großteil der Familien nicht über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert, zumal die große Mehrheit der Gefangenen "verschwunden" wird (SNHR 2.2.2023).
Gebiete unter Regimekontrolle
Die syrische Strafgesetzgebung sieht für Mord, schwere Drogendelikte, Terrorismus, Hochverrat und weitere Delikte (AA 29.3.2023), wie auch zum Beispiel die Zerstörung öffentlicher Gebäude und Transport- sowie Kommunikationswege, die Todesstrafe vor (UNHRC 17.11.2021). In der juristischen Praxis wird der Begriff Hochverrat sehr weit gefasst und kann schon bei wahrgenommener Dissidenz erfüllt sein. Dies dient nicht zuletzt politischen Zwecken: Politische Gegner, bewaffnete Rebellen oder die humanitär tätigen syrischen „Weißhelme“ werden weitgehend unterschiedslos als „Terroristen“ eingestuft und sind damit von der Todesstrafe bedroht. Nach Definition des Regimes können bereits die Belieferung von Gebieten unter Kontrolle der Opposition mit humanitären Gütern oder die medizinische Behandlung von Oppositionellen mit der Todesstrafe geahndet werden. Urteile wegen Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft, auf welche ebenfalls die Todesstrafe steht, werden seit einigen Jahren in der Regel in zwölfjährige Freiheitsstrafen umgewandelt (AA 29.3.2023). Seit dem Beschluss eines Gesetzes gegen Folter am 30.3.2022 steht auch auf Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit Vergewaltigung die Todesstrafe. Allerdings ist laut der United Nations Independent International Commission of Inquiry Folter und Misshandlung in Haft in Syrien systematisch - auch im Saydnaya-Gefängnis und mehreren anderen Haftanstalten der syrischen Nachrichtendienste (HRW 12.1.2023).
Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien (so zuletzt Legislativdekret 7/2022) verringern ausgesprochene Todesurteile zum Teil auf lebenslange harte Strafarbeit oder stellen eine Freilassung in Aussicht. In der Rechtspraxis kommen die Amnestien aufgrund großzügig ausgelegter Ausnahmetatbestände und prozeduralen Hindernissen jedoch nur in Einzelfällen zur Anwendung, dabei oftmals infolge der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Amtsträger im Justiz- und Sicherheitswesen (AA 29.3.2023).
Eine quantitative Bewertung von verhängten Todesurteilen bzw. deren Vollstreckung ist auch im Berichtszeitraum nicht möglich, da seit Beginn des bewaffneten Konflikts keine offiziellen Zahlen zu vollstreckten Todesurteilen mehr veröffentlicht werden. Für 2022 sind auch keine Einzelfälle durch das Regime bekannt gemacht worden, so wie zuletzt im Oktober 2021 nach der Hinrichtung von 24 vermeintlich Verantwortlichen für die schweren Waldbrände in Nordsyrien im Jahr 2020. Erschwert wird die Erfassung von vollstreckten Todesurteilen durch Tötungen und Hinrichtungen von Inhaftierten ohne Anklage oder Urteil. Die United Nations Independent International Commission of Inquiry dokumentierte auch im jüngsten Bericht von September 2022 eine hohe Zahl von Fällen solcher außergerichtlichen Hinrichtungen in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.3.2023). Die Todesstrafe wird oftmals ohne vorangegangenes faires Verfahren und im Geheimen vollstreckt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Ein Überprüfungsausschuss, dessen Mitglieder von Präsident Assad eingesetzt werden, ist befugt, die von syrischen Strafgerichten verhängten Todesstrafen zu überprüfen, nicht aber die der Sondergerichte wie Anti-Terrorismus-, Militär- und Feldgerichte (STJ 7.6.2022)
Es gibt zahlreiche Berichte über Todesfälle in Regierungsgewahrsam durch Hinrichtungen ohne fairen Prozess, durch Folter oder durch andere Formen der Misshandlung, wie etwa Mangelernährung und fehlende medizinische Versorgung, namentlich z. B. in der Haftanstalt des Mezzeh Flughafens, in den Abteilungen 215 und 235 des Militärnachrichtendiensts und im Saydnaya Gefängnis (USDOS 20.3.2023).
- Das Gefängnis von Saydnaya/Sednaya
Besonders viele Hinrichtungen entfallen nach zahlreichen Berichten auf das Zentralgefängnis von Saydnaya nahe Damaskus, in dem vornehmlich politische Gefangene festgehalten werden (AA 29.3.2023). Amnesty International schätzte 2017 allein die Zahl der zwischen 2011 und 2015 in Saydnaya hingerichteten Personen auf mindestens 13.000 Menschen (AI 22.10.2021). Im Jahr 2017 äußerte die US-Regierung öffentlich die Vermutung, dass syrische Behörden in Saydnaya jeden Freitag eine zwei- bis dreistellige Anzahl Häftlinge hinrichteten und hierfür eigens ein Krematorium angelegt hätten, um die Leichen von Gefangenen ohne Spuren zu beseitigen, was in den Jahren 2018 und 2019 durch Medienrecherchen untermauert wurde (AA 29.3.2023). Auch im Jahr 2021 gab es weitere Berichte über Hunderte Tote im Saydnaya-Gefängnis und den Einrichtungen der Sicherheitsdienste sowie über Dutzende Tote nach einem Gefangenentransfer in das Tishrin Militärhospital. Ehemalige Insassen von Saydnaya berichteten auch über anhaltende Todesfälle durch Folter und unmenschliche Behandlung vor dem Hintergrund von weitverbreitetem Hunger und Tuberkulose (UNCOI 13.8.2021, zu "Salzräumen" als improvisierte Leichenhallen und Folterkammern siehe z.B. SHRC 1.2023).
- Hinrichtungen und Attentate, die mit dem Beilegungsabkommen von Dara'a in Zusammenhang gebracht werden
Der NGO Global Voices zufolge hielt sich das Regime nie an die Bedingungen des Abkommens und ging weiterhin gegen Mitglieder der Opposition vor. Das Dara'a Martyrs' Documentation Office meldete im Jänner 2021 die Hinrichtung von 83 militärischen Gegnern des Regimes, welche ein Beilegungsabkommen unter Vermittlung der russischen Militärpolizei angenommen hatten, sowie von 31 weiteren Personen, welche das Abkommen nicht angenommen hatten (USDOS 12.4.2022). Im ersten Halbjahr 2022 wurden über 100 Personen in Dara'a getötet, und was ein Muster Attentaten durch Unbekannte auf ehemalige frühere Mitglieder aufständischer und regierungstreuer Einheiten fortsetzte. Das Dara'a Martyrs' Documentation Office meldete 90 Attentatsversuche, welche mit dem Tod von 51 Personen endete - darunter 31 Zivilisten sowie frühere Oppositionskämpfer, welche Beilegungsabkommen mit dem Regime unterzeichnet hatten. Letztere gehören zu den Profilen, welche besonders als Ziel für derartige Attentate gestuft werden (USDOS 20.3.2023).
Landesteile außerhalb der Regierungskontrolle
[…]
Religionsfreiheit
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich Alawiten, Ismailiten und (Zwölfer) Schiiten machen zusammen 13 % aus, die Drusen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 %, wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 Jesiden (USDOS 2.6.2022).
Bereits vor dem Konflikt wuchs die Bedeutung von religiösen Stiftungen, um fehlende staatliche soziale und wirtschaftliche Leistungen auszugleichen. Im Zuge des Konfliktes verstärkte sich diese Rolle abermals. Religiöse Netzwerke in oppositionellen Gebieten, die in Verbindung mit bewaffneten Fraktionen stehen, wurden quasi Organe der Lokalverwaltung und übernahmen Aufgaben, wie z. B. die Verteilung von Hilfsgütern, Sozialleistungen, Bildung, Verwaltung von Bäckereien und die Verwaltung von Flüchtlingslagern. Begleitend zu diesen sozialen Diensten gab es klare Bemühungen um religiöse Indoktrination, z. B. die Vereinheitlichung der Verschleierung, die Verbreitung des Korans und den Betrieb von Waisenhäusern (in denen sich das Leben um religiöse Lehren und das Auswendiglernen des Korans dreht). Auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten wurden religiösen Akteuren, die vom Staat als vertrauenswürdig erachtet wurden, beispiellose Vorrechte innerhalb ihrer Gemeinschaften eingeräumt. Sie übernahmen kommunale Aufgaben, um den Zerfall staatlicher Strukturen und Leistungen auszugleichen, wie beispielsweise die Stromversorgung durch private Stromgeneratoren (CMEC 19.3.2019).
Gebiete unter Regierungskontrolle
Der gesetzliche Rahmen gilt nur in den Gebieten unter Regierungskontrolle, und selbst hier gibt es oft einen Niedergang von Recht und Ordnung, welcher Milizen, die oft hauptsächlich aus einer einzigen Religionsgruppe bestehen, eine dominante Position ermöglicht. Die regierende Ba’ath-Partei pflegt ihre Selbstdarstellung als Beschützerin der religiösen Minderheiten. Einerseits kooptierte sie die religiösen Minderheiten unabhängig von deren politischen Ansichten und andererseits dämonisierte sie Millionen sunnitischer Protestierender als angebliche TerroristInnen statt als BürgerInnen, die politische, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit suchten. Konfessionalistische Staatsrhetorik hat daher zur Vertiefung der Gräben zwischen den Religionsgemeinschaften beigetragen (USDOS 2.6.2022).
In Syrien gibt es keine offizielle Staatsreligion, wobei die Verfassung jedoch vorsieht, dass der syrische Präsident Muslim sein muss und dass die islamische Rechtsprechung eine Hauptquelle der Gesetzgebung darstellt. In Angelegenheiten des Personenstandsrechtes fallen alle Bürger unter die Gesetzgebung ihrer jeweiligen religiösen Gruppe (Christentum, Islam oder Judentum). Alle Religionsgemeinschaften sind gesetzlich verpflichtet, sich bei den Behörden registrieren zu lassen (USDOS 2.6.2022). Seit 2006 existiert ein eigenes Personenstandsgesetz für Katholiken (Dekret Nr. 31/2006 vom 18.6.2006) (ÖB Damaskus 1.10.2021). Zur Klärung von Fragen des Familienstandes verlangt die Regierung daher von ihren Bürgern, ihre Glaubenszugehörigkeit zu einer dieser drei Religionen Anmerkung, Christentum, Islam oder Judentum - siehe oben) registrieren zu lassen. Die Religionszugehörigkeit, abgesehen von der jüdischen Religionszugehörigkeit, wird nicht im Pass und auf dem Personalausweis vermerkt (USDOS 2.6.2022). Es ist nicht möglich, 'keine Religion' zu registrieren oder eine zivile Ehe zu schließen (Eijk 2013).
Das Regime erlaubt den verschiedenen Konfessionen ihren Glauben zu praktizieren, solange ihre religiösen Aktivitäten nicht als politisch subversiv erachtet werden. Die Regierung überwacht Moscheen und die Ernennung von muslimischen Religionsführern (FH 9.3.2023).
Das Gesetz schränkt Missionierung ein. Es verbietet die Konversion vom Islam zu anderen Religionen (FH 9.3.2023, vergleiche USDOS 2.6.2022), erkennt die Konversion zum Islam jedoch an. Das Strafgesetz verbietet "das Verursachen von Spannungen zwischen religiösen Gemeinschaften". Der gesellschaftliche Druck und religiöse Konventionen führen außerdem dazu, dass Konversionen, insbesondere vom Islam zum Christentum, relativ selten sind, und viele KonvertitInnen sind gezwungen, innerhalb des Landes umzuziehen oder Syrien zu verlassen, um ihre neue Religion offen praktizieren zu können (USDOS 2.6.2022).
Verschiedene Medien berichten, dass auch Iran die Religion nutzt, um seinen, seit dem Kriegsausbruch stetig zunehmenden Einfluss in Syrien dauerhaft zu sichern. Laut der Zeitschrift Foreign Policy versucht er Sunniten zum Übertritt zum Schiismus zu bewegen oder zumindest ihre Haltung gegenüber ihren konfessionellen Rivalen zu mildern. Hierzu verteilt Iran Bargeld an bedürftige Syrer, erteilt eine kräftige Dosis Indoktrination in religiösen Seminaren und gewährt Stipendien für Kinder zum Studium an iranischen Universitäten, kostenlose Gesundheitsversorgung, Lebensmittelkörbe und Reisen zu touristischen Zielen, um die Konversion zu fördern. So werden die wirtschaftliche Lage in Syrien und finanzielle Anreize zur Ermutigung von Konversionen oder zum Beitritt zu iranischen Milizen genutzt. Auch wurden alte Schreine restauriert und neue Schreine für verehrte schiitische Persönlichkeiten errichtet, fast so, als wolle man die religiöse Geschichte Syriens neu schreiben. Eine steigende Zahl an Schiiten erlaubt Iran, die Rolle als deren politische Fürsprecherin zu beanspruchen (FP 15.3.2021, vergleiche USDOS 2.6.2022).
Die syrische Gesetzgebung stellt Blasphemie unter Strafe. Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), zum Beispiel, konnte in ihrem Fünfjahresbericht (Zeitraum 2014-2018) jedoch keine Fälle einer diesbezüglichen Anwendung dokumentieren (USCIRF 2020). Die Gesetze zu Blasphemie und andere Strafbestände werden jedoch zur Einschränkung der Redefreiheit sowie gegen als oppositionell wahrgenommene JournalistInnen herangezogen (USDOS 20.3.2023).
Die Mitgliedschaft in bestimmten religiöse ausgerichteten Organisationen ist illegal und in verschiedenem Ausmaß strafbar. Dies betrifft z. B. Organisationen, welche als 'salafistisch' eingestuft sind, wobei nicht festgelegt ist, was genau die Parameter dafür sind. Es sind auch politische Parteien auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen verboten. Auf die Zugehörigkeit zur Muslimbruderschaft steht die Todesstrafe oder Haft (USDOS 2.6.2022). Siehe zur Strafbarkeit der Verbindung mit der Muslimbruderschaft auch das Kapitel Todesstrafe und außergerichtliche Hinrichtungen.
Die Zeugen Jehowahs sind verboten (FH 9.3.2023), weil die Religionsgemeinschaft in Augen der syrischen Regierung als 'politisch motivierte zionistische Organisation' gilt (USDOS 2.6.2022).
Gesetz Nr. 31 vom Oktober 2018 verleiht dem syrischen Ministerium für Religiöse Stiftungen („Ministry of Awqaf“) zusätzliche Befugnisse und verstärkt gleichzeitig die Kontrolle des Staats über dieses Ministerium (CMEC 19.3.2019), während die Position des Großmuftis als höchste islamische Autorität im Land abgeschafft wurde und dessen Zuständigkeiten an das Ministerium übergingen (USDOS 2.6.2022). So beinhaltet das Gesetz die Einrichtung eines "Rechtswissenschaftlichen und Gelehrtenrates" mit der Entscheidungshoheit über die Definition, welche Inhalte im religiösen Diskurs angemessen sind. Das Ministerium wird mit der Kompetenz ausgestattet, religiöse Persönlichkeiten zu bestrafen, wenn diese extremistisches Gedankengut propagieren oder vom genehmigten Diskurs abweichen (USDOS 2.6.2022, vergleiche CEIP 14.11.2018). Der Rat soll außerdem jede Fatwa, die in Syrien veröffentlicht wird, überwachen, um die Verbreitung wahhabitischen oder mit der Muslimbruderschaft in Verbindung stehenden Gedankenguts zu verhindern (CEIP 14.11.2018).
Das syrische Eherecht kennt das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit. So ist die Ehe einer muslimischen Frau mit einem nicht-muslimischen Mann nichtig. Nach dem Konsens der islamischen Juristen ist eine Ehe zwischen einem Muslim und einer nicht-muslimischen Frau wirksam, sofern diese einer der zwei anderen Buchreligionen - also Christentum oder Judentum - angehört (MPG o.D.a). Eine christliche Ehefrau eines muslimischen Mannes kann jedoch nichts von ihrem Mann erben, selbst wenn sie zum Islam konvertiert, und sie kann nur auf einem islamischen Friedhof begraben werden, wenn sie konvertiert (USDOS 2.6.2022). Ihre Kinder werden automatisch Muslime (Eijk 2013).
Ethnische und religiöse Minderheiten
Anmerkung, Einige der angeführten Minderheiten sind ethno-religiöse Minderheiten (z. B. armenische Christen, kurdische Jesiden) oder sie verfügen über kulturell bedingte eigene Interpretationen des Islams im Alltag (z. B. viele sunnitische Kurden). Dazu kommen winzige weitere Minderheiten, welche in den üblichen Überblickaufzählungen gar keine Erwähnung finden. Nähere Informationen zu einzelnen Minderheiten können nach Bedarf im Rahmen von Anfragebeantwortungen geboten werden.
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich AlawitInnen, IsmailitInnen und (Zwölfer) SchiitInnen machen zusammen 13 % aus, die DrusInnen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 %, wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 JesidInnen (USDOS 2.6.2022).
Die alawitische Gemeinschaft [Anm.: zu der Bashar al-Assad gehört] genießt in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil weiterhin einen privilegierten politischen Status, auch durch die Dominanz in den Führungspositionen im Militär sowie den Sicherheits- und Geheimdiensten, wobei auch bei Alawiten gilt, dass, so wie bei Angehörigen den anderen Religionsgemeinschaften, nur diejenigen, welche zum inneren Machtzirkel um Bashar al-Assad gehören, politischen Einfluss besitzen. Auch einige Sunniten gehören zur politischen Elite (USDOS 2.6.2022). Familien und Netzwerke mit Verbindungen zur herrschenden Elite werden in Rechtsangelegenheiten bevorzugt behandelt und sind disproportional oft AlawitInnen, während AlawitInnen ohne solche Verbindungen weniger wahrscheinlich von solchen Vorteilen profitieren. Die bewaffnete Opposition ist hingegen in der überwältigenden Mehrheit arabisch-sunnitisch, und Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe sind wahrscheinlich Diskriminierung durch den Staat ausgesetzt, wenn sie nicht enge Verbindungen zum Regime genießen (FH 9.3.2023).
Daher lässt sich die konfessionalistische Dimension des Regimes besser als ein alawitisch-dominiertes säkulares Regime beschreiben, das auf Loyalitäten basierend auf regionale, tribale und familiäre Verbindungen sowie auf gesellschaftliche Kohäsion ('asabiya) aufbaut. Diese Kohäsion bezieht sich auf ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit einer beschränkten Zahl an AlawitInnen aus der alawitischen Gemeinschaft, aber nicht auf die Religionsgemeinschaft als Ganzes. Als Folge der konfessionellen Polarisierung, die durch das Regime selbst gefördert wurde, wie auch durch seine islamistischen und jihadistischen Feinde, waren viele AlawitInnen gezwungen, sich aus Angst vor sunnitisch-arabischen Vergeltungsschlägen auf die Seite des Regimes zu stellen (Al-Majalla 15.3.2023).
In einer Diktatur wie in Syrien kommt die Repression überall in den Gebieten unter der Kontrolle des Regimes zur Anwendung - auch in den ländlichen Gebieten mit alawitischer Bevölkerungsmehrheit. AlawitInnen unter Oppositionsverdacht werden im Allgemeinen inhaftiert, schwer unter Druck gesetzt oder getötet. Alawitische OpponentInnen der Assad-Herrschaft [Anm.: seit 1970] waren gelegentlich in einer schlimmeren Lage als sunnitische Oppositionelle, weil sie potenziell eine größere Bedrohung durch ihre Zugehörigkeit zur alawitischen Gemeinschaft darstellen (Al-Majalla 15.3.2023). So werden Berichten zufolge auch weiterhin alawitische oppositionelle AktivistInnen Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord durch die Regierung. AlawitInnen werden zudem aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen (USDOS 30.3.2023).
Im Zuge des Bürgerkriegs kam es zu verschiedenen konfessionalistischen Exzessen, welche die Möglichkeiten für eine Versöhnung zwischen den Kriegsparteien untergraben. Es gab Berichte über Massaker, konfessionalistische Säuberungsaktionen wie auch Entführungen und sexuelle Gewalt gegen AlawitInnen und ChristInnen und umgekehrt von Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft gegen Mitglieder der sunnitschen Bevölkerungsgruppe (Al-Majalla 15.3.2023).
Religiöse bzw. interkonfessionelle Faktoren spielen auf allen Seiten des Konfliktes eine Rolle, doch fließen auch andere Faktoren im Kampf um die politische Vormachtstellung mit ein. Die Gewalt seitens des Regimes gegen Oppositionsgruppen aber auch Zivilisten weist sowohl konfessionelle Elemente als auch Elemente ohne konfessionellen Bezug auf. Beobachtern zufolge ist die Vorgehensweise der Regierung gegen Oppositionsgruppen, welche die Vormachtstellung der Regimes bedrohen, nicht in erster Linie konfessionell motiviert, doch zeigt sie konfessionelle Auswirkungen (USDOS 10.6.2020). So versucht die syrische Regierung, konfessionell motivierte Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten vor Angriffen von gewalttätigen sunnitisch-extremistischen Gruppen darstellt. Manche Rebellengruppen bezeichnen sich in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Muslime und haben Beobachtern zufolge eine fast ausschließlich sunnitische Unterstützerbasis (USDOS 2.6.2022). Der Einsatz von schiitischen Kämpfern durch den Iran, z. B. aus Afghanistan, um gegen die mehrheitlich sunnitische Opposition vorzugehen, verstärkt zusätzlich die konfessionellen Spannungen. Laut Experten stellen die Regierung und ihre Verbündeten Russland und Iran die bewaffnete Opposition und oppositionelle Protestierende sowie humanitäre Hilfsorganisationen auch als konfessionalistisch motiviert dar, indem sie diese mit extremistischen islamistischen Gruppen und Terroristen in Zusammenhang bringen, welche die religiösen Minderheiten sowie die säkulare Regierung eliminieren wollen (USDOS 10.6.2020).
Im Allgemeinen bestehen in Gebieten, die unter Regierungskontrolle stehen, keine Hindernisse für religiöse Minderheiten, insbesondere nicht für Christen. Schätzungen zufolge leben nur mehr 3 % (vor dem Konflikt über 10 %) Christen im Land; viele sind seit Ausbruch des Konflikts geflohen – ihre Rückkehr scheint unwahrscheinlich. In Rebellengebieten, die von sunnitischen Fraktionen kontrolliert werden, ist die Religionsausübung zwar möglich, aber nur sehr eingeschränkt. Zusätzlich erschwert wird die Situation der Christen dadurch, dass sie als regierungsnahe wahrgenommen werden. Sowohl aufseiten der regierungstreuen als auch aufseiten der Opposition sind alle religiösen Gruppen vertreten. Aufgrund ihrer starken Dominanz in der Regierung und im Sicherheitsapparat werden Alawiten aber grundsätzlich als regierungstreu wahrgenommen, während sich viele Sunniten (sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung, vor Beginn des Konflikts waren es 72 %) in der (auch bewaffneten) Opposition finden. Aufgrund dieser Zugehörigkeit zur Opposition ist die Mehrheit der politischen Gefangenen und Verschwundenen sunnitisch. Bei der militärischen Rückeroberung der syrischen Armee von Gebieten wie Homs oder Ost-Ghouta wurden sunnitisch dominierte Viertel stark in Mitleidenschaft gezogen. Dadurch wurden viele Sunniten aus diesen Gebieten vertrieben und faktisch ein demografischer Wandel dieser Gebiete herbeigeführt. Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Die Situation von Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten ist von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich und hängt insbesondere von den Akteuren ab, die das Gebiet kontrollieren, von den Ansichten und Wahrnehmungen dieser Akteure gegenüber Angehörigen anderer religiöser und ethnischer Minderheitengruppen sowie von den spezifischen Konfliktentwicklungen in diesen Gebieten (UNHCR 3.2021). Im Zuge des Konflikts wurden Mitglieder religiöser Minderheiten wie auch SunnitInnen Ziel von verschiedenen Gruppen, welche von der UNO, den USA und anderen als Terrorgruppen eingestuft worden waren - darunter auch HTS, in Form von Morden, Entführungen, physischen Misshandlungen und Haft. Tausende tote und verschwundene ZivilistInnen waren die Folge (USDOS 2.6.2022).
Die syrische Regierung, kurdische Truppen, von der Türkei unterstützte oppositionelle Milizen und islamistisch-extremistische Gruppen haben alle versucht, die ethnische Zusammensetzung ihrer Gebiete zu verändern. Sie haben ZivilistInnen gezwungen, bei ihrer jeweiligen religiösen oder ethnischen Gemeinschaft Zuflucht zu suchen, was zu demografischen Änderungen durch den Bürgerkrieg beiträgt (FH 9.3.2023).
Die sunnitisch-arabische Zivilbevölkerung traf die Hauptlast der Angriffe der alawitisch-geführten Regierung und ihrer Milizen. Von 2018 bis 2019 vertrieb das Regime 900.000 ZivilistInnen - meist sunnitische AraberInnen - aus den zurückeroberten Oppositionsgebieten durch Bombardierungen und Belagerungen in die Provinz Idlib (FH 9.3.2023).
Ende 2019 führte das türkische Militär eine Offensive in Nordost-Syrien durch, um eine Pufferzone zur Zurückdrängung seiner kurdischen Gegner aus dem Gebiet zu schaffen [siehe auch die jeweiligen relevanten Unterkapitel im Kapitel Sicherheitslage] (FH 9.3.2023). Mitglieder religiöser und ethnischer Minderheiten, besonders vertriebene KurdInnen, JesidInnen und ChristInnen, z. B. in der Stadt Afrin, berichteten von Menschenrechtsverletzungen und Marginalisierung (USDOS 2.6.2023). Von der Türkei unterstützte Milizen wurden in Folge beschuldigt, Grundstücke und Häuser zu enteignen (FH 9.3.2023). Sie begingen u. a. auch Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigung und Plünderungen von Privatbesitz - besonders in kurdischen Gebieten - wie auch Vandalenakte gegen jesidische religiöse Stätten. Bezüglich in und um Afrin werden zusätzlich besonders auch Tötungen und willkürliche Verhaftungen von ZivilistInnen genannt. Besonders oft waren JesidInnen Ziel der Taten. Weiterhin werden von pro-türkischen Milizen verschleppte jesidische Frauen vermisst. Berichten zufolge leben in Afrin nur mehr 5.000 JesidInnen, während vor der türkischen Invasion von 2018 25.000 JesidInnen in 22 Dörfern ansässig waren (USDOS 2.6.2022).
Sunnitisch-islamistische und jihadistische Gruppen verfolgen oft religiöse Minderheiten und Muslime, welche sie der Pietätlosigkeit oder der Apostasie beschuldigen (FH 9.3.2023). Verschiedene islamistische Gruppen in Idlib legen Medienberichten zufolge ChristInnen die Anwendung der Scharia auf wie auch die Jizya, eine Steuer für Nicht-Muslime, um sie dazu zu zwingen, ihre Häuser zu verlassen. Die HTS verstärkte demnach den Druck auf ChristInnen in Idlib durch solche Restriktionen wie auch durch eine Erhöhung von Mieten von Häusern und Geschäften, weil die HTS den Immobilienbesitz von ChristInnen als Kriegsbeute ansieht. Die HTS beging zudem weitere Arten von Misshandlungen/Machtmissbrauch ('abuses') auf Basis der konfessionellen Identität der Betroffenen (USDOS 12.5.2021). Für das Jahr 2021 werden weiterhin solche Restriktionen der HTS gegen ChristInnen in Idlib Stadt berichtet. Es wurde bekannt, dass HTS im Zeitraum Ende 2018 bis Ende 2019 Hunderte Immobilien, darunter mindestens 550 Häuser und Geschäfte in der Provinz Idlib, die vertriebenen ChristInnen gehörten, beschlagnahmt hatte (USDOS 2.6.2022).
Das Schicksal von 8,648 Personen, die vom IS seit 2014 verschleppt wurden, bleibt unbekannt (USDOS 2.6.2022). Nach Schätzung der Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen tötete oder entführte der sogenannte Islamische Staat (IS) allein mehr als 9.000 JesidInnen. Die UNO bewertete dies als "Kampagne des Genozids“ (USDOS 10.6.2020), wobei der IS ab 2014 ungefähr 6.000 großteils jesidische, aber auch christliche und turkmenische Frauen und Mädchen im Irak verschleppte (USDOS 10.6.2020). Diese wurden nach Syrien gebracht und als Sexsklavinnen verkauft, in nominelle Heiraten mit IS-Kämpfern gezwungen oder dienten als 'Geschenke' für IS-Kommandanten. Von diesen Frauen und Kindern ist weiterhin der Verbleib von 2.763 Menschen unbekannt (USDOS 2.6.2022).
Trotz der territorialen Niederlage des IS berichteten Medien und NGOs, dass seine extremistische Ideologie weiterhin stark im Land präsent ist (USDOS 12.5.2021). Im Jahr 2022 nahmen gewalttätige Übergriffe durch IS-Überreste zu. Menschenrechtsorganisation berichten, dass diese häufig Zivilisten, Personen, welche der Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften verdächtig sind, und Gruppen, die vom IS als Apostaten gesehen werden, ins Visier nehmen (USDOS 2.6.2022). Siehe dazu auch das Kapitel Sicherheitslage.
Kurdische Milizen werden beschuldigt, arabische und turkmenische Gemeinschaften vertrieben zu haben (FH 9.3.2023). Im Jahr 2021 vertrieben christlichen Anführern zufolge türkische Bombardierungen in Nordost-Syrien ChristInnen und andere Minderheiten aus Tel Tamer und umgebenden Dörfern südöstlich des Gebiets der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' (siehe auch Kapitel Sicherheitslage) (USDOS 2.6.2022).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Syrien ist eine patriarchalische Gesellschaft, aber je nach sozialer Schicht, Bildungsniveau, Geschlecht, städtischer oder ländlicher Lage, Region, Religion und ethnischer Zugehörigkeit gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug auf Rollenverteilung, Sexualität sowie Bildungs- und Berufschancen von Frauen. Der anhaltende Konflikt und seine sozialen Folgen sowie die Verschiebung der de-facto-Kontrolle durch bewaffnete Gruppen über Teile Syriens haben ebenfalls weitreichende Auswirkungen auf die Situation der Frauen (NMFA 6.2021). Mehr als ein Jahrzehnt des Konflikts hat ein Klima geschaffen, das der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zuträglich ist, besonders angesichts der sich verfestigenden patriarchalischen Gesellschaftsformen, und Fortschritte bei den Frauenrechten zunichtemachte. Diese Risiken steigen unvermeidlicherweise angesichts von mehr als 15 Millionen Menschen in Syrien, die im Jahr 2023 humanitäre Hilfe benötigen. Gleichzeitig gibt es einen Anstieg an Selbstmorden unter Frauen und Mädchen, was laut ExpertInnen auf den fehlenden Zugang von Heranwachsenden zu Möglichkeiten und entsprechendenHilfsleistungen liegt (UNFPA 28.3.2023).
Offizielle Mechanismen, welche die Rechte von Frauen sicherstellen sollen, funktionieren Berichten zufolge nicht mehr, und zusammen mit dem generellen Niedergang von Recht und Ordnung sind Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen besonders durch extremistische Gruppen ausgesetzt, die ihre eigenen Interpretationen von Religionsgesetzen durchsetzen. Die persönliche gesellschaftliche Freiheit von Frauen variiert je Gebiet außerhalb der Regierungskontrolle und reicht von schwerwiegenden Kleidungs- und Verhaltensvorschriften in Gebieten extremistischer Gruppen bis hin zu formaler Gleichheit im Selbstverwaltungsgebiet der Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD). Durch die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) und dem Zurückgehen der Kampfhandlungen im Lauf der Zeit ist die Bevölkerung in geringerem Ausmaß den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheiten ausgesetzt (FH 9.3.2023). Gleichwohl haben verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufgrund der Pandemie und der Bewegungseinschränkungen zugenommen, welche auch zur ökonomischen Ausbeutung von Frauen beitragen (UNFPA 28.3.2023).
Frühe Heiraten nehmen zu (UNFPA 28.3.2023): In Syrien lässt sich in den letzten Jahren ein sinkendes Heiratsalter von Mädchen beobachten, weil erst eine Heirat ihnen die verloren gegangene, aber notwendige rechtliche Legitimität und einen sozialen Status, d. h. den 'Schutz' eines Mannes, zurückgibt (ÖB Damaskus 1.10.2021), denn die Angst vor sexueller Gewalt und ihr Stigma könnte die Mädchen zu Ausgestoßenen machen. Überdies müssen die Eltern durch eine möglichst frühe Verheiratung ihrer Töchter nicht mehr für deren Unterhalt aufkommen. Die Verheiratung von Minderjährigen gilt als die häufigste Form von Gewalt gegen heranwachsende Mädchen. Einige Frauen und Mädchen werden auch gezwungen, die Täter, welche ihnen sexuelle Gewalt angetan haben, zu heiraten. Bei Weigerung droht Isolation, weil sie nicht zu ihren Familien zurückkehren können, bzw. kann ein 'Ehrenmord' drohen. Hintergrund ist, dass rechtliche Mittel gegen den Täter zuweilen nicht leistbar sind, und so mangels eines justiziellen Wegs die Familien keine andere Möglichkeit als eine Zwangsehe sehen (UNFPA 28.3.2023). Dieses Phänomen ist insbesondere bei IDPs (FH 9.3.2023) (und Flüchtlingen in Nachbarländern) zu verzeichnen. Das gesunkene Heiratsalter wiederum führt zu einem Kreislauf von verhinderten Bildungsmöglichkeiten, zu frühen und mit Komplikationen verbundenen Schwangerschaften und in vielen Fällen zu häuslicher und sexueller Gewalt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Auch geschiedene oder verwitwete Frauen gelten als vulnerabel, denn sie können Druck zur Wiederverheiratung ausgesetzt sein (UNFPA 28.3.2023). Im Allgemeinen ist eine von fünf Frauen in Syrien heutzutage von sexueller Gewalt betroffen (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Bereits vor 2011 waren Frauen aufgrund des autoritären politischen Systems und der patriarchalischen Werte in der syrischen Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Häuser geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Es wird angenommen, dass konservative Bräuche, die Frauen in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zuweisen, für viele Syrer maßgeblicher waren als das formale Recht (FH 3.3.2010). Doch selbst die formellen Gesetze legen für Frauen nicht denselben Rechtsstatus und dieselben Rechte fest wie für Männer, obwohl die Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen vorsieht (USDOS 20.3.2023). Frauen werden vor allem durch das Personenstandsgesetz bezüglich Heirat, Scheidung, Sorgerecht und Erbschaft weiterhin diskriminiert (HRW 12.1.2023).
Per legem haben Männer und Frauen dieselben politische Rechte. Der Frauenanteil im syrischen Parlament liegt je nach herangezogener Quelle zwischen 11,2 und 13,2 %. Auch manche der höheren Regierungspositionen werden derzeit von Frauen besetzt. Allerdings sind sie im Allgemeinen von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und haben wenig Möglichkeiten, sich inmitten der Repression durch Staat und Milizen unabhängig zu organisieren. Im kurdisch-geprägten Selbstverwaltungsgebiet werden alle Führungspositionen von einem Mann und einer Frau geteilt, während außerhalb der PYD-Strukturen die politische Autonomie für die Bevölkerung eingeschränkt ist (FH 9.3.2023)
Die Gewalt zusammen mit bedeutendem kulturellem Druck schränkt stark die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten ein. Zusätzlich erlaubt das Gesetz, bestimmten männlichen Verwandten Frauen ein Reiseverbot aufzuerlegen. Bewegungseinschränkungen wurden einem UN-Bericht von Februar 2022 zufolge in 51 % der untersuchten Orte ermittelt (USDOS 20.3.2023). Obwohl erwachsene Frauen keine offizielle Genehmigung brauchen, um das Land zu verlassen, reisen viele Frauen in der Praxis nur dann ins Ausland, wenn der Ehemann oder die Familie dem zugestimmt hat (NMFA 5.2022).
Frauen in Wirtschaft und medizinischer Versorgung
Durch den anhaltenden Konflikt und die damit einhergehende Instabilität sowie sich verschlechternde wirtschaftliche Situation hat sich die Situation der Frauen zunehmend erschwert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Der Global Gender Gap Report stuft Syrien 2021 auf Platz 152 ein, dem fünftletzten Platz (WEF 3.2021). Aufgrund fehlender Daten ist Syrien im diesjährigen Bericht (2022) nicht erfasst (WEF 7.2022).
Während weiterhin Vorstellungen, welche Berufe für Frauen passend sind, die Arbeitsmöglichkeiten von Frauen einschränken oder ihnen Arbeitsmöglichkeiten verwehrt werden (UNFPA 28.3.2023), hat der Krieg auch ihre Rolle in der Arbeitswelt verändert, und ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet, die zuvor Männern vorbehalten waren (HART 2.8.2022): So wurden Frauen in einigen Haushalten zu denjenigen, die Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen (UNFPA 28.3.2023), weil viele Männer getötet wurden oder sich aus Angst vor der Einberufung zur Armee, vor Verhaftung oder Inhaftierung versteckt hielten. So lag die Beteiligung von Frauen an der syrischen Erwerbsbevölkerung im Jahr 2018 in Damaskus, Lattakia und Tartus im Durchschnitt zwischen 40 und 50 %, während in anderen Teilen des Landes der Anteil an erwerbstätigen Frauen zwischen 10 und 20 % betrug und in den Provinzen Idlib, Raqqa und Quneitra sogar noch niedriger war. Insgesamt waren Schätzungen zufolge im Jahr 2018 11,6 % der Frauen erwerbstätig, gegenüber 69,75 % der Männer (NMFA 5.2020). Mittlerweile stieg im Jahr 2022 die Erwerbsquote auf insgesamt 16,8 % der weiblichen Bevölkerung, sie ist aber noch immer niedriger als im Jahr 1990 (WB o.D.). Während der Anteil der erwerbstätigen Männer im Alter von 25 bis 54 Jahren im Jahr 2021 auf 95 % stieg, wurde die Zahl der Erwerbstätigen vor allem durch Frauen, Jugendliche und ältere Leute vergrößert - d.h. Menschen mit relativ begrenzten Verdienstmöglichkeiten. Die Weltbank sieht die steigende Zahl an Vulnerablen am Arbeitsmarkt als ein Indikator für die Notlage der Betroffenen, die darauf angewiesen sind, jedwede Einkommensmöglichkeit unabhängig von den Bedingungen anzunehmen (WB 2023): Geschlechtsbasierte Gewalt hat zugenommen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht einschließlich Ausbeutung bei der Arbeit wie auch Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit. 'Finanzielle Gewalt' in der Terminologie von UNFPA hat zugenommen, darunter die Vorenthaltung finanzieller Mittel, Bildung, Arbeitsmöglichkeiten und von Gehältern. Wenn Frauen das Nachgehen einer Erwerbsarbeit erlaubt wird, kann es zum Beispiel vorkommen, dass ihr Einkommen von männlichen Familienangehörigen an sich genommen wird (UNFPA 28.3.2023). Umgekehrt gibt es nun Frauen, die mehr an den finanziellen Entscheidungen ihrer Familie beteiligt sind (CARE 3.2016)
Neben der großen Kluft zwischen den Geschlechtern bei der Erwerbsbeteiligung existiert außerdem eine geschlechtsspezifische Benachteiligung bei Sozialleistungen. Dem Besitz von Grund durch Frauen stehen gesellschaftliche Praktiken gegenüber, welche davon abschrecken (FH 9.3.2023). Seit einer Änderung des Personenstandsrechts im Jahr 2019 ist es möglich, dass eine Frau fordert, dass in ihrem Ehevertrag das Recht auf Arbeit enthalten ist (SLJ 3.10.2019).
Frauen sind in verschiedenen öffentlichen und politischen Positionen tätig. Dies kann entweder aus freiem Willen geschehen oder aus der Notwendigkeit heraus, die Familie in Abwesenheit eines männlichen Versorgers zu unterstützen (NMFA 5.2022).
Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der sozio-ökonomischen Krise betroffen (AA 29.3.2023) wie auch Haushalte mit behinderten Personen. 16 % der von Frauen geleiteten Haushalte sowie 12 % von Haushalten mit Menschen mit Behinderung sind überhaupt nicht in der Lage, ihren Lebensbedarf zu decken (UNFPA 28.3.2023).
Öffentliche Räume wie besonders Kontrollpunkte, aber auch Märkte, Schulen oder Straßen stellen potenzielle Risiken dar, wo Frauen und Mädchen sexueller Gewalt ausgesetzt sind (UNFPA 28.3.2023).
In Fällen, in denen der Zugang zu Bildung eingeschränkt ist, kompensieren Frauen den Verlust von Bildung, indem sie ihre Kinder zu Hause unterrichten. In Fällen, in denen der Zugang zu Infrastrukturgütern wie Wasser oder Strom eingeschränkt ist, legen die Frauen lange Wege zurück, um Wasser oder Diesel für den Betrieb ihrer eigenen Generatoren zu beschaffen. Darüber hinaus erhöht der Mangel an Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern die Arbeitsbelastung der Frauen zu Hause, weil die Aufgaben arbeitsintensiver geworden sind (z. B. backen Frauen zu Hause Brot, wenn es keine Bäckereien mehr gibt) (CARE 3.2016).
Alleinstehende Frauen
Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Die gesellschaftliche Akzeptanz alleinstehender Frauen ist jedoch nicht mit europäischen Standards zu vergleichen (STDOK 8.2017). Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Mädchen, Witwen und Geschiedene werden als besonders gefährdet eingestuft. Auch Überlebende sexueller Gewalt sind besonders vulnerabel (UNFPA 10.3.2019, vergleiche für aktuelle Beispiele UNFPA 28.3.2023). Vor 2011 war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich, allein zu leben, z. B. für Frauen mit Arbeit in städtischen Gebieten. Seit dem Beginn des Konflikts ist es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz hat. In den meisten Fällen würde eine Frau nach einer Scheidung zu ihrer Familie zurückkehren. Der Zugang alleinstehender Frauen zu Dokumenten hängt von ihrem Bildungsgrad, ihrer individuellen Situation und ihren bisherigen Erfahrungen ab. Für ältere Frauen, die immer zu Hause waren, ist es beispielsweise schwierig, Zugang zu Dokumenten zu erhalten, wenn sie nicht von jemandem begleitet werden, der mehr Erfahrung mit Behördengängen hat (STDOK 8.2017). Die Wahrnehmung alleinstehender Frauen durch die Gesellschaft variiert von Gebiet zu Gebiet, in Damaskus-Stadt gibt es mehr gesellschaftliche Akzeptanz als in konservativeren Gebieten (SD 30.7.2018).
Da die syrische Gesellschaft als konservativ beschrieben wird, gibt es strenge Normen und Werte in Bezug auf Frauen, obwohl es durchaus auch säkulare Einzelpersonen und Familien gibt. Es gibt zwar keine offizielle Kleiderordnung, bestimmte gesellschaftliche Erwartungen bestehen aber dennoch. In den Großstädten wie Damaskus oder Aleppo und in der Küstenregion haben Frauen mehr Freiheiten, sich modern zu kleiden. Trotzdem kann die eigene Familie einer Frau in dieser Hinsicht ein hinderlicher Faktor sein (NMFA 5.2022).
In Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand besteht ein höheres Risiko, sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, insbesondere für die Mädchen in diesen Familien. Witwen und geschiedene Frauen sind in der Gesellschaft mit einem sozialen Stigma konfrontiert (NMFA 5.2020).
Frauen und medizinische Versorgung
Angesichts der drastisch gekürzten öffentlichen Dienste sind syrische Frauen gezwungen, zusätzliche Aufgaben in ihren Familien und Gemeinden zu übernehmen und haben Berichten zufolge eine führende Rolle im informellen humanitären Bereich übernommen. Frauen kümmern sich um Verletzte, Behinderte, ältere Menschen und Menschen mit anderen medizinischen Problemen, wenn es keine Gesundheits- und Rehabilitationsdienste mehr gibt. Die Frauen erbringen die medizinische Versorgung entweder in ihren Häusern oder arbeiten als Freiwillige in improvisierten, geheimen Gesundheitszentren [Anm.: in den Oppositionsgebieten] (CARE 3.2016). Gewalt überall im Land macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung einschließlich reproduktiver Medizin teuer und gefährlich (USDOS 20.3.2023). So schränkt die HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen ein und unterwirft sie Beschränkungen auch in Bezug auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung (SNHR 25.11.2019).
Syrischen AktivistInnen zufolge verweigerten die Regierung und bewaffnete Extremisten manchmal schwangeren Frauen das Passieren von Checkpoints und zwangen sie, unter oft gefährlichen und unhygienischen Bedingungen und ohne adäquate medizinische Betreuung ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Angriffe des Regimes und Russlands führen dazu, dass Gesundheitseinrichtungen oft im Geheimen operieren oder in einigen Fällen die Arbeit im Land einstellen. Konfliktbedingt ist der Sektor reproduktiver Gesundheit schwer belastet, und die Zahl der Frauen, welche während der Schwangerschaft oder der Geburt sterben, steigt weiterhin. Gemäß UNFPA (United Nations Population Fund) benötigen 7,3 Millionen Frauen und Mädchen Gesundheitsleistungen im Bereich reproduktiver und sexualmedizinischer Medizin wie auch Unterstützung in Fällen geschlechtsbasierter Gewalt, denn physische und sexuelle Gewalt wie auch Kinderheiraten sind im Steigen begriffen (USDOS 20.3.2023). Mit der Ausnahme, dass eine Fortführung der Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, sind Abtreibungen in Syrien nach wie vor illegal (UNFPA 12.2021).
Die Risiken von Kinderheiraten sind für Mädchen beträchtlich: Dazu gehören das erhöhte Risiko sexuell übertragbarer Infektionen, die enormen Gesundheitsrisiken für Mädchen durch frühe Schwangerschaften, das Risiko des Schulabbruchs und zusätzlicher Freiheits- und Bewegungseinschränkungen, das Risiko häuslicher Gewalt (physisch, verbal oder sexuell) und das Risiko, von Freunden und Familie isoliert zu werden. Kinderheiraten und die damit verbundenen Risiken können sich negativ, auch auf die psychische Gesundheit der Mädchen auswirken und zu emotionalen Problemen und Depressionen führen (UNFPA 11.2017) Anmerkung, für aktuelle Beispiele für die Gründe von Kinderheiraten siehe UNFPA 28.3.2023).
Sexuelle Gewalt gegen Frauen und 'Ehrverbrechen'
Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen (AA 29.3.2023). Der UN Population Fund (UNFPA) und weitere UN-Organisationen, NGOs und Medien stufen das Ausmaß an Vergewaltigungen und sexueller Gewalt als 'endemisch, zu wenig berichtet und unkontrolliert' ein (USDOS 20.3.2023). Allgemein ist eine von fünf Frauen in Syrien heute von sexueller Gewalt betroffen, wobei eine Zunahme von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt infolge der allgemeinen Unsicherheit und Perspektivlosigkeit der Menschen und der verloren gegangenen Rolle des Mannes als 'Ernährer der Familie' auch innerhalb der gebildeten städtischen Bevölkerung und auch in Damaskus zu verzeichnen ist (ÖB Damaskus 1.10.2021). 'Ehrverbrechen' in der Familie - meist gegen Frauen - kommen in ländlichen Gegenden bei fast allen Glaubensgemeinschaften vor (AA 29.3.2023).
Im November 2021 schätzte das Syrian Network for Human Rights (SNHR), dass die Konfliktparteien seit März 2011 sexuelle Gewalt in mindestens 11.526 Fällen verübt haben. Die Regimekräfte und mit ihr verbündete Milizen waren für den Großteil dieser Straftaten verantwortlich - mehr als 8.000 Fälle, darunter mehr als 880 Straftaten in Gefängnissen und mehr als 440 Übergriffe auf Mädchen unter 18 Jahre. Fast 3.490 Fälle sexueller Gewalt wurden vom sogenannten Islamischen Staat (IS) begangen und 13 Verbrechen durch die Syrian Democratic Forces (SDF) (USDOS 20.3.2023). Die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Jahr 2019, Rückschläge für andere extremistische Gruppen und der Rückgang an Kampfhandlungen haben dazu geführt, dass die Bevölkerung nicht mehr derart den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheit ausgesetzt ist (FH 9.3.2023).
Sexuelle Gewalt durch Regimekräfte
Seit 2011 wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und die Gesellschaft zu destabilisieren sowie demografische Veränderungen, z. B. in Homs, durch Vertreibungen zu erreichen (LDHR 10.2018): U.a. die CoI, Amnesty International und Human Rights Watch berichten immer wieder über Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen und Mädchen, insbesondere von Seiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, bei Militärkontrollen und in Haftanstalten. Vor allem Haftpraktiken in Syrien wiesen hiernach eine konstant stark geschlechtsorientierte Komponente auf. Sowohl Frauen als auch Männer werden Opfer sexualisierter Gewalt, insbesondere als Bestandteil von Misshandlungs- und Folterpraktiken. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass es bisher in mindestens 20 Haftanstalten in Syrien zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen gekommen ist (AA 29.3.2023). Dazu gehören Vergewaltigung, Leibesvisitationen und erzwungene Nacktheit, andere Akte sexueller Gewalt, die Androhung sexueller Gewalt, die Folterung an Geschlechtsorganen und weitere erniedrigende und demütigende Behandlungen (SJAC 10.4.2019). Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen (USDOS 12.4.2022). Auch sind einer Menschenrechtsorganisation zufolge nach Syrien rückkehrende Flüchtlinge, besonders Frauen und Kinder, sexueller Gewalt durch Regimekräfte ausgesetzt (USDOS 20.3.2023).
Sexuelle Gewalt durch bewaffnete Gruppen in Gebieten außerhalb der Regimekontrolle
Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen. Sexualisierte Gewalt wird daneben nach früheren CoI-Berichten auch von anderen bewaffneten Gruppierungen systematisch ausgeübt, wie etwa den Terrororganisationen Hay'at Tahrir ash-Sham - HTS und IS (AA 29.3.2023). Frauen sind, bzw. waren, zudem in den vom sogenannten Islamischen Staat (IS) und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Der HTS mischt sich zunehmend in alle Bereiche des zivilen Lebens ein. HTS schränkt z. B. die Bewegungsfreiheit von Frauen ein und hat sogar Kleider- und sogar Frisurvorschriften erlassen (HRW 13.1.2022).
Der Niedergang von Recht und Ordnung setzt Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen aus, besonders durch extremistische Gruppen, die der Bevölkerung ihre eigenen Interpretationen des Religionsrechts auferlegen (FH 9.3.2023): Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Frauen durch Mitglieder nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen sind zwar dokumentiert, kommen aber schätzungsweise weniger häufig vor als durch die Regierungstruppen und ihre Verbündeten. Berichten zufolge stehen Fälle von sexueller Gewalt dort im Zusammenhang mit sozialen Phänomenen wie Ausbeutung, Konfessionalismus und Rache, wobei Fälle dokumentiert sind, die Opfer mit kurdischem Hintergrund, vermeintliche Schiiten oder regierungstreue Personen sowie Minderheitengruppen wie Drusen und Christen betreffen (UNCOI 8.3.2018).
Sexuelle Gewalt ebenso wie Ausbeutung und Hürden beim Zugang zu Hilfsleistungen betreffen besonders oft geschiedene Frauen, Witwen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023). Neben Fällen von Versklavung, dem sinkenden Heiratsalter und Fällen von Zwangsheirat wurden offenbar vor allem in IS-kontrollierten Gebieten auch zunehmend Fälle von Genitalverstümmelung beobachtet, eine Praxis, die bis zum Ausbruch der Krise in Syrien unbekannt war und auf die Präsenz von Kämpfern aus Sudan und Somalia zurückzuführen war (ÖB Damaskus 1.10.2021).
In den Gebieten unter türkischer Kontrolle in Nordsyrien stehen laut Bericht der CoI von September 2022 insbesondere kurdische Aktivistinnen unter erhöhter Gefahr, Opfer von Repressionen durch die SNA zu werden. Zudem sind Frauen besonders vulnerabel bei willkürlichen Enteignungen und können durch bestehende Diskriminierungsmuster nur unter großen Schwierigkeiten Entschädigungen einfordern. Darüber hinaus geht SNA besonders rigoros gegen zivilgesellschaftliche Akteure vor, die sich zu Genderthemen äußern und auf sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam machen (AA 29.3.2023). Dazu kamen Berichte aus Afrin über die Auferlegung strenger Bekleidungsvorschriften für Frauen und Mädchen und die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit sowie die Belästigung durch Mitglieder der bewaffneten Gruppen, insbesondere beim Passieren von Kontrollpunkten (UNCOI 15.8.2019). Die Angst vor Entführung und sexueller Gewalt wird als ein wichtiger Faktor genannt, der die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen auch in den türkischen Einflussgebieten einschränkt, wobei auch die Angst vor Schande und Stigmatisierung im Zusammenhang mit sexueller Belästigung eine Rolle spielt (UNPFA 10.3.2019) Anmerkung, siehe auch weiter unten).
Ungefähr 12.715 Personen bestehend aus verwitweten und geschiedenen Frauen und Mädchen leben mit ihren Kindern in 42 Witwenlagern, was ihrem Schutz und dem Erhalt ihrer 'Ehre' dienen soll, aber ihre Isolierung basiert auf der Einstellung, dass unverheiratete Frauen Schande über ihre Familie bringen (UNPFA 28.3.2023).
Häusliche Gewalt und Gewalt in der Familie und an öffentlichen Orten sowie Umgang mit Gewaltopfern
Die meisten Fälle von 'Ehrenmorden' stehen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt, aber nicht notwendigerweise mit Vergewaltigung: In einigen Fällen sind es Belästigungen oder Übergriffe auf der Straße oder in anderen Fällen die Annahme, dass während der Entführung/Gefangenschaft sexuelle Gewalt stattgefunden habe (UNFPA 3.2019). Ehemalige weibliche Häftlinge leiden unter psychischen Problemen, in vielen Fällen unter schweren körperlichen Verletzungen durch Gewalt, einschließlich gynäkologischer Verletzungen durch sexuelle Gewalt, und unter gesundheitlichen Problemen wie Lungenentzündung und Hepatitis. Darüber hinaus ist die Annahme weit verbreitet, dass weibliche Häftlinge sexuelle Gewalt erfahren haben, was von der Familie und der Gemeinschaft als Schande für die Würde und Ehre des Opfers empfunden werden kann. Diese Stigmatisierung kann Berichten zufolge zu sozialer Isolation, Ablehnung von Arbeitsplätzen, Scheidung, Verstoßung durch die Familie und sogar zu 'Ehrenmorden' führen (UNFPA 11.2017). So bleibt die Gefahr von 'Ehrenmorden' durch Familienmitglieder einer der Gründe, warum sexuelle Gewalt nicht in vollem Ausmaß berichtsmäßig erfasst ist. Tausende Überlebende von Gewalt, sexueller Ausbeutung und Zwangsheiraten wurden von ihren Familien verstoßen (USDOS 20.3.2023). Eltern oder Ehemänner verstoßen oftmals Frauen, die während der Haft vergewaltigt wurden oder wenn eine Vergewaltigung auch nur vermutet wird (STDOK 8.2017). Frühe und erzwungene Heiraten kommen auch besonders bei Binnenvertriebenen vor, weil die Familien die Ehe unter anderem als Schutz vor der verbreiteten sexuellen Gewalt wahrnehmen (FH 9.3.2023).
Darüber hinaus stellt die Angst vor sozialer Stigmatisierung oder vor der Polizei ein Hindernis für die Anzeige von sexueller Gewalt dar. Einflussreiche Beziehungen der Frau oder des Täters spielen eine große Rolle bezüglich der Wirksamkeit einer solchen Anzeige. Es besteht die Gefahr, dass die Frau beschuldigt wird. Wenn sie einen Vorfall anzeigt - in der Regel gegen ihren Ehemann - ist der soziale Druck, die Anzeige zurückzuziehen, enorm. Es heißt daher, dass Frauen versuchen, häusliche Gewalt innerhalb der Familie zu klären. Welche Hilfe tatsächlich geleistet wird, hängt jedoch von ihrer Familie ab (NMFA 5.2022)
Berichten zufolge kam es seit 2011 zu einem Anstieg an 'Ehrenmorden' infolge des Konfliktes (USDOS 12.4.2022). Drei Organisationen dokumentieren zusammen von 2019 bis November 2022 insgesamt 185 'Ehrenmorde' (USDOS 20.3.2023). Laut dem niederländischen Außenministerium ist es jedoch nicht möglich, das konkrete Ausmaß an Blutfehden und 'Ehrenmorden' in Syrien in absoluten Zahlen auszudrücken. Dass diese vorkommen, wird aber von zahlreichen Quellen und Beispielen aus dem Berichtszeitraum [Anm.: Mai 2021 bis Mai 2022] belegt. Eine Quelle stellt zudem fest, dass sie hauptsächlich in Gebieten vorkommen, in denen Stämme eine wichtige Rolle spielen, wie z. B. in Suweida und im Nordosten, aber auch, dass sie nicht auf eine spezifische ethnische Gemeinschaft beschränkt sind (NMFA 5.2022).
Insbesondere Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sind einem erhöhten Risiko sexueller Gewalt ausgesetzt. Darüber hinaus sind unbegleitete Mädchen, Waisen oder solche, die bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern leben, Berichten zufolge von sexueller Gewalt bedroht. Syrische Mädchen, die für den UNFPA-Bericht 2017 befragt wurden, berichteten von einem besonderen Risiko sexueller Gewalt auf dem Weg zur oder von der Schule, und diese Risiken sollen oft der Hauptgrund dafür sein, dass Mädchen entweder die Schule abbrechen oder von ihren Eltern aus der Schule genommen werden (UNFPA 11.2017). Für aktuelle Beispiele hierzu siehe UNFPA vom 28.3.2023.
Anzeige und Strafverfolgung
Eine Anzeige wegen sexueller Gewalt in Syrien muss durch ein medizinisches Gutachten eines Gerichtsmediziners untermauert werden, aus dem die Schwere der körperlichen Verletzung hervorgeht. Dieses Verfahren sowie soziale Normen und Stigmata machen es Frauen, die missbraucht wurden, schwer, Hilfe zu suchen (NMFA 6.2021). Zudem besteht das Risiko, dass man ihr die Schuld für das Vorgefallene gibt (NMFA 5.2022). Die Anzeige von Gewalt durch Regierungsbeamte ist noch schwieriger, weil sie rechtlich gegen Anklagen für Handlungen geschützt sind, die sie im Rahmen ihrer Arbeit vornehmen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand es wagen würde, Sicherheitsbeamte wegen Gewaltanwendung trotz der Angst vor Verschwindenlassen, der Verhaftung oder der Anschuldigung des Terrorismus anzuzeigen (NMFA 6.2021). Obwohl Vergewaltigung außerhalb der Ehe strafbar ist, setzt die Regierung diese Bestimmungen nicht wirksam um. Darüber hinaus kann der Täter eine Strafminderung erhalten, wenn er das Opfer heiratet, um das soziale Stigma der Vergewaltigung zu vermeiden. Dem stimmen manche Familien wegen des sozialen Stigmas durch Vergewaltigungen zu (USDOS 20.3.2023). Eine Frau in Furcht vor einem 'Ehrverbrechen' kann keinen Schutz von den Behörden wie etwa in Form eines Frauenhauses erwarten. Ihre Optionen für eventuellen Schutz hängen gänzlich von ihren persönlichen und gesellschaftlichen Umständen ab (NMFA 5.2022), denn offizielle Mechanismen zum Schutz von Frauenrechten funktionieren Berichten zufolge nicht (FH 9.3.2023).
Die Tatsache, dass es sich bei einem Mord aus Anlass angeblicher 'illegitimer sexueller Handlungen' um einen 'Ehrenmord' handelt, wird aus rechtlicher Sicht seit März 2020 nicht mehr als mildernder Umstand als Motiv für einen Mord oder eine Körperverletzung an der Ehefrau oder nahen weiblichen Verwandten anerkannt. Allerdings bleiben andere Gesetze statt des Artikels 548 des Strafgesetzes in Kraft, welche trotzdem eine Strafmilderung erlauben (HRW 12.1.2023). Es kommt nur zu wenigen Strafverfolgungen wegen Mordes oder versuchten Mordes aus Gründen der 'Ehre' (NMFA 5.2022). Auch können sich Vergewaltiger durch die Heirat des Opfers vor Strafe schützen (FH 9.3.2023).
Bei 'Ehrverbrechen' in der Familie - meist gegen Frauen - besteht laut deutschem Auswärtigen Amt kein effektiver staatlicher Schutz (AA 29.3.2023). Es gibt zwar Frauenhäuser in verschiedenen Gegenden des Landes, aber diese sind vor allem für Witwen und geschiedene Frauen gedacht. Auch ist die Suche nach Zuflucht schwierig, denn die Schutz suchenden Frauen müssen in ein anderes Gebiet umziehen und den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen. Es gibt zwar Organisationen zur Unterstützung von Frauen in Not, aber die Dauer des Schutzes hängt von der Laufzeit des Projekts ab. Die Wahrscheinlichkeit ist nach Einschätzung des niederländischen Außenministeriums groß, dass die Frauen zu ihren Familien zurückkehren müssen (NMFA 5.2022). Die Finanzierung von Projekten gegen geschlechtsbasierte Gewalt ging im Jahr 2022 zurück - mit Auswirkungen auf die Sicherheit von Frauen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023).
Kinder
Das Kinderschutzgesetz, Gesetz Nr. 21 von 2021, wurde im August 2022 veröffentlicht und ist das erste seiner Art in Syrien. Es soll die Kinder schützen, versorgen und die wissenschaftliche, kulturelle, psychologische und soziale Rehabilitation aller Kinder sicherstellen. Demnach hat der syrische Staat die Pflicht, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte von Kindern zu gewährleisten (OSS 18.1.2023).
Unverändert kommt es in Syrien regelmäßig zu schwersten Verletzungen der Rechte von Kindern (AA 29.3.2023). Im Jahr 2022 wurden nach Angaben von Syrian Network for Human Rights (SNHR) mindestens 251 Kinder bei Kampfhandlungen getötet. Auch die NGO War Child geht alleine in Nordsyrien von rund 1.800 relevanten Fällen von Gewalt gegen Kinder bzw. rund 1.664 getöteten Kindern seit 2015 aus (Stand August 2022). 89 % dieser Todesfälle sind demnach auf aktive Konflikthandlungen zurückzuführen. Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic - UNCOI dokumentiert in ihrem Bericht von September 2022 ebenfalls eine Vielzahl von erneuten, teils tödlichen Angriffen u. a. auf Kinder, vor allem durch wahllosen Beschuss ziviler Infrastruktur im Nordwesten des Landes durch das Regime und seine Verbündeten sowie durch Gefechte zwischen türkischen Kräften, bzw. Syrian National Army (SNA), und kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) im Nordosten, daneben aber auch gezielte gewalttätige Übergriffe gegen Kinder von HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) im Nordwesten (AA 29.3.2023). Im Jahr 2021 wurden 301 Kinder durch syrische Regierungskräfte in Oppositionsgebieten getötet. Zwischen dem Jahr 2011 und März 2022 wurden 22,941 Kinder durch Regierungskräfte getötet (OSS 18.1.2023).
Zu weiteren Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder zählten insbesondere die Rekrutierung und der Einsatz von Kindersoldaten, Inhaftierung und Folter, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Kinder, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser sowie die Verweigerung humanitärer Hilfsleistungen (AA 29.3.2023). 6.358 Kinder befinden sich weiterhin in Gefangenschaft oder sind in Regierungsgefängnissen 'verschwunden' worden. Im Jahr 2021 wurden 48 neue Inhaftierungen von Kindern durch Regierungskräfte verzeichnet (OSS 18.1.2023). Für das Jahr 2022 dokumentierte SNHR willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen von 148 Kindern (AA 29.3.2023).
Die Anzahl der Kinder unter den Binnenvertriebenen wächst weiterhin - mit Stand Februar 2022 2,4 Millionen Kinder, von denen ungefähr eine Million in Ansiedlungen und Lagern lebte (USDOS 20.3.2023) Anmerkung, Siehe dazu auch der Abschnitt Binnenvertriebene (IDPs) und Flüchtlinge im Kaptiel Bewegungsfreiheit!)
Staatsbürgerschaft und Geburtsregistrierung
Kinder leiten die Staatsbürgerschaft ausschließlich von ihrem Vater ab (USDOS 20.3.2023).
In weiten Teilen des Landes, in denen die Standesämter nicht funktionieren, registrieren Behörden Geburten oft nicht (USDOS 20.3.2023), obwohl das neue Kinderrechtsgesetz jedem Kind das Recht auf eine Staatsangehörigkeit garantiert (NMFA 5.2022). Das Regime registriert auch keine Geburten kurdischer Einwohner, die nicht die syrische Staatsbürgerschaft besitzen Anmerkung, zu den staatenlosen Kurden 'ajanib' und 'maktumeen' siehe auch Kapitel Kurden). Die Nichtregistrierung führt zur Vorenthaltung von Dienstleistungen, wie z. B. Ausstellung von Zeugnissen für sekundäre Schulbildung, Zugang zu Universitäten, Zugang zu formeller Beschäftigung sowie zu Dokumenten und Schutz (USDOS 20.3.2023).
Bildung und Schulen
Laut dem Kinderschutzgesetz haben Kinder ein Recht auf Bildung (OSS 18.1.2023). Für alle Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren besteht Schulpflicht. Der Anteil an Einschulungen, Unterrichtsteilnahme und Schulabschlüssen war zwischen Buben und Mädchen vergleichbar (USDOS 20.3.2023).
Mindestens 2,4 Millionen von 6,1 Millionen Kindern in Schulalter gehen in Syrien nicht zur Schule und eine von drei Schulen ist beschädigt, zerstört oder wird zweckentfremdet genutzt - auch für militärische Zwecke (HRW 12.1.2023). Kombattanten aller Seiten greifen regelmäßig Schulen an oder requirierten die Schulgebäude (FH 9.3.2023, zu besonderen Sicherheitsherausforderungen für Mädchen vergleiche UNFPA 28.3.2023). SNHR’ verzeichnete im Jahr 2022 mindestens zwei Angriffe auf Bildungseinrichtungen (Schulen, Kindergärten) in Idlib durch Regierungskräfte. Im Jahr 2021 waren es 13 Angriffe gewesen (SNHR 17.1.2023).
Wiederholte Angriffe auf Schulen, ökonomische Faktoren wie Kinderarbeit, die Rekrutierung von Buben für militärische Aufgaben und die Inhaftierung von Kindern behindern weiterhin die Möglichkeiten von Kindern, eine Ausbildung zu erhalten. Außerdem benötigen viele Schulen massive Reparaturarbeiten, einschließlich der Räumung von nicht-detonierten Explosivstoffen des Krieges. Überdies brauchen die Schulen Hilfe bei der Beschaffung einer Basisausstattung mit Lernmaterialien (USDOS 20.3.2023), darunter auch die wiedereröffneten Schulen in zuvor vom sogenannten Islamischen Staat (IS) gehaltenen Gebieten, die von den Syrian Democratic Forces erobert wurden (USDOS 30.3.2021).
Laut UNOCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) kommt in Idlib, dem Gebiet anhaltender bewaffneter Zusammenstöße, ein funktionierender Klassenraum auf 178 Schulkinder. Viele Schulen bedürfen dort großer Reparaturen, manchmal auch der Entfernung nicht-detonierter Explosivstoffe. Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) zwingt ihre Interpretation der Scharia den Schulen auf, und diskriminiert Mädchen im HTS-Gebiet. Im September 2022 wurde den Aussagen von SchuldirektorInnen zufolge verheirateten Studentinnen der Besuch von öffentlichen Schulen und Universitäten untersagt. HTS auferlegt zudem Lehrerinnen und Schülerinnen Kleidervorschriften, wo es den Mädchen erlaubt, weiterhin zur Schule zu gehen. Große Zahlen von Mädchen werden durch HTS am Schulbesuch gehindert (USDOS 20.3.2023).
Neben dem Bombardieren von Bildungseinrichtungen in Gebieten außerhalb seiner Kontrolle und dem Gebrauch einer Anzahl an Bildungseinrichtungen für militärische Zwecke wird auch der Lehrplan für Regimezwecke eingesetzt, sodass die Lehrinhalte die Assad-Herrschaft unterstützen. So sind die Schulkinder automatisch in zwei politischen Organisationen eingeschrieben und müssen in öffentlichen Schulen jeden Tag die Parteislogans rezitieren, und werden in den Aussagen des Regimes unterrichtet (SNHR 17.1.2023). Auch militante islamistische Gruppen und die PYD (Kurdish Democratic Union Party) haben Bildungssysteme in ihren jeweiligen Gebieten eingerichtet, die eine durchdringende politische Indoktrinierung beinhalten (FH 9.3.2023). Im letzteren Fall werden von den Syrian Democratic Forces Strafen gegen MitarbeiterInnen der Schulverwaltung verhängt, wenn diese nicht ihren (PYD-)Lehrplan verwenden (USDOS 20.3.2023).
Die Lage von Kindern mit Behinderungen
Kinder mit Behinderungen sind unzähligen Schikanen ausgesetzt, darunter größeren Risiken bei Angriffen, einem Mangel an Zugang zu Basisdienstleistungen, die sie brauchen würden - einschließlich Gesundheitsversorgung, Hilfsdiensten und Bildung. Humanitäre Projekte haben es laut Einschätzung von Human Rights Watch nicht geschafft, ausreichend die Bedürfnisse und Rechte von Kindern mit Behinderungen zu erfüllen (HRW 12.1.2023).
Kinder-, Früh- und Zwangsehe
Das gesetzliche Heiratsalter beträgt dem neuen Gesetz zufolge allgemein 18 Jahre (OSS 18.1.2023). Buben im Alter von 15 Jahren oder Mädchen im Alter von 13 Jahren können heiraten, wenn ein Richter beide Parteien für willig und 'körperlich reif' erklärt, und die Väter oder Großväter beider Parteien zustimmen. Früh- und Zwangsehen sind immer häufiger anzutreffen, insbesondere in Gebieten unter Kontrolle bewaffneter Gruppen. Die Heiraten werden aus Angst vor Haft und Wehrdienst oft nicht offiziell registriert. Die Verschlechterung der Wirtschaftslage sowie der Tod oder das Verschwinden des männlichen Haushaltsvorstands durch das Regime oder andere bewaffnete Gruppen wirken sich negativ auf die Kinder durch steigende Kinderarbeit und Kinderheiraten aus. Berichten zufolge arrangierten viele Familien die Verheiratung von Mädchen in jüngerem Alter, als dies vor Ausbruch des Konflikts üblich war, in dem Glauben, dass dies die Mädchen schützen und die finanzielle Belastung der Familie verringern würde. Es gibt Fälle von Früh- und Zwangsverheiratung von Mädchen mit Mitgliedern des Regimes, der regimenahen Kräfte und der bewaffneten Opposition (USDOS 20.3.2023).
[…]
Kindesmisshandlung und -missbrauch
Das Gesetz verbietet Kindesmisshandlung nicht ausdrücklich. Es sieht vor, dass Eltern ihre Kinder in einer Form disziplinieren können, die nach allgemeinem Brauch zulässig ist (USDOS 20.3.2023). Regierungstruppen setzen die Vergewaltigung von Kindern als "Kriegswaffe" ein und missbrauchen Kinder von Oppositionellen in Gefängnissen, an Kontrollpunkten und bei Hausdurchsuchungen systematisch und komplett ungestraft. Einem befragten Unteroffizier zufolge machten sie bei der Inhaftierung keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Minderjährigen, selbst in Fällen, in denen Folter angewendet wurde. Kinder werden absichtlich mit Erwachsenen zusammen eingesperrt, weshalb es auch zu Vergewaltigungen durch andere Gefangene kommt (ZI 2.7.2017). Regimemitarbeiter folterten Berichten zufolge Kinder auch wegen ihrer familiären Verbindungen - real oder angenommen - mit MenschenrechtsaktivistInnen und mit anderen AktivistInnen (USDOS 20.3.2023).
NGOs berichteten ausführlich über Regime- und regimefreundliche Kräfte sowie HTS und IS, die Kinder sexuell missbrauchen, foltern, festhalten, töten und anderweitig misshandeln. Die HTS hat Kinder in den von ihr kontrollierten Gebieten extrem hart bestraft und auch hingerichtet. Das gesetzliche Alter für die sexuelle Mündigkeit liegt bei 15 Jahren, wobei es keine Ausnahmeregelung für Minderjährige gibt. Vorehelicher Sex ist illegal, aber Beobachter berichteten, dass die Behörden das Gesetz nicht durchsetzen. Die Vergewaltigung eines Kindes unter 15 Jahren wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 21 Jahren und Zwangsarbeit bestraft. Es gab keine Berichte über die strafrechtliche Verfolgung in Vergewaltigungsfällen von Kindern durch das Regime (USDOS 20.3.2023).
Zwischen März 2011 und März 2023 dokumentierte SNHR den Tod von mindestens 15.272 Personen durch Folter, darunter 197 Kinder, durch die Konfliktparteien in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,47 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 3.2023):
Kinderarbeit und Nahrungsmittelversorgung
Das Gesetz sieht den Schutz von Kindern vor Ausbeutung am Arbeitsplatz vor und verbietet die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Es gab nur wenige öffentlich zugängliche Informationen über die Durchsetzung des Kinderarbeitsgesetzes. Das Regime unternahm keine nennenswerten Anstrengungen zur Durchsetzung von Gesetzen, die Kinderarbeit verhindern oder beseitigen. Das Mindestalter für die meisten nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten beträgt 15 Jahre oder den Abschluss der Grundschule, je nachdem, was zuerst eintritt. Das Mindestalter für die Beschäftigung in Industrien mit schwerer Arbeit beträgt 17 Jahre. Für die Beschäftigung von Kindern unter 16 Jahren ist die Erlaubnis der Eltern erforderlich. Kinder, die jünger als 18 Jahre sind, dürfen nicht mehr als sechs Stunden pro Tag arbeiten und keine Überstunden leisten oder in Nachtschichten, an Wochenenden oder offiziellen Feiertagen arbeiten. Das Gesetz sieht vor, dass die Behörden bei Verstößen "angemessene Strafen" verhängen sollen. Es gab jedoch keine Informationen, aus denen hervorging, welche Strafen angemessen waren. Die Beschränkungen für Kinderarbeit gelten nicht für Personen, die in Familienbetrieben arbeiten und kein Gehalt erhalten (USDOS 12.4.2022).
Kinderarbeit gibt es in Syrien sowohl in informellen Sektoren, einschließlich Betteln, Hausarbeit und Landwirtschaft, als auch in Positionen, die mit dem Konflikt zu tun haben, z. B. als Aufpasser, Spione und Informanten. Bei konfliktbezogener Arbeit sind Kinder erheblichen Gefahren durch Vergeltung und Gewalt ausgesetzt. Organisierte Bettelringe setzen die innerhalb des Landes vertriebenen Kinder weiterhin der Zwangsarbeit aus (USDOS 12.4.2022). Viele bewaffnete Gruppen rekrutieren Kinder als Soldaten. Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonders vulnerabel bezüglich sexueller und Arbeitsausbeutung sowie Menschenhandel (FH 9.3.2023).
Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 im Jahr 2022 auf 609.979 im Jahr 2023. Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zwischen sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Rund 70 % der Bevölkerung macht von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Etwa 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 % der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023). Kinder als Straßenverkäufer oder auf Müllhalden wurden mit der anhaltenden Verschlechterung der Lebensbedingungen aller syrischen Familien ein regelmäßiger Anblick, weil Hunderttausende von Familien unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch kam es zu einer Zunahme an obdachlosen Kindern, die allen Formen der Ausbeutung ausgesetzt sind (SNHR 20.11.2021).
Nicht-explodierte Kampfmittelrückstände, Landminen etc. als besondere Gefahr für Kinder
Das United Nations Mine Action Service (UNMAS) bezeichnet das Ausmaß, die Schwere und die Komplexität der Bedrohung durch Sprengstoffe in Syrien nach wie vor als ein großes Schutzproblem, das die humanitäre Krise und die Gefährdung der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten verschärft (UNMAS 9.2022). Insgesamt wurden seit 2011 3.353 ZivilistInnen, darunter 889 Kinder, durch Anti-Personen-Landminen getötet (SNHR 4.4.2023). 1.435 SyrerInnen, darunter 518 Kinder, starben bisher durch Streumunition und ihre Überreste, die von den syrischen Streitkräften und Russland eingesetzt wurden (SNHR 30.1.2023).
Die Überreste der Waffen, die das syrische Regime und seine Verbündeten bei der massiven und wahllosen Bombardierung der nicht von ihnen kontrollierten Gebiete eingesetzt haben, und die es in jeder Form, Art und Größe gibt, gehören zu den größten Gefahren, die das Leben der Zivilbevölkerung und insbesondere der Kinder bedrohen - auch in Hinkunft. An erster Stelle stehen die Überreste von Streumunition, die in großem Umfang und wahllos eingesetzt wurde; die Submunition oder "Bomblets" dieser Waffen sind über große Gebiete verteilt, nachdem sie durch die erste Explosion nach dem Einschlag des Hauptsprengkörpers weiträumig verstreut wurden, wobei zwischen 10 % und 40 % dieser "Bomblets" nicht explodiert sind und daher eine tödliche Gefahr darstellen. Diese Submunition, die in großer Zahl auf landwirtschaftlichen Flächen, in den Ruinen von Städten und Dörfern und sogar in Flüchtlingslagern verstreut ist, ist in der Regel gut versteckt und kann jederzeit explodieren, weil sie durch jede noch so kleine Bewegung ausgelöst wird. Landminen, die von allen Konfliktparteien gelegt wurden, stellen in dieser Kategorie nach Streumunition die zweitgrößte tödliche Bedrohung dar. Die Überreste dieser Waffen haben zahlreiche zivile Opfer gefordert, vor allem unter Kindern, die am stärksten gefährdet sind, weil sie die Überreste nicht identifizieren oder ihre Gefahr nicht erkennen können. Diejenigen Kinder, welche durch die Explosionen dieser Überreste verletzt wurden, haben oft Gliedmaßen verloren oder sind anderweitig dauerhaft behindert und müssen für den Rest ihres Lebens mit diesen Beeinträchtigungen leben (SNHR 20.11.2021).
Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).
Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 % der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).
Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 15.5.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).
Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z.B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 15.5.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 29.3.2023). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).
Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (FP 1.2.2023).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte 'Versöhnungskarte' vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019). Es gibt keine Rechtssicherheit, und die Gefahr, Opfer staatlicher Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).
Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.1.2019). Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).
Ausländischen DiplomatInnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) - wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (USDOS 20.3.2023).
Betreten und Verlassen des Regimegebiets
Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).
Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).
Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung Anmerkung, mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung Anmerkung, mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022).
Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen - landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (NMFA 5.2022).
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern. Die Kosten für einen Reisepass von 800 bis 2.000 USD macht diesen für viele unerschwinglich. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).
Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023) Anmerkung, Bzgl. der Schließung von zivilen Flughäfen wegen israelischer Luftangriffe siehe auch Kapitel Sicherheitslage). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise für mehrere Wochen eingestellt werden (AA 29.3.2023).
[…]
Rückkehr
Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).
Anmerkung, Zur Sammlung nachrichtendienstlicher Informationen im Zuge von Dokumentenanträgen an syrischen Botschaften inklusive Bedingung der Offenlegung des Aufenthaltstitels siehe AFBs zu den jeweiligen Dokumenten. Für grundsätzliche Informationen siehe: BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Syrien: SYRI_SM_Sammlung von Personendaten für nachrichtendienstliche Zwecke 2019_11_04_KE
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 % (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022) Anmerkung, bzgl. Abfrage derartiger Daten bei Verhören siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).
EASO-Leitfaden: Syrien vom November 2021
Allgemeine Anmerkungen, einschließlich der Auswirkungen einer Ausreise aus Syrien
Im Laufe des Krieges wurde Syrien zum Schauplatz einer Reihe von Konflikten, die nicht klar voneinander abzugrenzen sind und an denen zahlreiche syrische und internationale Akteure beteiligt sind. Im Wesentlichen sind diese Konflikte durch drei Komponenten geprägt: die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der syrischen Regierung und den oppositionellen Streitkräften, die Bemühungen der von den USA geführten Koalition um die Zerschlagung des IS und die militärischen Operationen der türkischen Streitkräfte gegen die syrischen Kurden. Komplexe Allianzen, wechselnde Loyalitäten, Rivalitäten und widerstreitende Interessen der beteiligten Akteure beeinträchtigen nach wie vor das Machtgleichgewicht und sorgen für Unsicherheit.
Seit Beginn des Konflikts wurden hunderttausende Zivilpersonen getötet – die meisten internationalen Sachverständigen schätzen die Zahl der zivilen Opfer auf 500 000 Menschen. Darüber hinaus löste der Konflikt die weltweit schwerste Vertreibungskrise aus. Schätzungen zufolge sind etwa 5,6 Millionen Syrer aus dem Land geflohen. Hinzu kommen weitere 6 Millionen Binnenvertriebene, die innerhalb Syriens auf der Flucht sind.
Während des Bezugszeitraums trugen mehrere Faktoren zu einer erheblichen Verschlechterung der sozioökonomischen Lage in Syrien bei, darunter die Finanzkrise im benachbarten Libanon, internationale Wirtschaftssanktionen und die COVID-19-Pandemie. Des Weiteren führte unter anderem die wirtschaftliche Situation zu einer rapiden Verschlechterung der humanitären Lage im Land.
Da die Zivilbevölkerung Syriens von zahlreichen Akteuren vorsätzlich ins Visier genommen wird und mit willkürlicher Gewalt verbundenen Gefahren ausgesetzt ist, wird sie massiv in Mitleidenschaft gezogen. Bei der individuellen Prüfung des Bedarfs an internationalem Schutz sollten auch die Präsenz und die Aktivitäten unterschiedlicher Akteure im Heimatgebiet des Antragstellers sowie die Situation in den Gebieten berücksichtigt werden, durch die der Antragsteller reisen müsste, um in sein Heimatgebiet zu gelangen. Darüber hinaus ist der sich kontinuierlich ändernden Sicherheitslage im Land Rechnung zu tragen. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass in manchen Fällen, in denen ein Bedarf an internationalem Schutz festzustellen wäre, mögliche Ausschlussgründe eine Rolle spielen könnten.
Die Tatsache, dass eine Person Syrien verlassen hat, bedeutet normalerweise für sich genommen nicht, dass für sie eine hinreichend große Gefahr besteht, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. In den meisten Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht wird, steht diese im Zusammenhang mit Umständen, die anderen in diesem Leitfaden behandelten Profilgruppen zuzuordnen sind, insbesondere der Gruppe der „Vermeintlich regierungsfeindlichen Personen“. Mitunter ist es jedoch auch denkbar, dass Rückkehrer Handlungen ausgesetzt sind, die aufgrund ihrer Schwere einer Verfolgung gleichkommen (z. B. Haft, Folter) und bei denen möglicherweise ein Zusammenhang mit einem Verfolgungsgrund nachgewiesen werden kann. Kann kein solcher Zusammenhang glaubhaft gemacht werden, könnten die Folgen einer Ausreise aus Syrien mit Blick auf die Gewährung subsidiären Schutzes relevant sein. Sie sollten auch bei der Prüfung der Bereitschaft der syrischen Regierung, Schutz im Sinne von Artikel 7 QRL zu gewähren, sowie bei der Prüfung der internen Schutzalternative berücksichtigt werden.
Flüchtlingseigenschaft: Orientierungshilfen zu bestimmten Profilgruppen
Im Folgenden werden Orientierungshilfen für bestimmte Profilgruppen von Antragstellern formuliert, die auf deren persönlichen Merkmalen oder ihren Verbindungen zu einer bestimmten (z. B. politischen, ethnischen, religiösen) Gruppe basieren.
Jeder Antrag ist individuell zu prüfen. Dabei sollten die individuellen Umstände des Antragstellers sowie die relevanten Herkunftsländerinformationen berücksichtigt werden. Bei dieser Prüfung können beispielsweise die folgenden Faktoren eine Rolle spielen:
● Heimatgebiet des Antragstellers, Anwesenheit eines Akteurs, von dem eine Verfolgung ausgehen kann, und dessen Fähigkeit, eine bestimmte Person ins Visier zu nehmen;
● Art der Handlungen des Antragstellers (d. h. die Frage, ob sie abgelehnt werden und/oder ob Personen, die diese Handlungen ausführen, für den Akteur, von dem die Verfolgung ausgeht, ein vorrangiges Ziel darstellen);
● Sichtbarkeit des Antragstellers (d. h. die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Antragsteller dem Akteur, von dem eine Verfolgung ausgehen kann, bekannt ist oder von diesem identifiziert werden könnte); es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller von dem Akteur, von dem die Verfolgung ausgehen kann, nicht individuell identifiziert werden muss, sofern seine Furcht vor Verfolgung begründet ist;
● Möglichkeiten des Antragstellers, eine Verfolgung zu vermeiden (z. B. Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten);
● usw.
Profilgruppen
Die Schlussfolgerungen zu den einzelnen Profilgruppen sind unbeschadet der die Aussagen des Antragstellers betreffenden Glaubwürdigkeitsprüfung zu verstehen.
Vermeintlich regierungsfeindliche Personen
● Angehörige regierungsfeindlicher bewaffneter Gruppen
Gefährdungsanalyse: Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen werden kann.
Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung.
Bei dieser Teilprofilgruppe könnten auch mögliche Gründe für einen Ausschluss relevant sein.
● Vermeintlich regierungsfeindliche politische Aktivisten, Mitglieder der Oppositionsparteien und Demonstranten
Gefährdungsanalyse: Bei vermeintlich regierungsfeindlichen Personen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen werden kann. Die Tatsache, dass eine Person in der Vergangenheit an einer Demonstration teilgenommen hat, reicht für sich genommen nicht aus, um sie dieser Teilprofilgruppe zuzuordnen.
Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung.
● Zivilpersonen aus Gebieten, die mit der regierungsfeindlichen Opposition in Verbindung gebracht werden
Gefährdungsanalyse: Nicht für alle Personen dieser Teilprofilgruppe besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein:
o regionale Aspekte (z. B. von wem das Gebiet kontrolliert wird und ob es als Hochburg der Opposition galt)
o Grad der (vermeintlichen) Unterstützung von oder der Kollaboration mit regierungsfeindlichen Kräften
o familiäre oder andere Verbindungen zu (mutmaßlichen) Mitgliedern regierungsfeindlicher bewaffneter Gruppen und/oder der politischen Opposition
o (vermeintliche) Unterstützung der syrischen Regierung
o usw.
Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung.
Militärdienstverweigerer und Deserteure
● Militärdienstverweigerer
Gefährdungsanalyse: Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen werden kann. Das Gesetz sieht bestimmte Ausnahmen von der Militärpflicht vor, deren Anwendung in der Praxis jedoch kaum vorhersehbar ist.
Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung und/oder Religion (bei Personen, die den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigern).
● Deserteure und Überläufer
Gefährdungsanalyse: Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen werden kann.
Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung und/oder Religion (bei Personen, die den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigern).
Bei dieser Teilprofilgruppe könnten auch mögliche Gründe für einen Ausschluss relevant sein.
Personen mit vermeintlichen Verbindungen zum ISIL
● Gefährdungsanalyse für vermeintliche Mitglieder des ISIL und Personen mit vermeintlichen familiären Bindungen zu Mitgliedern des ISIL: Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen werden kann.
● Gefährdungsanalyse für Zivilpersonen, die in vom ISIL kontrollierten Gebieten gelebt haben: Nicht für alle Personen dieser Teilprofilgruppe besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. Bei der individuellen Prüfung der Frage, ob der Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung ausgesetzt wäre, sollten die für die Gefährdung maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden, darunter insbesondere der Grad seiner vermeintlichen Unterstützung des ISIL.
Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung.
Mitglieder und vermeintliche Kollaborateure von SDF und YPG
● Gefährdungsanalyse für Gebiete, in denen die SNA aktiv ist: Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen werden kann.
● Gefährdungsanalyse für kurdisch kontrollierte Gebiete: Nicht für alle Personen dieser Profilgruppe besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein:
o regionale Gegebenheiten (Gebiete, in denen der ISIL weiterhin aktiv ist)
o Sichtbarkeit des Antragstellers
o Position innerhalb der Gemeinschaft
o Art der Aktivitäten der Person
o öffentliche Unterstützungsbekundungen für die SDF/YPG oder Verurteilung der Aktionen des ISIL
o usw.
Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung.
Im Falle einer Verfolgung durch die SNA ist ein weiterer Zusammenhang möglich: Rasse/Nationalität.
Vermeintlich SDF/YPG-feindliche Personen
● Gefährdungsanalyse: Nicht für alle Personen dieser Profilgruppe besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein:
o regionale Gegebenheiten (d. h. von wem das Herkunftsgebiet des Antragstellers kontrolliert wird und ob sich der Antragsteller in einem der Binnenvertriebenenlager aufgehalten hat)
o Art der Aktivitäten und Umfang der Beteiligung an Aktivitäten, die von den SDF/YPG als gegen sie gerichtet wahrgenommen werden
o (vermeintliche) Verbindungen zum ISIL vergleiche die Profilgruppe 3. Personen mit vermeintlichen Verbindungen zum ISIL) oder zu von der Türkei unterstützten Kräften vergleiche auch 1.1 Angehörige regierungsfeindlicher bewaffneter Gruppen)
o Der Antragsteller ist den kurdischen Behörden bekannt (z. B. frühere Inhaftierung)
o usw.
Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung.
Personen, die eine Zwangsrekrutierung oder eine Rekrutierung von Kindern durch kurdische Streitkräfte fürchten
[…]
Personen mit Verbindungen zur syrischen Regierung
[…]
Journalisten, andere Medienschaffende und Bürgerjournalisten
[…]
Menschenrechtsaktivisten
[…]
Ärzte, anderes medizinisches Personal und freiwillige Helfer des Zivilschutzes
[…]
Sunnitische Araber
● Gefährdungsanalyse: Die Tatsache, dass der Antragsteller ein sunnitischer Araber ist, bedeutet normalerweise für sich genommen nicht, dass für ihn eine hinreichend große Gefahr besteht, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. In den meisten Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung nachgewiesen wird, steht diese im Zusammenhang mit Umständen, die anderen in diesem Leitfaden behandelten Profilgruppen zuzuordnen sind und beispielsweise in den Abschnitten „1. Vermeintlich regierungsfeindliche Personen“ oder „3. Personen mit vermeintlichen Verbindungen zum ISIL“ beschrieben werden. Bei der individuellen Prüfung sollten die für die Gefährdung maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden, wie etwa regionale Gegebenheiten (z. B. die Tatsache, dass der Antragsteller in einem von extremistischen Gruppen kontrollierten Gebiet gelebt hat).
Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung.
Im Falle der Verfolgung durch extremistische Gruppen auch: Religion.
Kurden, Drusen, Alawiten, Christen, Jesiden, Palästinenser
[…]
Frauen
● Gefährdungsanalyse: Nicht für alle Frauen und Mädchen besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein:
o Wahrnehmung der traditionellen Geschlechterrollen in der Familie
o niedriger sozioökonomischer Status o sozialer Status (die Gefahr sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und heranwachsende Mädchen ist größer, wenn sie keinen männlichen Beschützer haben, wie beispielsweise Witwen, geschiedene oder getrennt lebende Frauen, vertriebene Frauen und Mädchen, Frauen und Mädchen mit Behinderungen sowie weibliche Haushaltsvorstände)
o Gebiet der Herkunft oder des Wohnsitzes (z. B. im Zusammenhang mit der Präsenz extremistischer Gruppen)
o fehlende Personenstands- oder Identitätsdokumente (z. B. Sterbeurkunde des Ehemannes)
o usw. Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung (z. B. im Falle einer vermeintlichen Verbindung zu einer regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppe), Religion (z. B. bei einer Verfolgung durch extremistische Gruppen) und/oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (siehe die unten stehenden Beispiele).
[…]
● Alleinstehende Frauen und von Frauen geführte Haushalte: Gefährdungsanalyse: Nicht für alle Frauen dieser Teilprofilgruppe besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein:
o Personenstand
o Gebiet der Herkunft und des Wohnsitzes
o Wahrnehmung der traditionellen Geschlechterrollen in der Familie oder der Gemeinschaft
o wirtschaftliche Situation
o Verfügbarkeit von Personenstands- oder Identitätsdokumenten
o Bildung, usw.
o Möglicher Zusammenhang: Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (z. B. geschiedene Frauen oder Witwen).
Minderjährige
Gewalt gegen Minderjährige: Überblick Gefährdungsanalyse: Nicht für alle Minderjährigen besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein: o vermeintliche Zugehörigkeit von Familienangehörigen zur Opposition oder zu regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen vergleiche 1. Vermeintlich regierungsfeindliche Personen, 3. Personen mit vermeintlichen Verbindungen zum ISIL) o niedriger sozioökonomischer Status (z. B. Unterkunft in einem Binnenvertriebenenlager) o sozialer Status (für von ihren Eltern getrennte und unbegleitete Minderjährige sowie für Kinder in von Frauen geführten Haushalten besteht eine größere Gefahr, Opfer von sexueller Gewalt und Ausbeutung zu werden) o Gebiet der Herkunft oder des Wohnsitzes o fehlende Personenstands- oder Identitätsdokumente o Religion o usw. Möglicher Zusammenhang: (zugeschriebene) politische Überzeugung (z. B. im Falle einer vermeintlichen Verbindung zu einer regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppe), Religion (z. B. bei einer Verfolgung durch extremistische Gruppen) und/oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (siehe die unten stehenden Beispiele).
Rekrutierung von Kindern Gefährdungsanalyse: Nicht für alle Minderjährigen besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung in Form der Rekrutierung von Kindern festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein: o niedriger sozioökonomischer Status (z. B. Unterkunft in einem Binnenvertriebenenlager) o sozialer Status o Gebiet der Herkunft oder des Wohnsitzes o ethnische Zugehörigkeit o usw. Möglicher Zusammenhang: Die individuellen Umstände des Antragstellers müssen berücksichtigt werden. * Vgl. auch 6. Personen, die eine Zwangsrekrutierung oder eine Rekrutierung von Kindern durch kurdische Streitkräfte fürchten.
Kinderarbeit Gefährdungsanalyse: Nicht für alle Minderjährigen besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung im Zusammenhang mit Kinderarbeit festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein: o Alter o Geschlecht o niedriger sozioökonomischer Status des Minderjährigen und seiner Familie (z. B. Zugehörigkeit zu von Frauen geführten Haushalten) o Status als Binnenvertriebener o Gebiet der Herkunft oder des Wohnsitzes o usw. Möglicher Zusammenhang: Die Gefahr der Kinderarbeit impliziert für sich genommen grundsätzlich keinen Zusammenhang mit einem Verfolgungsgrund. Jedoch müssen die individuellen Umstände des Antragstellers berücksichtigt werden.
Kinderheirat Vgl. den Abschnitt 12.3 Zwangs- und Kinderheirat in der Profilgruppe Frauen.
Zugang zu Bildung Gefährdungsanalyse: Nicht für alle Minderjährigen besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung im Zusammenhang mit vorsätzlichen Einschränkungen des Zugangs zu Bildung festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein: o Identitätsdokumente o Geschlecht (für Mädchen besteht eine größere Gefahr) o Wahrnehmung der traditionellen Geschlechterrollen in der Familie o niedriger sozioökonomischer Status des Minderjährigen und seiner Familie o Status als Binnenvertriebener o Gebiet der Herkunft und des Wohnsitzes o usw. Möglicher Zusammenhang: Die individuellen Umstände des Minderjährigen sollten berücksichtigt werden. Werden dem Minderjährigen beispielsweise aufgrund seiner Herkunft aus einem von der Opposition kontrollierten Gebiet Identitätsdokumente verweigert, könnte unter Umständen ein Zusammenhang mit der (zugeschriebenen) politischen Überzeugung festgestellt werden.
Fehlende Personenstands- oder Identitätsdokumente Gefährdungsanalyse: Nicht für alle Minderjährigen besteht eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung im Zusammenhang mit vorsätzlichen Einschränkungen des Zugangs zu Personenstands- oder Identitätsdokumenten festzustellen. Die folgenden Umstände könnten für eine Gefährdung maßgeblich sein: o der Vater ist verstorben oder wird vermisst o der Minderjährige wurde außerehelich geboren oder ist aus sexueller Gewalt hervorgegangen o Gebiet der Herkunft und des Wohnsitzes o Geschlecht o niedriger sozioökonomischer Status des Minderjährigen und seiner Familie o Status als Binnenvertriebener o Zugehörigkeit zu einem von einer Frau geführten Haushalt o usw. Möglicher Zusammenhang: Die individuellen Umstände des Minderjährigen sollten berücksichtigt werden. So könnten beispielsweise Minderjährige, die aus sexueller Gewalt hervorgegangen sind, einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt sein.
LGBTIQ-Personen
[…]
EUAA Country Guidance: Syria, February 2023 (auszugsweise, ins Deutsche mit „deeple.com“ übersetzt):
4.1. Personen, die als regierungsfeindlich gelten
Dieses Profil bezieht sich auf verschiedene Gruppen, die von der Regierung als Opposition angesehen werden, wie z.B. Mitglieder regierungsfeindlicher Gruppen, Aktivisten der politischen Opposition und Demonstranten sowie Zivilisten die aus Gebieten stammen, die mit der Opposition gegen die Regierung in Verbindung gebracht werden.
Für Hinweise zu anderen Profilen, die relevant sein können, siehe 4.2. Personen, die sich dem oder vom Militärdienst desertiert sind; 4.8. Journalisten, andere Medienschaffende und Menschenrechtsaktivisten Aktivisten; und 4.9. Ärzte, sonstiges medizinisches Personal und Freiwillige des Zivilschutzes.
[…]
4.1.4. Zivilisten, die aus Gebieten stammen, die mit der Opposition gegen die Regierung verbunden sind
Dieses Teilprofil bezieht sich auf Zivilisten aus Gebieten, die mit der Opposition gegen die Regierung in Verbindung gebracht werden, insbesondere die (ehemals) von der Opposition kontrollierten Gebiete in Dar'a, im ländlichen Damaskus, Idlib, Latakia, Aleppo, Hama, Homs und Quneitra. Sie befasst sich mit der Lage der Zivilisten in den zurückeroberten Gebieten sowie, kurz die Gebiete, die weiterhin unter der Kontrolle bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen stehen.
COI-Zusammenfassung
Auf die Gebietsgewinne der Regierung im Laufe des syrischen Konflikts folgten anhaltende willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen [Targeting 2020, 1.2.3, Sitzung 21]. Willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen von mutmaßlichen Oppositionsanhängern in den zurückeroberten Gebieten [Siehe z. B. Zurückeroberte Gebiete, 3.1.5.1, Sitzung 29; Sicherheit 2020, 2.9.3.6, Sitzung 73, 2.11.3.2, Sitzung 193, 2.12.3.2, p. 207]. Personen in den zurückeroberten Gebieten waren Berichten zufolge ständig der Gefahr militärischer Razzien des Militärs ausgesetzt, da sie als regierungsfeindlich eingestuft werden könnten [Targeting 2022, 1.2.3, Sitzung 26]. Bewohner von Gebieten, die sich mit der Regierung versöhnt hatten GoS versöhnt hatten, wurden gezielt willkürlich verhaftet, insbesondere in Dar'a und im ländlichen Damaskus [Targeting 2022, 1.1.1, Sitzung 19].
Die Regierung behandelt Personen aus ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten mit einem starken Misstrauen. Die Geheimdienste haben ein weites Netz von Informanten und Überwachungen aufgebaut, um sicherzustellen, dass die Regierung alle Aspekte des täglichen Lebens der Syrer genau überwacht und Kritik an der Regierung [Targeting 2020, 1.1.1, Sitzung 15]. Die Überwachung von Personen aus ehemaligen Oppositionsgebieten ist in Damaskus am stärksten ausgeprägt, da sich dort die Mehrheit des Sicherheitspersonals konzentriert sowie aufgrund der Bedeutung der Hauptstadt für die Regierung. Die Regierung hat außerdem den Zugang von Zivilisten, die nach Damaskus und in die ländlichen Gebiete von Damaskus zurückkehren wollten, eingeschränkt und zerstörte unrechtmäßig die Häuser der Bewohner [Targeting 2020, 1.2.3, Sitzung 23]. Die GoS hat Praktiken der Beschlagnahmung von Land und Eigentum ihrer Gegner und der Umverteilung dieser Vermögenswerte unter Mitglieder der Sicherheitsdienste und lokale Pro-GoS-Milizen umverteilt [Targeting 2022, 1.2.3, Sitzung 23]. Personen in den von der GoS kontrollierten Gebieten, die aus Gebieten stammen, die von regierungsfeindlichen Gruppen kontrolliert werden, können ebenfalls als illoyal angesehen werden [Targeting 2022, 1.2.3, Sitzung 25].
Darüber hinaus wurden Zivilisten verhaftet, weil sie mit ihren Verwandten oder Freunden in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten oder im Ausland kommuniziert hatten, und sie wurden daran gehindert, weitere Kontakte herzustellen [Targeting 2020, 1.1.1, p. 15]. Die Regierung bestrafte auch Familienangehörige von mutmaßlichen Oppositionsanhängern durch die Anwendung einer Reihe von Gesetzen, die ihre individuellen Eigentumsrechte verletzen. Frauen mit familiären Bindungen zu Oppositionskämpfern wurden Berichten zufolge zu Zwecken der Nachrichtenbeschaffung oder Vergeltung inhaftiert [Targeting 2020, 1.2.3, Sitzung 21].
Es gab auch Berichte über gezielte Angriffe auf Zivilisten in Gebieten, die von Oppositionsgruppen gehalten werden. Ab Februar 2019 eskalierten die Bodenoffensiven und Luftangriffe auf Gebiete, die von bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppen kontrolliert wurden, erheblich, wobei Berichten zufolge gezielt zivile Infrastruktur, darunter Krankenhäuser, Schulen, Märkte, Moscheen, Wohngebiete und Wohngebiete und landwirtschaftliche Ressourcen. [Sicherheit 2020, 1.6.1.2, Sitzung 34, 2.1.3, Sitzung 59].
Risikoanalyse
Handlungen, die Berichten zufolge gegen Personen im Rahmen dieses Profils begangen werden, sind so schwerwiegend, dass sie einer Verfolgung gleichkommen (z. B. willkürliche Verhaftungen, willkürliche Inhaftierung, erzwungenes Verschwindenlassen).
Bei der individuellen Beurteilung der Frage, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass Verfolgung droht, sollten risikorelevante Umstände berücksichtigt werden, wie regionale Aspekte (wer hat in dem Gebiet die Kontrolle, galt es als Oppositionshochburg usw.) und das Ausmaß der mutmaßlichen Unterstützung oder Kollaboration mit regierungsfeindlichen Unterstützung oder Zusammenarbeit mit regierungsfeindlichen Kräften, familiäre Bindungen oder andere Verbindungen zu mutmaßlichen Mitgliedern von bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen und/oder Mitgliedern der politischen Opposition, wahrgenommene Unterstützung für die Regierung, ethnisch-religiöser Hintergrund (z. B. sunnitische Araber) usw.
Zusammenhang mit einem Verfolgungsgrund
Die verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass die Verfolgung dieses Profils mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Gründen der (unterstellten) politischen Meinung erfolgt.
4.2. Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben oder desertiert sind
Dieser Abschnitt enthält eine Analyse der Profile von:
- Wehrdienstverweigerer: Ein Wehrdienstverweigerer ist ein männlicher Syrer über 18 Jahren, der sich der Einberufung zur SAA entzogen hat, indem er sich entweder vor den syrischen Behörden versteckt hat oder aus Syrien geflohen ist.
- Deserteur: Ein Deserteur ist ein ehemaliger Angehöriger der SAA (z. B. ein Wehrpflichtiger, ein Unteroffizier (Gefreiter oder Unteroffizier) oder ein Offizier), der seinen Posten oder seine Einheit in der SAA ohne Erlaubnis verlassen hat.
Siehe auch 4.2.3. Militärische Deserteure und Überläufer. Ein Überläufer ist ein ehemaliges Mitglied der SAA, das die SAA verlassen hat und sich einer bewaffneten Oppositionsgruppe in Syrien angeschlossen hat.
Der Begriff "Militärdienst" umfasst im weitesten Sinne sowohl den Militärdienst als auch den Reservedienst in der SAA.
4.2.1. Wehrdienst: Übersicht
Männliche Bürger zwischen 18 und 42 Jahren sind gesetzlich verpflichtet, ihren Wehrdienst zu leisten. Berufssoldaten können je nach Dienstgrad bis zu einem Alter von 48 bis 62 Jahren einberufen werden. Registrierte Palästinenser mit Wohnsitz in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht und sie dienen in der Regel in den Reihen der der SAA angegliederten Palästinensischen Befreiungsarmee. Nach Beendigung können ehemalige Soldaten bis zum Alter von 42 Jahren zum Reservedienst einberufen werden [Targeting 2022, 2.1, Sitzung 37; Wehrdienst, 2, Sitzung 13]. Die Altersgrenze ist weniger von der allgemeinen Wehrpflicht abhängig, sondern von den Mobilisierungsbemühungen der Regierung und lokalen Entwicklungen. Unter Januar 2021 gaben Quellen an, dass die syrischen Behörden die Rekrutierung auf Männer zwischen 18 und 30 Jahren konzentrierten, während ältere Menschen sich der Rekrutierung eher entziehen konnten [Wehrdienst, 2.1, Sitzung 13, 2.3, Sitzung 15]. Eine Quelle hatte festgestellt, dass die Altersgrenze für den Reservedienst angehoben werden kann, wenn die Person über besondere Qualifikationen verfügt, wie z. B. im Fall von Ärzten, Panzerfahrern, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Kampfgeräte Ingenieure. Es gab zwar einige seltene Berichte über Rekrutierungen unter und über dem gesetzlichen Mindestalter, die meisten Quellen wussten nichts von solchen Praktiken [Wehrdienst, 2, Sitzung 13].
Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen
Gemäß Artikel 46 der syrischen Verfassung von 2012 ist "die Wehrpflicht eine heilige Pflicht" und "die Verteidigung der territorialen Integrität des Vaterlandes und die Wahrung der Staatsgeheimnisse eine Pflicht jedes Bürgers". Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht rechtlich anerkannt, und es gibt keine Bestimmungen für einen Ersatz- oder Ersatzdienst. Nur christliche und muslimische Religionsführer wurden weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit, obwohl muslimische Religionsführer eine Befreiungsgebühr zahlen. [Zielvorgabe 2022, 2.2, Sitzung 14]
Freistellungen und Zurückstellungen
Das Gesetz erlaubt Ausnahmen vom Militärdienst für die nachfolgend beschriebenen Kategorien von Personen. Das Verfahren zur Erlangung einer Befreiung wurde jedoch so bewertet, dass es mehr Einschränkungen und mehr Variationen von Fall zu Fall gibt. In der Praxis werden die Ausnahmeregelungen im Allgemeinen umgesetzt, aber es wurde über ein zunehmendes Maß an Willkür und Korruption berichtet. Es gibt auch Berichte, dass Rückkehrer trotz der Zusage, dass sie von der Wehrpflicht befreit würden, eingezogen worden sind [Wehrdienst, 3, Sitzung 28].
- nur ein Sohn […]
- Medizinische Fälle […]
- Studenten […]
- Entrichtung einer Freistellungsgebühr: Syrische junge Männer mit Wohnsitz im Ausland, einschließlich registrierter Palästinenser aus Syrien, können gegen Zahlung einer Gebühr von der Wehrpflicht befreit werden. Dies gilt nicht für Reservisten [Targeting 2022, 2.1, Sitzung 37]. Es wurde berichtet, dass viele Wehrpflichtige mit Wohnsitz im Ausland von der Möglichkeit der Zahlung einer Befreiungsgebühr Gebrauch gemacht haben, aber die Regeln ändern sich regelmäßig. Es gab auch Hinweise darauf, dass das Verfahren zur Erlangung einer Befreiung in der Praxis sehr lange dauerte. Die Inanspruchnahme der Befreiungsgebühr wurde häufig mit Korruption, Bestechung und Ermessensspielraum in Verbindung gebracht. Während mehrere Quellen angaben, dass die Zahlung einer Befreiungsgebühr in der Praxis respektiert würde, bleiben die Informationen widersprüchlich [Targeting 2022, 2.6, Sitzung 45; Wehrdienst, 3.4, Sitzung 31].
EASO Bericht: Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, Juni 2021:
Die Folgen einer illegalen Ausreise
In der Vergangenheit hatte die illegale Ausreise aus Syrien eine Haftstrafe und/oder Geldbuße zur Folge. Am 26. März 2019 veröffentlichte das syrische Innenministerium dann jedoch das Rundschreiben Nr. 342, in der die Strafe aufgehoben wurden. Eine illegale Ausreise zieht aber weiterhin ein förmliches Verfahren vor der Rückkehr nach Syrien nach sich, das wahlweise als „Statusbereinigung“ oder „Sicherheitsüberprüfung“ bezeichnet wird.
Ein Rechts- und Menschenrechtsberater beim SJAC erklärte ausdrücklich, dass Personen, die Syrien illegal verlassen haben, kein gerichtliches Verfahren innerhalb Syriens einleiten können. Rückkehrer, die ohne vorherige Bereinigung ihrer illegalen Ausreise nach Syrien zurückkehren, werden nach Aussage des Experten in ein Militärgefängnis oder eine militärische Sicherungsanstalt gebracht. Gleichzeitig gibt es Belege dafür, dass einige Rückkehrer, die ihre illegale Ausreise vor ihrer Rückkehr bereinigt hatten, trotzdem bei ihrer Ankunft festgenommen wurden.
Folgen der Beantragung von Asyl im Ausland
Auf die Frage, wie Personen, die im Ausland Asyl beantragt haben, bei ihrer Rückkehr behandelt werden, gab es keine eindeutige Antwort. General Naji Numeir, Leiter der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde, erklärte gegenüber dem DIS in einem Interview im November 2018, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft nicht strafrechtlich verfolgt oder verhaftet würden, wenn sie in Nachbarländern oder anderen – auch westlichen – Ländern Asyl erhalten hätten. Ein in Damaskus ansässiger Anwalt berichtete dem DIS im November 2018, dass eine Asylantragstellung im Ausland nach der Rückkehr keine Bestrafung nach sich ziehe, es sei denn, die betreffende Person sei als politischer oder militärischer Gegner bekannt. Ein Syrienexperte beim Europäischen Friedensinstitut (EIP) war der Ansicht, dass die Beantragung von Asyl im Ausland womöglich durch ein förmliches Verfahren bereinigt werden müsse.
Ein Rechts- und Menschenrechtsberater beim SJAC gab an, dass das Vorgehen von Fall zu Fall verschieden sei. Dieser Experte wusste von ehemaligen Asylbewerbern, die bei ihrer Rückkehr keine persönlichen Probleme mit den syrischen Behörden hatten, während andere Asylbewerber von den syrischen Behörden bei ihrer Rückkehr getötet oder verschleppt worden seien.
Auszug aus den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, März 2021:
Flüchtlingsschutz nach den Kriterien der GFK und die wichtigsten Antragsarten:
Angesichts der schwerwiegenden Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht und internationale Menschenrechte sowie anhaltender bewaffneter Konflikte in Syrien ist UNHCR der Auffassung, dass die Flucht von Zivilpersonen aus Syrien weiterhin als Flüchtlingsbewegung einzustufen ist, wobei die Mehrzahl syrischer Asylsuchender weiterhin internationalen Flüchtlingsschutz benötigt, da sie die Voraussetzungen der Flüchtlingsdefinition von Artikel 1A (2) der GFK erfüllen. Ebenso erfüllen Palästinenser aus Syrien, die sich außerhalb des Einsatzgebietes des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA) befinden, wahrscheinlich die Voraussetzungen von Artikel 1 D, sodass sie ipso facto den Schutz der GFK genießen würden.
Für viele aus Syrien geflohene Zivilpersonen besteht der kausale Zusammenhang mit einem Verfolgungsgrund im Sinne der GFK in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Ein besonderes Merkmal des Konflikts in Syrien ist der Umstand, dass verschiedene Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, aufgrund ihrer Zugehörigkeit eine politische Meinung unterstellen. So können Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Kriegspartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure werden. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet (oder auf ihrer Abstammung aus einem bestimmten Gebiet) oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund. In solchen Fällen ist die Verletzungsgefahr schwerwiegend und real und keineswegs durch den Umstand gemindert, dass die betreffende Person möglicherweise nicht individuell und gezielt angegriffen würde. UNHCR bleibt bei seiner Einschätzung, dass Syrer und Personen, die früher ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Syrien hatten und unter die nachfolgend genannten Risikoprofile fallen, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen. Untergruppen von Personen innerhalb der Risikoprofile 3, 8 und 10 können je nach den Umständen des Einzelfalls internationalen Flüchtlingsschutz benötigen.
Das vorliegende Dokument enthält maßgebliche und zuverlässige Informationen zum Herkunftsland und Hinweise für die Beurteilung des Schutzbedarfs in Bezug auf die nachstehenden Risikoprofile, die gegebenenfalls auch für Familienangehörige und sonstige Personen gelten, die Menschen mit diesen Risikoprofilen nahestehen:
1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder politischer Oppositionsparteien; Demonstrierende; Aktivisten aus der Zivilgesellschaft und politische Aktivisten; (ehemalige) Mitglieder oppositioneller lokaler Räte; Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung; Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und Freiwillige der Zivilverteidigung; Ärzte und sonstige medizinische Fachkräfte; Verteidiger der Menschenrechte; Hochschulangestellte; Personen, die als Mitglieder bewaffneter, regierungsfeindlicher Gruppen angesehen werden; und Zivilpersonen (insbesondere Männer und Jungen im kampffähigen Alter) aus derzeit oder ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten; 2. Wehrdienstentzieher und Deserteure der syrischen Streitkräfte;
3. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich die Regierung unterstützen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Regierungsbeamte und Funktionäre der Baath-Partei; tatsächliche und vermeintliche Mitglieder von Streitkräften der Regierung und Zivilbürger, von denen angenommen wird, dass sie mit Streitkräften der Regierung zusammenarbeiten; Mitglieder von Versöhnungskomitees; und Zivilpersonen, die in städtischen Bezirken, Dörfern und Gemeinden leben, von denen angenommen wird, dass sie die Regierung unterstützen;
4. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zu den Syrian Democratic Forces (SDF) / Volksschutzeinheiten (YPG), der Partei der Demokratischen Union (PYD) und den Institutionen der Autonomieverwaltung stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder kurdischer Oppositionsparteien, Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung, Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen, Aktivisten und Mitglieder der Zivilgesellschaft, Demonstrierende; Personen, bei denen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft und/oder familiären Beziehungen eine Verbindung zum Islamischen Staat im Irak und in Syrien (ISIS) angenommen wird; und Personen, bei denen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft und/oder familiären Beziehungen eine Verbindung zur Türkei oder zur Syrischen Nationalen Armee (SNA) angenommen wird;
5. Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner von Hay’at Tahrir Al-Sham (HTS) und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppen sind und sich in Idlib und angrenzenden Gegenden in Gebieten aufhalten, die de facto unter Kontrolle dieser Gruppen stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf politische Aktivisten und Menschenrechtsaktivisten, Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen, medizinische Fachkräfte sowie Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung;
6. Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner bewaffneter, mit der SNA verbundener Gruppen sind, in den von diesen Gruppen de facto kontrollierten Gebieten, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) und den SDF/PYD/YPG sowie den Kurden im weiteren Sinne verbunden sind; sowie Journalisten und Aktivisten;
7. Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner von ISIS in Gebieten sind, in denen ISIS weiterhin präsent ist oder Einfluss ausübt, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Zivilpersonen, die tatsächlich oder vermeintlich die Regierung oder die SDF/AANES unterstützen, z. B. Stammesführer, örtliche Bürgermeister, Mitglieder lokaler Räte sowie Kollaborateure;
8. Mitglieder religiöser und ethnischer Minderheiten und Personen, die so wahrgenommen werden, als handelten sie entgegen strenger islamischer Vorschriften;
9. Frauen und Mädchen mit bestimmten Profilen oder in speziellen Situationen, insbesondere Frauen, die sexuelle Gewalt überlebt haben oder gefährdet sind, Opfer sexueller Gewalt zu werden, zwangsverheiratet oder im Kindesalter verheiratet zu werden, häusliche Gewalt oder Gewalt im Namen der Ehre zu erleiden oder Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution zu werden;
10. Kinder mit bestimmten Profilen oder in speziellen Situationen, insbesondere Kinder, die sexuelle Gewalt überlebt haben oder gefährdet sind, Opfer sexueller Gewalt zu werden; zwangsverheiratet oder im Kindesalter verheiratet zu werden; häusliche Gewalt oder Gewalt im Namen der Ehre zu erleiden; Kinder, die einen Einsatz als Kindersoldaten überlebt haben oder gefährdet sind, als Kindersoldaten rekrutiert zu werden; Opfer von Menschenhandel und anderen schlimmsten Formen von Kinderarbeit zu werden; Kinder, die zu Arbeit verpflichtet werden, die je nach der Erfahrung und dem Alter des betreffenden Kindes und den sonstigen Umständen wahrscheinlich ihre Gesundheit, Sicherheit oder Sittlichkeit beeinträchtigt („gefährliche Arbeit“); Kinder im schulpflichtigen Alter, denen der Zugang zu Bildung systematisch verwehrt wird, einschließlich infolge zielgerichteter Angriffe auf Schulen; fehlende Ausweispapiere; Behinderungen; oder diskriminierende Praktiken, die Mädchen den Zugang zu Bildung aufgrund ihres Geschlechts verwehren; sowie Kinder, denen der Zugang zu Geburtsurkunden und sonstigen Ausweisdokumenten verweigert wird oder bei denen eine entsprechende Gefahr besteht;
11. Personen mit sexueller Orientierung und/oder geschlechtlicher Identität, die nicht den traditionellen Vorstellungen entsprechen;
12. palästinensische Flüchtlinge.
Diese Liste ist nicht unbedingt abschließend. Ein Antrag sollte nicht automatisch als unbegründet eingestuft werden, wenn keines der hier aufgeführten Risikoprofile gegeben ist. Gegebenenfalls sollten etwaige Verfolgungen, denen Antragsteller, die um internationalen Schutz ersuchen, in der Vergangenheit ausgesetzt waren, besonders berücksichtigt werden. Die GFK ist das Fundament des Rechtsrahmens für den internationalen Schutz von Flüchtlingen. Die in der GFK enthaltenen Kriterien für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft müssen so ausgelegt werden, dass Personen oder Personengruppen, die diese Kriterien erfüllen, nach der GFK ordnungsgemäß anerkannt und geschützt werden. Nur wenn festgestellt wird, dass ein Asylsuchender die Flüchtlingskriterien der GFK nicht erfüllt, z.B. weil die befürchtete Verfolgung nicht auf einem Verfolgungsgrund im Sinne der GFK beruht oder die Schwelle für die Anwendung der GFK-Definition aus sonstigem Grund nicht erreicht wird, sollten die im UNHCR-Mandat und regionalen Übereinkünften festgeschriebenen erweiterten Kriterien für die Gewährung von internationalem Schutz, einschließlich subsidiären Schutzes, geprüft werden. UNHCR ist der Ansicht, dass Veränderungen der objektiven Umstände in Syrien, einschließlich gewisser Verbesserungen der Sicherheitslage in Teilen des Territoriums, keinen grundlegenden, stabilen und dauerhaften Charakter aufweisen, wie es für eine Beendigung des Flüchtlingsstatus auf der Grundlage von Artikel 1 C (5) GFK notwendig ist. Die Rechtsstellung anerkannter Flüchtlinge sollte daher nur dann überprüft werden, wenn es im Einzelfall Anhaltspunkte dafür gibt, dass Gründe für die Vornahme einer der folgenden Maßnahmen vorliegen: (a) Rücknahme einer zunächst zu Unrecht erfolgten Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder (b) Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Artikel 1 F GFK. [..].
EUAA Syria Targeting of Individuals vom September 2022 (auszugsweise, ins Deutsche mit „deeple.com“ übersetzt):
1. Personen, die als Oppositionelle gegen die Regierung von Syrien (GoS)
1.1 Behandlung von Personen, die als Oppositionelle zur Zielscheibe der syrischen Regierung oder anderer Akteure zu werden, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, wie z. B. dem individuellen Profil einer Person, dem Ort, an dem sich die Person befindet, dem Stadium des Konflikts und - besonders wichtig - dem Akteur, der das betreffende Gebiet kontrolliert. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person zur Zielscheibe wird, kann sich also im Laufe der Zeit ändern. Wie eine vom niederländischen Außenministerium befragte vertrauliche Quelle feststellte, "läuft jeder, der sich als Gegner der herrschenden Gruppe in dem Teil des Landes äußert, in dem er sich befindet, Gefahr, von dieser Gruppe verfolgt zu werden".
Im Juli 2022 kontrollierte die GoS etwa zwei Drittel des Landesgebiets. Neben der Hauptstadt Damaskus und dem sie umgebenden Gouvernement Rif Dimashq erstreckte sich die Kontrolle der Regierung über Tartus und Latakia im Westen, Teile von Idlib und Aleppo im Norden, Hama, Homs und Teile von Raqqa und Deir Ez-Zor im Zentrum und Südosten sowie Dar'a, Sweida und Quneitra im Süden.
Die Streitkräfte, mit denen die Regierung die Macht ausübt, sind die syrischen Streitkräfte, die aus der Syrischen Arabischen Armee (SAA) (einschließlich der Republikanischen Garde), der Marine, der Luftwaffe, den Luftverteidigungskräften und den Nationalen Verteidigungskräften (NDF) (einer regierungsfreundlichen Miliz) bestehen.
Neben den regulären Streitkräften operieren lokale Pro-Gos-Milizen und ausländische schiitische Milizen.
Der syrische Sicherheitsapparat besteht aus vier großen Nachrichtendiensten: dem militärischen Nachrichtendienst, dem Nachrichtendienst der Luftwaffe, dem allgemeinen Nachrichtendienst und dem Direktorat für politische Sicherheit. Jeder Geheimdienst verfügt über eine zentrale Zweigstelle in Damaskus sowie über regionale, städtische und lokale Zweigstellen im ganzen Land. Diese Zweigstellen werden als "Sicherheitsabteilungen" bezeichnet. Wie Human Rights Watch feststellte, verfügen fast alle Sicherheitsabteilungen über inoffizielle Haftanstalten unterschiedlicher Größe in ihren Kellern. Darüber hinaus verfügen diese Behörden "auch über andere geheime Haftstätten". Eine im Dezember 2020 veröffentlichte Schätzung bezifferte die Zahl der Mitglieder des Sicherheitsapparats auf rund 100 000, was "einem Geheimpolizisten pro 129 Bürger" entspreche. Nach Angaben des Europäischen Friedensinstituts (EIP), einer gemeinnützigen Stiftung mit Sitz in Brüssel, die sich auf Konfliktlösung spezialisiert hat, verfügt die Regierung über ein umfangreiches Instrumentarium zur nachrichtendienstlichen Erfassung und Überwachung sowie zur "Bestrafung von Personen, die als Dissidenten oder als nicht ausreichend loyal gegenüber der Regierung angesehen werden".
In den von der GoS kontrollierten Gebieten sollen das Verschwindenlassen von Personen, Militärprozesse und Folter an der Tagesordnung gewesen sein, wobei Quellen darauf hinwiesen, dass jeder Verdacht auf eine Anti-GoS-Aktivität ausreichte, um eine Person dem Risiko einer Verhaftung und Repressalien durch die Behörden auszusetzen. Die Regierung hat eine Vielzahl von Personengruppen ins Visier genommen, darunter politische Aktivisten, Demonstranten und andere, die Kritik an der Regierung geäußert haben (auch in den sozialen Medien), Anwälte und Menschenrechtsverteidiger, pro-demokratische Studenten, Mitglieder anderer politischer Parteien als der regierenden Baath-Partei, Männer im wehrfähigen Alter, Rückkehrer aus dem Ausland, Binnenvertriebene, die aus Teilen Syriens außerhalb der Kontrolle der Regierung zurückkehren, und ehemalige bewaffnete Oppositionskämpfer, die sich dann im Rahmen sogenannter Versöhnungsabkommen mit der Regierung geeinigt haben. Darüber hinaus verfolgten die Behörden auch Personen, die selbst nicht an oppositionellen Aktivitäten beteiligt waren, deren Familienmitglieder oder Nachbarschaft jedoch mit solchen Aktivitäten in Verbindung gebracht wurden. In vielen Fällen hing die Anfälligkeit einer Person, ins Visier genommen zu werden, mit mehreren Aspekten ihrer Identität zusammen, z.B. mit ihrem Wohnort, ihrer politischen Meinung oder ihrer Religionszugehörigkeit.
1.1.1 Willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen
Seit Beginn des syrischen Aufstands im Jahr 2011 hat die Regierung von Syrien bei Protesten und Militäroperationen Massenverhaftungen vorgenommen. Sie nahm auch willkürlich Personen an Kontrollpunkten und Grenzen oder bei Razzien fest. Quellen gehen davon aus, dass Zehntausende oder sogar Hunderttausende Menschen, darunter politische Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, Mitarbeiter humanitärer Organisationen und Rechtsanwälte, willkürlich festgenommen wurden und gewaltsam verschwunden sind, und zwar häufig auf "pauschale und wahllose Weise". Es wurde berichtet, dass willkürliche Inhaftierungen in zivilen und militärischen Gefängnissen sowie in Sicherheitsabteilungen von Geheimdiensten stattfanden. Viele der gemeldeten Verhaftungen ohne richterlichen Haftbefehl wurden von Kräften vorgenommen, die mit den vier wichtigsten Geheimdiensten des Landes verbunden sind. Wie die EIP erklärte, nehmen die Sicherheitsabteilungen der Nachrichtendienste Personen in Gewahrsam, die Personen in Gewahrsam, die zunächst von der Polizei oder - im Falle von gesuchten Personen - von der Abteilung selbst oder einem anderen Nachrichtendienst festgenommen wurden. Viele Rückkehrer aus dem Ausland und versöhnte Personen werden zu Verhören vorgeladen. Sobald sich eine Person im Gewahrsam eines Sicherheitsdienstes befindet, beginnt ein "Kreislauf aus Informationsbeschaffung, Verhören und (oft) Folter". Die unabhängige internationale Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats (UNCOI) stellte im März 2021 fest, dass von den mehr als 500 ehemaligen Gefangenen der GoS- und Pro-GoS-Kräfte, die sie befragte fast keiner innerhalb eines angemessenen Zeitraums ihren Fall vor Gericht vorbringen konnten. Personen festgenommenen Personen wurde in der Regel der Grund für ihre Festnahme nicht mitgeteilt, und wenn sie über ihre Anschuldigungen informiert wurden, wurden ihnen wurden ihnen keine Beweise für die gegen sie erhobenen Vorwürfe vorgelegt.
Im Jahr 2020 dokumentierte das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) 908 Fälle von willkürlichen Verhaftungen durch die Streitkräfte des Staates Syrien, gefolgt von 1032 Fällen im Jahr 2021 und 471 in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022. In den Jahren 2020 und 2021 wurden die meisten derartigen Verhaftungen in den Gouvernements Dar'a, im ländlichen Raum von Damaskus und Aleppo verzeichnet. Der syrische Menschenrechtsausschuss (SHRC) stellte fest, dass im Jahr 2021 Bewohner von Gebieten, die sich mit der Regierung von Syrien ausgesöhnt hatten, besonders ins Visier genommen wurden, insbesondere in Dar'a und im ländlichen Damaskus. Viele Demonstranten, die zwischen 2011 und 2021 von den GoS-Kräften festgenommen wurden, wurden anschließend als gewaltsam verschwunden eingestuft. Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen über die Menschenrechtsorganisationen über die Zahl der seit 2011 verschwundenen Demonstranten gehen weit auseinander, obwohl alle davon ausgehen, dass das Verschwindenlassen eine gängige Praxis ist. Im Jahr 2020 sind etwa 1 185 Personen gewaltsam verschwunden (über alle Konfliktparteien hinweg). Für 2021 stellte das SHRC einen deutlichen Rückgang neuer Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen.
Am 30. April 2022 erließ der syrische Präsident Bashar Al-Assad das Gesetzesdekret Nr. 7 von 2022, das eine allgemeine Amnestie für "Terrorismusverbrechen" (gemäß dem Antiterrorismusgesetz Nr. 19 von 2012 und dem syrischen Strafgesetz Nr. 148 von 1949) vorsieht, die von Syrern vor dem 30. April 2022 begangen wurden, mit Ausnahme von Verbrechen, die zum Tod einer Person geführt haben. Der UN-Sicherheitsrat schrieb, dass die Amnestie für Personen gilt, die wegen der Begehung terroristischer Straftaten verurteilt wurden, gegen die wegen der Begehung solcher Straftaten ermittelt wird, und für Personen, die wegen terroristischer Straftaten im In- und Ausland gesucht werden. Die Amnestie gilt nicht für Personen, die aufgrund anderer Gesetze angeklagt sind, sowie für politische Gefangene und Gefangene aus Gewissensgründen, die wegen nicht-terroristischer Anschuldigungen inhaftiert sind. Auf ihrer Website teilte die syrische Botschaft in Bahrain mit, dass sie bereits Anträge von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen erhalten hat, die offiziell überprüfen möchten, ob sie unter die Amnestie fallen. die Anträge persönlich eingereicht werden müssen.
Was die Umsetzung der Amnestie betrifft, so stellte das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) in einem Bericht vom Juni 2022 fest, dass es Informationen über die Freilassung von Dutzenden von Häftlingen und Gefangenen aus den Sicherheitsabteilungen, Haftanstalten und Gefängnissen der Regierung erhielt. Der SNHR berichtete daraufhin im Juli 2022, dass nach Inkrafttreten des Dekrets etwa 539 Personen aus verschiedenen zivilen und militärischen Gefängnissen und Sicherheitsabteilungen entlassen wurden. Gleichzeitig stellte die Quelle fest, dass sich im Mai 2022 noch mindestens 132 000 Syrer, die seit März 2011 von der Regierung verhaftet worden waren, in Haft befanden oder gewaltsam verschwunden waren. Es gab Berichte, dass Familienangehörige von Inhaftierten, die kürzlich im Rahmen der Amnestie freigelassen wurden, erpresst wurden mit der Drohung erpresst wurden, dass ihre Akten andernfalls nicht geschlossen würden und sie daher Gefahr liefen Gefahr liefen, erneut verhaftet zu werden.
1.1.2 Folter, andere Formen der Misshandlung und außergerichtliche Tötungen
Neben willkürlichen Verhaftungen und erzwungenem Verschwindenlassen wurde berichtet, dass die Regierung Folter und sexuelle Gewalt als Mittel der Kontrolle, Einschüchterung und Erpressung einsetzt. Ehemalige Mitglieder des Geheimdienstes gaben an, dass Personen, die von der Regierung festgenommen wurden, systematisch gefoltert und misshandelt wurden. Der SNHR stellte fest, dass in Ermangelung fester Regeln oder Grenzen für die Vernehmungsbeamten das Ausmaß und die Häufigkeit der einem Häftling zugefügten Folter ausschließlich von der Laune des Leiters der jeweiligen Sicherheitsabteilung abhing. In der Quelle werden die folgenden staatlichen Stellen als "Täter, Ermöglicher oder Komplizen" aufgeführt: das Verteidigungsministerium, das Innenministerium, die Nachrichtendienste, die Justiz, zivile Gefängnisse, Militärkrankenhäuser, das Ministerium für Stiftungen (Awqaf) und das Amt für Bestattungswesen.
Zwischen März 2011 und Juni 2020 dokumentierte das SNHR mindestens 14235 Todesfälle durch Folter in der Hand des Staates. Für das gesamte Jahr 2020 verzeichnete das SNHR 130 Todesfälle durch Folter im Gewahrsam der Regierung, 78 im Jahr 2021 und 90 in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022. Gleichzeitig befragte der UNCOI zwischen März 2011 und Dezember 2020 insgesamt 474 Personen, die direkte Opfer von Folter waren, und 463, die unmenschlicher Behandlung durch GoS-Kräfte ausgesetzt waren. Darüber hinaus waren 1170 der Befragten Zeugen oder hatten glaubwürdige Informationen über solche Verstöße.
Am 30. März 2022 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das Folter mit einer dreijährigen Haftstrafe oder der Todesstrafe belegt, wenn die Folter Vergewaltigung oder Mord beinhaltet. Menschenrechtsgruppen wiesen darauf hin, dass die Regierung keine Maßnahmen ergriffen hat, um die an der Folter beteiligten Personen zu ermitteln oder zur Rechenschaft zu ziehen. Das SNHR erklärte, dass das neue Gesetz keine Folterverbrechen erfasst, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangen wurden, und daher nicht für Folterverbrechen gelten, die seit Beginn des Konflikts begangen wurden. Dieselbe Quelle dokumentierte 90 Todesfälle durch Folter, die GoS und mit ihr verbundenen Kräften in der ersten Hälfte des Jahres 2022 zugeschrieben werden.
1.1.3 Fahndungslisten
Berichten zufolge führten die Behörden umfangreiche Listen mit Personen, die zur Verhaftung oder Befragung gesucht wurden. Mitte 2018 soll der Leiter des Nachrichtendienstes der Luftwaffe, Jamil Hassan, bei einem privaten Treffen gesagt haben, dass die Fahndungslisten des Landes 3 Millionen Namen enthielten, was 12,5 % der syrischen Bevölkerung vor dem Konflikt entsprach. Diese Listen enthielten Berichten zufolge die Namen von Personen, die verdächtigt wurden, an vermeintlichen Aktivitäten der Opposition beteiligt zu sein, wie z. B. die Teilnahme an Protesten, die Arbeit für NRO, Menschenrechtsaktivisten und Kommunalbeamte in von der Opposition kontrollierten Gebieten sowie Männer, die zum Militärdienst eingezogen werden sollten. Die Menschen wurden nicht informiert, wenn ihr Name auf eine Fahndungsliste gesetzt wurde oder wenn sie zur Verhaftung gesucht wurden.
Es gab kein klares, rechtliches Verfahren, mit dem Personen ihren "Fahndungsstatus" überprüfen konnten, und das Verfahren schützte die Rückkehrer nicht vor Menschenrechtsverletzungen. Walid Al-Nofal, ein unabhängiger Reporter, der im Juni 2021 von Human Rights Watch interviewt wurde, erklärte, dass es "keine zentrale Datenbank für Fahndungslisten" gebe und eine Sicherheitsüberprüfung "nicht notwendigerweise alle Behörden einschließt". Ein anderer von Human Rights Watch im Juli 2021 befragter Experte, der Forscher Suhail Al-Ghazi, erklärte hingegen, dass es zwar eine zentrale Datenbank für Fahndungslisten gebe, aber gleichzeitig "verschiedene Geheimdienststellen ihre eigenen Listen führen". Seit 2011 sind an den Kontrollpunkten Computer installiert, in die die Sicherheitsbeamten "den Namen der Person eintippen und sie verhaften, wenn der Name erscheint". Es ist gängige Praxis, dass Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, ihr informelles Netzwerk persönlicher Verbindungen nutzen oder einen Vermittler bezahlen, um zu prüfen, ob sie auf einer Fahndungsliste stehen, bevor sie sich an die syrischen Behörden wenden. Laut EIP konnten die meisten Personen, die einen Vermittler bezahlten, um zu prüfen, ob sie auf einer Fahndungsliste standen, auch durch Zahlung von Bestechungsgeldern keinen Zugang zu Informationen über eine bestimmte Liste "hochwertiger Ziele" erhalten, zu denen "Flüchtlinge, Aktivisten und andere Personen gehören, die für den Sicherheitsapparat von besonderem Interesse sind". So können Rückkehrer, die auf dieser Liste stehen, "den Grenzübergang ohne Probleme passieren, werden dann aber anschließend festgenommen", so die Quelle.
Die Listen können auch auf lokaler Ebene geführt werden. Einem Bericht aus dem Gouvernement Dar'a vom Juli 2021 zufolge enthielt eine Liste gesuchter Personen in der Stadt al-Sanamayn 139 Namen, darunter auch die Namen ehemaliger Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, die den Süden Syriens bis Juli 2018 kontrollierten. Nach Angaben einer lokalen Quelle, die von der neuen Website Enab Baladi befragt wurde, aktualisierte die Regierung von Syrien die Listen der gesuchten Personen fast täglich.
Personen, die auf den Fahndungslisten standen, konnten "an offiziellen Ein- und Ausreisestellen wie Grenzübergängen und Flughäfen sowie an Kontrollpunkten und Regierungsbüros in den vom Regime kontrollierten Gebieten" verhaftet werden oder gewaltsam verschwinden. Human Rights Watch erhielt Berichte über Rückkehrer, die mit Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung konfrontiert waren, obwohl ihre Namen auf Fahndungslisten überprüft worden waren.
Namen mit Fahndungslisten abgeglichen worden waren, wobei die Überprüfungen positiv ausgefallen waren. In ähnlicher Weise erklärte das EIP, dass es Fälle von Rückkehrern gab, deren Namen überprüft wurden und denen mitgeteilt wurde, dass ihre Rückkehr sicher sei, die dann aber "fast unmittelbar nach ihrer Rückkehr in das von der Regierung kontrollierte Gebiet" inhaftiert wurden.
1.2 Spezifische Profile, die von der Regierung als Opposition angesehen werden
[…]
1.2.5 Rückkehrer aus dem Ausland, die als Opposition wahrgenommen werden
Die Behandlung von Rückkehrern aus dem Ausland durch die Regierung wurde in den Abschnitten 2, 3 und 5 des COI-Berichts der EUAA über Syrien ausführlich behandelt: Situation von Rückkehrern aus dem Ausland (Juni 2021). Dieser Unterabschnitt konzentriert sich daher auf relevante Informationen, die seit April 2021 verfügbar geworden sind. UNHCR zählte 35 680 selbstorganisierte Rückkehrer aus Nachbarländern nach Syrien im Jahr 2021 und 16 676 für 2022, von einer Gesamtzahl von etwa 5 607 233 registrierten Flüchtlingen aus Syrien, Stand Mai 2022.
(a) Sicherheitsüberprüfung und "Statusregelung/Wiedereingliederung
Personen, die nach Syrien zurückkehren, müssen unter Umständen zwei Rückkehrverfahren durchlaufen: Sicherheitsüberprüfung und Statusabgleich. Diese Verfahren werden von den syrischen Geheimdiensten durchgeführt. Quellen zufolge gibt es jedoch keine klare Unterscheidung zwischen der Beantragung einer Sicherheitsüberprüfung und der Regelung des Status einer Person. Wie das EIP feststellte, "gibt es keine einheitliche Reihe von einheitliche Verfahren, die ein Rückkehrer durchlaufen muss, bevor er nach Syrien zurückkehren kann, und auch kein Verfahren, das Garantien für die Sicherheit bei der Rückkehr bietet, selbst wenn es ein Verfahren für bestimmte Gruppen oder unter bestimmten Umständen.
Quellen wiesen darauf hin, dass syrische Staatsangehörige im Allgemeinen nicht formell verpflichtet sind, eine Sicherheitsüberprüfung zu beantragen, da es nach syrischem Recht keine solche allgemeine Anforderung gibt. Human Rights Watch zitierte einen syrischen Anwalt mit der Aussage, dass sowohl die Sicherheitsüberprüfung als auch der Versöhnungsprozess außergesetzlicher Natur seien und gegen die syrische Verfassung verstießen. Obwohl die Sicherheitsüberprüfung (muwafaka amniya) von der dänischen Einwanderungsbehörde (DIS) als ein Verfahren definiert wurde, bei dem die syrischen Behörden prüfen, ob eine Person auf einer Fahndungsliste steht und als Sicherheitsbedrohung zu betrachten ist, kann dieses Verfahren in der Praxis eine Reihe unterschiedlicher Formen annehmen. So kann die Erlangung einer Sicherheitsüberprüfung im weitesten Sinne verstanden werden als Hintergrundüberprüfung verstanden werden, ob eine Person ein? ungeklärtes" Sicherheitsproblem hat wie z. B. die Teilnahme an Protesten, Kritik an der Regierung oder die Aufnahme von Waffen gegen die GoS.
Die Quellen betonten, dass der Abschluss der Sicherheitsüberprüfung keine Garantie dafür ist, dass die Personen bei ihrer Rückkehr nach Syrien nicht von den Behörden festgenommen oder inhaftiert werden. Amnesty International (AI) dokumentierte 12 Fälle von Flüchtlingen, die eine Sicherheitsüberprüfung in der syrischen Botschaft in Amman durchliefen oder im Rahmen einer organisierten Rückführungsaktion zurückkehrten und dennoch nach ihrer Rückkehr von Geheimdienstbeamten festgenommen wurden. Laut Nessma Bashi, Legal Fellow am Syria Justice and Accountability Centre, kann eine Sicherheitsüberprüfung bedeuten, dass sie es einen Tag lang nach Syrien schaffen und am nächsten Tag einen Anruf erhalten und zu einer Sicherheitsabteilung gehen müssen". Als Teil ihres Rückkehrprozesses mussten viele Rückkehrer Rückkehr- oder Versöhnungsformulare ausfüllen, um ihren Status mit den staatlichen Behörden in Einklang zu bringen, während sie gleichzeitig versuchten, eine saubere Weste zu demonstrieren oder den Staat um "Vergebung" zu bitten. Während AI feststellte, dass dieses Verfahren im Ausland nicht zur Verfügung steht und nur durchgeführt werden kann, wenn der Rückkehrer wieder in Syrien ist wies die EIP darauf hin, dass bestimmte Angelegenheiten vom Ausland aus geregelt werden können, darunter die Behebung von illegale Ausreise ohne Ausreisestempel (wenn die Person vor den Auswirkungen der Angriffe bewaffneter Gruppen in ihrem Gebiet geflohen ist) bewaffneter Gruppen in ihrem Gebiet geflohen ist), nicht abgeleisteter Militärdienst oder bürokratische Probleme.
Laut Suhail al-Ghazi, einem syrischen Forscher, der sich auf die Rückkehrdynamik spezialisiert hat, müssen die meisten Rückkehrer, einschließlich, aber nicht beschränkt auf diejenigen, die aus zurückeroberten Gebieten stammen oder illegal ausgereist sind, den Behörden persönliche Informationen zur Verfügung stellen und sich "versöhnen". Wie Human Rights Watch erläuterte, mussten sich die meisten Rückkehrer dem Prozess der Versöhnung unterziehen, unabhängig davon, wie sie das Land verlassen hatten (ob legal oder illegal) und ob sie beabsichtigten, in ein zurückerobertes oder ein versöhntes Gebiet zurückzukehren. Human Rights Watch wurde berichtet, dass die meisten der befragten Männer, die aus Jordanien nach Syrien zurückgekehrt waren, ihren Status klären mussten.
Als Teil des Versöhnungsprozesses waren die Rückkehrer verpflichtet, der Regierung von Syrien persönliche Informationen zu liefern. Nach Angaben des EIP dienten die Rückkehrformulare speziell der Sammlung von Informationen. Das EIP stellte fest, dass in diesen Formularen Fragen zur Vergangenheit der Person oder ihrer Verwandten gestellt werden, die "Interessensprofile" erstellen, die "wahrscheinlich zu einem Verhör und/oder einer Verhaftung" führen würden. In den letzten Jahren wurden dabei auch Informationen über Konten in sozialen Medien (entweder die eigenen oder die von Diaspora-Mitgliedern) abgefragt, manchmal auch Passwörter für die Anmeldung bei diesen Konten.
Der UNCOI berichtete über den Fall eines Rückkehrers aus dem Ausland in das Gouvernement Homs, der im Dezember 2019 nach einer Versöhnung von den Geheimdiensten festgenommen, inhaftiert und gefoltert wurde. Er wurde anschließend freigelassen, nachdem seine Familie Bestechungsgelder für seine Freilassung gezahlt hatte. Der Nachrichtensender SY24 berichtete im Dezember 2021 über die Verhaftung einer Familie bei ihrer Rückkehr aus Nordsyrien nach Damaskus, obwohl der Familienvater einen Versöhnungsantrag gestellt hatte. Als zusätzliche Bedingung für die Rückkehr wurde berichtet, dass alle Bürger, die nach Syrien einreisen wollten, an der Grenze 100 USD umtauschen mussten, wobei der Wechselkurs der syrischen Zentralbank zugrunde gelegt wurde, was dazu führte, dass die Reisenden nur einen Bruchteil des Betrags zurückerhielten. Der obligatorische
Umtausch von 100 USD wurde als Eingriff in die Bewegungsfreiheit kritisiert. Einige Rückkehrer berichteten außerdem, dass sie ab dem Zeitpunkt der Räumung der Wohnung bis zu ihrer Rückkehr Haushaltsrechnungen für Immobilien und rückständige Steuern bezahlen mussten.
(b) Folgen der illegalen Ausreise und der Beantragung von Asyl im Ausland
Im Jahr 2019 gab das syrische Innenministerium das Rundschreiben Nr. 342 heraus, in dem es heißt, dass Personen, die Syrien irregulär verlassen haben, ohne einen Ausreisestempel zu erhalten, bei ihrer Rückkehr keine Probleme mit den Behörden haben werden. Die EIP stellte fest, dass Rückkehrer nicht mehr verpflichtet sind, sich bei einer Sicherheitsdienststelle zu melden, um Fragen zu ihrer irregulären Ausreise zu beantworten. Um überfällige Rechnungen und Steuern zu bezahlen, müssen sie jedoch die Gründe für ihre Ausreise bei der Kriminalpolizei erklären. Dies geschieht in Form einer strafrechtlichen Untersuchung", und die Polizei kann ihre Erklärung über die illegale Ausreise an eine Sicherheitsdienststelle weiterleiten". Diese Informationen und die Tatsache der illegalen Ausreise selbst können "ein ausreichender Grund für eine Vorladung, Vernehmung und/oder Festnahme und Inhaftierung" sein. Darüber hinaus stellte das EIP fest, dass "kaum überwacht" wird, wie Maßnahmen wie der Runderlass Nr. 342 in der Praxis umgesetzt werden.
DIS wies darauf hin, dass "offiziell eine Person, die illegal aus Syrien ausgereist ist, bei der Rückkehr strafrechtlich verfolgt werden kann, es sei denn, die Person hat vor der Rückkehr eine Statusregelung erhalten". Eine syrische Menschenrechtsorganisation, die um Anonymität bat und im April 2022 von DIS befragt wurde, erklärte, dass Personen, die Syrien illegal verlassen haben, sich bei den örtlichen Nachrichtendiensten melden müssen, wo sie "über den Grund ihrer Ausreise und über ihre Aktivitäten während ihres Aufenthalts im Ausland befragt werden". Der Quelle zufolge würden sie, wenn sie den Behörden wegen ihrer Beteiligung an oppositionellen Aktivitäten gemeldet würden, "Gefahr laufen, weiter verhört, inhaftiert und/oder um Geld erpresst zu werden", ansonsten würde ihnen nichts weiter passieren.
Ein syrischer Experte in der Türkei berichtete dem EIP im August 2021, dass Rückkehrer, die das Land illegal, d. h. ohne Ausreisestempel, verlassen hatten, der Kriminalpolizei offiziell ihre Gründe für die illegale Ausreise darlegen mussten. Die Kriminalpolizei war befugt, die Erklärung an eine Sicherheitsbehörde weiterzuleiten, wodurch die Person zu einer "Person von Interesse" wurde, was "eine Vorladung, Verhöre und/oder Festnahme und Inhaftierung" zur Folge haben konnte.
Nach den von AI gesammelten Aussagen von Rückkehrern sahen syrische Beamte Personen, die das Land verlassen hatten, als illoyal und Unterstützer der Opposition an, "entweder aufgrund der Tatsache, dass sie geflohen waren, oder aufgrund des Ortes, an dem sie Zuflucht gesucht hatten". Flüchtlinge wurden "als Verräter angesehen, da sie die syrische Regierung vor den Aufnahmeländern bereitwillig belasten, um dort Schutz zu erhalten". Unterdessen zitierte die DIS eine syrische Menschenrechtsorganisation, die um Anonymität bat und im April 2022 interviewt wurde, mit der Aussage, dass die bloße Tatsache, im Ausland Asyl beantragt zu haben, nicht dazu führe, dass eine Person misshandelt werde, und stellte fest, dass sich die Regierung bewusst sei, dass eine große Zahl der im Ausland lebenden Syrer Flüchtlinge seien und dass die Beantragung von Asyl für sie der einzige Weg sei, um in ihrem Gastland bleiben zu können.
Nach Angaben des Voices for Displaced Syrians Forum (VDSF) und des Operations and Policy Center (OPC) gab fast die Hälfte (48 %) der befragten Rückkehrer in GoS-Gebiete an, dass sie oder ein Familienmitglied Verfolgung erfahren haben, weil sie Syrien illegal verlassen haben, weil sie im Ausland Asyl beantragt haben oder wegen ihres Herkunftsgebiets.
(c) Behandlung von Rückkehrern
Vor allem aufgrund der Beschränkungen der Regierung gegenüber den Vereinten Nationen und dem UNHCR wurde keine systematische Überwachung der Rückkehrer durchgeführt, so dass es nicht möglich ist, Informationen über das Ausmaß der von der Regierung begangenen Misshandlungen und Verstöße gegen die Rückkehrer zu erhalten. In einer vom Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center und dem European Institute of Peace am 11. April 2022 organisierten Podiumsdiskussion erklärte eine Wissenschaftlerin von Human Rights Watch, dass sie "kein Profil erstellen kann, das vorhersagt, wer bei der Rückkehr mit Menschenrechtsverletzungen konfrontiert wird und wer nicht". Laut einer syrischen Menschenrechtsorganisation, die um Anonymität bat und im April 2022 von DIS befragt wurde, gibt es "kein klares Muster für die Art und Weise, wie die Behörden die Rückkehrer behandeln", wobei sie feststellte, dass der einzelne Beamte, der für den Kontrollpunkt oder den Fall des Rückkehrers zuständig ist, eine wichtige Rolle für das Ergebnis spielt.
Quellen zufolge werden Personen, die aus Syrien ausgereist sind, von den syrischen Behörden mit Misstrauen betrachtet, weil sie das Land verlassen haben. Laut Suhail al-Ghazi wird "fast jeder, der zurückkehrt, in irgendeiner Form verhört". Egal, ob es sich um eine Tasse Tee mit den Sicherheitsbehörden oder um eine ausgewachsene Foltersitzung handelt, sie wollen wissen, warum die Menschen das Land verlassen haben. Laut einer syrischen Menschenrechtsorganisation, die um Anonymität bat und von DIS im April 2022 befragt wurde, haben Rückkehrer, die sich nicht an oppositionellen Aktivitäten beteiligt und Syrien nur wegen des Krieges verlassen haben, im Allgemeinen keine Probleme bei ihrer Rückkehr, es sei denn, jemand hat sie in ihrer Abwesenheit bei den Behörden gemeldet und behauptet, sie seien beispielsweise an Aktivitäten gegen die Regierung beteiligt. Dieselbe Quelle stellte jedoch fest, dass "profilierte" Oppositionelle und ihre Familien bei ihrer Rückkehr häufig verhört, inhaftiert und um Geld erpresst werden.
In mehreren Berichten, die während des Berichtszeitraums veröffentlicht wurden, wurden Verstöße gegen Rückkehrer auf der Grundlage von Interviews mit Rückkehrern und ihren Angehörigen dokumentiert. AI dokumentierte 66 Fälle von Personen - Kinder, Frauen und Männer -, die bei ihrer Rückkehr nach Syrien Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren. Von den 66 Fällen waren 59 nach ihrer Rückkehr nach Syrien "rechtswidriger oder willkürlicher Inhaftierung, Folter und anderer Misshandlung, einschließlich Vergewaltigung und sexueller Gewalt, sowie gewaltsamem Verschwindenlassen" ausgesetzt, weil sie aufgrund ihrer Vertreibung als der Opposition zugehörig angesehen wurden. Darüber hinaus wurden 33 Fälle dokumentiert, in denen Rückkehrer während ihrer Inhaftierung und Verhöre gefoltert oder misshandelt wurden, wobei die syrischen Behörden sowohl Frauen als auch Männer verletzten. Ein Drittel der von AI dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen an Rückkehrern ereignete sich in Damaskus oder in der Region Damaskus.
Das SNHR verzeichnete im Jahr 2021 etwa 218 Festnahmen von Rückkehrern (Flüchtlingen und Binnenvertriebenen) in Gebieten unter Regierungskontrolle, darunter auch Frauen und Kinder. Das SHRC dokumentierte im selben Jahr eine ungenannte Zahl von Festnahmen an internationalen Reisehäfen, insbesondere am internationalen Flughafen Damaskus.
Rückkehrer aus dem Ausland wurden aus einer Vielzahl von Gründen verhaftet, am häufigsten unter dem pauschalen Vorwurf des "Terrorismus", der häufig auf der Behauptung beruhte, dass ein Verwandter der politischen/bewaffneten Opposition angehöre, oder weil der Rückkehrer aus einem Gebiet stammte, das früher von der Opposition gehalten wurde oder als oppositionsfreundlich galt, wie Zabadani oder Ghouta im Gouvernement Damaskus. Von den insgesamt 66 von AI erfassten Fällen nahmen die Sicherheitsorganisationen acht Rückkehrer fest, weil einer ihrer nahen Verwandten ein angeblicher "Terrorist" war.
Quellen berichteten über Fälle von Rückkehrern, die von den Geheimdiensten verhaftet wurden, gewaltsam verschwanden oder getötet wurden, weil sie Geld aus dem Ausland zur Unterstützung ihrer Familie in Dar'a geschickt hatten (Vorwurf der Terrorismusfinanzierung), weil sie angeblich an Protesten oder politischen Oppositionsgruppen in den ersten Tagen des syrischen Aufstands teilgenommen hatten oder weil sie angeblich Syrien kritisiert hatten. Andere wurden beschuldigt, für die Regierungen ihrer Gastländer (z. B. Libanon, Türkei oder Golfstaaten) zu spionieren oder sie anderweitig zu unterstützen. Die Behörden nahmen Berichten zufolge auch Rückkehrer ins Visier, die sich zur Unterstützung der syrischen Regierung bekannten, was laut AI die "feindselige Haltung der Regierung gegenüber denjenigen, die außerhalb des Landes Sicherheit suchten", bestätigte. Die meisten ehemals inhaftierten Rückkehrer, die von Human Rights Watch befragt wurden, gaben an, dass sie verschiedenen Arten von Folter ausgesetzt waren, "von Schlägen mit Metallstangen oder Holzstöcken bis hin zu Elektroschocks, die oft mit immer stärkeren Schmerzen verbunden waren. Unter den insgesamt 66 von AI dokumentierten Fällen waren 14 Fälle sexueller Gewalt gegen Frauen, Kinder und Männer durch Angehörige des Sicherheitsapparats, darunter sieben Vergewaltigungen. Ein Inhaftierungsexperte berichtete dem EIP im Mai 2021, dass Rückkehrer, die nach ihrer Rückkehr nach Syrien inhaftiert wurden, regelmäßig berichteten, dass die Vernehmungsbeamten der Sicherheitsbehörden Listen mit Namen von Familienangehörigen, Freunden, Kollegen, Nachbarn, Flüchtlingen, Binnenvertriebenen oder Personen, die derselben (vertriebenen) Gemeinschaft angehören wie die Rückkehrer, verlangten und Folter einsetzten, um die Informationen zu erhalten.
Syrer können in so genannten "Personal grievance cases" genannt werden, die von einzelnen Klägern, einschließlich GoS-Loyalisten, gegen sie eingereicht werden. Dies ist Berichten zufolge ein "zunehmend verbreitetes" Phänomen, insbesondere in Gebieten, die früher von der Opposition gehalten wurden oder "mit bedeutenden Aktivitäten der Opposition in Verbindung gebracht wurden". Die beschuldigte Person wird nicht benachrichtigt, und der Fall erscheint möglicherweise nicht auf den Fahndungslisten der Pass- und Einwanderungsbehörde. Je nach Art der Forderung kann ein solcher Fall über das Sicherheitssystem und nicht über das zivile Justizsystem bearbeitet werden. In einem Beispiel zitierte das EIP eine lokale Quelle aus einer Stadt im Gouvernement Homs, die schätzte, dass bis zu 75 % der Flüchtlinge aus der Stadt im Gouvernement Homs von GoS-Loyalisten wegen persönlicher Beleidigung angezeigt worden sind. Darüber hinaus können die Behörden auch Personen nicht aufgrund ihres persönlichen Profils (das auf einer Fahndungsliste nachprüfbar ist), sondern entlang von "Gemeinschafts- oder Familienlinien" verfolgen. Nach Ansicht der EIP kann dies zu "Risiken führen, die nicht an bestimmte geografische Gebiete oder Gouvernements gebunden sind". Zu dem am 30. April 2022 erlassenen Gesetzesdekret Nr. 7 (weitere Einzelheiten siehe Abschnitt 1.1.1 Willkürliche Inhaftierung und Verschwindenlassen) erklärte der Vorsitzende des Ausschusses für arabische und auswärtige Angelegenheiten der syrischen Volksversammlung, dass die Amnestie mehr als 95 % der Syrer im Ausland, die in der Opposition sind, abdeckt. Er fügte hinzu, das Dekret solle die Rückkehr syrischer Flüchtlinge nach Syrien fördern.
Syrians for Truth and Justice (STJ), eine unabhängige Nichtregierungsorganisation, die Menschenrechtsverletzungen in Syrien dokumentiert, erklärte jedoch am 25. Mai 2022, dass "es für die syrische Justiz schwierig und sogar unmöglich sein wird, das Dekret Nr. 7 auf Zehntausende von männlichen und weiblichen Gefangenen und gewaltsam Verschwundenen anzuwenden, die von den Sicherheitsdiensten festgehalten werden", da diese Sicherheitsdienste straffrei ausgehen, und "die Gefangenen der regierungsfreundlichen Syrischen Nationalen Verteidigung und der in Syrien aktiven bewaffneten Milizen, wie der iranischen und libanesischen, freizulassen, da sich ihre Gefängnisse und Haftanstalten der Kontrolle des Staates entziehen".
Die oppositionsnahen Medien Orient News berichteten am 31. Mai 2022, dass 33 syrische Männer, die aus dem Libanon zurückkehrten, an Kontrollpunkten in den Außenbezirken von Qutaifeh im ländlichen Damaskus festgenommen wurden. Die Quelle fügte hinzu, dass die Rückkehr nach dem Amnestieerlass erfolgte und dass es sich bei den verhafteten Männern mehrheitlich um Wehrdienstverweigerer handelte. Darüber hinaus berichtete SY24 am 7. Juni 2022, dass eine dreiköpfige Familie, darunter ein 12-jähriges Kind, im Viertel Barzeh in Damaskus-Stadt von der Abteilung für politische Sicherheit festgenommen wurde. Der Quelle zufolge war die Familie Anfang März 2022 aus dem Libanon zurückgekehrt, und die Verhaftung erfolgte unter dem Vorwurf der Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen und der Bereitstellung logistischer Informationen über die Positionen und Bewegungen der GoS-Kräfte in Damaskus.
Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt [a-12132-2] vom 14. Juni 2023
Generelle Regelungen und Informationen aus der Praxis betreffend das aktuelle Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt am Grenzübergang
In seinem Länderinformationsbericht zu Syrien vom Mai 2022 schreibt das niederländische Außenministerium unter Bezugnahme auf eine vertrauliche Quelle Folgendes: Ein Mann, der aus dem Ausland (über den Land- oder Luftweg) nach Syrien zurückkehre und einen Dienst als Reservist abzuleisten habe, werde von Grenzbeamt·innen bei seiner Einreise ins Land darüber informiert. Er müsse sich dann innerhalb von 15 Tagen beim Rekrutierungsbüro melden. Wenn dies nicht erfolge, könne er, etwa an einem Checkpoint oder im Zuge einer Verhaftungskampagne festgenommen werden. Der vertraulichen Quelle zufolge seien zwischen Mai 2021 und Mai 2022 mindestens ein paar Dutzend Rückkehrer als Reservisten rekrutiert worden. Auch einer weiteren Quelle seien Fälle von Rückkehrern bekannt, die dazu aufgefordert worden seien, als Reservisten zu dienen oder ihren Wehrdienst abzuleisten (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, Sitzung 53). In einer E-Mail-Auskunft vom 29. Mai 2023 bestätigt Muhsen Al-Mustafa, Forscher am Omran Center for Strategic Studies, die 15-Tage-Frist. Al-Mustafa zufolge würden alle Personen, die nach Syrien einreisen und alle, die eine Einberufung zum Reservedienst erhalten hätten, eine Sicherheitsüberprüfung durch syrische Behörden durchlaufen. Männern, die zum Reservedienst einberufen worden seien, würde ein Schriftstück überreicht, das von der für sie zuständigen Rekrutierungsabteilung (AR: Schu’bat al-Tadschnid) innerhalb von 15 Tagen überprüft werden müsse. Erfolge die Aushändigung des Dokumentes nicht innerhalb dieser Frist, werde der zum Reservedienst Einberufene verhaftet und habe seinen Reservedienst abzuleisten. In manchen Fällen, insbesondere in ländlichen Gebieten, sei es Al-Mustafa zufolge für Reservisten möglich, Soldaten an Checkpoints zu bestechen, um nicht in den Reservedienst eintreten zu müssen (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Auch Jusoor for Studies, eine unabhängige Forschungseinrichtung mit Sitz in der Türkei und ein Think Tank, der sich unter anderem mit Syrien befasst, bestätigte in einer E-Mail-Auskunft vom 6. Juni 2023, dass diese Regelung noch aufrecht sei. Aus dem Ausland nach Syrien einreisenden Reservisten mit aufrechtem Einberufungsbefehl würden an der Grenze die Ausweisdokumente von Grenzbeamt·innen abgenommen. Sie würden andere Dokumente erhalten und aufgefordert, mit diesen im Rekrutierungsbüro zu erscheinen. Im Rekrutierungsbüro würden sie dann offiziell über die Einberufung zum Reservisten informiert (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023). Unter Bezugnahme auf verschiedene Quellen erläutert das Danish Immigration Service (DIS) in einem Bericht vom Mai 2020, dass die militärische Einberufung von Individuen an Grenzübergängen erfolge. Beamt·innen an Checkpoints und an der Grenze hätten Zugang zu einer zentralisierten Datenbank mit den Namen aller, nach denen für den Militärdienst gefahndet werde (DIS, Mai 2020, Sitzung 11).
In einem Telefonat am 25. Mai 2023 erklärt Fabrice Balanche, Associate Professor und Forschungsdirektor an der Universität von Lyon 2, gegenüber ACCORD, dass in Syrien die meisten Männer, die die Wehrpflicht abgeleistet hätten, bis zum Alter von 50 Jahren Reservisten seien. Es gebe hier nur sehr wenige Ausnahmen. Für potentiell reservepflichtige, im Ausland lebende Syrer würde die Einreise nach Syrien immer das Risiko der Einberufung zum Reservedienst bedeuten, solange sie noch im reservepflichtigen Alter seien. Männern, die sich im Ausland befänden und etwa über den Libanon nach Syrien einreisen wollen, sei zu empfehlen, durch eine andere Person an der Grenze überprüfen zu lassen, ob sie für den Reservedienst einberufen worden seien. Würden die Betroffenen selbst am Grenzübergang erscheinen, bestehe die Gefahr, dass sie sofort einberufen würden, sollte ein aufrechter Einberufungsbefehl für den Reservedienst bestehen. An der Grenze könne die vorausgeschickte Person gegen Bezahlung eines Grenzbeamten, elektronisch überprüfen lassen, ob ein Einberufungsbefehl für den Reservedienst bestehe. Sollte ihr Name nicht aufscheinen, könne die betreffende Person das Risiko der Einreise nach Syrien auf sich nehmen. Eine Einreise sei dennoch riskant, denn ein Mann könne an einem der zahlreichen Checkpoints im Land unter dem Vorwand eines bestehenden Einberufungsbefehls oder eines vorhandenen politischen Berichts („political report“; AR: taqrir) zu seiner Person vom syrischen Geheimdienst oder dem Militär festgenommen und inhaftiert zu werden, bis ein Freikauf aus der Haft erfolge. Personen, die nicht imstande oder willens seien, sich freizukaufen, würden eine wochenlange Inhaftierung riskieren. Es würden auch oft Fehler passieren. Es könne passieren, dass Personen, deren Namen an den Landesgrenzen nicht für den Reservedienst aufscheinen, in der Heimatstadt vom Militärbüro erfahren, dass durchaus ein offener Einberufungsbefehl zum Reservedienst bestehe. Es sei dem Experten zufolge daher besser, sowohl an der Außengrenze des Landes prüfen zu lassen, ob ein Einberufungsbefehl bestehe, als auch in der Herkunftsstadt/im Herkunftsdorf der jeweiligen Person, etwa indem ein/e dort lebende/r Verwandte/r um Einholung der Auskunft gebeten würde (Balanche, 24. Mai 2023).
Balanche seien viele Beispiele für Männer bekannt, deren Namen nicht in der Reservistenliste am Grenzübergang bei der Einreise in von der Regierung kontrollierte Gebiete in Syrien aufgeschienen seien, die nach Einreise ins Land jedoch trotzdem inhaftiert worden seien. Es sei laut Balanche für jeden Mann zwischen 18 und 50 Jahren riskant, nach Syrien einzureisen, besonders in die von der Assad-Regierung kontrollierten Gebiete, da nie vorhergesagt werden könne, was passieren werde (Balanche, 24. Mai 2023).
Generelle Regelungen und Informationen aus der Praxis, wonach ein registrierter Reservist unmittelbar bei der Einreise aus dem Ausland in das syrische Staatsgebiet eingezogen und/oder eingesperrt wird
Unter Bezugnahme auf Aussagen eines abtrünnigen Obersts [Passage entfernt] erläutert Al-Mustafa, dass Rückkehrer, die vor der Rückkehr zum Reservedienst einberufen worden seien und ohne Angabe von Gründen Syrien verlassen hätten, vor Gericht kommen und sofort verhaftet werden könnten (Al-Mustafa, 29. Mai 2023).
Laut Artikel 34 des Gesetzesdekretes 104 von 2011 zum Mobilisierungsgesetz hat jede Person, die im Rahmen des Mobilisierungsplanes mobilisiert wurde und eine Adressänderung vorgenommen hat, die zuständige Division innerhalb von zwei Monaten, wenn sie sich im Ausland befindet, und 15 Tagen, wenn sie sich in Syrien befindet, darüber zu informieren. Zuwiderhandeln wird Artikel 34 zufolge mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis drei Monaten geahndet (Gesetzesdekret Nr. 104 von 2011, Artikel 34).
Laut Artikel 104 des Gesetzesdekretes Nr. 30 von 2007 zur Wehrpflicht hat jeder Reservist, der seinen in der Rekrutierungsabteilung registrierten Wohnort wechselt, dies innerhalb eines Monats nach dem Tag des erfolgten Wechsels zu melden. Zuwiderhandeln werde laut Artikel 104 mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis drei Monaten und einer Geldstrafe in der Höhe zweier Monatsgehälter eines Soldaten ersten Grades begegnet. Dieselbe Strafe gilt auch für Reservisten, die verreisen möchten oder sich außerhalb des Landes befinden, wenn sie ihren vorgesehenen Pflichten nicht nachkommen (Gesetzesdekret Nr. 104 von 2011, Artikel 34).
In zwei Fällen würden registrierte Reservisten bei einer Einreise nach Syrien aus dem Ausland sofort festgenommen, ohne eine Gnadenfrist zu erhalten, so Jusoor for Studies. Der erste Fall trete ein, wenn ein Reservist die Statusregelung an einer syrischen Vertretung nicht abgeschlossen habe, während er sich noch außerhalb Syriens befunden habe. Der zweite Fall trete ein, wenn nach dem Reservisten aus Sicherheitsgründen gefahndet werde. Jusoor for Studies zufolge habe es viele Fälle registrierter Reservisten gegeben, die aus einem dieser zwei Gründe festgenommen worden seien. Überdies würden auch registrierte Reservisten, die den regulären Weg beschritten hätten, die also ihren Status vor Einreise bei einer Auslandsvertretung geregelt hätten und nach denen nicht aus Sicherheitsgründen gefahndet werde, festgenommen, um Geldzahlungen von deren Familien zu erpressen. Reservisten, die aus dem Ausland nach Syrien einreisen und gegen die ein Sicherheitsbericht (ein Memorandum der Sicherheitsbehörden auf Grundlage eines schriftlichen Berichts) und eine militärpolizeiliche Meldung vorliegen würden, würden auf Grundlage des Sicherheitsberichts sofort festgenommen, erläutert Jusoor for Studies. Nach Klärung der Angelegenheit („resolving the matter“), würden sie unmittelbar in den Reservedienst überstellt und bekämen nicht die Gelegenheit, Beschwerde einzulegen (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).
Ein Artikel vom April 2023 des oppositionellen, syrischen Nachrichtensenders Syria TV mit Sitz in Istanbul berichtet von der Festnahme zweier junger Männer, die zum Reservedienst einberufen worden seien, am Grenzübergang Masnaa zum Libanon durch den syrischen Geheimdienst, nachdem die beiden aus dem Libanon ausgewiesen worden seien. Sie seien in eine Haftanstalt in Damaskus gebracht worden (Syria TV, 24. April 2023).
In seiner E-Mail-Auskunft erläutert Al-Mustafa, dass ihm in den letzten Jahren keine Fälle bekannt geworden seien, in denen registrierte Reservisten, die aus dem Ausland nach Syrien eingereist seien, unmittelbar festgenommen worden seien oder sofort in den Reservedienst eintreten hätten müssen (Al-Mustafa, 29. Mai 2023).
Einreise eines registrierten Reservisten aus dem Ausland in Gebiete, welche von der Syrischen Nationalarmee (SNA)/Freien Syrischen Armee (FSA), den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (KR: Yekîneyên Parastina Gel; YPG) bzw. der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) kontrolliert werden, oder in Gebiete, welche unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen
Personen, die von der Türkei aus etwa nach Idlib, Afrin oder Dscharabulus [1] reisen würden, könnten Balanche zufolge nicht von der syrischen Regierung gefunden und zum Dienst in der Armee einberufen werden, weil die syrische Regierung nicht von ihrer Einreise erfahre. Bei einer Einreise in die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) über den Grenzübergang Faysh Khabour aus dem Irak, erfahre die syrische Regierung offiziell nichts von der Einreise nach Syrien. Daran bestünden jedoch Zweifel, da eine informelle Vereinbarung zwischen der AANES und der syrischen Regierung zu bestehen scheine. Die syrische Regierung wisse, wer über Faysh Khabour nach Syrien einreise. Es könne auch sein, dass sich Spitzel der syrischen Regierung in der Region befinden, da die syrische Regierung genau überwache, wer über Faysh Khabour nach Syrien einreise. Als Reservist könne man jedoch in der AANES-kontrollierten Region nicht von der syrischen Regierung gefasst werden, außer man betrete von der Regierung kontrollierte Gebiete in Qamischli oder Al-Hasaka, da beide Städte unter geteilter Kontrolle stünden. In Qamischli gebe es einen Sicherheitsabschnitt („security square“), der unter der Kontrolle der syrischen Armee stehe, während der Rest der Stadt von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (KR: Yekîneyên Parastina Gel; YPG) kontrolliert werde. In der Nähe des Flughafens befinde sich eine Zone im Graubereich, wo es möglich sei, von regierungsnahen Kräften festgenommen zu werden. In Al-Hasaka sei die Regierungskontrolle auf einen sehr kleinen Abschnitt beschränkt, der weniger als einen Quadratkilometer umfasse. Abgesehen davon sei es für Reservisten in den AANES-kontrollierten Gebieten relativ sicher („quite safe“) (Balanche, 24. Mai 2023).
Innerstaatlicher Übertritt eines registrierten Reservisten von einem Gebiet, welches nicht unter Kontrolle der syrischen Assad-Regierung steht, in ein vom syrischen Regime kontrolliertes Gebiet
Innerhalb von Syrien sei es Balanche zufolge grundsätzlich möglich, zwischen den von unterschiedlichen Akteuren kontrollierten Gebieten zu reisen, sofern eine Person keine Probleme mit der syrischen Regierung habe. Es sei etwa möglich, von Damaskus nach Raqqa und von dort nach Aleppo zu reisen. Frauen und ältere Personen würden zwischen den verschiedenen Gebieten hin- und herreisen. Für Männer zwischen 18 und 50 Jahren sei es besser, die eigenen Gebiete nicht zu verlassen, da sie zum Militärdienst einberufen werden könnten (Balanche, 24. Mai 2023). Registrierte Reservisten, die aus einem Gebiet, welches nicht unter Kontrolle der syrischen Assad-Regierung steht, in ein vom syrischen Regime kontrolliertes Gebiet einreisen würden, könnten laut Al-Mustafa verhaftet und sofort zur Ableistung des Reservedienstes entsendet werden (Al-Mustafa, 29. Mai 2023).
Sich zwischen den verschiedenen Gebieten hin- und herzubewegen sei sehr schwierig, so Al-Mustafa. In den meisten Fällen würde dies mit Hilfe von Schmugglern erfolgen. Es gebe offizielle Übergänge an der Grenze zwischen AANES-Gebieten und von der Regierung kontrollierten Gebieten. Der Ein- und Ausreiseprozess zwischen den Oppositionsgebieten und den Regierungsgebieten sei dagegen sehr kompliziert (Al-Mustafa, 29. Mai 2023).
Jusoor for Studies zufolge seien die Sicherheitsabläufe für Personen, die in einem Gebiet in Syrien leben, das nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung stehe, und in von der Regierung kontrolliertes Gebiet einreisen, strenger als jene für Personen, die außerhalb des Landes leben würden. Personen, die aus Gebieten unter Kontrolle der Opposition oder aus AANES-Gebieten einreisen würden, würden verhaftet, sofern sie keine Statusregelung durchgeführt hätten und einen bestimmten Geldbetrag gezahlt hätten, bevor sie in von der Regierung kontrollierte Gebiete eingereist seien (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).
Die Ausstellung von Reisegenehmigungen für Reisen aus nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten in von der Regierung kontrollierte Gebiete sei möglich, wenn Vereinbarungen oder Übereinkünfte zwischen den verschiedenen Parteien bestünden. Es habe etwa Vereinbarungen zwischen AANES und der syrischen Regierung gegeben, die die Überstellung und Behandlung von Patient·innen in Krankenhäusern in von der Regierung kontrollierten Gebieten erlaubt hätten, ohne dass diese festgenommen worden seien (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).
Reise jemand aus dem Irak über Faysh Khabour nach Syrien ein, sei eine legale Einreise in von der Regierung kontrollierte Gebiete nicht möglich, so Balanche. Wenn eine aus dem Ausland einreisende Person etwa nach Damaskus reisen wolle, müsse sie über einen offiziellen Grenzübergang unter Kontrolle der syrischen Regierung etwa über den Libanon oder die jordanisch-syrische Grenze, einreisen. Eine Einreise über den Grenzübergang Faysh Khabour gelte offiziell nicht als Einreise nach Syrien und der Reisepass werde nicht abgestempelt. Man erhalte bei der Einreise lediglich ein „Papiervisum“. Sollte eine Person, dennoch versuchen, zum Beispiel nach Damaskus weiterzureisen, würde sie festgenommen werden (Balanche, 24. Mai 2023).
Für einen registrierten Reservisten sei es laut Balanche nicht möglich, aus einem von der Regierung kontrollierten Gebiet in die anderen Gebiete zu reisen. Das syrische Militär oder die Polizei würde das nicht zulassen, denn ein Mann im reservedienstfähigen Alter könne auf diese Weise aus dem Gebiet der syrischen Regierung oder aus Syrien entkommen. Nur Männer über 50 und Frauen würden Reisen in diese Richtung antreten. Männer im reservedienstfähigen Alter würden eine Sondererlaubnis benötigen, was sehr kompliziert sei. Nur sehr wenigen Männern im Alter zwischen 18 und 50 Jahren würde es gelingen, die von der Regierung kontrollierten Gebiete zu verlassen. Viele Menschen würden versuchen, mithilfe von Schmugglern zwischen den Gebieten unter Kontrolle verschiedener Akteure zu reisen, doch dies sei enorm riskant. Andersherum sei eine Einreise in Regierungsgebiete möglich, aber Männer, die im wehrdienstpflichtigen Alter seien und ihren Wehrdienst nicht abgeleistet hätten, würden umgehend festgenommen und einberufen werden (Balanche, 24. Mai 2023).
Al-Mustafa zufolge würden an den Übergängen der Gebiete unter Kontrolle der verschiedenen Akteure reguläre Sicherheitsüberprüfungen erfolgen, auf deren Grundlage weiter vorgegangen werde (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Bei dieser Sicherheitsüberprüfung werde die nationale Identifikationsnummer („national number“) der betreffenden Person von einem Geheimdienst- oder Militärbeamten verifiziert. Auf diese Weise werde sichergestellt, dass nicht aus Sicherheitsgründen im Zusammenhang mit Oppositionstätigkeiten oder für den Militär- oder Reservedienst nach der Person gefahndet werde. Werde die Person aufgrund von Oppositionstätigkeiten gesucht, werde sie umgehend verhaftet. Werde nach der Person für den Militär- oder Reservedienst gefahndet, gebe es zwei Optionen: Personen, deren zuständiges Rekrutierungsbüro sich in von der Regierung kontrollierten Gebieten befände, würden aufgefordert, sich dort zu melden. Personen, deren zuständiges Rekrutierungsbüro sich in einem Gebiet befände, das nicht von der Regierung kontrolliert werde, könnten festgenommen und zum Zweck der Ausübung ihres Militär-/Reservedienstes der Militärpolizei ausgehändigt werden. Al-Mustafa könne letztere Vorgangsweise jedoch nicht zu 100 Prozent bestätigen und ihm seien solche Fälle nicht bekannt (Al-Mustafa, 31. Mai 2023). Laut Balanche gebe es an den Übergängen von innerstaatlichem Gebiet, welches nicht unter Kontrolle der syrischen Assad-Regierung steht, in ein vom syrischen Regime kontrolliertes Gebiet Checkpoints. Hier würden Ausweise der Reisenden kontrolliert und es würde gefragt, warum man in das jeweilige Gebiet einreisen wolle, ob man Verwandte in der Gegend habe und ob jemand bürgen könne, dass man nicht dem sogenannten Islamischen Staat (IS; auch Daesch/Daesh) oder einer Terrorgruppe angehöre (Balanche, 24. Mai 2023).
Balanche seien keine Aufzeichnungen und/oder Berichte darüber, wie viele Personen zwischen diesen Gebieten ein- und ausreisen, bekannt (Balanche, 24. Mai 2023). In seiner E-Mail-Auskunft vom Mai 2023 erklärt Al-Mustafa, dass es nahezu unmöglich sei, an Informationen zur Ein- und Ausreise von Personen zwischen den verschiedenen Gebieten zu gelangen (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Jusoor for Studies erklärt in der E-Mail-Auskunft vom Juni 2023, dass es dazu keine offiziellen Statistiken gebe, da solche Bewegungen meistens über inoffizielle Kanäle und Schmuggelnetzwerke ablaufen würden (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).
Balanche kenne keine Fälle von Reservisten, die bei einer innerstaatlichen Einreise in das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet unmittelbar eingezogen wurden. Der Experte erläutert, dass Syrer, die wüssten, dass für sie die Gefahr bestehe, zum Reservedienst eingezogen zu werden, das sehr hohe Risiko kennen würden, das mit einer Einreise in von der Regierung kontrolliertes Gebiet zusammenhänge. Männer mit aufrechtem Einberufungsbefehl zum Reservedienst könnten Balanche zufolge an den Territorialgrenzen sofort abgeführt werden (Balanche, 24. Mai 2023). In seiner E-Mail-Auskunft vom Mai 2023 erklärt Al-Mustafa, dass es nahezu unmöglich sei, an Informationen zur Frage zu gelangen, inwiefern Reservisten bei einer innerstaatlichen Einreise in das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet unmittelbar eingezogen wurden (Al-Mustafa, 29. Mai 2023). Jusoor for Studies erklärt in der E-Mail-Auskunft vom Juni 2023, dass die Informationen, die dazu in öffentlich zugänglichen Quellen vorhanden seien, sehr begrenzt seien. Manchmal würden Medien mit Sitz außerhalb Syriens von solchen Vorfällen berichten. Im Allgemeinen seien Verwandte von Personen, die festgenommen worden seien, oft zögerlich, sich mit Medien oder Organisationen auszutauschen, weil das ihr eigenes Leben und das Leben der Festgenommenen gefährde (Jusoor for Studies, 6. Juni 2023).
Generelle Regelungen und/oder Informationen aus der Praxis, ob es für einen Reservisten möglich ist, für einen kurzen (bis zu mehrmonatigen) Aufenthalt aus dem Ausland nach Syrien einzureisen, ohne unmittelbar zum Reservedienst einberufen zu werden
Laut einem Webseiteneintrag der dem syrischen Verteidigungsministerium unterstellten Generaldirektion für Rekrutierungsangelegenheiten sei es Auslandssyrern möglich, um eine Befreiung vom Reservedienst anzusuchen. Ein Ansuchen werde bewilligt, wenn sich das Datum der Ausreise mit dem Datum der Versendung der Reservediensteinberufung überschneide. Personen, deren Ansuchen bewilligt worden sei, sei es erlaubt, Syrien pro Kalenderjahr für eine Zeitspanne von 90 Tagen zu besuchen (Syrien, Generaldirektion für Rekrutierungsangelegenheiten, ohne Datum). Dies wird auch im DIS-Bericht vom Mai 2020 zum Militärdienst in Syrien beschrieben. Unter Bezugnahme auf das syrische Außenministerium beschreibt DIS weiters, dass zum Zweck der Antragstellung das vollständig ausgefüllte betreffende Formular erforderlich sei sowie eine Bestätigung über das Betreten und Verlassen des Landes und das Wehrdienstheft, sofern es im Besitz der Person sei. Überdies sei die Vorlage eines syrischen Reisepasses oder Ausweises oder eines Auszuges aus dem syrischen Personenstandsregister erforderlich. Wenn der Antrag bewilligt werde, erhalte der Antragsteller ein Dokument, das den Aufschub seines Reservedienstes bestätige (DIS, Mai 2020, Sitzung 29-30).
In einem Artikel von Eqtesad, der Wirtschaftsnachrichtenseite der in Homs gegründeten und der Revolution nahestehenden Onlinezeitung Zaman al-Wasl, vom 19. Oktober 2019 wird von einer Reihe von Syrern berichtet, die über die oben beschriebene Möglichkeit aus dem Kuwait, aus Saudi-Arabien und dem Libanon nach Syrien eingereist seien und sich dort maximal 90 Tage aufgehalten hätten, ohne zum Dienst beim Militär einberufen zu werden. Ein Syrer, der aus dem Libanon eingereist sei, sei jedoch an der Grenze trotz erfolgter Bewilligung seines Antrages zur zeitlich begrenzten Einreise nach Syrien, einberufen worden (Eqtesad, 31. Oktober 2019; siehe auch DIS, Mai 2020, Sitzung 29-30). In einem Interview mit DIS im Februar 2020 habe ein Vertreter des Think Tanks Jusoor for Studies ausgesagt, dass ihm viele Männer bekannt seien, die von dieser Einreisemöglichkeit Gebrauch gemacht hätten. Männer unterschiedlichen Alters hätten bei den syrischen Vertretungsbehörden um einen Besuch in Syrien angesucht und seien nach Syrien gereist, um ihre Familien für eine gewisse Zeitspanne zu besuchen. Dem Vertreter zufolge stünde diese Option jedoch Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern nicht zur Verfügung. Auch Omran Studies habe gegenüber DIS bestätigt, dass diese Regelung, die Männern im Wehrpflichtalter die Möglichkeit gebe, Syrien für drei Monate zu besuchen, ohne einberufen zu werden, von der syrischen Regierung umgesetzt werde. Einem von DIS interviewten syrischen Aktivisten zufolge sei eine Rückkehr nach Syrien auf Grundlage dieser Regelung gefährlich (DIS, Mai 2020, Sitzung 29-30).
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Eheschließungen, deren Voraussetzungen und Eheregistrierung vom 05.05.2017 sowie Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht Henrich/Dutta/Ebert: Syrien, Arabische Republik Stand 06.05.2021
Zusammenfassung:
Ehen können in Syrien nachträglich registriert werden, wobei diese Möglichkeit kriegsbedingt örtlich und zeitlich variieren kann. Es gibt auch Stellvertreterehen.
Einzelquellen:
Das Personenstandsgesetz (letzte Änderung 2019) regelt das Verhältnis zu den Personenstandsrechten der einzelnen (anerkannten) Konfessionen mit Ausnahme der Katholiken, die seit 2006 aufgrund eines eigenen Personenstandsgesetzes nicht mehr in dem allgemeinen Gesetz inkludiert sind.
Syrische Rechtsnormen zur Eheschließung inkl. Stellvertreterehe
Übersicht
römisch eins) Familiäre Beziehungen in Syrien werden von religiösen bzw. auf Religion basierten Gesetzen reguliert. Das relevanteste Gesetz ist dabei das auf islamischen Rechtsquellen, va. auf islamischer Rechtsprechung basierende Syrische Personenstandsgesetz (weiters: PSG) Nr. 59/1953 mit Änderungen durch legislatives Dekret 34/1975, legislatives Dekret 76/2010 (Änderungen im Erbschaftsrecht) und ÄndG Nr 4/2019 vom 07.02.2019. Gemäß Artikel 306, gilt dieses Gesetz vorbehaltlich anderer, in den Artikel 307 und 308 enthaltenen Bestimmungen für alle Syrer. Für Angehörige der drusischen, christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften finden sich Ausnahmen von der Anwendung des Gesetzes. Für Drusen ist die Anwendung von im Widerspruch zu in Artikel 307 aufgelisteten Werten stehenden Vorschriften ausgeschlossen (Artikel 307,). Für Angehörige der christlichen und jüdischen Gemeinschaft finden auf näher umschriebene Bereiche religiöse Vorschriften statt (Artikel 308,). Seit 2006 existiert ein eigenes Personenstandsgesetz für Katholiken (Dekret Nr. 31/2006 vom 18.6.2006), die daher gänzlich aus dem Anwendungsbereich des PSG fallen.
Eine deutsche Übersetzung des Gesetzes, allerdings ohne die durch das Änderungsgesetz 2010 eingearbeiteten Neuerungen findet sich in der von Bergmann/Ferid/Henrich herausgegebenen Loseblattsammlung "Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht" (Blg. 1); eine kurze allgemeine Einführung in das Personenstandsgesetz in: Esther van Eijk; Divorce Practices in Muslim and Christian Courts (Blg. 4).
römisch II) Gemäß Artikel eins, PSG ist eine Eheschließung ein Vertrag zwischen einem Mann und einer Frau, durch den ihnen der Umgang miteinander erlaubt wird und der die Begründung des gemeinschaftlichen Lebens und die Zeugung von Nachkommen bezweckt. Die Ehe wird durch das Angebot des einen und die Annahme dieses Angebot durch den anderen Verlobten geschlossen (Artikel 5, PSG), wobei Angebot und Annahme des Ehevertrags in allen Punkten übereinstimmen und in ein und derselben Verhandlung erklärt werden müssen (Artikel 11, PSG). Dies kann wörtlich oder unter Verwendung von üblicherweise in diesem Sinn zu verstehenden Ausdrucksformen (Artikel 6, PSG) oder, bei Abwesenheit eines der beiden Vertragsteile, schriftlich erklärt werden (Artikel 7, PSG). Für die Gültigkeit des Ehevertrags bedarf es der Anwesenheit zweier männlicher Zeugen oder eines Mannes und zweier Frauen islamischen Glaubens (Artikel 12, PSG) sowie allenfalls eines Ehevormunds.
Die Ehefähigkeit setzt geistige Gesundheit und Geschlechtsreife voraus (Artikel 15, (1) PSG) und wird der Mann und die Frau mit vollendung des 18. Lebensjahres ehemündig (Artikel 16, PSG, ÄndG 2019). Jugendliche, die das 15. Lebensalter vollendet haben, können gemäß Artikel 18, PSG (ÄmdG 2019) eine Ehe dann eingehen, wenn der zuständige Richter die körperliche Reife und die Geschlechtsreife der beiden Jugendlichen als erwiesen ansieht. Gemäß Artikel 18, Absatz 2, PSG bedarf die Eheschließung Jugendlicher zusätzlich grundsätzlich der Zustimmung des Vaters oder Großvaters, wenn diese Ehevormund gemäß Artikel 21, ff. PSG sind.
römisch III) Im Falle einer Eheschließung vor einem Sharia-Gericht (Sharia-Gerichte sind gemäß Artikel 33, des Gesetzes über Justizbehörden Nr. 98/1961 einer von drei Typen von Personenstandsgerichten):
Vor der Eheschließung ist unter Beilage einer Reihe von in Artikel 40, PSG aufgezählter Urkunden ein Antrag auf Eheschließung beim Richter einzureichen. Bei Vorlage aller erforderlichen Unterlagen gibt dieser seine Zustimmung zur Eheschließung. Falls ein Ehevertrag nicht binnen 6 Monaten zustande kommt, ist die erteilte richterliche Zustimmung hinfällig. Die Trauung der Brautleute erfolgt durch den Richter oder einen von ihm ermächtigten Rechtspfleger. Artikel 44, PSG zählt die Angaben auf, die der Ehevertrag enthalten muss.
Für Militärangehörige und Personen im wehrpflichtigen Alter verlangt Artikel 40, PSG eine besondere Heiratserlaubnis. Besonders in Fällen, in denen die Ehe auf traditionelle Weise außerhalb eines Gerichts geschlossen wurde und die erforderliche Registrierung nicht vorgenommen wurde (sh. unten), wird die Unterlassung der Registrierung in der Praxis der oft mit dem Unvermögen oder den Schwierigkeiten bei der Beschaffung einer solchen Erlaubnis begründet.
Jede in Syrien abgeschlossene Ehe bedarf der Eintragung in das Zivilregister, um rechtliche Folgen auszulösen. Dies gilt auch für die vor einem (Sharia-)Gericht geschlossenen Ehen. Gemäß Artikel 45, PSG fertigt der Rechtspfleger nach erfolgter Trauung der Brautleute eine besondere Urkunde über die Eheschließung an und sendet binnen zehn Tagen nach der Heirat eine Abschrift der Urkunde an das Standesamt.
Gemäß Artikel 30, des Dekrets No. 26 aus 2007 über den zivilen Status gelten Ehen erst als rechtsgültig und daher durchsetzbar, wenn sie im Zivilregister eingetragen wurden.
römisch IV) Außerhalb eines Gerichts abgeschlossene Ehen:
In Syrien können auch außerhalb eines Gerichts abgeschlossene Ehen (sog. traditionelle Ehen) als gültig angesehen werden. Theoretisch kann eine Ehe überall und durch jedermann abgeschlossen werden, in der Praxis erfolgen diese Eheschließungen jedoch in der Regel vor einem Geistlichen (Sheich). Besonders im ländlichen Raum ist diese Art der Eheschließung weit verbreitet sind. Die die Ehe abschließende Person muss das Vorliegen der in Artikel 40, PSG aufgezählten rechtlichen Voraussetzungen prüfen; andernfalls droht eine Strafe nach dem Strafgesetzbuch (in der Praxis jedoch offenbar große Nachsicht).
Nach Abschluss einer traditionellen Ehe muss deren Gültigkeit zunächst durch den Richter (idR vor Sharia-Gerichten) bestätigt werden. Die Bestätigung der Gültigkeit der Ehe kann auch rückwirkend erfolgen. Gemäß Artikel 40, (2) PSG wird eine außerhalb des Gerichts geschlossene Ehe nur anerkannt, wenn die in Artikel 40, (1) PSG genannten Voraussetzungen gegeben sind (Auflistung sh. blg Auszug aus der Loseblattsammlung von Bergmann/Ferid Sitzung 13; im Wesentlichen geht es um die Vorlage bestimmter Dokumente). Im Fall der zwischenzeitigen Geburt eines Kindes oder bei offenkundiger Schwangerschaft wird die Ehe anerkannt, auch wenn nicht alle Bedingungen eingehalten wurden (in der Praxis ist die Vorlage eines medizinischen Attests über eine erlittene Fehlgeburt ausreichend).
Nach dieser Bestätigung durch einen Richter muss die Ehe im Zivilregister eingetragen werden; auch hier ist aber eine rückwirkende Eintragung zulässig. Erst mit dieser Eintragung im Zivilregister sind die Rechtfolgen der Eheschließung durchsetzbar.
Im ländlichen Raum unterbleibt die nachträgliche Registrierung der auf traditionelle Weise geschlossenen Ehe häufig.
römisch fünf) Stellvertretung bei der Ehe (tawkîl) ist gemäß Artikel 8, PSG zulässig und durchaus üblich.
1 Esther van Eijk; Divorce Practices in Muslim and Christian Courts in Syria, in: Maaike Voorhoeve (Hg.), Family Law in Islam: Divorce, Marriage and Women in the Muslim World (2012), 148f (Blg.4).
2 Sh. Esther van Eijk; Divorce Practices in Muslim and Christian Courts (Blg. 4), Sitzung 150f.
3 Oft wird in diesem Zusammenhang der Begriff urfi-Ehe verwendet, doch weist van Eijk in ihrem Werk zu Familienrecht in Syrien (Blg. 3) darauf hin, dass dieser Begriff ein Sammelbegriff für verschiedene Ehepraktiken ist, der sowohl im Einklang mit islamischem Recht geschlossene Ehen umfassen kann als auch solche, deren rechtlicher Status umstritten ist Sitzung 169). Daher wird von der Verwendung dieses Begriffes Abstand genommen.
ÖB Damaskus (9.3.2017): Blg. 1 Syrische Rechtsnormen Eheschließungen inkl., per Mail am 18.4.2017
Im Folgenden geht die ÖB Damaskus kurz auf einige Detailfragen ein:
1. Wird das Datum einer Ehe, die vor einem Scheich geschlossen wurde, auch bei der Eheschließung beim Scharia-Gericht angeführt bzw. später dann auch in der Heiratsurkunde bzw. später auch beim Auszug aus dem Eheregister angeführt? Ja
Gilt dieses Datum dann als rechtsgültiges Hochzeitsdatum? Ja
2. Wird eine Stellvertretehe, d.h. der Ehemann wir z.B. mittels Vollmacht von seinem Vater vertreten, als rechtsgültige Ehe in Syrien anerkannt? Ja
3. Kann eine Stellvertreterehe auch ohne eine Vollmacht geschlossen werden? Nein
4. Kann es bei Eheschließungen vor dem Scharia-Gericht zum Rückdatieren des Hochzeitsdatums kommen? Ja
5. Kam es seit dem Krieg zu Problemen bei der Registrierung von Eheschließungen? Kann nicht generell beantwortet werden. Grundsätzlich kann eine geschlossene Ehe überall in Syrien registriert werden, angesichts der Kampfhandlungen sind jedoch viele Möglichkeiten eingeschränkt.
In der Anlage übermittle ich Ihnen auch eine ho. erstellte Übersicht syrischer Rechtsnormen zur Eheschließung inkl. Stellvertreterehe samt Beilagen für allenfalls auftretende zukünftige Fragen.
Ich weise jedoch darauf hin, dass diese Übersicht aufgrund des weitgehenden Fehlens von Übersetzungen syrischer Gesetze ins Englische lediglich als einführender Überblick angesehen werden und eine abschließende und umfassende Auskunft i.G. ho. mangels Expertise im syr. Recht nicht erteilt werden kann.
ÖB Damaskus (9.3.2017): GZ: Damaskus-ÖB/KONS/0862/2017, per Mail am 18.4.2017
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen ergeben sich aus den von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsunterlagen sowie den Aktenbestandteilen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Als Beweismittel insbesondere relevant sind die Niederschriften der Einvernahmen durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Erstbefragung des BF1 und der BF2 vom 20.08.2022) und durch das Bundesamt (Einvernahme des BF1 und der BF2 vom 01.06.2023), der Beschwerdeschriftsatz vom 22.08.2023, die vom Gericht eingeholten Länderinformationen mit den darin enthaltenen, bei den Feststellungen näher zitierten Berichten, die von den BF vorgelegten Personendokumente sowie sonstige Unterlagen (Zeugnisse) und die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 06.12.2023.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person und zum Verfahrensgang der BF:
2.1.1. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Herkunft, insbesondere zu ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie Sprachkenntnisse stützen sich auf die gleichbleibenden, übereinstimmenden und schlüssigen Angaben des BF1 und der BF2 im behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahren vergleiche Seite 1-2 des Erstbefragungsprotokolls des BF1 und der BF2; Seite 4 und 6 des Einvernahmeprotokolls des BF1 und der BF2; Seite 4, 6 und 11 des Verhandlungsprotokolls). Die Feststellungen zur Identität der BF ergeben sich zudem aus ihren diesbezüglich vorgelegten Identitätsdokumenten (AS 43 des BF1: Kopie des syrischen Reisepasses des BF1; AS 45 des BF1: Syrische ID-Karte des BF1; AS 63 der BF2: Syrische ID-Karte der BF2) und erfolgter Dokumentenprüfung des syrischen Personalausweises des BF1 und seines Militärbuches sowie des syrischen Personalausweises der BF2 (AS 97 des BF1: Dokumentenüberprüfung vom 07.06.2023, es ergab, dass diese Dokumente unbedenklich sind; ebenso AS 69 der BF2).
Die Feststellungen zum Familienstand der BF beruhen auf den gleichbleibenden und übereinstimmenden Angaben des BF1 und der BF2 auch bezüglich der Identitäten und Geburtsdaten ihrer Kinder, sodass kein Anhaltspunkt besteht an ihren glaubhaften Angaben zu zweifeln, auch wenn für die minderjährigen BF (BF3-BF6) keine Identitätsdokumente vorgelegt wurden, steht ihre Identität aufgrund der übereinstimmenden Angaben ihrer Eltern (BF1 und BF2) dennoch fest vergleiche Seite 8 des Einvernahmeprotokolls des BF1; Seite 7 des Einvernahmeprotokolls der BF2). Dass der BF1 der Vater ist ergibt sich aus den Länderfeststellungen und dem syrischen Personalstatutsgesetz, wonach die geborenen Kinder während einer wirksamen Ehe als vom Ehemann (BF1) abstammend gelten.
Dass ihre Kinder (BF3- BF6) keine Geburtsurkunden oder sonstige identitätsbezeugende Dokumente haben, steht auch damit in Zusammenhang, dass die Ehe des BF1 und der BF2 lediglich traditionell geschlossen wurde und erfolgte nach ihren eigenen Angaben keine Eintragung oder Registrierung ihrer Ehe und wurden diesbezüglich auch keine Heiratsbestätigung oder Eheurkunde oder ein syrisches Familienbuch vorgelegt. Die Feststellungen zum syrischen Eherecht und zu den gegenständlich nicht erfüllten Voraussetzungen betreffend die Rechtsgültigkeit der Eheschließung ergeben sich aus dem syrischen Personalstatutsgesetz vom 17.09.1953 (ÄndG Nr. 4/2019) in Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Henrich/Dutta/Ebert, Syrien, Stand 06.05.2021 sowie aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien mit dem Titel „Eheschließungen, deren Voraussetzungen und Eheregistrierungen“ vom 05.05.2017.
Sohin besteht keine nach syrischen Recht staatlich rechtsgültige Ehe des BF1 und der BF2, weil sich aus den Länderinformationen ergibt, dass die Registrierung verpflichtend, wenngleich auch deklaratorisch ist und entweder vor oder nach der Eheschließung erfolgen kann, auch wenn an sich die Mitwirkung des Staates für die Wirksamkeit der Eheschließung nicht erforderlich ist und die Eheschließung und die Mitteilung bzw. Registrierung der Eheschließung bei Gericht oder einer anderen Behörde getrennte Vorgänge darstellt. Der BF1 und die BF2 schlossen im Oktober 2014 nach ihren übereinstimmenden und gleichbleibenden Angaben eine informelle Heirat oder auch „traditionelle Ehe“, welche eine islamische Heirat ist, die ohne die Involvierung einer kompetenten Autorität geschlossen wird vergleiche Seite 8 des Einvernahmeprotokolls des BF1; Seite 7 des Einvernahmeprotokolls der BF2; Seite 7 und 11 des Verhandlungsprotokolls). Eine staatliche Registrierung der allein nach traditionellen Ritus geschlossene Ehe und Eintragung in das Personenstandsregister erfolgte bis dato nicht.
Der Bedarf, die informell rechtsgültigen geschlossene Ehe zu registrierten, entsteht nach den Länderinformationen immer dann, wenn für ein Kind aus dieser Ehe Dokumente (zB eine Geburtsurkunde oder die Staatsbürgerschaftsurkunde) ausgestellt werden sollen, somit ist auch durchaus stimmig, weshalb für die Kinder auch keine Dokumente vorgelegt wurden, weil diese aufgrund der fehlenden Registrierung auch bisher nie angefordert oder welche ausgestellt wurden. In diesem Fall bestimmt dann das Gesetz, dass eine Registrierung der bereits geschlossenen Ehe im Nachhinein erfolgen darf, wenn festgelegte Anforderungen erfüllt sind. Aber auch eine nachträgliche Registrierung der Ehe des BF1 und der BF2 erfolgte bis zum Entscheidungszeitpunkt nicht, denn in diesem Fall wäre das Datum der traditionellen Eheschließung das Datum der Eheschließung, nicht das Datum der Registrierung.
2.1.2. Die Feststellungen zum Geburtsort des BF1, zu seinem schulischen und beruflichen Werdegang sowie Finanzierung seines Lebensunterhalts basieren auf den aktuellen Angaben in der mündlichen Verhandlung (Seite 7-8 des Verhandlungsprotokolls), die auch mit den Aussagen im behördlichen Verfahren übereinstimmen sowie mit den vorgelegten Schul- und Universitätszeugnissen in Einklang stehen (Seite 7 und 9 des Einvernahmeprotokolls des BF1; AS 99-113 des BF1: Maturazeugnis und Universitätszeugnis).
Auch die Feststellungen zu den Lebensumständen der BF2 in Syrien (Geburtsort, Ausbildung, Lebensunterhalt) gründen auf ihren diesbezüglich gleichbleibenden Angaben im behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahren sowie auf den damit in Einklang stehenden vorgelegten Schul- und Universitätszeugnisse vergleiche Seite 6, 8-9 des Einvernahmeprotokolls der BF2; AS 71-75 der BF2: Zeugnisse; Seite 11-12 des Verhandlungsprotokolls).
Die Feststellungen zum Geburtsort der minderjährigen BF und den ersten Lebensjahren basieren auf den übereinstimmenden und glaubhaften Angaben ihrer Eltern des BF1 und der BF2 im gesamten Verfahren vergleiche Seite 3 des Erstbefragungsprotokolls und Seite 8 des Einvernahmeprotokolls des BF1; Seite 4 des Erstbefragungsprotokolls und Seite 7 des Einvernahmeprotokolls der BF2; Seite 7 und 11 des Verhandlungsprotokolls).
2.1.3. Die Feststellungen zum Aufenthalt der Familienangehörigen der BF basiert auf aktuellen Angaben des BF1 und der BF2 in der mündlichen Verhandlung (Seite 8 und 12 des Verhandlungsprotokolls), die mit ihren vorangegangenen Angaben vor dem Bundesamt im Wesentlichen übereinstimmen (Seite 8 des Einvernahmeprotokolls des BF1 und Seite 7f der BF2). Dass die BF regelmäßig in Kontakt zu ihren Familienangehörigen über soziale Medien oder Telefon stehen, gründet auf ihren Aussagen in der mündlichen Verhandlung sowie auf der Tatsache, dass sie über deren aktuellen Aufenthalt informiert sind (Seite 10 und 14 des Verhandlungsprotokolls).
2.1.4. Die Feststellungen zu ihren Aufenthalten in Syrien, basieren einerseits auf den gleichbleibenden Angaben im behördlichen sowie verwaltungsgerichtlichen Verfahren und konnten der BF1 als auch die BF2 auch auf einer vorgelegten Karte in der mündlichen Verhandlung ebenso ihren Herkunftsort zeigen, wonach vor dem Hintergrund der Länderinformationen und angeführten Karten zu den Machtverhältnissen in Syrien feststeht, dass ihr Herkunftsgebiet zum Entscheidungszeitpunkt im Gebiet vom syrischen Regime liegt, welches von der Opposition im Jahr 2019 zurückerobert wurde, daher die BF bei Machtübernahme durch das syrische Regime ihr Herkunftsgebiet verließen. (Seite 8 und 12 des Verhandlungsprotokolls:
„RI: Geben Sie bitte sowie wie möglich chronologisch an, wann und wo Sie sich in Syrien aufgehalten haben. Zeigen Sie mir ihren Aufenthaltsort auf der Karte. (https://syria.liveuamap.com/de)?
BF1: Ich habe seit meiner Geburt in römisch 40 gelebt. Aleppo zur Zeit der Uni und römisch 40 . Nach 2019 und im Einmarsch des Regimes lebte ich kurz an der syrisch- türkischen Grenze. Nachgefragt: Im Zeltlager in römisch 40 habe ich gelebt. Von August 2019 bis Juni Mitte 2020, also ca. 10 Monate habe ich dort gelebt. Dann bin ich in die Türkei und wollte schon damals weiter nach Europa.
Der BF zeigt auf der Karte die Ortschaft römisch 40 , im syrischen Herrschaftsgebiet, nordöstlich von der Ortschaft römisch 40 .
BF2: Seit meiner Geburt bis zum 18. Lebensjahr lebte ich in römisch 40 , dann sind wir nach Aleppo gegangen und haben dort 3 Jahre gelebt. Dann kehrten wir zurück nach römisch 40 und zur Zeit der Revolution als römisch 40 eingenommen wurde, sind wir nach römisch 40 gegangen. Danach lebten wir in der Türkei und dann kamen wir hier her.
BF zeigt die Ortschaft römisch 40 , nordöstlich von römisch 40 , im syrischen Herrschaftsgebiet.
RI: Mit wem sind Sie nach Aleppo gegangen für 3 Jahre?
BF: Ich, meine Eltern, ein Bruder und eine Schwester. Das war von 2009 – 2012.“).
2.1.5. Die Feststellungen zur Ausreise, Einreise sowie Antragstellung ergeben sich aus den Angaben des BF1 und der BF2 bei der Erstbefragung vor der Sicherheitsbehörde sowie aus einem Fremdenregisterauszug (Seite 2, 5 des Erstbefragungsprotokolls des BF1 und Seite 2, 6 des Erstbefragungsprotokolls der BF2). Der weitere Verfahrenslauf ergibt sich aus dem unstrittigen Akteninhalt.
2.1.6. Dass die BF aktuell gesund ist und an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohenden psychischen oder physischen Erkrankungen leidet, steht aufgrund ihrer Angaben in der mündlichen Verhandlung wonach der BF1 und die BF2 chronische oder akute Krankheiten oder andere Leiden oder Gebrechen gänzlich sie betreffend und auch ihre Kinder (BF3-BF6) verneinten, fest (Seite 5 des Verhandlungsprotokolls). Bestätigungen zu einer medizinischen Behandlung oder sonstige Unterlagen betreffend ihren Gesundheitszustand oder die Einnahme von Medikamenten legten die BF nicht vor und gaben sie auch vor dem Bundesamt an, dass sie gesund sind und nicht in ärztlicher Behandlung sind (Seite 4f des Einvernahmeprotokolls des BF1 und der BF2).
2.1.7. Dass der BF1 und die BF2 arbeitsfähig sind, steht in Zusammenschau ihres Alters (38 und 33 Jahre) und ihres Gesundheitszustandes sowie der Tatsache, dass der BF1 auch in Syrien in der Landwirtschaft tätig war und dass der BF1 und die BF2 im Grundversorgungsquartier sich ehrenamtlich engagierten (AS 81 und 83 Bestätigungs- und Empfehlungsschreiben, Österreichisches Rotes Kreuz vom 25.05.2023), fest (Seite 7, 26 des Verhandlungsprotokolls).
Die Unbescholtenheit des BF1 und der BF2 basieren auf der Einsichtnahme in den Strafregisterauszug.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen der BF:
Die BF brachten im Wesentlichen im Verfahren neben dem Krieg eine Verfolgung durch die syrischen Behörden aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen des BF1 im Jahr 2011/12 sowie eine drohende Einberufung des BF1 zum Wehrdienst durch das syrische Regime vor. Die BF 2 brachte zudem darüber hinaus eine Bedrohung und Gefährdung durch syrische Regierung aufgrund ihres Familiennamens und einer daraus politisch unterstellten Opposition vor. Die BF2-BF6 haben abgesehen von der Ableitung der Verfolgungsgefährdung von BF1 und BF 2 keine eigenen persönlichen Fluchtgründe vorgebracht. Es gelang dem BF1 die vorgebrachte Gefährdung im Falle einer Rückkehr abgesehen von der aktuellen Bürgerkriegssituation sowie instabilen Sicherheitslage für alle Zivilisten auch im Laufe des Verfahrens vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung (drohende Einberufung zum Wehrdienst durch das syrische Regime und Verhaftung und Tötung im Falle einer Wehrdienstverweigerung), insbesondere vor dem Hintergrund der Länderinformationen und aktuellen Machtverhältnissen im Herkunftsgebiet des BF1 sowie seines Alters, politischen Haltung plausibel darzulegen, auch wenn die vage vorgebrachten Vorfälle des BF1 und der BF2 vor der Ausreise (Gefährdung aufgrund ihres Nachnamen und unterstellter oppositioneller Gesinnung) für das erkennende Gericht nicht glaubhaft waren, wie auch das BFA feststellte, so hat das Verwaltungsgericht die Situation auch bei der Rückkehr in das Herkunftsgebiet römisch 40 zum Zeitpunkt der Entscheidung zu berücksichtigen. Dass erkennende Gericht geht im Folgenden näher begründet zusammengefasst davon aus, dass abgesehen von der Kriegssituation und der schlechten allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage in Syrien dem BF1 und auch der BF 2 eine (asylrelevante) Gefährdung droht:
Verfolgung in Syrien vor der Ausreise:
2.2.1. Die Feststellungen zum Herkunftsgebiet der BF ergeben sich aus ihren gleichbleibenden Angaben im gesamten Verfahren und aus den eingeholten Länderinformationen ergibt sich, dass mittlerweile das Assad-Regime, unterstützt von Russland und Iran, unterschiedlichen Quellen zu Folge zwischen 60 % und 70 % des syrischen Territoriums wieder unter seine Kontrolle gebracht hat. Im November 2022 kontrolliert die Regierung die meisten größeren Städte des Landes, darunter die Großstädte Damaskus, Aleppo, Homs und Hama. Ungeachtet dessen bleibt Syrien bis hin zur subregionalen Ebene territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen. Aus den Länderinformationen ergibt sich auch, dass es in Zentral-, West- und Südsyrien in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen kommt und die Lage volatil blieb.
2.2.2. Dass der BF1 und die BF2 vor ihrer Ausreise, abgesehen von einer drohenden Einberufung des BF1, keine Probleme mit den syrischen Behörden hatte beruht auf dem äußerst vagen, spekulativen und nicht glaubhaften Vorbringen in Zusammenhang mit der Verfolgung aufgrund ihres Familiennamen der als Gegner des syrischen Regimes in Zusammenhang stehe und demnach die BF bereits auf einer „roten Liste“ stehen. Hier mag zwar glaubhaft sein, dass die Familie in den 70er Jahren oppositionell tätig waren, aber aufgrund des bis zur Ausreise „stillen“ Verhaltens der Familie, kam es zu keinen weiteren Bedrohungen oder Gefährdungen. Hinzu kommt, dass der BF1 als auch die BF2 nach ihren eigenen Angaben im behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahren weder Mitglied einer politischen Partei oder anderen Gruppierungen war, noch jemals politisch oder journalistisch tätig war. Die Situation änderte sich jedoch seit dem Bürgerkrieg in Syrien ab den Jahren 2011/2012. Der BF1 brachte vor dem Bundesamt vor, dass er im Jahr 2011 und 2012 an mehreren Demonstrationen in seinem Herkunftsort teilgenommen habe und führte näher aus, dass er nur mitgegangen sei und mitgeschrien habe, aber keine spezielle Aufgabe hierbei inne gehabt habe vergleiche Seite 11 des Einvernahmeprotokolls). Im Kern hierzu widersprüchlich gab der BF1 in der mündlichen Verhandlung steigernd an, dass er bei manchen Demonstrationen bei der Organisation mitgeholfen habe und Banner beschriftet sowie geholfen habe, die Leute zu positionieren, damit das Ganze medial aufgenommen werden habe können (Seite 21 des Verhandlungsprotokolls). In diesem Zusammenhang ist widersprüchlich, dass der BF1 vor dem Bundesamt einerseits vorbrachte, aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen und seines Familiennamens bereits als Gegner des syrischen Regimes angesehen worden zu sein, aber andererseits explizit verneinte jemals in Syrien wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt worden zu sein vergleiche Seite 11 und 12 des Einvernahmeprotokolls des BF1). Dass der BF allein aufgrund der Teilnahme an friedlichen Demonstrationen im Jahr 2011 und 2012 nach wie vor eine Bedrohung und Verfolgung durch syrische Behörden mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht, ist auch vor dem Hintergrund, dass weder der BF1 noch die BF2 bis zum Verlassen ihres Herkunftsgebietes im Jahr 2019 Richtung syrisch-türkischer Grenze nie von den Behörden festgenommen oder verhaftet worden seien und der BF an sich nach eigenen Angaben ohne Probleme sich in römisch 40 im Jahr 2011 sich einen Personalausweis ausstellen habe lassen und bis 2019 in der Landwirtschaft seiner Familie arbeitete und damit den Lebensunterhalt für seine Familie finanzierte (Seite 6-7 und 12 des Einvernahmeprotokolls des BF1), nicht glaubhaft gewesen. Dem BF gelangt dies auch nicht auf Vorhalt in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar zu entkräften, sondern gab nur spekulativ und oberflächlich an, dass sie zwar gelebt haben, aber unterdrückt gewesen seien. Dies ist wiederrum widersprüchlich, weil nach eigenen Angaben des BF1 sein Vater Lehrer gewesen sei und er in einem Haus lebte und wie bereits ausgeführt in der Familienlandwirtschaft arbeiteten (Seite 22 des Verhandlungsprotokolls). Das syrische Regime verlor nach den Angaben des BF im August/September 2011 die Kontrolle über sein Herkunftsgebiet bis es im August 2019 das Gebiet wieder zurückerobert haben. Diese Angaben decken sich mit den historischen Karten zu Syrien ( https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html). Auf mehrmalige Nachfrage gab der BF1 schließlich steigernd, neben allgemeinen Ausführungen zu dem gewalttätigen Vorgehen gegen Demonstranten im Jahr 2011, dass auch er vorgeladen worden sei und auch der militärische Sicherheitsapparat bei ihm zuhause gewesen sei. Schließlich sei er mit seinem Onkel persönlich zur Polizeiinspektion gegangen, weil dieser im Widerspruch zu der vorgebrachten Unterdrückung seiner Familie, Kontakte bei den Behörden gehabt habe und nach einer normalen Einvernahme alles klären habe können und gehen habe können (Seite 22-23 des Verhandlungsprotokolls). Auffallend ist hierbei auch, dass die BF2 in der mündlichen Verhandlung keine Wahrnehmungen hierzu hatte und keine Angaben machen konnte, obwohl sie gleichzeitig Ausführungen zu der Teilnahme ihres Mannes an Demonstrationen machte und auch angab zu wissen, dass nach ihrem Mann gefahndet worden sei, weil sie bereits vor der Heirat seit 2009 verliebt seien und Kontakt gehabt haben. So ist für das erkennende Gericht nicht nachvollziehbar, weshalb die BF2 nichts zu einer mehrmaligen Vorladung ihres Mannes und dass der militärische Sicherheitsapparat bei ihrem Mann zuhause gewesen sei, wusste (Seite 17-18 des Verhandlungsprotokolls). Weiters ist auch nicht glaubhaft, dass die gesamte Familie vor der Ausreise 2019 eine generelle oppositionelle Gesinnung unterstellt worden ist, wenn der BF auch hinsichtlich seiner Ausführungen zum Erhalt seiner syrischen ID-Karte innerhalb weniger Minuten ausführte, dass die Direktorin des Geburtenregisters eine weitschichtige Verwandte sei und er in Kürze ohne Probleme eine neue ID-Karte erhielt (Seite 23-24 des Verhandlungsprotokolls). Damit brachte der BF nicht nachvollziehbar und vor dem Hintergrund zu den Lebensumständen in Syrien nicht plausibel vor, dass ihm alleine aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen vor über 10 Jahren (2011/12) und einer oppositionellen Einstellung eines Verwandten in den 70er Jahren aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ihn persönlich betreffende Bedrohung oder Verfolgung droht.
Dass der BF1 auch noch nach 2012 an Demonstrationen teilgenommen hat und deshalb eine Bedrohung der BF bestehe, wie es die BF2 in der mündlichen Verhandlung angab, ist keinesfalls glaubhaft, weil dies vom BF1 selbst explizit verneint wurde vergleiche Seite 18 und 21f des Verhandlungsprotokolls). Hinzu kommt, dass die BF2 selbst nach ihren Angaben nie an Demonstrationen teilgenommen hat und ebenso nie von syrischen Behörden jemals festgenommen oder verhaftet worden ist und verneinte auch eine politische Betätigung (Seite 18 des Verhandlungsprotokolls; Seite 10 des Einvernahmeprotokolls der BF2).
Auch dass nach der BF2 aufgrund ihres Familiennamen in den Jahren bis 2011 gefahndet werden soll, erwies sich aufgrund des bloß vagen, allgemeinen und spekulativen Angaben der BF2 in der mündlichen Verhandlung für das erkennende Gericht nicht glaubhaft. Befragt nach ihren Fluchtgründen machte die BF nur allgemeine und vage Angaben, dass sie wie jeder andere Mensch auch Angst um ihr Leben habe und viel Schlimmes dort passiert sei (Seite 14 des Verhandlungsprotokolls). Dass nach ihr persönlich aufgrund ihres Familiennamens gefahndet wurde und wird führte die BF2 nicht nachvollziehbar an, bezog sich auf Vorfälle in den 70er Jahren und reagierte auf konkrete Nachfragen ausweichend mit allgemeinen Ausführungen, sodass nicht glaubhaft ist, dass nach der BF2 vor ihrer Ausreise in Syrien gefahndet wurde, so lebte auch sie gemeinsam mit dem BF1 und den Kindern bis zur Ausreise 2019 im Herkunftsgebiet, bis 2011 im Gebiet unter Herrschaftsgewalt der syrischen Regierung, ohne eine konkrete Gefährdung erfahren zu haben. Schließlich gab die BF2 auch an, dass ihr Vorbringen für ihren Ehemann gilt und verneinte auch selbst jemals konkret bedroht oder verfolgt worden zu sein (Seite 15-17 des Verhandlungsprotokolls).
Gefahr im Falle der Rückkehr nach Syrien – drohende Einberufung des BF1 zum Wehrdienst und Wehrdienstverweigerung:
2.2.3. Die Feststellungen zur grundsätzlich bestehenden Wehrpflicht in Syrien sind eine Heraushebung aus den Länderinformationen. Diese wurden vom BF auch nicht bezweifelt, sondern in seiner Beschwerde, wie auch in seinen Ausführungen im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, neuerlich betont. So ist aus den Länderfeststellungen zu entnehmen, dass für männliche syrische Staatsangehörige im Alter zwischen 18 und 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von 18 oder 21 Monaten gesetzlich verpflichtend ist. Auch die Ausführungen zu der Wehrpflicht, der Ausgestaltung dieses Wehrdienstes bei den syrischen Streitkräften, gründen sich auf die wiedergegebenen Länderfeststellungen. So besteht in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung.
Dass dem BF1 bei seiner Rückkehr eine zwangsweise Einziehung seitens der syrischen Regierung droht, wie er ebenso gleichbleibend vorbrachte ist entgegen dem angefochtenen Bescheid – hierzu wurden auch nur unzureichend Feststellungen getroffen (Seite 16f des angefochtenen Bescheides des BF1) und wurde auch in der Beweiswürdigung, wo nur ausgeführt wurde, dass der BF1 nicht im aktiven Armeedienst stand, als er Syrien verließ und deshalb nicht als Deserteur nicht auf das Vorbringen des BF1 eingegangen (Seite 241 des angefochtenen Bescheides des BF1) – mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Die Feststellungen, dass sich der BF1 mit seiner illegalen Ausreise und dem Auslandsaufenthalt einer wahrscheinlichen Einziehung zum Wehrdienst entzogen hat und im Falle einer Rückkehr in seinem Heimatort aktuell eine unmittelbar konkrete Gefahr zum syrischen Wehrdienst eingezogen zu werden besteht, beruht auf folgenden Überlegungen:
So befindet sich der BF1 mit seinen festgestellten 38 Jahren im wehrdienstfähigen Alter und hätte das syrische Regime auch im Herkunftsgebiet des BF1, wie bereits festgestellt und gewürdigt Zugriff auf den BF1. Dass der BF1 den Grundwehrdienst vor seiner Flucht aus dem Gebiet des syrischen Regimes im Jahr 2019 in Richtung der syrisch-türkischen Grenze und der endgültigen illegalen Ausreise in die Türkei (der BF war zu diesem Zeitpunkt 34/35 Jahre alt) noch nicht geleistet hatte basiert einerseits auf den gleichbleibenden Angaben des BF1 sowie auf das vorgelegte Wehrdienstbuch. Aus diesem ist ersichtlich, dass der BF1 so wie er es auch glaubhaft angab aufgrund seines Studiums wiederholt vom Militärdienst ausgesetzt wurde und zuletzt einen Aufschub bis 2011 erhielt (AS 115f des BF1 sowie Seite 24 des Verhandlungsprotokolls), dies zeigt auch, dass die syrischen Behörden nicht davon absahen, dass der BF seinen Wehrdienst zu leisten hat, sondern lediglich einen befristeten Aufschub erhielt. Wenn der BF nicht in Gefahr gelaufen wäre zum Militärdienst einberufen zu werden, so hätte er keinen Aufschub beantragen müssen. Aber gerade hieraus ist ersichtlich, dass schon im Jahr 2011 die Militärbehörden ein Interesse an dem BF hatten und nicht lebensnah ist, dass dieses während des Bürgerkrieges nicht mehr vorhanden sein soll, zumal der BF sich im Oppositionsgebiet vor der syrischen Regierung versteckt hielt und seinen Antritt zum Wehrdienst nach Beendigung des Aufschubes nicht nachkam. Danach gab der BF1 ebenso schlüssig an, dass das syrische Regime die Kontrolle über sein Herkunftsgebiet verlor, als dieses im Jahr 2019 zurückerobert worden ist, flüchtete der BF1 bevor er zum Militärdienst eingezogen wurde mit seiner Frau BF2 und den zwei Kindern BF3 und BF4 auch aufgrund der Bombardierung des Herkunftsortes der BF, auch ihres Hauses, wie mit den Bilder glaubhaft untermauert wurde nach Idlib in ein Flüchtlingslager nahe der syrisch-türkischen Grenze, bevor sie ca. 1 Jahr später endgültig ausreisten (AS 71-77 des BF1; Seite 8, 12, 24 des Verhandlungsprotokolls). Somit steht fest, dass der BF1 den verpflichteten Wehrdienst nicht aktiv verweigert aber entzogen hat, aber auch sich einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit erfolgten Einziehung zum Wehrdienst während des Bürgerkrieges mit seiner illegalen Ausreise sowie dem Auslandsaufenthalt entzogen hat. Einen faktischen Einberufungsbefehl hat der BF1 nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung bis zum Entscheidungszeitpunkt nicht erhalten (Seite 24 des Verhandlungsprotokolls). So berichten manche Quellen davon, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) Rekrutierungen auch zu Hause durchgeführt werden, nicht übersehen wird, dass manche dies verneinen, da die Regierung keinen Aufstand heraufbeschwören möchte. Doch auch die Rückreise, der Aufenthalt und das Leben führt zur Gefährdung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, dass der BF an einen der Checkpoints aufgehalten wird, festgestellt, dass er jahrelang sich der Einberufung durch Aufenthalt im Oppositionsgebiet entzogen hat, der bewilligte Aufschub beendet ist und daher zur Armee einrücken muss.
Dass die BF illegal und schlepperunterstützt ausgereist sind, gab der BF1 bereits bei der Erstbefragung und vor dem Bundesamt an, ebenso auch die BF2, die nie in einen Reisepass besaß. Der BF1 ließ sich zwar im Jahr 2013 einen Reisepass gegen Bestechungsentgelt und ohne Behördenkontakt ausstellen, welcher 2019 auch bereits abgelaufen war (Seite 4 des Erstbefragungsprotokolls des BF1 und Seite 5 des Erstbefragungsprotokolls der BF2; Seite 5, 10 des Einvernahmeprotokolls des BF1 und Seite 5, 9 des Einvernahmeprotokolls der BF2; AS 43 des BF1: Kopie syrischer Reisepass des BF1). Auch unter der Annahme, dass die BF nicht illegal ausgereist sind, so bleibt der BF1 wehrdienstpflichtig und hat sich mit dem Verbleib im Ausland einer Einberufung entzogen.
Wie den Länderinformationen und den EUAA-Berichten zu entnehmen ist, so besteht in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung, aber es existieren grundsätzlich vier Möglichkeiten, um eine Ausnahme vom Wehrdienst zu erhalten. Dafür, dass der BF1 vom Wehrdienst befreit sein könnte, ergeben sich aus dem Akt keine Anhaltspunkte. Der BF1 hat insbesondere keine gesundheitlichen Probleme und ist auch nicht der einzige Sohn der Familie, weil er im gesamten Verfahren angab, noch drei Brüder zu haben noch betreibt er zum Entscheidungszeitpunkt noch ein Studium, dieses hat er 2011 abgeschlossen (Seite 8 des Einvernahmeprotokolls des BF1; Seite 8 des Verhandlungsprotokolls). Sonstige Ausnahmegründe sind ebenso nicht hervorgekommen. Abgesehen davon ergibt sich aus den Länderberichten hinsichtlich der Befreiungsgründe, dass das Risiko der Willkür immer gegeben und die derzeitige Umsetzung der Gesetze unklar ist.
Als letzte Ausnahmemöglichkeit wird in den Länderinformationen angeführt, dass es im Ausland aufhältigen, syrischen männlichen wehrpflichtigen Staatsbürgern offen steht, sich durch Zahlung einer Gebühr vom Wehrdienst freizukaufen. Dass es dem BF im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr nach Syrien tatsächlich möglich wäre, sich vom Wehrdienst freizukaufen, konnte das erkennende Gericht aufgrund folgenden Bedenken in diesem Zusammenhang nicht feststellen. So ergibt sich aus dem Länderinformationen der Staatendokumentation und dem EUAA Leitfaden vom Februar 2023, dass diese aufgezählten Ausnahmen theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen als vor dem Konflikt gibt und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden; das Risiko der Willkür ist immer gegeben. Es gibt Bericht und Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann und nicht davor schützt, trotzdem eingezogen zu werden, auch werden trotz entrichteter (offizieller) Befreiungsgebühr von Rückkehrern durch Grenzbeamte Bestechungsgelder verlangt. Auch im EUAA Leitfaden wird davon berichtet, dass die Anwendung der Befreiungsgebühr häufig mit Korruption, Bestechung und Ermessensspielraum in Verbindung gebracht wird und die Informationen nach wie vor widersprüchlich sind. Gleichzeitig geht aus den Länderinformationen allgemein hervor, dass Syrien im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2022 mit einer Bewertung von 13 von 100 Punkten (0=highly corrupt, 100=very clean) auf dem vorletzten Platz 178 von 180 untersuchten Ländern liegt. Korruption war bereits vor dem Bürgerkrieg weit verbreitet und beeinflusste das tägliche Leben der Syrer und wurde im Laufe des Konfliktes noch viel schlimmer. Korruption ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem bei Polizei, Sicherheitskräften, Migrationsbehörden und überhaupt in der Regierung. Hinzu tritt, dass der BF1 zwar den zumindest einjährigen Auslandsaufenthalt für den Freikauf erfüllt, aber nicht nachweislich legal ausreiste, sondern Syrien illegal verlassen hat und in diesem Fall könnte sich der BF1 laut den Länderinformationen dennoch vom Militärdienst freikaufen, aber müsste davor seinen rechtlichen Status allerdings durch einen individuellen „Versöhnungsprozess“ bereinigen. Solche „individuelle Versöhnungsabkommen“ gibt es zwar laut Länderfeststellungen für Syrer, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehren wollen, bzw. für Vertriebene, die in ein Gebiet unter der Kontrolle der Behörden zurückkehren. Aber der Abschluss eines individuellen Versöhnungsabkommens ist auch hier kein genau definiertes Verfahren und kann von Person zu Person und von Botschaft zu Botschaft variieren; in der Regel beinhaltet es jedoch die Unterzeichnung eines Dokuments in einer Botschaft, in dem die Person ihre "Straftat" zugibt und bieten keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen. Der BF stammt zudem aus einem von der Opposition zurückeroberten Gebiet, welches ebenfalls laut Länderinformationen zu einer zumindest unterstellten oppositionellen Gesinnung führen kann.
So bleiben die Erwägungen aufrecht, wonach trotz Zahlung eines Geldbetrags die Gefahr bestünde, einberufen zu werden und gab der BF1 auf Vorhalt in der mündlichen Verhandlung sich vom Wehrdienst freikaufen zu können an, keinesfalls bereit zu sein, wie er in der mündlichen Verhandlung vorbrachte, das syrische Regime mit Geld zu unterstützten, welches er für viele Menschenrechtsverbrechen – die Tötung von Zivilisten und Kinder – verantwortlich macht, damit es Waffen kaufen kann um Leute dann umzubringen. Außerdem verfügt der BF1 nicht über ausreichende finanzielle Mittel, so gab er glaubhaft an, dass sein Haus durch Bomben zerstört worden ist und er ein Grundstück verkaufte, um die Flucht bzw. Ausreise aus Syrien zu finanzieren vergleiche Seite 26 des Verhandlungsprotokolls; zum Freikauf auch VwGH vom 09.10.2023, Ra 2023/19/0197-9 oder VfGH vom 13.06.2023, E 588/2023-7). Außerdem müsste der BF zuvor noch ein individuelles Versöhnungsabkommen durchlaufen, für welches es kein definiertes Verfahren gibt und keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen bietet und mit der Zugabe einer „Straftat“ endet. Außerdem müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Es ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts einem Asylwerber nicht zumutbar, sich, um einer Verfolgung zu entgehen, an den ihm verfolgenden Staat zu wenden, um sich von dieser Verfolgung freizukaufen.
Insgesamt steht für das erkennende Gericht fest, dass sich der BF nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit vom Wehrdienst freikaufen kann und dies auch nicht aus politischen Gründen möchte. Somit besteht im Falle einer Rückkehr für den BF aufgrund der derzeitigen allgemein Situation in seinem Heimatort und seiner Heimatregion, welche vom syrischen Regime kontrolliert wird aktuell eine unmittelbar konkrete Gefahr zum syrischen Wehrdienst eingezogen zu werden, denn der BF ist im wehrdienstfähigen Alter und das Regime ist in der Lage im Herkunftsgebiet des BF zu rekrutieren. Die Feststellung, wonach der BF1 im Falle seiner Rückkehr nach Syrien Gefahr läuft, zum Wehrdienst in der syrischen Armee eingezogen zu werden, gründet auf den Länderfeststellungen. Aus diesen geht klar hervor, dass der Personalbedarf des syrischen Militärs hoch ist und es in diesem Zusammenhang zu Zwangsrekrutierungen wehrpflichtiger Männer durch syrische Streitkräfte kommt. Vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen ist daher das Vorbringen des BF1 hinsichtlich seiner Befürchtung, zum Wehrdienst in die syrische Armee eingezogen zu werden, plausibel und objektivierbar.
Hinzu kommt, dass der BF1 bereits im Falle einer hypothetischen Einreise in Kontakt mit syrischen Sicherheitskräfte kommen wird. Daraus folgt, dass im Falle der Einreise des BF nach Syrien, er um sein Herkunftsgebiet zu erreichen ( römisch 40 , nordöstlich von der Stadt römisch 40 , in der gleichnamigen Provinz), über den Flughafen Damaskus oder Latakia einreisen müsste, auf präsente syrischen Streitkräfte treffen würde und der BF1 beim Passieren des Flughabens oder anderen Checkpoints vom Aufgriff durch das syrische Regime bedroht ist, weil er zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren und dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen, ausgesetzt ist.
Dies umso mehr, als dass laut Länderinformationen ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints nach wie vor weit verbreitet ist. Es kommt unter anderem zu stichprobenartigen unvorhersehbare Straßenkontrollen und die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden. Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen. Berichten aus dem Jahr 2021 zufolge werden weiterhin neue Rekruten und Reservisten eingezogen, und Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet.
So ist der BF1 mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zum derzeitigen Zeitpunkt der Gefahr ausgesetzt über Damaskus einzureisen zu müssen und bei Rückkehr in sein Herkunftsort von syrischen Regierungskräften, zB: Checkpoints aufgehalten zu werden und aufgrund seines wehrfähigen Alters verpflichtet zu werden den Wehrdienst unmittelbar anzutreten.
Auch die Feststellungen, dass mit einer Wehrdienstverweigerung eine Gefängnisstrafe, Folter oder der sofortige Einzug zum Wehrdienst auch an die Front durch das syrische Regime und der zwangsweise Einsatz in einem Krieg mit schweren Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, basiert auf den eingeholten Länderberichten.
Laut den Länderinformationen vermeidet zwar grundsätzlich es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, aber können laut EASO alle Eingezogenen dagegen potenziell an die Front abkommandiert werden. Eingezogene Männer, aus "versöhnten" Gebieten, wie auch der BF, der aus der Provinz Hama stammt, welche laut seinen mit den Länderberichten übereinstimmenden Angaben vom syrischen Regime ab 2019 zurückerobert wurde (Seite 22 des Verhandlungsprotokolls: „RI: Wie lange waren die syrischen Behörden bei Ihnen bei Ihrer Region? BF: Ca. im August oder September 2011 ist das Regime weg. Das war ca. bis August 2019, dann kam das Regime.“), werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt.
2.2.4. Dass der BF1 den Wehrdienst bei der syrischen Armee nicht leisten möchte und verweigern würde bzw. sich der Ableistung des Wehrdienstes bei der syrischen Armee durch seine Ausreise und den Auslandsaufenthalt entzogen hat, gab er auch damit insgesamt im Verfahren und ausführlich in der mündlichen Verhandlung glaubhaft an und übte auch Kritik gegenüber dem syrischen Regime, welches er für die grundlose Tötung von Menschen, Frauen und Kinder sowie den massiven Menschenrechtsverletzungen und die Unterdrückung des Volkes verantwortlich macht (Seite 25 des Verhandlungsprotokolls: „RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten? BF: Die Haft oder der Tod. RI: Warum? BF: Ich bin gegen das Regime und es fahndet nach mir und ich bin vor dem Militärdienst geflohen. Ich denke, ich würde bestraft werden. [..] Ich habe Angst getötet zu werden, bevor ich überhaupt zum Militärdienst komme. Man würde mich gleich töten. Wenn man mich nicht gleicht töten würde, würde man mich inhaftieren, weil sie uns abgrundtief hassen. Ich bin sunnitischer Moslem. Das Regime ist alevitisch. Ich denke, dass man mich auch in meinem Alter einberufen wird. Früher hat man bis zum 42 Lebensjahr einberufen, jetzt haben sie es auf den 47 Lebensjahr erhöht. Ich bin oppositionell eingestellt, nach mir wird gefahndet. Ich will den Militärdienst nicht leisten. Ich will dem Regime nicht dienen, damit ich die Leute töte. Es gab viele grundlose Massaker in römisch 40 . Sie haben die Leute hingerichtet und verbrannt.
RI: Warum wollen Sie den Militärdienst nicht leisten?
BF: Ich will weder töten noch getötet werden. Ich will dem Regime nicht helfen, wie es Menschen und Kinder tötet. Die Einwohneranzahl von römisch 40 beträgt ca. 27.000 – 2.000 davon wurden vom Regime getötet. Das Regime hat grundlos Frauen und Kinder getötet. Seitdem sein Vater (von Assad) damals an die Macht gekommen ist, wird das Volk dort unterdrückt. Es herrscht Ungerechtigkeit. Als die Ereignisse im Jahr 2011 begannen hat das Regime dann niemanden verschont. Sie haben Kinder vor den Eltern getötet. römisch 40 wurde tausende Male durch Militärflugzeuge bombardiert, es war fast täglich, ob Zivilisten dabei sterben, war dem Regime egal. Die Demonstrationen begannen bei uns am 25.04 ca. 2 Wochen davor, waren die Ereignisse in römisch 40 , da hat das Militär die Panzer gegen demonstrierende Leute dort eingesetzt. Im September 2011 wurde bei Demonstrationen auf Leute geschossen, manche wurden verletzt und andere starben dabei. Ich habe das selbst mitbekommen. Fingernägel von Kinder wurden als Strafe entfernt und Familien wurden hingerichtet.“).
Aus den Länderberichten ist ableitbar, dass das syrische Regime menschenrechtswidrige Angriffe begeht, indem es auch Zivilpersonen bekämpft, die nicht Teil eines bewaffneten Konfliktes sind. Auch im Falle einer Wehrdienstverweigerung im syrischen Regime wird dies wohl allgemein als regierungskritisch oder oppositionell aufgefasst werden, auch wenn dies so nicht mehr in aller Deutlichkeit in den aktualisierten Länderinformationen, Version 9 vom 17.07.2023 hervorgeht. Berichte zufolge wird wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, als illoyal oder inoffiziell als Verräter gesehen, weil sie sich ins Ausland gerettet haben, statt „ihr Land zu verteidigen“. Der BF1 hat sich seinem Wehrdienst entzogen, indem er ins Ausland geflohen ist bzw. illegal aus Syrien ausgereist ist. Da der BF1 auch aus einem vermeintlich oppositionellen Gebiet (Hama) stammt, ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass ihm seitens der syrischen Regierung im Falle einer Rückkehr und Wehrdienstverweigerung eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird bzw. er selbst aufgrund des Verhaltens der syrischen Regierung in diesem Krieg, sich glaubhaft als Oppositioneller darstellt und ein politischer Gegner ist und er zumindest für einige Tage für Befragungen angehalten und im Rahmen dieser Anhaltung der Folter unterworfen wird.
Insgesamt steht für das erkennende Gericht fest, dass dem BF1 aufgrund seines noch wehrfähigen Alters (38 Jahre) sowie Herkunft vor dem Hintergrund der Länderberichte zum Entscheidungszeitpunkt im Falle einer Rückkehr eine Einberufung zum Wehrdienst durch das syrische Regime, welches im Herkunftsgebiet des BF1 präsent ist und auch Zugriff auf wehrpflichtige Personen hat oder auch in Folge einer Einreise aufgrund der Präsenz von syrischen Streitkräften, im Gebiet des Herkunftsortes sowie auch auf den Flughäfen der BF1 der Gefahr ausgesetzt ist, durch das Assad-Regime aufgegriffen und zum Wehrdienst einberufen zu werden. Dem BF1 droht somit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus Gründen seiner politischen Ansichten, regimekritischen Haltung oder einer unterstellten oppositionellen Gesinnung wegen Wehrdienstverweigerung von staatlicher Seite oder von Seiten Dritten eine konkrete Verfolgung und Gefährdung, indem er einer Haftstrafe bis zu fünf Jahren, Folter oder gar Tötung deswegen ausgesetzt ist. So kommt es gemäß den Länderfeststellungen zu außergerichtlichen Verurteilung und Todesstrafen. Die Haftbedingungen zeigen ebenfalls, dass es zu Folter und Todesstrafen kommt und existieren auch Berichte über „Verschwindenlassen“ und sofortigen Einzug zumal der Bedarf an Soldaten noch immer hoch ist. Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on Syrian Arab Republic geht davon aus, dass das syrische Regime umfassende Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begeht.
Gefahr im Falle der Rückkehr der BF2 nach Syrien – drohende geschlechtsspezifische Gewalt sowie Reflexverfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zum BF1:
2.2.5. Dass der BF2 mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Verfolgung und Gefährdung im Falle einer Rückkehr droht, ergibt sich aus den Länderfeststellungen, insbesondere unter Bedacht der Erwägungen von UNHCR zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien. Auch wenn wie bereits dargelegt, dass bloß spekulative, vage Fluchtvorbringen der BF2 zu einer unterstellten oppositionellen Gesinnung aufgrund ihres Nachnamens für das erkennende Gericht nicht glaubhaft ist (Pkt. römisch II.2.2.2.; Seite 15f des Verhandlungsprotokolls: „RI: Warum sollte Ihre Familie ein Ziel einer Fahndung sein? BF2: Weil bereits es in der Zeit von Hafiz Al Assad ein Putschversuch gab und Leute von meiner Familie da mitgemacht haben. RI: Wann war das? BF2: In den 70er. RI: In den 70er, und deswegen wird Ihre Familie verfolgt? BF2: Es war uns verboten, dass wir irgendeinen militärischen Rang haben. Wir durften keinen derartigen Beruf haben. RI. Das ist keine Verfolgung. BF: Das stimmt schon damals wurde wir nicht verfolgt, aber wir wurden gezürnt.“), ergeben sich unter Einbeziehung der Länderberichte Anhaltspunkte, dass der BF2 in Zusammenschau der festgestellten Bedrohung- und Verfolgungsgefährdung ihres traditionell verehelichten Ehemannes im wehrdienstpflichtigen Alter, der Flucht ihrer Brüder und sonstige Familienangehörigen im Falle einer Rückkehr auch eine Reflexverfolgung der BF2 zu erwarten ist. UNHCR ist ferner der Auffassung, dass Familienangehörige von Wehrdienstentziehern und Deserteuren aufgrund ihrer vermeintlichen politischen Meinung möglicherweise internationalen Flüchtlingsschutz benötigen. Dies deckt sich, auch mit den wenn auch nur vage vorgebrachten Gefährdungsbefürchtungen der BF2 in der mündlichen Verhandlung (Seite 16-17 des Verhandlungsprotokolls: „RI: Wer hat wann gegen Sie etwas gemacht, Sie bedroht, Sie verfolgt? BF2: Für meinen Ehemann gilt das. RI: Und für Sie? BF2: Als seine Frau heißt es nicht, dass ich ihm nicht zugerechnet werde. Es kann vorkommen, dass wenn der militärische Sicherheitsapparat nach meinem Ehemann fragt und ihm nicht vorfindet, dass man dann mich mitnimmt. RI: Hat man Sie jemals konkret bedroht oder verfolgt? BF2: Nein. Ich habe auch die Stadt gemieden, nachdem ich gesehen habe, dass Frauen entführt werden.“).
Außerdem brachte die BF2 in der mündlichen Verhandlung vor, dass ihr in Syrien auch als Frau Gewalt, wie Entführung oder Vergewaltigung droht (Seite 14f und 17 des Verhandlungsprotokolls: „Ich habe selbst mitbekommen wie Frauen entführt und vergewaltigt worden sind. […] Eine große Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Mutter vor den Kindern vergewaltigt wird. Sonst gibt es nichts. Es geht aber um meinen Mann.“). Dies deckt sich auch mit den Länderinformationen, insbesondere finden sich Anhaltspunkte, dass die BF2 mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer hypothetischen Rückkehr ohne ihren Ehemann und somit ohne sozialen, insbesondere männlichen Schutz in Syrien, als „alleinstehende Frau“ wahrgenommen werden würde, weil sie in ihrem Herkunftsort auch über sonst keine Familienangehörigen mehr verfügt und als besonders vulnerabel gilt und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt wäre. In den UNHCR Erwägungen wird u.a. ausgeführt, dass Frauen, die in ihrer (erweiterten) Familie keine männliche Unterstützung erhalten, einschließlich alleinstehender Frauen, Witwen und geschiedener Frauen, besonders gefährdet seien, Opfer von Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. Aus den Länderinformationen der Staatendokumentation geht ebenso hervor, dass alleinstehende Frauen in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Mädchen, Witwen und Geschiedene werden als besonders gefährdet eingestuft. Seit dem Beginn des Konflikts ist es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz hat. Auch stammt die BF2 nicht aus Damaskus-Stadt, wo zB die Wahrnehmung alleinstehender Frauen mehr gesellschaftliche Akzeptanz erfährt, sondern aus einem ländlichen Ort in der Provinz römisch 40 .
Hinzu kommt, dass die BF2 im Falle einer Rückkehr, durch die Entziehung ihres traditionell verheirateten Ehemannes vom Wehrdienst, aber auch durch die Flucht der Brüder und sonstigen Familienangehörigen, welche in Europa leben (Vater und Geschwister in Holland, Bruder in Österreich – nicht übersehen wird eine Schwester in römisch 40 ) mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ebenso eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden wird und damit einer Reflexverfolgung der syrischen Behörden ausgesetzt sein wird. Aus diesem Grund wird es zu einer Hausdurchsuchung oder Anhaltung, Kontrolle der BF2 schon bei der Einreise oder Durchreise zu ihrem Herkunftsort kommen. Die BF2 ist hier mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch in diesem Zusammenhang einer geschlechtsspezifischen Gewalt ausgesetzt. Laut den Länderinformationen wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und die Gesellschaft zu destabilisieren sowie demografische Veränderungen, z. B. in Homs, durch Vertreibungen zu erreichen: U.a. die CoI, Amnesty International und Human Rights Watch berichten immer wieder über Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen und Mädchen, insbesondere von Seiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, bei Militärkontrollen und in Haftanstalten. Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen. Auch sind einer Menschenrechtsorganisation zufolge nach Syrien rückkehrende Flüchtlinge, besonders Frauen und Kinder, sexueller Gewalt durch Regimekräfte ausgesetzt. Weiter ist aus den Länderberichten ersichtlich, dass auch Kollektivhaft von Angehörigen - auch Kindern - oder Nachbarn dokumentiert ist, fallweise auch wegen als regimefeindlich geltenden Personen im Ausland (...). Dies trifft bei der BF 2 zu, zumal sie weiterhin versuchen wird mit ihrem Mann, welcher als regimefeindlich eingestuft werden wird, Verbindung zu suchen. Es ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die BF 2 weiterhin versuchen wird mit ihren Mann und Kindern Kontakt aufzunehmen und es ihr nicht möglich sein wird, den Aufenthalt dieser und deren Aufenthaltsberechtigung in Österreich zu verschweigen, zumal die syrischen Behörden bei Befragungen, Bedrohungen, Folter oder Inhaftierung und damit Folter androhen und durchführen.
Da die BF2 gemeinsam mit ihren Kindern und traditionellen Ehemann Syrien verlassen hat und bis auf eine Schwester in römisch 40 , keine sonstigen Familienangehörigen in Syrien hat (auch ihr Vater und andere Geschwister sind in Holland und Österreich aufhältig, ebenso leben auch keine Verwandten des BF1 mehr in ihrem Herkunftsort), ist die BF2 im Falle einer hypothetischen Rückkehr vor dem Hintergrund der Länderinformationen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Reflexverfolgung durch die Wehrdienstverweigerung ihres Ehemannes, der Flucht der sonstigen Familienangehörigen, des langen Aufenthaltes im oppositionellem Gebiet und Flucht bei Machtübernahme durch das syrische Regime, der oppositionellen Einstellung von Familienangehörigen in den 70er Jahre, Teilnahme an Demonstration in den Jahren 2011/12 durch den Ehemann sowie geschlechtsspezifischer Gewalt als Frau ohne familiäres Netzwerk sowie ohne sozialen Schutz in Syrien ausgesetzt, insbesondere da man ihr eine zumindest oppositionelle Einstellung unterstellen wird.
Für die minderjährigen BF3-BF6 wurden vom BF1 als auch von der BF2 keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht und bezogen sich die BF2 sowie auch die BF3-BF6 in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung mehrmals auf die Fluchtgründe des BF1 (Seite 16f des Verhandlungsprotokolls: „RI: Wurden Ihre Kinder jemals bedroht oder verfolgt? BF2: Nein. RI: Was würde Ihnen oder den Kindern konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten? BF2: Eine große Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Mutter vor den Kindern vergewaltigt wird. Sonst gibt es nichts. Es geht aber um meinen Mann.“; Seite 24 des Verhandlungsprotokolls: „RI: Haben Ihre Kinder irgendwelche anderen Fluchtgründe? BF1: Nein.“). Auch von Amts wegen konnte keine konkrete Gefährdung aus den vorliegenden und eingebrachten Länderberichten für die Kinder, mit Ausnahme der allgemeinen Gefahren in einem Krieg (Minen, Einschränkungen im alltäglichen Leben wie Schulbesuch usw.), erkannt werden.
2.3. Zu den Feststellungen zur Situation in Syrien:
2.3.1. Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Dem BF wurde Gelegenheit gegeben zu den wiedergegebenen Länderberichten in der mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Die festgestellten Länderberichte wurden in der mündlichen Verhandlung eingebracht, dem BF erläutert und vom BF nicht substantiiert bestritten. Die noch angeführte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Eheschließungen, deren Voraussetzungen und Eheregistrierung vom 05.05.2017 beruht auf das syrische Personalstatutsgesetz von 17.09.1953, welches mit dem Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht Henrich/Dutta/Ebert: Syrien, Arabische Republik Stand 06.05.2021 abgeglichen und entnommen wurde.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zur Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.):
3.1.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974, (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht.
Gemäß Absatz 3, leg. cit. ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offen steht oder, wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG 2005) gesetzt hat.
Als Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).
Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233).
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.11.2003, 2003/20/0389, ausführte, ist das individuelle Vorbringen eines Asylwerbers ganzheitlich zu würdigen und zwar unter den Gesichtspunkten der Konsistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit und der objektiven Wahrscheinlichkeit des Behaupteten.
In diesem Zusammenhang weist der Verwaltungsgerichtshof darauf hin, dass die Asylgewährung an Wehrdienstverweigerer neben der Prüfung, ob die schutzsuchende Person bei Rückkehr in den Herkunftsstaat tatsächlich „Verfolgung“ im asylrechtlichen Sinne zu gewärtigen hätte, auch den Konnex dieser Verfolgungshandlung mit einem der fünf in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Konventionsgründe („Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“) erfordert, die in Artikel 10, Statusrichtlinie näher umschrieben werden. In den Worten des Artikel 9, Absatz 3, Statusrichtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10, genannten Gründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen (VwGH, 04.07.2023/Ra 2023/18/0108).
Als Verfolgungshandlungen gegen Wehrdienstverweigerer kommen – im Lichte des Unionsrechts – insbesondere solche nach Artikel 9, Absatz 2, Litera b,, c und e Statusrichtlinie in Betracht, also etwa in unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung des Wehrdienstverweigerers (Artikel 9, Absatz 2, Litera c,) oder eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikel 12, Absatz 2, fallen (Artikel 9, Absatz 2, Litera e,); Letzteres betrifft ua. Fälle in denen der Militärdienst die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich solcher, in denen der Asylwerber nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erschein, dass er durch Ausübung seiner Funktion eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde (EuGH 26.2.2015, C-472/13, Rs. Shepherd). Hätte der Wehrpflichtige seinen Militärdienst im Kontext eines allgemein Bürgerkrieges abzuleisten, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Artikel 12, Absatz 2, Statusrichtlinie durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, so besteht nach Ausführungen des EuGH eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem – allenfalls noch nicht bekannten – Einsatzgebiet dazu veranlasst sein würde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung der betreffenden Verbrechen teilzunehmen (EuGH 19.11.2020, C-238/19,Rs EZ).
Selbst die Bejahung von Verfolgungshandlungen der geschilderten Art erübrig es nicht, das Bestehen einer Verknüpfung zwischen (zumindest) einem der in Artikel 10, Statusrichtlinie bzw. Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Verfolgungsgründe und den Verfolgungshandlungen individuell zu prüfen.
Wie der EuGH bereits klargestellt hat, ist die Verweigerung des Militärdienstes in vielen Fällen Ausdruck politischer Überzeugung (sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zur Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehen), religiöse Überzeugungen oder sie hat ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Sie kann aber auch durch Gründe erfolgen, die nicht in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK bzw. Artikel 10, Statusrichtlinie Deckung finden, z.B. aus Furcht. In diesem Sinne hat auch der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass die (bloße) Furcht vor Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrelevante Verfolgung darstellt, sondern nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen kann (VwGH 7.1.2021, Ra 2020/18/0491, mwN). Es kann aber auch sein, dass eine Asylrelevanz auch dann zukommt, wenn dem Betroffenen wegen seines Verhaltens vom Verfolger eine oppositionelle (politische oder religiöse) Gesinnung unterstellt wird.
3.1.2. Gegenständlich ist davon auszugehen, dass der im kampffähigen Alter befindliche BF1 im Falle seiner Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit festgenommen und – so er nicht wegen Wehrdienstverweigerung zu einer langjährigen, potentiell mit Folter verbundenen Gefängnisstrafe, die indiziert, dass man ihm wegen der Fahnenflucht eine oppositionelle Gesinnung unterstellen würde, verurteilt werden würde – dem Wehrdienst in der syrischen Armee zugeführt werden würde. Der BF1 stammt aus dem Dorf römisch 40 , nordöstlich von der Stadt römisch 40 , welches unter der Kontrolle des syrischen Regimes ist und ist es dort derzeit dem syrischen Regime möglich zu rekrutieren. Die syrischen Streitkräfte sind dort präsent insbesondere ist dort das syrische Regime am Flughafen Damaskus und im städtischen Gebiet oder an wichtigsten Verkehrsruten mit Checkpoints vertreten. Dort befinden sich auch staatliche Behörden des syrischen Regimes, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung. Dem BF1 wäre es daher nicht möglich sich dort frei zu bewegen ohne mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr zu laufen von syrischen Kräften aufgegriffen zu werden. Ein „Freikaufen“ vom Militärdienst durch Bezahlung einer Befreiungsgebühr ist im Fall des BF1 vor dem Hintergrund der in diesem Zusammenhang häufig mit willkürbehafteten Vorgehen von syrischen Behörden und weiteren Bestechungsverhalten, einen zuvor notwendigen „individuellen Versöhnungsabkommen“, ohne definierten Verfahren, wie in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit möglich und ist der BF1 auch nicht bereit hierzu.
Es besteht daher vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen das reale Risiko, dass der BF1 im Rahmen des Militärdienstes zu menschen- und völkerrechtswidrigen Handlungen gezwungen und im Falle einer Weigerung mit zumindest einer mit Folter verbundenen Anhaltung bzw. Haft bestraft werden würde. Für den BF1 besteht somit im Falle der Rückkehr vor dem Hintergrund der Länderinformationen und den Feststellungen zu seiner Person (Alter, Herkunft) eine unmittelbar drohende und aktuelle Verfolgungsgefahr in Form der zwangsweisen Rekrutierung oder einer unverhältnismäßigen Bestrafung, weil er sich durch seine illegale Ausreise dem syrischen Militärdienst, in dessen Rahmen er zu menschen- und völkerrechtswidrigen Militäraktionen gezwungen und bei Weigerung mit Haft und Folter bedroht werden würde, entzogen hat und somit als politischer Gegner des syrischen Regimes angesehen werden würde.
Es liegt die für die Asylzuerkennung geforderte „maßgebliche Wahrscheinlichkeit“ der Verfolgungshandlung im Sinn der oben angeführten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes vor.
Der BF1 hat hinreichend deutlich klargemacht, dass sein Wunsch, eine ihm widerrechtlich aufgezwungene Militärdienstleistung zu vermeiden, auf seiner moralischen und politischen Überzeugung beruht, niemanden töten zu wollen und eine ablehnende Haltung gegenüber das von ihm für die grundlose Tötung von Frauen, Kinder, die Hinrichtung von Familien und Unterdrückung des Volkes verantwortliche Regime, zum Ausdruck bringt. Er verweigert die Tötung von Menschen und gegen syrische Staatsbürger mit einer Waffe vorzugehen, Demonstrationen zu unterdrücken, wie es das syrische Regime in diesem Krieg vollzogen hat. Er steht daher in politischer Opposition zum syrischen Regime und entzog sich mit seiner illegalen Ausreise, dem Auslandsaufenthalt und dem Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, einer drohenden Einziehung zum Wehrdienst.
Ebenso ändert daran nichts, dass das syrischen Regime nicht mehr in aller Deutlichkeit gemäß den aktualisierten Länderinformationen der Staatendokumentation, Version 9, eine oppositionelle Gesinnung unterstellen. Aber gerade in der fortgesetzten Verweigerung des Wehrdienstes, werden gerade in Bürgerkriegszeiten die syrischen Behörden eine politische oppositionelle Einstellung annehmen und liegen damit auch richtig.
Es haben sich im vorliegenden Fall daher in Zusammenschau zu den Feststellungen zur Person des BF1 (Alter, Herkunft, moralische und politische Einstellung), der Handlungen des syrischen Regimes gegen Wehrdienstverweigerer (Verfolgungshandlung) und den umfangreichen, aktuellen Länderinformationen ausreichende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass dem BF1 im Herkunftsstaat eine Verfolgung aufgrund der Wehrdienstverweigerung und dem Verfolgungsgrund der politischen Einstellung droht.
Ferner ist UNHCR der Auffassung, dass die Mehrzahl syrischer Asylsuchender weiterhin internationalen Flüchtlingsschutz benötigt und nach der Einschätzung von UNHCR insbesondere Personen die in den genannten Risikoprofile fallen und so fällt der BF1 auch unter das Risikoprofil Wehrdienstentzieher und Deserteure der syrischen Streifkräfte.
Im Beschwerdefall des BF1 liegen somit abgesehen von den alle Staatsbürgern gleichermaßen treffende Bedrohung für Leib und Leben aufgrund des Bürgerkrieges sowie der allgemein schlechten Lage im Herkunftsstaat, substantielle, stichhaltige Gründe (drohende Einberufung zum Wehrdienst durch das Assad-Regime und Haft, Folter, Tötung im Falle der Wehrdienstverweigerung) für das Vorliegen einer individuellen Gefahr des BF1 der Verfolgung nach Paragraph 3, Absatz eins, AsylG in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK vor, die asylrelevant sind. Im Ergebnis kann die Furcht des BF1 vor einer Verfolgung aufgrund drohender Einziehung zum Wehrdienst durch das syrische Regime, im Falle eines möglichen Kontaktes mit syrischen Behörden in seinem Herkunftsgebiet und bei der Einreise und eine unterstellte oppositionelle Gesinnung im Herkunftsstaat daher als „wohlbegründet“ im Sinn der GFK angesehen werden.
Eine Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative kann vor dem Hintergrund entfallen, dass die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde, weil Paragraph 11, AsylG 2005 die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind vergleiche VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016).
Da sich im Verfahren auch keine Hinweise auf Ausschlussgründe des Paragraph 6, AsylG 2005 ergeben haben, ist der Beschwerde des BF1 gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides stattzugeben und dem BF1 der Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, AsylG 2005 zuzuerkennen. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 ist diese Entscheidung mit der Feststellung zu verbinden, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 4, AsylG 2005 kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu. Diese Aufenthaltsberechtigung verlängert sich kraft Gesetzes nach Ablauf dieser Zeit auf eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Aberkennungsverfahrens nicht vorliegen oder ein Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Dementsprechend verfügt der BF1 nun über eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung.
3.1.3. Zur Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an die BF2, BF3, BF4 und BF5
Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005 ist Familienangehöriger unter anderem der Ehegatte oder eingetragene Partner eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten, sofern die Ehe oder eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat, sowie ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten.
Aus Paragraph 34, Absatz 2, in Verbindung mit Absatz 5, AsylG 2005 folgt, dass das Bundesverwaltungsgericht dem Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen hat, wenn dieser nicht straffällig geworden ist und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist.
3.1.3.1. Mit gegenständlichen Erkenntnis wird dem BF1 und traditionellen Ehemann der BF2 Asyl aufgrund drohender Einziehung zum Wehrdienst durch das syrische Regime, im Falle eines möglichen Kontaktes mit syrischen Behörden in seinem Herkunftsgebiet und bei der Einreise und eine unterstellte oppositionelle Gesinnung im Herkunftsstaat zuerkannt. Somit ergeben sich auch Risikofaktoren einer Rückkehrgefährdung für die BF2, die auch Deckung in den einschlägigen Länderinformationen finden. So ergibt sich aus den Länderfeststellungen, dass Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko unterliegen. Auch Kollektivhaft von Angehörigen oder Nachbarn ist dokumentiert, fallweise auch wegen als regimefeindlich geltenden Personen im Ausland. Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen. Dass die BF2 mit ihren traditionellen Ehemann BF1, nicht in Verbindung gebracht werden könnte, ist schon alleine aufgrund des gleichen Nachnamens nicht anzunehmen.
Nach den einschlägigen UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (6. Fassung, März 2021, Seite 108), werde die tatsächliche oder vermeintliche regierungskritische Haltung einer Person häufig auch Menschen in ihrem Umfeld zugeschrieben, einschließlich Familienmitgliedern. Für Familienangehörige bestehe die Gefahr, dass sie zwecks Vergeltung und/oder mit dem Ziel, tatsächliche oder vermeintliche Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen, bedroht, schikaniert, willkürlich verhaftet, gefoltert, zwangsverschleppt und zum Verschwinden gebracht würden (VwGH vom 29.08.2023, Ra 2022/18/0193). Schließlich treffen auch die Länderrichtlinien der EUAA (Country Guidance), denen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - wie jenen des UNHCR - besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“ - vergleiche etwa VwGH vom 29.08.2023, Ra 2022/18/0193; VwGH 7.6.2022, Ra 2020/18/0439, mwN) und die gemäß Artikel 11, Absatz 3, der Verordnung (EU) 2021/2303 bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz von den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind, eine ähnliche Einschätzung vergleiche die zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung maßgebliche Country Guidance Syria, November 2021) bzw. vornehmen vergleiche die aktuelle Country Guidance Syria, Februar 2023). Sohin droht der BF2 im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Repressalien von syrischen Behörden (Reflexverfolgung) aufgrund ihres traditionell angetrauten Ehemann dem in Österreich mit gegenständlichen Erkenntnis wegen Wehrdienstverweigerung der Asylstatus zukommt, welcher sich durch die gemeinsame illegale Ausreise einer Einberufung bzw. wahrscheinlichen Einziehung zum Wehrdienst entzogen hat und damit in Opposition zum syrischen Regime steht bzw. ihm zumindest eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde. Weiters kummuliert sich die unterstellte oppositionelle Einstellung der BF 2 dadurch, dass auch ihre weiteren Familienangehörigen in das Ausland geflüchtet bzw. aufhältig sind und daher auch hier die Behörden von einer oppositionellen Einstellung ausgehen wird. Einen Schutz durch die Schwester in römisch 40 ist nicht zu erwarten. Aber auch die oppositionelle Einstellung älterer Familienangehöriger in den 70er Jahren, der Demonstration des Ehemannes sind weiter Bausteine, welche zur unterstellten oppositionellen Einstellung durch syrische Behörden mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit führen wird. Der BF2 droht somit als Angehörige eines Wehrdienstentzieher und regimekritisch Oppositionellen angesehenen bei Rückkehr in ihren Heimatstaat vor dem Hintergrund der Länderberichte ein maßgebliches Risiko bereits bei der Einreise und beim Grenzübertritt von den syrischen Behörden aufgegriffen und reflexartig verfolgt zu werden (vlg. VwGH vom 29.08.2023, Ra 2022/18/0193). Die Verfolgungshandlungen werden sich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auf Bedrohungen aber auch Folter oder geschlechtsspezifischer Gewalt, Inhaftierung mit Folter erstrecken.
Ferner ist UNHCR der Auffassung, dass die Mehrzahl syrischer Asylsuchender weiterhin internationalen Flüchtlingsschutz benötigt und nach der Einschätzung von UNHCR insbesondere Personen die in den genannten Risikoprofile fallen und so fällt die BF2 auch unter das Risikoprofil Frauen, die gefährdet sind, Opfer sexueller Gewalt zu werden, der auch zuletzt erneut vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung maßgeblicher Bedeutung zugeschrieben wurde (VwGH vom 11.12.2023, Ra 2022/19/0269). Der BF2 würde im Falle einer hypothetischen Rückkehr in den Herkunftsort kein männlicher Begleiter zur Seite stehen können, weil ihr traditioneller Ehemann mit gegenständlichen Erkenntnis der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird und sie auch darüber hinaus, bis auf eine Schwester in Syrien in römisch 40 , keine männliche Familienangehörigen, auch nicht von Seiten ihres Gatten, hat und somit über keinen sozialen Schutz im Herkunftsort verfügt und als „alleinstehend“ wahrgenommene Frau ohne männliche Begleitung/Unterstützung besonders gefährdet ist, Opfer von Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. Deshalb ist UNHCR der Auffassung, dass Frauen und Mädchen ohne echte familiäre Unterstützung wahrscheinlich internationalen Schutz benötigen würden.
In Auseinandersetzung mit den UNHCR-Erwägungen sowie den EUAA/EASO Guidelines liegen somit auch im Beschwerdefall der BF2 abgesehen von den alle Staatsbürgern gleichermaßen treffende Bedrohung für Leib und Leben aufgrund des Bürgerkrieges sowie der allgemein schlechten Lage im Herkunftsstaat, substantielle, stichhaltige Gründe (drohende Reflexverfolgung durch syrische Behörden aufgrund der Wehrdienstentziehung ihres traditionell angetrauten Ehemannes, ihrer illegalen Ausreise, Herkunft aus einem ehemaligen Oppositionsgebiet und geschlechtsspezifische Gewalt im Falle der Rückkehr) für das Vorliegen einer individuellen Gefahr der BF2 der Verfolgung nach Paragraph 3, Absatz eins, AsylG in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK vor, die asylrelevant sind. Im Ergebnis kann die Furcht der BF2 vor einer (Reflex)Verfolgung aufgrund der Flucht ihres Mannes vor einer drohenden Einziehung zum Militär durch das syrische Regime, im Falle eines möglichen Kontaktes mit syrischen Behörden in ihrem Herkunftsgebiet und bei der Einreise und eine unterstellte oppositionelle Gesinnung sowie die Gefahr als „alleinstehende“ wahrgenommene Frau geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt zu sein (soziale Gruppe der „alleinstehenden Frauen“) im Herkunftsstaat daher als „wohlbegründet“ im Sinn der GFK angesehen werden.
Eine Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative kann vor dem Hintergrund entfallen, dass die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde, weil Paragraph 11, AsylG 2005 die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind vergleiche VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016).
Da sich im Verfahren auch keine Hinweise auf Ausschlussgründe des Paragraph 6, AsylG 2005 ergeben haben, ist der Beschwerde der BF2 gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides stattzugeben und der BF2 der Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, AsylG 2005 zuzuerkennen.
3.1.3.2. Lediglich der Vollständigkeit ist noch anzumerken, dass der BF1 und die BF2 im Oktober 2014 nach traditionellen Ritus heirateten, aber ihre Ehe nie staatlich registrieren oder im Zivilregister eintragen ließen. Nach hier maßgeblichen syrischen Recht ist gemäß den Länderfeststellungen für die Rechtsgültigkeit der Ehe, auch wenn die Eheschließung an sich formfrei, in Form eines zivilen Vertrages auch privat – eine sogenannte traditionelle Ehe – geschlossen werden kann, eine Registrierung und Eintragung im Zivilregister notwendig, welche auch rückwirkend erfolgen kann (gemäß Artikel eins, syrisches Personalstatutsgesetz, Gesetz Nr. 59 vom 17.09.1953, zuletzt ÄndG Nr. 4/2019 vom 07.02.2019). Die Bestätigung der Gültigkeit der Ehe kann somit wie auch bereits mehrfach vom Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen auch nach zB der erfolgten Ausreise des Ehemannes rückwirkend erfolgen (Artikel 40 -, 46, sPSG), aber sind der BF1 und die BF2 nach wie vor lediglich nach traditionellen Ritus verheiratet, wodurch im vorliegenden Fall die BF2 nicht Familienangehörige im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005 ist, weil keine erforderliche Registrierung der „privaten“ oder „traditionellen“ Ehe erfolgte und somit keine zivile rechtsgültige Ehe vor der Einreise bestand vergleiche VwGH vom 28.09.2020, Ra 2020/18/0075; VwGH vom 06.09.2018, Ra 2018/18/0094; VwGH vom 25.10.2018, Ra 2017/20/0513; ua). Die BF2 hätte somit nicht den Status des Asylberechtigten des BF1 im Sinne des Paragraph 34, AsylG 2005 ableiten können.
3.1.3.3. Die BF3, BF4, BF5 und BF6 sind die minderjährigen, ledigen Kinder des BF1 und der BF2. Gemäß Artikel 129, Absatz eins, sPSG gilt das in wirksamer Ehe geborene Kind als vom Ehemann abstammend, wenn seit der Eheschließung die Mindestdauer einer Schwangerschaft verstrichen ist, und der körperliche Kontakt der Ehegatten nicht unmöglich gewesen ist, also wenn nicht etwa einer der Ehepartner wegen Inhaftierung oder Aufenthalts an einem fernen Ort über die Dauer der Schwangerschaft hinaus abwesend war. Der BF1 ist mit der Kindsmutter BF2 seit Oktober 2014 traditionell verheiratet und kamen somit der BF3, BF4, BF5 und BF6 (geboren November 2015, 2019, 2020 und 2021) während einer nach traditionellen Ritus wirksamen Ehe zur Welt und gelten somit als vom BF1 und der BF2 abstammend.
Sie sind damit Familienangehörige im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005. Da die BF3, BF4, BF5 und BF6 strafunmündig sind sowie kein Verfahren zur Aberkennung des Asylstatus anhängig ist, war ihnen im Rahmen des Familienverfahrens gemäß Paragraph 34, Absatz 2 und 4 AsylG 2005 ebenfalls gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 auszusprechen, dass ihnen damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133 Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133 Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind somit weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen, zumal im vorliegenden Fall vornehmlich die Klärung von Sachverhaltsfragen und die Beweiswürdigung im Einzelfall maßgeblich für die zu treffende Entscheidung war.
Es war somit insgesamt spruchgemäß zu entscheiden.
ECLI:AT:BVWG:2024:W272.2277429.1.00