Bundesverwaltungsgericht
09.01.2024
W294 2278349-1
W294 2278349-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. Konstantin Köck, LL.M, MBA, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , geb. am römisch 40 , StA Syrien, vertreten durch BH Baden, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 2.8.2023, Zl. 1327798109/223158820, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.11.2023, wie folgt zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
römisch eins. Verfahrensgang
Der minderjährige Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Syriens, reiste schlepperunterstützt über mehrere Länder nach Österreich ein, wo er am 6.10.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am nächsten Tag erfolgte die Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
Zum Fluchtgrund befragt, führte der BF an, dass es aufgrund der schlechten Lage in Syrien keine Arbeit sowie keine Perspektiven gebe. Überdies sei seine Familie auch nicht mehr dort. Im Falle einer Rückkehr fürchte er sich vor Armut.
Zu seinen persönlichen Umständen befragt, erklärte der BF, dass er in Idlib geboren worden sei und der Volksgruppe der Araber angehöre. Er habe acht Jahre die Grundschule besucht und sei vor seiner Ausreise als Arbeiter tätig gewesen. In der Türkei würden seine Eltern, zwei Schwestern und drei Brüder wohnen.
Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme am 27.7.2023 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) führte der BF aus, dass er ledig sei und keine Kinder habe. Er sei in Idlib geboren und gehöre der Volksgruppenzugehörigkeit der Araber und der Religionszugehörigkeit der sunnitischen Muslimen an. Nachgefragt, wie er sich den Auszug aus dem Personenregister ausstellen lassen habe können, entgegnete der BF, dass sich sein Vater darum gekümmert habe. Weitere Dokumente könne er nicht vorweisen. Nachgefragt, welche Schulen er wie lange besucht habe, erklärte der BF, dass er in der Türkei die Grundschule bis zur vierten Klasse besucht habe. Er habe die Schule im Alter von 11 Jahren verlassen. Zur Frage, wo sich seine Familienangehörigen aktuell aufhalten würden, gab der BF an, dass seine Eltern und seine Geschwister in der Türkei leben würden. Sein Vater arbeite aktuell aufgrund einer Metallprothese nicht und sein Bruder komme für den Unterhalt der Familie auf. Die wirtschaftliche Situation seiner Familie sei grundsätzlich schlecht gewesen. Auf Aufforderung, seine letzte offizielle Anschrift im Heimatland zu nennen, führte der BF an, dass er nur wisse, dass sie in Idlib in der Ortschaft römisch 40 gelebt hätten. Auf die Frage, ob sie immer an ihrem Heimatort in Syrien gelebt hätten, brachte der BF vor, dass er sich nicht genau erinnern könne, sie jedoch oftmals ihren Aufenthaltsort wechseln hätten müssen. Sie hätten versucht, nach Aleppo zu übersiedeln, was ihnen jedoch nicht gelungen sei. In Syrien hätten sie im Eigentumshaus ihres Großvaters gewohnt und dieses Haus sei durch den Krieg zerstört worden. Die Frage, ob er im Herkunftsland persönliche Besitztümer habe, wurde vom BF verneint. Er wisse nicht, wer aktuell in seiner Herkunftsregion für Sicherheit sorge. In Syrien habe er sich bis 2013 aufgehalten. Nachgefragt, mit wem er aus Syrien in die Türkei ausgereist sei, gab der BF an, dass er zuerst mit seinem Vater, dann mit seiner Mutter und mit seinem Bruder zusammen gereist sei. Sie hätten seine beiden Schwestern und seinen Bruder zurückgelassen.
Zum Fluchtgrund befragt, führte der BF an, dass sie Syrien wegen des Krieges und der mangelnden Sicherheit verlassen habe. Es habe in Syrien jeder eine Waffe getragen und auf Personen geschossen, weshalb sein Vater und sein Bruder verletzt worden seien. Sie hätten Syrien verlassen, da das Elternhaus getroffen worden sei. Er selbst sei zu jung gewesen, um einer persönlichen Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein, er habe dennoch Bombardierungen sowie Zerstörungen miterlebt. Im Zeitpunkt der Ausreise sei er ungefähr acht oder neun Jahre gewesen. Ansonsten habe es Zwangsrekrutierungen gegeben, von der auch ihre Brüder betroffen gewesen seien. Nachgefragt, warum er die Türkei verlassen habe, replizierte der BF, dass er aufgrund des zunehmenden Rassismus und der Vorbehalte im alltäglichen Leben das Land verlassen habe. Zur Frage, wieso seine Angehörigen nach wie vor in der Türkei leben könnten, gab der BF zu Protokoll, dass für diese ohnehin die Gefahr bestehe, nach Syrien abgeschoben zu werden. Seine Familie besitze zwar eine Kimlik, sobald diese jedoch entzogen werde, habe man in der Türkei kein Aufenthaltsrecht mehr. Auf die Frage, was bei einer Rückkehr nach Syrien passieren würde, entgegnete der BF, dass er verhaftet und ins Gefängnis gesperrt werden würde. Das Regime würde sich nicht mehr an Altersgrenzen, sondern an der Größe und dem Aussehen orientieren. Aufgrund seiner Größe bestehe die Gefahr, dass er zwangsrekrutiert werden würde. Die Fragen, ob er oder jemand aus seiner Familie politisch aktiv gewesen sei oder an Demonstrationen teilgenommen habe oder in Syrien straffällig geworden sei, wurden vom BF verneint.
In einer Stellungnahme vom 27.7.2023 wurde vom bevollmächtigten Vertreter des BF ausgeführt, dass der BF aus der Provinz Idlib stamme, wo die Machtverhältnisse äußerst komplex seien. Bei einer Rückkehr des BF nach Syrien würde ihm aufgrund der Tatsache, dass praktisch seine gesamte Familie aus Syrien geflohen sei und sich männliche Familienmitglieder dem syrischen Militärdienst entzogen hätten, eine besondere Gefahr als Familienangehöriger der Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Gegner der Regierung seien, drohen. Das Alter sowie der Entwicklungsstand des Kindes müsse bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden, überdies müsse eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung erfolgen. Bei jeglichen Entscheidungen sei das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen.
Mit Bescheid des BFA vom 2.8.2023, Zl. 1327798109/223158820, wurde der Antrag des BF vom 6.10.2022 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.). Die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte wurde dem BF für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.).
Begründend wurde ausgeführt, dass er sein Heimatland im Alter von acht Jahren verlassen habe und zum Zeitpunkt der Ausreise in Syrien nicht der Wehrpflicht unterlegen sei. Darüber hinaus sei der BF gegenwärtig nicht volljährig und unterliege daher auch zum Entscheidungszeitpunkt nicht der Wehrpflicht des Regimes. Daher sei die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Einziehung zu verneinen. Der BF habe keine Fluchtgründe nennen können und auch keine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse schildern können, welche eine Bedrohung oder Verfolgung seiner Person in Syrien mit entsprechender Wahrscheinlichkeit nahelegen würde. Zu einer etwaigen Verfolgung aufgrund der Antragstellung in Österreich sei darauf hinzuweisen, dass eine Gefährdung allein aufgrund der Asylantragstellung in Österreich nicht maßgeblich wahrscheinlich sei, insbesondere, weil den syrischen Behörden davon nichts bekannt sei. Den österreichischen Behörden sei es verboten, entsprechende Daten an die syrischen Behörden weiterzugeben.
Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. und führte darin aus, dass die belangte Behörde zu Unrecht feststelle, dass der BF keine konkreten Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei und auch solche für die Zukunft nicht zu befürchten habe. Das Vorbringen des BF sei in den wesentlichen Punkten widerspruchsfrei und mit den maßgeblichen Länderinformationen in Einklang zu bringen. Bei der gebotenen Beurteilung der Verfolgungsgefahr liege für den BF jedenfalls ein erhebliches Risiko, bei einer Rückkehr nach Syrien ins Visier des Regimes oder einer anderer vor Ort aktiven Gruppierung wie beispielsweise FSA, HTS oder al Nusra Front zu geraten und Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein. Insbesondere bestehe für den minderjährigen BF die Gefahr, bei einer Rückkehr besonders leicht ins Visier der Behörden zu geraten, da sein Vater und sein Onkel desertiert seien. Da die entscheidungswesentlichen Feststellungen maßgeblich von der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des BF abhängen würden, sei jedenfalls erforderlich, dass sich das erkennende Gericht einen persönlichen Eindruck vom BF verschafft. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
Am 29.11.2023 erfolgte eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Der BF wurde zu seinen Fluchtgründen ausführlich durch den erkennenden Richter befragt und es wurde ihm umfassend Gelegenheit eingeräumt, Befürchtungen im Falle einer hypothetischen Rückkehr ausführlich und ausreichend konkret darzulegen, bzw. diese glaubhaft zu machen.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
1. Feststellungen
1.1 Zur Person des BF
Der minderjährige BF ist syrischer Staatsbürger, gehört der arabischen Volksgruppe an und bekennt sich zur islamischen Glaubensgemeinschaft. Die Identität des BF steht fest. Er wurde in römisch 40 , in der Provinz Idlib geboren und wohnte dort vor seiner Ausreise aus Syrien in einem Eigentumshaus seines Großvaters. Er hat acht Jahre die Grundschule besucht und war in Syrien als Arbeiter tätig. Der BF hat Syrien im Jahr 2013 verlassen und hielt sich ungefähr acht Jahre in der Türkei auf.
Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Seine Eltern und seine Geschwister sind aktuell in der Türkei wohnhaft und der BF steht mit diesen nach wie vor in regelmäßigen Kontakt.
Der BF stellte am 6.10.2022 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Aufgrund dieses Antrages wurde ihm mit Bescheid vom 2.8.2023 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
1.2 Zum Fluchtgrund des BF
Der minderjährige BF hat seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee nicht abgeleistet. Er wurde in Syrien noch keiner medizinischen Untersuchung (Musterung) unterzogen und erhielt auch kein Militär- bzw. Wehrdienstbuch. Der BF hat keinen Einberufungsbefehl bekommen, da er Syrien bereits als Kind verließ.
Die Heimatregion des BF steht nicht unter Einfluss- oder Kontrolle des syrischen Regimes, sondern befindet sich derzeit unter der Kontrolle oppositioneller Kräfte, nämlich der HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham).
Dem BF droht im Falle einer Rückkehr nach Syrien nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Zwangsrekrutierung durch die HTS. Er konnte nicht glaubhaft machen, dass er in Syrien einer individuellen, konkreten Verfolgungshandlung oder Bedrohung ausgesetzt war und droht ihm auch bei einer Rückkehr nach Syrien individuell und konkret keine Lebensgefahr bzw. kein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Angehörige der HTS.
Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), legen jedoch die bewaffneten oppositionellen Gruppen wie SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in den von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 6.2021).
Der BF ist in seiner Heimatregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt, zum verpflichtenden Wehrdienst in der syrischen Armee einberufen zu werden. Das syrische Regime hat keinen Zugriff auf das von der SNA/HTS kontrollierte Heimatgebiet des BF und kann dort keine staatliche oder behördliche Macht ausüben. Dem BF ist die Einreise in dieses Gebiet über einen nicht von der syrischen Regierung kontrollierten Grenzübergang wie Bab al-Hawa möglich. Dem BF drohen daher weder beim Grenzübertritt noch bei der Weiterreise in seine Heimatregion mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgungshandlungen seitens syrischer Behörden.
Der BF hat sich weder in Syrien noch in Österreich jemals politisch betätigt und hat nicht an Demonstrationen teilgenommen. Er hatte niemals Probleme mit staatlichen Stellen oder anderen Gruppierungen. Ihm droht bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien nicht wegen seiner illegalen Ausreise, der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich oder der Abstammung aus einem als oppositionell angesehenen Gebiet Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die syrische Regierung.
Der BF hat Syrien nur wegen der Kriegswirren verlassen.
1.3 Zur Lage im Herkunftsstaat
Politische Lage
Letzte Änderung 2023-07-10 12:22
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 % des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023).
Interne Akteure haben das Kernmerkmal eines Staates - sein Gewaltmonopol - infrage gestellt und ausgehöhlt. Externe Akteure, die Gebiete besetzen, wie die Türkei in den kurdischen Gebieten, oder sich in innere Angelegenheiten einmischen, wie Russland und Iran, sorgen für Unzufriedenheit bei den Bürgern vor Ort (BS 23.2.2022). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik im Allgemeinen den lokal dominierenden bewaffneten Gruppen untergeordnet, darunter die militante islamistische Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) und mit dem türkischen Militär verbündete Kräfte (FH 9.3.2023). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg, der nun in sein zwölftes Jahr geht, hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum November 2022-März 2023] nicht wesentlich verändert (AA 29.3.2023). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in den Gebieten unter seiner Kontrolle nicht grundlegend angefochten, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden substanziellen militärischen Unterstützung Russlands bzw. Irans und Iran-naher Kräfte. Allerdings gelang es dem Regime nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol in diesen Gebieten durchzusetzen. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht (AA 29.3.2023). Der von den Vereinten Nationen geleitete Friedensprozess, einschließlich des Verfassungsausschusses, hat 2022 keine Fortschritte gemacht (HRW 12.1.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert (AA 29.3.2023). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell und sorgen dafür, dass diese nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden (HRW 12.1.2023).
Im Äußeren gewannen die Bemühungen des Regimes und seiner Verbündeten, insbesondere Russlands, zur Beendigung der internationalen Isolation [mit Stand März 2023] unabhängig von der im Raum stehenden Annäherung der Türkei trotz fehlender politischer und humanitärer Fortschritte weiter an Momentum. Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vergleiche SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon - (CMEC 16.5.2023; vergleiche Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen, wenngleich sich die Bewahrung der EU-Einheit in dieser Sache zunehmend herausfordernd gestaltet (AA 29.3.2023).
SYRISCHE ARABISCHE REPUBLIK
Letzte Änderung 2023-07-10 12:56
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 2.5.2023). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer der Alawiten und anderer religiöser Minderheiten (FH 9.3.2023) und die alawitische Minderheit hat weiterhin einen im Verhältnis zu ihrer Zahl überproportional großen politischen Status, insbesondere in den Führungspositionen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Nachrichtendienste, obwohl das hochrangige Offizierskorps des Militärs weiterhin auch Angehörige anderer religiöser Minderheitengruppen in seine Reihen aufnimmt (USDOS 15.5.2023). In der Praxis hängt der politische Zugang jedoch nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten. Alawiten, Christen, Drusen und Angehörige anderer kleinerer Religionsgemeinschaften, die nicht zu Assads innerem Kreis gehören, sind politisch entrechtet. Zur politischen Elite gehören auch Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft, doch die sunnitische Mehrheit des Landes stellt den größten Teil der Rebellenbewegung und hat daher die Hauptlast der staatlichen Repressionen zu tragen (FH 9.3.2023).
Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba'ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba'ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige (USDOS 20.3.2023). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft infrage stellen könnten (FH 9.3.2023). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch die Verfassung und den bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v.a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich (AA 29.3.2023).
Dem ehemaligen Berater des US-Außenministeriums Hazem al-Ghabra zufolge unterstützt Syrien beinahe vollständig die Herstellung und Logistik von Drogen, weil es eine Einnahmemöglichkeit für den Staat und für Vertreter des Regimes und dessen Profiteure darstellt (Enab 23.1.2023). Baschar al-Assad mag der unumschränkte Herrscher sein, aber die Loyalität mächtiger Warlords, Geschäftsleute oder auch seiner Verwandten hat ihren Preis. Beispielhaft wird von einer vormals kleinkriminellen Bande berichtet, die Präsident Assad in der Stadt Sednaya gewähren ließ, um die dort ansässigen Christen zu kooptieren, und die inzwischen auf eigene Rechnung in den Drogenhandel involviert ist. Der Machtapparat hat nur bedingt die Kontrolle über die eigenen Drogennetzwerke. Assads Cousins, die Hisbollah und Anführer der lokalen Organisierten Kriminalität haben kleine Imperien errichtet und geraten gelegentlich aneinander, wobei Maher al-Assad, der jüngere Bruder des Präsidenten und Befehlshaber der Vierten Division, eine zentrale Rolle bei der Logistik innehat. Die Vierte Division mutierte in den vergangenen Jahren 'zu einer Art Mafia-Konglomerat mit militärischem Flügel'. Sie bewacht die Transporte und Fabriken, kontrolliert die Häfen und nimmt Geld ein. Maher al-Assads Vertreter, General Ghassan Bilal, gilt als der operative Kopf und Verbindungsmann zur Hisbollah (Spiegel 17.6.2022).
Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).
Institutionen und Wahlen
Syrien ist nach der geltenden Verfassung von 2012 eine semipräsidentielle Volksrepublik. Das politische System Syriens wird de facto jedoch vom autoritär regierenden Präsidenten dominiert. Der Präsident verfügt als oberstes Exekutivorgan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Generalsekretär der Ba'ath-Partei über umfassende Vollmachten. Darüber hinaus darf der Präsident nach Artikel 113, der Verfassung auch legislativ tätig werden, wenn das Parlament nicht tagt, aufgelöst ist oder wenn "absolute Notwendigkeit" dies erfordert. De facto ist die Legislativbefugnis des Parlaments derzeit außer Kraft gesetzt. Gesetze werden weitgehend als Präsidialdekrete verabschiedet (AA 29.3.2023).
Der Präsident wird nach der Verfassung direkt vom Volk gewählt. Seine Amtszeit beträgt sieben Jahre. Seit der letzten Verfassungsänderung 2012 ist maximal eine einmalige Wiederwahl möglich. Da diese Verfassungsbestimmung jedoch erstmals bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zur Anwendung kam, war es dem aktuellen Präsidenten Baschar al-Assad erlaubt, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2021 erneut zu kandidieren. Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt werden nach Artikel 85, vom Obersten Verfassungsgericht überprüft und müssen Voraussetzungen erfüllen, die Angehörige der Opposition faktisch weitgehend ausschließen. So muss ein Kandidat u. a. im Besitz seiner bürgerlichen und politischen Rechte sein (diese werden bei Verurteilungen für politische Delikte in der Regel entzogen), darf nicht für ein "ehrenrühriges" Vergehen vorbestraft sein und muss bis zum Zeitpunkt der Kandidatur ununterbrochen zehn Jahre in Syrien gelebt haben. Damit sind im Exil lebende Politikerinnen und Politiker von einer Kandidatur de facto ausgeschlossen (AA 29.3.2023). Bei den Präsidentschaftswahlen, die im Mai 2021 in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie einigen syrischen Botschaften abgehalten wurden, erhielt Bashar al-Assad 95,1 % der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von rund 77 % und wurde damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 % und 3,3 % der Stimmen (Standard 28.5.2021; vergleiche Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als 'weder frei noch fair' und als 'betrügerisch', und die Opposition nannte sie eine 'Farce' (Standard 28.5.2021).
Das Parlament hat nicht viel Macht. Dekrete werden meist von Ministern und Ministerinnen vorgelegt, um ohne Änderungen vom Parlament genehmigt zu werden. Sitze im Parlament oder im Kabinett dienen nicht dazu, einzelne Machtgruppen in die Entscheidungsfindung einzubinden, sondern dazu, sie durch die Vorteile, die ihnen ihre Positionen verschaffen, zu kooptieren (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden die Wahlen für das "Volksrat" genannte syrische Parlament mit 250 Sitzen statt, allerdings nur in Gebieten, in denen das Regime präsent ist. Auch diese Wahlen wurden durch die weitverbreitete Vertreibung der Bevölkerung beeinträchtigt. Bei den Wahlen gab es keinen nennenswerten Wettbewerb, da die im Exil lebenden Oppositionsgruppen nicht teilnahmen und die Behörden keine unabhängigen politischen Aktivitäten in dem von ihnen kontrollierten Gebiet dulden. Die regierende Ba'ath-Partei und ihre Koalition der Nationalen Progressiven Front erhielten 183 Sitze. Die restlichen 67 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, die jedoch alle als regierungstreu galten (FH 9.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7 % (BS 23.2.2022). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.7.2020).
Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba'ath-Partei (MEI 24.7.2020). Die vom Regime und den Nachrichtendiensten vorgenommene Reihung auf der Liste ist damit wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen. Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien quasi zu managen und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren (BS 23.2.2022). Zudem gilt der Verkauf öffentlicher Ämter an reiche Personen, im Verbund mit entsprechend gefälschten Wahlergebnissen, als zunehmend wichtige Devisenquelle für das syrische Regime (AA 29.3.2023). Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022).
Im September 2022 fanden in allen [unter Kontrolle des syrischen Regimes stehenden] Provinzen Wahlen für die Lokalräte statt. Nichtregierungsorganisationen bezeichneten sie ebenfalls als weder frei noch fair (USDOS 20.3.2023).
Sicherheitslage
Letzte Änderung 2023-07-11 09:42
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach eine politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 29.3.2023). Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) veröffentlichte eine Karte mit Stand Dezember 2022, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind. Es gibt Gebiete, in denen mehr als Akteur präsent ist (UNCOI 1.2023) [Anm.: die ausländischen Verbündeten des Regimes wie Iran, Russland und libanesische Hizbollah fehlen - siehe Karten weiter unten]:
Quelle: UNCOI 1.2023 (Stand: 12.2022)
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:
CC 12.6.2023 (Stand: 31.3.2023)
Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023).
Die CoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Mitte des Jahres 2016 hatte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der 'wichtigsten' Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt, kontrolliert (Reuters 13.4.2016). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.3.2023).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:
Zenith 11.2.2022
Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022).
Im Gouvernement Dara'a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten 'Versöhnungsabkommens'. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).
Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nicht-identifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).
Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vergleiche DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vergleiche CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vergleiche BAMF 6.12.2022).
Der UN-Sicherheitsrat schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Mit mehreren Tausend Kämpfern sowie deren Angehörigen, die sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF befinden, sowie einer vermutlich dreistelligen Zahl von im Untergrund aktiven Kämpfern bleibt IS jedoch ein relevanter asymmetrischer Akteur (AA 29.3.2023). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle und Attentate (DIS 29.6.2020). Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien, und zeigte bei zwei Anschlägen im Jahr 2022 seine anhaltende Fähigkeit zu komplexen Operationen (AA 29.3.2023).
Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich zehn bis 15 Angriffe auf die Regierungsstreitkräfte pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).
Zum IS-Angriff vom 20.1.2022 in al-Hassakah siehe das Unterkapitel Nordost-Syrien im Kapitel Sicherheitslage.
Zivile Todesopfer landesweit
Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche sowohl Zivilisten als auch Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von 'Massakern', bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vergleiche SNHR 1.1.2021). Die folgende Grafik zeigt die von SNHR dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2021 getötet wurden, wobei SNHR insgesamt 1.271 getötete Zivilisten zählte, davon 299 Kinder und 134 Frauen (SNHR 1.1.2022):
Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).
Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).
Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien
Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Team“ (IIT) zu ermitteln. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.3.2017 sowie Chlorgas am 25.3.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 1.3.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 7.4.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds“). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.5.2019 wiederholt Chlorgas in Kabana/Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 1.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (1.8.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.1.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.9.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.1.2022). In einem weiteren Bericht vom 1.2.2022 kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.10.2016 in Kafr Zeita eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 1.2.2022).
Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 Prozent der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021).
Auch wenn es im Jahr 2022 kein Einsatz von chemischen Waffen berichtet wurde, so wird davon ausgegangen, dass das Regime weiterhin über ausreichende Vorräte von Sarin und Chlor verfügt, und über die Expertise zur Produktion und Anwendung von Chlor-hältiger Munition verfügt. Das Regime erfüllte nicht die Forderungen der Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) Conference of the States Parties, weshalb seine Rechte in der Organisation suspendiert bleiben (USDOS 20.3.2023).
Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln
Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Z.B. wurden im Juni 2022 bei der Explosion einer Landmine in Dara’a zehn Menschen getötet und 28 verletzt. Laut dem Humanitarian Needs Overview der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und - Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.3.2023).
NORDWEST-SYRIEN
Letzte Änderung 2023-07-11 11:40
Während das Assad-Regime etwa 60 % des Landes kontrolliert, was einer Bevölkerung von rund neun Millionen Menschen entspricht, gibt es derzeit [im Nordwesten Syriens] zwei Gebiete, die sich noch außerhalb der Kontrolle des Regimes befinden: Nord-Aleppo und andere Gebiete an der Grenze zur Türkei, die von der von Ankara unterstützten Syrischen Nationalarmee (Syrian National Army, SNA) kontrolliert werden, und das Gebiet von Idlib, das von der militanten islamistischen Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert wird. Zusammen kontrollieren sie 10 % des Landes mit einer Bevölkerung von etwa 4,4 Millionen Menschen, wobei die Daten zur Bevölkerungsanzahl je nach zitierter Institution etwas variieren [Anm.: andere Quellen weisen den Anteil des Staatsgebiets unter der Kontrolle der syrischen Regierung mit ca. 70 % aus, s. z.B. AA 29.3.2023] (ISPI 27.6.2023).
Auf diesem Kartenausschnitt sind die Machtverhältnisse in Nordwest-Syrien eingezeichnet:
Zenith 11.2.2022
Das Gebiet unter Kontrolle von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS)
In der nordwestlichen Provinz Idlib und den angrenzenden Teilen der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo befindet sich die letzte Hochburg der Opposition in Syrien (BBC 2.5.2023). Das Gebiet wird von dem ehemaligen al-Qaida-Ableger Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: übersetzt soviel wie: Komitee zur Befreiung der Levante] beherrscht, der nach Ansicht von Analysten einen Wandel durchläuft, um seine Herrschaft in der Provinz zu festigen (Alaraby 5.6.2023). Das Gebiet beherbergt aber auch andere etablierte Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden (BBC 2.5.2023). HTS hat die stillschweigende Unterstützung der Türkei, die die Gruppe als Quelle der Stabilität in der Provinz und als mäßigenden Einfluss auf die radikaleren, transnationalen dschihadistischen Gruppen in der Region betrachtet. Durch eine Kombination aus militärischen Konfrontationen, Razzien und Festnahmen hat die HTS alle ihre früheren Rivalen wie Hurras ad-Din und Ahrar ash-Scham effektiv neutralisiert. Durch diese Machtkonsolidierung unterscheidet sich das heutige Idlib deutlich von der Situation vor fünf Jahren, als dort eine große Anzahl an dschihadistischen Gruppen um die Macht konkurrierte. HTS hat derzeit keine nennenswerten Rivalen. Die Gruppe hat Institutionen aufgebaut und andere Gruppen davon abgehalten, Angriffe im Nordwesten zu verüben. Diese Tendenz hat sich nach Ansicht von Experten seit dem verheerenden Erdbeben vom 6.2.2023, das Syrien und die Türkei erschütterte, noch beschleunigt (Alaraby 5.6.2023). HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets in Idlib auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen "Errettungs-Regierung" [auch Heilsregierung, ḥukūmat al-ʾinqāḏ as-sūrīyah/Syrian Salvation Government, SSG] aufgebaut (AA 29.3.2023).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten, ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren Rückzugsgebiet vieler moderater, aber auch radikaler, teils terroristischer Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021). Zehntausende radikal-militanter Kämpfer, insb. der HTS, sind in Idlib präsent. Unter diesen befinden sich auch zahlreiche Foreign Fighters (Uiguren, Tschetschenen, Usbeken) (ÖB Damaskus 12.2022). Auch al-Qaida und der Islamische Staat (IS) sollen dort Netzwerke unterhalten (KAS 4.2020). Viele IS-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren und sich nun anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front [Jabhat al-Nusra], heute als HTS bekannt, angeschlossen haben. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichen derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.2.2022). Laut einem Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Februar 2023 sind neben HTS und Hurras ad-Din unter anderem auch die zentralasiatischen Gruppierungen Khatiba at-Tawhid wal-Jihad (KTJ) - im März 2022 in Liwa Abu Ubayda umbenannt - und das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM) - auch bekannt als Turkistan Islamic Party (TIP) - in Nordwestsyrien präsent (UNSC 13.2.2023).
Im Jahr 2012 stufte Washington Jabhat an-Nusra [Anm.: nach Umorganisationen und Umbenennungen nun HTS] als Terrororganisation ein (Alaraby 8.5.2023). Auch die Vereinten Nationen führen die HTS als terroristische Vereinigung (AA 29.3.2023). Die Organisation versuchte, dieser Einstufung zu entgehen, indem sie 2016 ihre Loslösung von al-Qaida ankündigte und ihren Namen mehrmals änderte, aber ihre Bemühungen waren nicht erfolgreich und die US-Regierung führt sie weiterhin als "terroristische Vereinigung" (Alaraby 8.5.2023; vergleiche CTC Sentinel 2.2023). HTS geht gegen den IS und al-Qaida vor (COAR 28.2.2022; vergleiche CTC Sentinel 2.2023) und reguliert nun die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wird. Die HTS versucht so, dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und signalisiert so ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung (COAR 28.2.2022). Im Mai 2023 startete die HTS in den Provinzen Idlib und Aleppo beispielsweise eine Verhaftungskampagne gegen Hizb ut-Tahrir (HuT) als Teil der langfristigen Strategie, andere islamistische Gruppen in den von ihr kontrollierten Gebieten zu unterwerfen und die Streichung der HTS von internationalen Terroristenlisten zu erwirken (ACLED 8.6.2023; vergleiche Alaraby 8.5.2023). Das Vorgehen gegen radikalere, konkurrierende Gruppierungen und die Versuche der Führung, der HTS ein gemäßigteres Image zu verpassen, führten allerdings zu Spaltungstendenzen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen (AM 22.12.2021).
Anmerkung: s. das Unterkapitel "Syrische Interimsregierung und syrische Heilsregierung" des Kapitels "Politische Lage" für weitere Informationen zu den Regierungsstrukturen in Nordwestsyrien.
Konfliktverlauf im Gebiet
Im Jahr 2015 verlor die syrische Regierung die Kontrolle über Idlib und diverse rivalisierende oppositionelle Gruppierungen übernahmen die Macht (BBC 18.2.2020), wobei die Freie Syrische Armee (FSA) manche Teile der Provinz schon 2012 erobert hatte (KAS 4.2020). Während die syrische Regierung die gesamte Provinz zurückerobern will, versucht Ankara zu verhindern, dass Idlib an Damaskus fällt, und daraufhin noch mehr Syrer in die Türkei flüchten (ORF 14.3.2021; vergleiche Alaraby 25.1.2023). Die Türkei hat die HTS als terroristische Organisation eingestuft, doch hat sie die Rebellengruppe in den letzten Jahren nicht aktiv daran gehindert, die Verwaltungsmacht in Idlib zu übernehmen (USCIRF 11.2022). Im Mai 2017 einigten sich Russland, Iran und die Türkei im Rahmen der Astana-Verhandlungen auf die Errichtung vier sogenannter Deeskalationszonen (DEZ) in Syrien (KAS 6.2020), wobei Idlib Teil einer DEZ wurde, die sich von den nordöstlichen Bergen Latakias bis zu den nordwestlichen Vororten von Aleppo erstreckt und sowohl durch Hama als auch durch Idlib verläuft (SOHR 2.12.2022). Gemeint waren damit kampffreie Räume, in denen Zivilisten vor Angriffen geschützt sein sollten (KAS 6.2020; vergleiche SD 18.8.2019). Gemäß der Übereinkunft von Astana rückte die türkische Armee im Oktober 2017 in die DEZ Idlib ein und errichtete Beobachtungsposten zur Überwachung der Waffenruhe. Ankara hatte sich in Astana verpflichtet, die Rebellen zu entwaffnen und den freien Verkehr auf den Fernstraßen M4 und M5 zu gewährleisten. Im Gegenzug hatten Moskau und Damaskus zugesichert, die Provinz nicht anzugreifen. Zusagen, die letztlich keine Seite einhielt. Die syrische Regierung führte im Zeitraum 2018-2020 Offensiven in Idlib durch, die zur Flucht von rund einer Million Menschen führten (KAS 6.2020).
Das syrische Regime hat den Wunsch geäußert, die Provinz zurückzuerobern, doch seit einer Offensive im März 2020, die mit einer für die syrische Regierung katastrophalen Niederlage gegen die Türkei endete, hat das Gebiet den Besitzer nicht mehr gewechselt (Alaraby 5.6.2023). Im März 2020 vermittelten Russland und die Türkei einen Waffenstillstand, um einen Vorstoß der Regierung zur Rückeroberung von Idlib zu stoppen (BBC 26.6.2023). Die vereinbarte Waffenruhe in der DEZ Idlib wurde weitestgehend eingehalten (AA 29.3.2023), sie führte zu einer längeren Pause in der Gewalt, aber sporadische Zusammenstöße, Luftangriffe und Beschuss gehen weiter (BBC 26.6.2023). Der Konflikt ist derzeit weitgehend eingefroren, auch wenn es immer wieder zu Kämpfen kommt (AJ 15.3.2023).
Insbesondere im Süden der DEZ kommt es unverändert regelmäßig zu Kampfhandlungen zwischen Einheiten des Regimes und seiner Verbündeten und regimefeindlichen bewaffneten Oppositionsgruppen (AA 29.3.2023; vergleiche UNSC 20.4.2023), inklusive schwerer Artillerieangriffe durch das syrische Regime und Luftschläge der russischen Luftwaffe (AA 29.3.2023; vergleiche USDOS 20.3.2023). In der Region ist es beispielsweise im November (SOHR 2.12.2022) und Dezember 2022 (CC 1.5.2023) sowie Juni 2023 (Reuters 25.6.2023) zu einer spürbaren Eskalation der Militäroperationen durch russische und regimetreue Kräfte und den ihnen nahestehenden Milizen gekommen (CC 1.5.2023, SOHR 2.12.2022, Reuters 25.6.2023), einschließlich des täglichen Bombardements mit Dutzenden von Raketen und Artilleriegranaten und russischen Luftangriffen, die alle zu erheblichen menschlichen Verlusten und Sachschäden geführt haben (SOHR 2.12.2022). Die syrischen Weißhelme meldeten Ende 2022, dass sie im Laufe des Jahres auf mehr als 800 Angriffe des Assad-Regimes, russischer Streitkräfte und verbündeter Milizen im Nordwesten Syriens reagiert haben. Dabei wurden 165 Personen, darunter 55 Kinder und 14 Frauen, bei Luftangriffen sowie Artillerie- und Raketenangriffen auf mehr als 200 öffentliche Einrichtungen, darunter Wohnhäuser, landwirtschaftliche Felder, öffentliche Gebäude, Märkte, Schulen und ein Krankenhaus, getötet (USDOS 20.3.2023). Die HTS-Kämpfer greifen die Regierungskräfte dagegen vor allem mit Flugabwehrgeschossen an und sind hauptsächlich mit Maschinengewehren und Panzerfäusten ausgerüstet (Wilson 13.7.2022). Die Miliz hat jedoch auch improvisierte Sprengsätze gegen Assads Streitkräfte gelegt (Wilson 13.7.2022) und Selbstmordattentäter eingesetzt (Wilson 13.7.2022; vergleiche CC 1.5.2023).
Zwar rechtfertigt insbesondere das syrische Regime sein militärisches Vorgehen als Einsatz gegen terroristische Akteure. Ziele der Angriffe des Regimes und seiner Verbündeten bleiben jedoch neben Stellungen der bewaffneten Opposition (AA 29.3.2023) nicht zuletzt die zivile Infrastruktur in den Zielgebieten, darunter auch für die humanitäre Versorgung kritische Einrichtungen (AA 29.3.2023; vergleiche HRW 12.1.2023). Diese wurden teilweise mit Präzisionsraketen und zielgenauen Waffensystemen von Kampfflugzeugen unter Beschuss genommen. In ihrem Bericht vom September 2022 dokumentiert die vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UNHRC) eingerichtete internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien (CoI=Commission of Inquiry) acht Angriffe, u.a. auf eine Wasserstation, mit insgesamt 39 getöteten oder verletzten Zivilpersonen (AA 29.3.2023). Im November 2022 dokumentierte die CoI den Einsatz von Streumunition durch die Regierungskräfte in einem dicht besiedelten Flüchtlingslager in Idlib, wodurch mindestens sieben Zivilisten getötet wurden. Die CoI sieht zudem begründeten Anlass zu der Annahme, dass HTS-Mitglieder Menschen weiterhin willkürlich ihrer Freiheit beraubten und einige von ihnen in Isolationshaft und andere in einer Weise festhielten, die einem erzwungenen Verschwinden gleichkam. Darüber hinaus haben HTS-Mitglieder möglicherweise die Kriegsverbrechen der Folter und grausamen Behandlung sowie der Verhängung von Strafen ohne vorheriges Urteil eines regulär konstituierten Gerichts begangen (UNHRC 7.2.2023).
Im Februar 2023 wurde die Region von verheerenden Erdbeben heimgesucht, bei denen Tausende von Menschen ums Leben kamen [Anm.: s. Karte des betroffenen Gebiets samt Gebietskontrolle unten] (AJ 15.3.2023). Daraufhin wurde in Nordsyrien ein signifikanter, wenn auch zeitlich begrenzter, Rückgang der Kampfhandlungen verzeichnet (CC 12.6.2023; vergleiche UNSC 20.4.2023). Der gegenseitige Beschuss und begrenzte Zusammenstöße zwischen nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen, der syrischen Regierung und regierungsnahen Kräften über die Front hinweg im Nordwesten der Arabischen Republik Syrien hielten jedoch an, wobei es in einigen Fällen zu Opfern unter der Zivilbevölkerung kam (UNSC 20.4.2023). Auch im Juni 2023 wurde ein Wiederaufflammen der Kampfhandlungen zwischen Regierungskräften und Rebellengruppen in den Provinzen Aleppo und Idlib vermeldet (NPA 2.7.2023; vergleiche AN 28.6.2023).
BBC 15.2.2023
Die folgende Karte zeigt die Vorfälle sowie die Intensität der Kampfhandlungen im Norden Syriens von Juli bis Dezember 2022:
Quelle: UNCOI 1.2023
Die Gebiete unter Kontrolle der Türkei und Türkei-naher Milizen
Die Opposition im Nordwesten Syriens ist in zwei große Gruppen/Bündnisse gespalten: HTS im Gouvernement Idlib und die von der Türkei unterstützte SNA im Gouvernement Aleppo. Die SNA setzt sich in erster Linie aus ehemaligen Gruppen der FSA zusammen, hat sich jedoch zu einer gespaltenen Organisation mit zahlreichen Fraktionen entwickelt, die zu internen Kämpfen neigen (CC 1.5.2023). Die SNA ist auf dem Papier die Streitkraft der syrischen Übergangsregierung (SIG), die rund 2,3 Millionen Syrer regiert. In Wirklichkeit ist die SNA allerdings keine einheitliche Truppe, sondern setzt sich aus verschiedenen Fraktionen zusammen, die unterschiedliche Legionen bilden und nicht unbedingt der Führung des Verteidigungsministers der SIG folgen (Forbes 22.10.2022). Eine hochrangige syrische Oppositionsquelle in Afrîn sagte, dass innerhalb der SNA strukturelle Probleme bestehen, seit die von der Türkei unterstützten Kräfte das Gebiet 2018 von kurdischen Kräften erobert haben (MEE 15.10.2022) und es wird von internen Kämpfen der SNA-Fraktionen berichtet (MEE 25.10.2022). Trotz der internen Streitigkeiten operieren die SIG-Verwaltungen und die bewaffneten Gruppen innerhalb der SNA innerhalb der von Ankara vorgegebenen Grenzen (Forbes 22.10.2022; vergleiche Brookings 27.1.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden von bewaffneten Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Duldung des Missbrauchs und der Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
Die Lage in den von der Türkei und Türkei-nahen Milizen, darunter der Syrischen Nationalarmee (SNA, vormals "Freie Syrische Armee"), kontrollierten Gebieten im Norden um die Städte Afrîn und Jarabulus im Norden des Gouvernements Aleppo bleibt instabil. Auch kam es dort immer wieder zu teils umfangreichen Kampfhandlungen, insbesondere zwischen Türkei-nahen Milizen und der HTS einerseits, sowie Türkei-nahen Milizen, der kurdischen YPG (Yekîneyên Parastina Gel) und in der Region eingesetzten Truppen des Regimes andererseits. Durch den Beschuss eines Marktplatzes in der türkisch kontrollierten Stadt al-Bab (Gouvernement Aleppo) durch Regimetruppen wurden etwa im August 2022 mindestens 20 Zivilpersonen getötet und rund 40 verletzt. Anfang Oktober 2022 rückte HTS aus dem Nordwesten auf die Stadt Afrîn und Umgebung vor, nachdem es innerhalb der SNA nach dem Mord an einem zivilgesellschaftlichen Aktivisten zu teils gewalttätigen internen Auseinandersetzungen kam (AA 29.3.2023). Die Auseinandersetzungen standen dabei im Zusammenhang mit dem lukrativen und weitverbreiteten Drogenhandel in Syrien sowie konkurrierenden Interessen verschiedener Brigaden innerhalb der SNA (TWI 19.10.2022). Dies war der erste größere Gebietsaustausch zwischen den Kriegsparteien seit zwei Jahren (Forbes 22.10.2022). Nach rund zwei Wochen zogen sich die Kämpfer der HTS wieder aus Afrîn zurück (MEE 25.10.2022).
Um die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung durch die Kämpfe der SNA zu verringern, haben viele lokale Versammlungen und die örtliche Polizei versucht, Maßnahmen zu ergreifen, um die Gruppen daran zu hindern, mit automatischen oder schweren Waffen in die Städte einzudringen. Dennoch werden zivile Gebiete bei Zusammenstößen zwischen den Gruppen immer noch schwer getroffen und die häufigen Zusammenstöße zwischen den SNA-Gruppen, die in Gebieten wie Afrin, Jarabulus und Tal Abyad operieren, haben auch zu Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt (MEE 25.10.2022). Im Norden Aleppos kommt es weiterhin zu Angriffen auf Zivilisten. Die CoI des UN-Menschenrechtsrats dokumentierte im zweiten Halbjahr 2022 fünf Angriffe, die 60 Todesopfer forderten. Trotz eines offensichtlichen Rückgangs der Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen in diesem Zeitraum wurden Zivilisten bei Bodenangriffen getötet oder verletzt, auch in ihren Häusern in einem Vertriebenenlager oder auf öffentlichen Märkten. Dem Untersuchungsbericht für das zweite Halbjahr 2022 zufolge hat die CoI des UN-Menschenrechtsrats begründeten Anlass zu der Annahme, dass Mitglieder der SNA weiterhin willkürlich Personen der Freiheit beraubten und Gefangene ohne Kontakt zur Außenwelt und einige in einer Weise festhielten, die einem Verschwindenlassen gleichkam. SNA-Mitglieder haben auch weiterhin Folter, einschließlich Vergewaltigung, und grausame Behandlung, Mord, Geiselnahme sowie Plünderung begangen, die allesamt als separate Kriegsverbrechen gelten können (UNHRC 7.2.2023). Nach Angaben der NGO Syrians for Truth and Justice (STJ) begehen SNA-Fraktionen ungestraft und unbehelligt vom türkischen Militär, das sie unterstützt und eine effektive Kontrolle in der Region ausübt, wiederholt und systematisch Verstöße. Seit 2018 haben mehrere unabhängige lokale und internationale Organisationen sowie die zuständigen UN-Gremien massive Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, darunter Tötungen, willkürliche Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen, Misshandlungen, Folter, Plünderungen und Beschlagnahmungen von Eigentum sowie die Nötigung kurdischer Einwohner, ihre Häuser zu verlassen, und die Behinderung der Rückkehr von Einheimischen an ihre ursprünglichen Wohnorte nach Feindseligkeiten, demografischen Veränderungen und Versuche der Türkisierung (STJ 16.5.2023). Während des Jahres 2022 führten mit der Türkei verbundene Oppositionsgruppierungen angeblich außergerichtliche Tötungen durch (USDOS 20.3.2023).
Zu den türkischen Militäroffensiven in Nordsyrien siehe das Unterkapitel "Türkische Militäroperationen in Nordsyrien" im Kapitel "Sicherheitslage".
Rechtsschutz / Justizwesen
GEBIETE AUSSERHALB DER KONTROLLE DES REGIMES UNTER HTS- ODER SNA-DOMINAN
Letzte Änderung 2023-07-13 16:42
In Gebieten außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes ist die Lage von Justiz und Verwaltung von Region zu Region und je nach den örtlichen Herrschaftsverhältnissen unterschiedlich (AA 29.3.2023). In von oppositionellen Gruppen kontrollierten Gebieten wurden unterschiedlich konstituierte Gerichte und Haftanstalten aufgebaut, mit starken Unterschieden bei der Organisationsstruktur und bei der Beachtung juristischer Normen. Manche Gruppen folgen dem (syrischen) Strafgesetzbuch, andere folgen dem Entwurf eines Strafgesetzbuches auf Grundlage der Scharia, der von der Arabischen Liga aus dem Jahr 1996 stammt, während wiederum andere eine Mischung aus Gewohnheitsrecht und Scharia anwenden. Erfahrung, Expertise und Qualifikation der Richter in diesen Gebieten sind oft sehr unterschiedlich und häufig sind diese dem Einfluss der dominanten bewaffneten Gruppierungen unterworfen (USDOS 11.3.2020). Auch die Härte des angewandten islamischen Rechts unterscheidet sich, sodass keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Doch werden insbesondere jene religiösen Gerichte, welche in (vormals) vom Islamischen Staat (IS) und von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: HTS wird von den Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Verbindungen zu Al Qa'ida als ausländische Terrororganisation eingestuft (CRS 8.11.2022)] kontrollierten Gebieten Recht sprechen, als nicht mit internationalen Standards im Einklang stehend charakterisiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die Gerichte extremistischer Gruppen verhängen in ihren religiösen Gerichten harte Strafen wegen in ihrer Wahrnehmung religiösen Verfehlungen (FH 9.3.2023). Urteile von Scharia-Räten der Opposition resultieren manchmal in öffentlichen Hinrichtungen, ohne dass Angeklagte Berufung einlegen oder Besuch von ihren Familien erhalten können (USDOS 20.3.2023).
Das Gebiet unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten syrischen Oppositionsgruppen wird von der "Syrischen Interimsregierung" (Syrian Interim Government - SIG) verwaltet. Das Justizsystem ist hauptsächlich mit erfahrenem Personal als Richter, Staatsanwälte und Anwälte besetzt, aber die Justiz gilt als direkt und indirekt unter Einfluss der türkischen Streitkräfte und ihrer lokalen syrischen Verbündeten stehend. Implizit werden Korruption und Schikanen durch diese von der Justiz toleriert. Gleichzeitig wird gegen jegliche Opposition zur SIG oder der türkischen Präsenz strikt vorgegangen. Neben einem zivilen Justizsystem gibt es auch eine Militärjustiz, welche für militärische Strafverfahren und für das Militärpersonal zuständig ist (NMFA 5.2022).
In Idlib übernehmen quasi-staatliche Strukturen der sogenannten „Errettungs-Regierung“ der HTS Verwaltungsaufgaben (AA 29.3.2023) und verfügen auch über eine Justizbehörde. Die Gruppe unterhält auch geheime Gefängnisse. Die HTS unterwirft ihre Gefangenen geheimen Verfahren, den sogenannten "Scharia-Sitzungen". In diesen werden die Entscheidungen von den Scharia- und Sicherheitsbeamten (Geistliche in Führungspositionen der HTS, die befugt sind, Fatwas [Rechtsgutachten] und Urteile zu erlassen) getroffen. Die Gefangenen können keinen Anwalt zu ihrer Verteidigung hinzuziehen und sehen ihre Familien während ihrer Haft nicht (NMFA 6.2021). Die COI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) stellt in ihrem Bericht vom Februar 2022 fest, dass durch HTS und andere bewaffnete Gruppierungen eingesetzte, rechtlich nicht legitimierte Gerichte Urteile bis hin zur Todesstrafe aussprechen. Dies sei als Mord einzustufen und stelle insofern ein Kriegsverbrechen dar (AA 29.3.2023).
Für ganz Syrien gilt, dass nicht gewährleistet ist, dass justizielle und administrative Dienstleistungen allen Bewohnern und Bewohnerinnen in gleichem Umfang und ohne Diskriminierung zugutekommen (AA 29.3.2023). Willkürliche Verhaftungen, summarische Gerichtsverfahren und extralegale Strafen finden durch alle Kriegsparteien statt (FH 9.3.2023).
Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen
Letzte Änderung 2023-07-17 16:14
Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie die militärischen und zivilen Geheimdienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen (AA 29.3.2023). Die Regierung hat die effektive Kontrolle über die uniformierten Polizei-, Militär- und Staatssicherheitskräfte, und setzt diese zur Ausübung von Menschenrechtsverletzungen ein. Sie hat jedoch nur beschränkten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Einheiten, z.B. russische Streitkräfte, die mit dem Iran verbündete Hizbollah und die iranischen Islamischen Revolutionsgarden, deren Mitglieder ebenfalls zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begingen (USDOS 20.3.2023).
Straflosigkeit unter den Sicherheitsbehörden bleibt ein weitverbreitetes Problem bei Sicherheitskräften, NachrichtendienstmitarbeiterInnen und auch sonst innerhalb des Regimes. In der Praxis sind keine Fälle von Strafverfolgung oder Verurteilung von Polizei- und Sicherheitskräften hinsichtlich Misshandlungen bekannt. Es gibt auch keine Berichte von Maßnahmen der Regierung, um die Einhaltung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu verbessern (USDOS 20.3.2023), wenngleich im März 2022 ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet wurde (HRW 12.1.2023). Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats wie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen - ebenso wie Gefängnisse, wo Zehntausende gefoltert wurden und werden (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist, (OSS 1.10.2017), während die Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen kriminalisiert wird (USDOS 20.3.2023). Die Nachrichtendienste haben ihre traditionell starke Rolle verteidigt oder sogar weiter ausgebaut (AA 29.11.2021)AA 29.3.2023) und greifen in die Unabhängigkeit des Justizwesens ein, indem sie RichterInnen und AnwältInnen einschüchtern (USDOS 20.3.2023). Durch die Entwicklungen der letzten Jahre sind die Schutzmöglichkeiten des Individuums vor staatlicher Gewalt und Willkür – welche immer schon begrenzt waren – weiterhin deutlich verringert worden (AA 29.3.2023).
Es ist schwierig, Informationen über die Aktivitäten von spezifischen Regierungs- oder regierungstreuen Einheiten zu spezifischen Zeiten oder an spezifischen Orten zu finden, weil die Einheiten seit dem Beginn des Bürgerkrieges oft zu Einsätzen organisiert („task-organized“), bzw. aufgeteilt oder für spezielle Einsätze mit anderen Einheiten zusammengelegt werden. Berichte sprechen oft von einer speziellen Militäreinheit an einem bestimmten Einsatzort (z. B. einer Brigade), wobei die genannte Einheit aus Teilen mehrerer verschiedener Einheiten nur für diesen speziellen Einsatz oder eine gewisse Zeit zusammengestellt wurde (Kozak 28.12.2017).
Trotz grob abgesteckter Einflussgebiete überschneiden sich die Gebiete der Sicherheitsorgane und ihrer Milizen, und es herrscht Konkurrenz um Checkpoints und Handelsrouten, wo sie von passierenden ZivilistInnen und Geschäftsleuten Geld einnehmen, sowie um Gebiete, welche Rekrutierungspools von ehemaligen Oppositionskämpfern darstellen. Die Spannungen zwischen Offizieren, Soldaten, Milizionären und lokaler Polizei eskalieren in Verhaftungen niederrangiger Personen, Angriffen und Zusammenstößen sowie Anschuldigungen zufolge in Ermordungen der von der Konkurrenz angeworbenen "versöhnten" ehemaligen Oppositionskämpfer (TWP 30.7.2019). So ist z. B. Aleppo Stadt Schauplatz fallweiser Zusammenstöße zwischen Regierungsmilizen untereinander und mit Regierungssoldaten (ICG 9.5.2022).
Anmerkung, In den folgenden Unterkapiteln sind Informationen zu einigen wichtigen Gruppen, Einheiten, Milizen und Sicherheitsbehörden, die auf der Seite der Regierung zum Einsatz kommen, zu finden. Dies stellt jedoch keine abschließende Aufstellung dar.
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 2023-07-14 12:20
Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 12.1.2023). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie "verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 29.3.2023). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023), wobei die jüngsten Betroffenen erst elf Jahre alt waren (HRW 13.1.2022). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 29.3.2023). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023).
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).
Eine realistische Möglichkeit zur Einforderung einer strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte besteht nicht. Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 29.3.2023).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten (darunter laut SNHR drei Todesfälle durch Folter im Jahr 2022), Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die Berichte dazu betreffen u. a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Folteropfer der SDF starben im Zeitraum Januar 2014 bis Juni 2022 SNHR zufolge mindestens mindestens 83 Menschen durch Folter, darunter ein Kind und zwei Frauen (SNHR 26.6.2022).
Anmerkung: Für weitere Informationen zu den Arten und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen siehe auch das Kapitel zur Sicherheitslage sowie besonders die Kapitel zur Menschenrechtslage und zur Todesstrafe sowie das Kapitel Haftbedingungen. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst.
Korruption
Letzte Änderung 2023-07-14 13:51
Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2022 liegt Syrien mit einer Bewertung von 13 von 100 Punkten (0=highly corrupt, 100=very clean) auf dem vorletzten Platz 178 von 180 untersuchten Ländern (TI 2023). Laut einer von der syrischen NGO The Day After (TDA) im September 2022 durchgeführten Studie geben mehr als 70 % aller Familien, die in den vom Regime kontrollierten Gebieten leben, an, dass Korruption ihre Lebensbedingungen stark beeinträchtigt, wobei der Anteil mit 81 % der befragten Familien in Damaskus am höchsten ist. Darüber hinaus zeigen die Daten, dass dieses Phänomen, wenn auch in geringerem Maße, in allen anderen Regionen weit verbreitet ist. - Die Quote in den Gebieten der [kurdischen] Autonomieverwaltung beträgt in etwa 57 % und in Idlib und A'zaz kommt sie auf ungefähr 50 % (TDA 9.2022).
Korruption war bereits vor dem Bürgerkrieg weit verbreitet und beeinflusste das tägliche Leben der Syrer (FH 1.2017). Sie wurde im Laufe des Konfliktes noch viel schlimmer (BS 29.4.2020, vergleiche NLI 4.6.2021). Der Machtmissbrauch der syrischen Behörden war eine der Hauptursachen für den Aufstand im Jahr 2011. Die zunehmende Gesetzlosigkeit, von der Syrien im Laufe des Krieges betroffen war, die florierende Kriegswirtschaft und der Kaufkraftverlust der Gehälter der syrischen Staats- und Regimebediensteten erhöhten die Anreize und Möglichkeiten für Korruption (NLI 4.6.2021). Das Gesetz sieht strafrechtliche Konsequenzen für amtliche Korruption vor, die Regierung setzt diese jedoch nicht effektiv durch. Beamte üben häufig korrupte Praktiken aus, ohne dafür bestraft zu werden. Korruption ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem bei Polizei, Sicherheitskräften, Migrationsbehörden und überhaupt in der Regierung (USDOS 20.3.2023).
Der Bürgerkrieg hat neue Möglichkeiten für Korruption in der Regierung, den regierungstreuen Streitkräften und im Privatsektor geschaffen. Ausländische Verbündete profitieren von undurchsichtigen Verträgen und Handelsabkommen mit der Regierung. Selbst grundlegende staatliche Dienstleistungen und humanitäre Hilfe sind Berichten zufolge von der demonstrierten Loyalität zur Assad-Regierung abhängig, oder werden andernfalls vorenthalten (FH 9.3.2023). Bewegungseinschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie schufen 2020 noch mehr Möglichkeiten für Korruption, weil diejenigen, welche es sich leisten konnten, Bestechungsgelder an Beamte und Sicherheitskräfte zahlten, um die Regeln zu umgehen (FH 2021).
Personen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten, die versuchen, offizielle Korruption aufzudecken oder zu kritisieren sehen sich Repressalien ausgesetzt, einschließlich Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis und Inhaftierung (FH 9.3.2023).
Mitglieder und Verbündete des Machtapparats sollen einen Großteil der syrischen Wirtschaft besitzen oder kontrollieren (FH 9.3.2023). Während die Bevölkerung durch den Kollaps der Wirtschaft immer mehr unter Druck gerät, gelingt es dem Machtzirkel um Bashar al-Assad ihren Reichtum auszubauen, z. B. indem sie trotz internationaler Sanktionen mittels ihrer Firmen zig Millionen US-Dollar von UN-Hilfsgeldern lukrieren (FP 1.2.2023) - mutmaßlich 23 % aller UN-Gelder für Syrien im Wert von 68 Mio. US-Dollar in den Jahren 2019 bis 2020 (SLDP 12.2022).
Die Mitgliedschaft in der Baʿath-Partei oder enge familiäre Beziehungen zu einem prominenten Parteimitglied oder einem mächtigen Regimebeamten helfen beim wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Aufstieg. Partei- oder Regimeverbindungen erleichterten die Zulassung zu besseren Schulen, den Zugang zu lukrativen Arbeitsplätzen und den Aufstieg und die Macht innerhalb der Regierung, des Militärs und der Sicherheitsdienste. Das Regime reservierte bestimmte prominente Positionen, wie z. B. Gouverneursposten in den Provinzen, ausschließlich für Mitglieder der Baʿath-Partei (USDOS 12.4.2022). Die Duldung von Korruption sichert dem Regime das Stillhalten von Personen sowie deren Verbleib auf Regimeseite, ohne dass ihm Kosten entstehen (BS 23.2.2022).
Korruption ist auch in den Oppositionsgebieten weitverbreitet. Pro-türkischen Milizen wird Plündern, Erpressung und Diebstahl vorgeworfen. Lokalverwaltungen und AktivistInnen beklagen, dass nur wenig von der internationalen Hilfe ankommt, die im Ausland Oppositionsvertetern übergeben wrid und erheben den Verdacht der Bereicherung. HTS monopolisiert den Treibstoffhandel und Schlüsseldienstleistungen in seinem Gebiet. HTS konfisziert oder zerstört Güter und beschlagnahmt Besitz von abwesenden EigentümerInnen - oft zur Verteilung an ihre Kommandanten (FH 9.3.2023).
Zu Korruption in Zusammenhang mit Gefangenen und Verschwundengelassenen siehe Kapitel Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung und zu Korruption im militärischen Bereich siehe auch Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen, Unterkapitel Streitkräfte.
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung 2023-07-14 13:52
Anmerkungen:
In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.
Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.
Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".
Zu den Themen Wehrdienst und Desertion darf auch auf die folgenden Anfragebeantwortungen verwiesen werden (abrufbar auf ecoi.net sowie dem Koordinationsboard (KoBo) der Staatendokumentation:
In Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung:
● SYRI_SM_Wehrdienst_2022_01_27_KE
● SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Wehrdienstgesetze_2022_09_16_KE
● SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Bestrafung+Wehrdienstverweigerung,+Desertion_2022_09_16_KE
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951] (ACCORD)
● SYRI_SM_MIL_Einberufung_über_syrische_Botschaft_2023_03_21_K
● SYRI_RF_MLD_Kommunalbediensteten Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_29_K
● SYRI_RF_MLD_Zivile Angestellte des öffentlichen Diensts Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_28_K
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Genehmigung der Ausreise eines Staatsangestellten durch den Vorgesetzten; Kontrolle bei Ausreise; Folgen illegaler Ausreise und zuständige Behörde; Folgen bei unerlaubtem Fernbleiben vom Arbeitsplatz; Ausreisegenehmigung für männliche Staatsangestellte im wehrdienstpflichtigen Alter [a-12103-1] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Reisepässe der syrischen Regierung für Männer im wehrdienstfähigen Alter; mögliches Sicherheitsrisiko für diese Personengruppe, im Ausland (insbesondere in der Türkei) einen Reisepass zu beantragen [a-12067-1] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Unterliegen Palästinenser, die den Wehrdienst absolviert haben, auch einer Pflicht zum Reservedienst? (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Tauglichkeitskriterien der syrischen Armee; Einsatz von Wehrpflichtigen mit starker Sehschwäche [a-11869] (ACCORD)
● SYRI_RF_MLD_Staatenlosigkeit_2022_12_15_KE
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Restriktionen bei der Beschaffung von Dokumenten für Syrer im Ausland im Wehrpflichtsalter, die der Wehrpflicht nicht nachgekommen sind und keine Ersatzzahlungen geleistet haben [a-11903] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Möglichkeit eines Familienbesuchs ohne Sanktionen trotz nicht abgeleisteten Militärdienst [a-11857-1] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Abgabe des Wehrdienstbuches und des Personalausweises zu Beginn des Wehrdienstes und Einbehaltung der Dokumente bis zur Ausmusterung von der Militärbehörde [a-11840] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Zöllner als Teil des Sicherheitsapparats, Desertion, militärische und polizeiliche Aufgaben von Zöllnern im Krieg [a-11786] (ACCORD)
In Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung:
● SYRI_SM_MIL_ergänzende+AFB+zu+Wehrdienstpflicht+in+Gebieten+außerhalb+Regierungskontrolle+2022_10_14_KE
● SYRI_SM_MIL_Zwangsrekrutierung,+Kontrolle+Idlib_2022_03_17_KE
● SYRI_MIL_Zwangsrekrutierung+von+Frauen+für+YBJ+bzw.+SDF_2022_09_22_KE
● SYRI_SM_Rekrutierungspraxis YPG_2023_03_02_KE
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Höchstalter für die „Wehrpflicht“ im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet; unterlagen Altersvorgaben für „Wehrpflicht“ seit ihrer Einführung Schwankungen/Änderungen? [a-11932] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Stadt Ar-Raqqa: Bedrohung von Kommunalbediensteten bzw. insbesondere von Fahrern für die staatliche/städtische Müllentsorgung oder Angestellten in der Wasserversorgung durch die kurdische Selbstverwaltung (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) [a-12103-2] (ACCORD)
● Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen; Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnung im Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101] (ACCORD)
NICHT-STAATLICHE BEWAFFNETE GRUPPIERUNGEN (REGIERUNGSFREUNDLICH UND REGIERUNGSFEINDLICH)
Letzte Änderung 2023-07-17 08:02
Manche Quellen berichten, dass die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen im Allgemeinen auf freiwilliger Basis geschieht. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018). Andere Quellen berichten von der Zwangsrekrutierung von Kindern im Alter von sechs Jahren durch Milizen, die für die Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF (auch als "shabiha" bekannt) (USDOS 29.7.2022). In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Ein weiterer Hauptgrund für das Eintreten in diese Gruppierungen ist, dass damit der Wehrdienst in der Armee umgangen werden kann. Die Mitglieder können so in ihren oder in der Nähe ihrer lokalen Gemeinden ihren Einsatz verrichten und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen. Die syrische Armee hat jedoch begonnen, diese Milizen in ihre eigenen Strukturen zu integrieren (FIS 14.12.2018), indem sie Mitglieder der Milizen, welche im wehrfähigen Alter sind, zum Beitritt in die syrische Armee zwingt (MEI 18.7.2019). Dadurch ist es unter Umständen nicht mehr möglich, durch den Dienst in einer lokalen Miliz die Rekrutierung durch die Armee oder den Einsatz an einer weit entfernten Front zu vermeiden (FIS 14.12.2018). Auch aufgrund der deutlich höheren Bezahlung der Milizmitglieder stießen die laufenden Bemühungen, Milizen in die syrische Armee zu integrieren, auf erheblichen Widerstand (MEI 18.7.2019). Regierungstreue Milizen haben sich außerdem an Zwangsrekrutierungen von gesuchten Wehrdienstverweigerern beteiligt (FIS 14.12.2018).
Was die oppositionellen Milizen in Syrien betrifft, so ist die Grenze zur Zwangsrekrutierung ebenfalls nicht klar. Nötigung und sozialer Druck, sich den Milizen anzuschließen, sind in von oppositionellen Gruppen gehaltenen Gebieten hoch (STDOK 8.2017). Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vergleiche DIS 12.2022). In den von den beiden Gruppierungen kontrollierten Gebieten in Nordsyrien herrscht kein Mangel an Männern, die bereit sind, sich ihnen anzuschließen. Wirtschaftliche Anreize sind der Hauptgrund, den Einheiten der SNA oder HTS beizutreten. Die islamische Ideologie der HTS ist ein weiterer Anreiz für junge Männer, sich dieser Gruppe anzuschließen. Nichtsdestotrotz gab es Berichte über Zwangsrekrutierungen der beiden Gruppierungen unter bestimmten Umständen im Verlauf des bewaffneten Konflikts in Syrien. Während weder die SNA noch HTS institutionalisierte Rekrutierungsverfahren anwenden, weist die Rekrutierungspraxis der HTS einen höheren Organisationsgrad auf als die SNA (DIS 12.2022). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer "regulären Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten "HTS-Wehrpflicht" in ldlib liebäugelte, damit dem "Staatsvolk" von ldlib eine "staatliche" Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022).
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2023-07-17 12:15
Die Menschenrechtslage in Syrien wird weiterhin - auch bei Wahrnehmung regionaler Unterschiede - vom deutschen Auswärtigen Amt als 'katastrophal' eingestuft (AA 29.3.2023). Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2023). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht verschiedener Akteure und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNCOI 7.2.2023).
Regierungsgebiete
Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic geht davon, dass die syrische Regierung weiterhin Morde, Folter und Misshandlungen begeht, die sich gegen Personen in Haft richten, darunter auch Praktiken, welche zum Tod in der Haft führen. Hinzukommen willkürliche Haft und Verschwindenlassen. Die UN-Kommission sieht hierin ein Muster von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Im Berichtszeitraum wurden auch Fälle umfassender Verletzungen von Prozessrechten und des Rechts auf ein faires Verfahren im syrischen Justizstrafsystem dokumentiert (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt nennt in Bezug auf die beiden vorhergehenden Berichte [Anm.: vor dem Bericht vom 7.2.2023] der UN-Kommission gezielte als auch wahllose Tötungen, nicht zuletzt durch völkerrechtswidrige Angriffe des Regimes und seiner Verbündeten auf die syrische Zivilbevölkerung in Form von Artilleriebeschuss und Luftschlägen. Hinzukommen: Folter, willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen und Verschwindenlassen, kollektive Bestrafungen vermeintlicher Mitwissender und Familienangehöriger, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten. Nach Einschätzung der UN-Kommission liegt die Verantwortung für die - in absoluten Zahlen betrachtet - große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften des syrischen Regimes, welche Militär, Sicherheits- und Geheimdienste und in den National Defense Forces (NDF) organisierte Milizen umfassen (AA 29.3.2023, vergleiche UNCOI 8.2.2022, UNCOI 17.8.2022). Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führen etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töten (USDOS 20.3.2023).
In Deutschland wurden in den Jahren 2021 und 2022 zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Syriens wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bzw. Beihilfe dazu, verurteilt (HRW 12.1.2023).
Personen, welche glaubwürdig in Gewaltverbrechen involviert sind, Organisationen innerhalb oder verbunden mit der syrischen Regierung sowie auch der sogenannte Islamische Staat unterliegen weiterhin Sanktionen durch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Großbritannien (HRW 12.1.2023). Die syrische Regierung nutzt die Erdbebenkatastrophe unterdessen, um für ein Ende westlicher Sanktionen zu werben (BAMF 13.2.2023). Die umfassenden Sanktionen gegen Syriens Machthaber, Unternehmer und Institutionen haben bislang nicht dazu geführt, dass Verhaltensänderungen eingetreten, politische Zugeständnisse erfolgt oder Menschenrechtsverletzungen abgestellt worden wären (SWP 4.2020). [Zu den Aus- und Nebenwirkungen der breiter gefassten Sanktionen auf die syrische Wirtschaft siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft]. Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit (BS 29.4.2020).
Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 wurden international nicht anerkannt und inmitten einer repressiven Ausgangslage und von Anschuldigungen von Wahlbetrug weder als fair noch frei eingestuft. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien - auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 20.3.2023). - Siehe auch Kapitel Politische Lage und zur Muslimbruderschaft siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen).
Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Personen mit Verbindungen zu lokalen Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 20.3.2023).
Weiterhin besteht laut deutschem Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes in umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert (AA 29.3.2023). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie, auch RückkehrerInnen und Personen in zurückeroberten Gebieten, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben. Es kommt auch weiterhin zu Beschlagnahmungen von Eigentum und Einschränkungen des Zugangs für Rückkehrende in ihre Herkunftsgebiete (HRW 12.1.2023). Ganze Städte und Dörfer wurden durch erzwungenes Verlassen ('forced deportations') entvölkert (BS 29.4.2020). Berichten zufolge zögern die Menschen in kürzlich vom Regime zurückeroberten Gebieten aus Angst vor Repressalien, über die dortigen Vorgänge zu reden (USDOS 12.4.2022).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023). Außerdem sind Fälle von verhafteten Personen wegen ihres Kontakts zu Verwandten oder Freunden in von der Opposition kontrollierten Gebieten bekannt, bzw. wegen des Reisens zwischen den Gebieten der Regierung und anderer Organisationen. Es gibt auch Beispiele für Verhaftungen zwecks Rekrutierung (SNHR 17.1.2023).
Nach Angaben des Syrian Network for Human Rights (SNHR) sind seit März 2011 fast 15.000 Menschen an den Folgen von Folter gestorben, die meisten von ihnen durch syrische Regierungstruppen (HRW 13.1.2022). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023).
Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021). Für das Jahr 2022 dokumentierte SNHR 2.221 Fälle willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen, darunter 148 Kinder und 457 Frauen. Dabei führte das Amnestiedekret vom 30.4.2022 nicht zu einem Rückgang willkürlicher Verhaftungen. 228 der im Jahr 2022 willkürlich Verhafteten waren zurückgekehrte Geflüchtete oder Binnenvertriebene. Auch wenn besonders der Militärgeheimdienst Verhaftungen vornimmt, so gehen willkürliche Verhaftungen von einer Vielzahl von Akteuren aus, insbesondere der Polizei, einer Vielzahl von konkurrierenden Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023) Laut UNO ist in derartigen Fällen ein zentralisiertes Muster von Verlegungen in den Raum Damaskus erkennbar. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen hiernach verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Oft werden die Familien unter Androhung von Gewalt und Repressionen zu Stillschweigen verpflichtet. Die VN und IKRK haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (AA 29.11.2021).
Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Dieses macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021). Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu verwendet, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen. (AA 29.3.20223).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 20.3.2023).
Für das Jahr 2021 (USDOS 12.4.2022) und 2022 lagen keine bestätigten Berichte über den Einsatz der verbotenen Chemiewaffen vor, wobei Syrien weiterhin über reichlich Chemiewaffen sowie über das Knowhow zu deren Produktion und Einsatz verfügt (USDOS 20.3.2023). Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z. B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017, kurz vor dem tödlicheren Einsatz von Sarin in Khan Shaykhun (USDOS 12.4.2022).
Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus und der Cholera sowie über Menschenrechtsverletzungen seitens des Regimes aus. Es verbietet die Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Spannungen und Probleme, mit denen religiösen und ethnischen Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 20.3.2023).
Im April 2022 aktualisierte das syrische Regime sein Cyberkriminalität-Gesetz, Gesetz Nr. 20 (2022), welches nun alle online getätigten Äußerungen unter schwere Strafen stellt, die verschiedene vage Strafbestände wie z. B. die Untergrabung 'des Ansehens des Staates' oder 'der nationalen Einheit' betreffen (FH 9.3.2023). Es bleibt zwar vage, welche Tatbestände genau unter das Gesetz fallen, doch die möglichen Strafen wurden drastisch erhöht: Nach Angaben der staatlich-syrischen Nachrichtenagentur Sana können Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren oder Geldstrafen von bis zu 15 Millionen syrischen Pfund verhängt werden. Menschenrechtsgruppen vermuten, dass der einzige Zweck dieses Gesetzes darin besteht, abweichende Meinungen zu verbieten (Qantara 28.6.2022). Die syrischen Behörden überwachen Online-Aussagen z. B. in Blogs und sozialen Medien sowohl von SyrerInnen im Land als auch außerhalb Syriens. Das Ausmaß der Überwachung der 'normalen BürgerInnen' soll im Jahr 2021 im Vergleich zu Beginn der Krise abgenommen haben, weil die Behörden sich aufgrund ihres (wiedererlangten) Einflusses weniger vor deren Aussagen fürchten. Kritik im Internet über die Wirtschaftskrise verbreitete sich so (NMFA 5.2022) - besonders auch in eigentlich loyalen Kreisen (FH 9.3.2023). Aber dies kann später trotzdem für die Betreffenden zum Problem werden. Gefangene werden teilweise nach ihren Konten in den Sozialen Medien befragt oder sogar zur Erlangung der Zugangsdaten gefoltert (NMFA 5.2022). Die Bestrafung abweichender Aussagen ist auch bei variierendem Einsatz des Überwachungsinstrumentariums hart (FH 9.3.2023).
Die Regierung weitete im Jahr 2022 die Manipulation von Internet-Diensten und -Inhalten wie auch Textnachrichten aus, einschließlich Falschnachrichten zur Unterminierung der Glaubwürdigkeit von Menschenrechtsgruppen und anderen humanitären Organisationen. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z. B. von E-Mails und Sozialen Medien von Gefangenen, AktivistInnen und anderen ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites, Hackangriffe und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein. Verhaftungen schüren die Sorge, dass die Behörden InternetbenutzerInnen jederzeit für Online-Aktivitäten, die als Bedrohung der Regimekontrolle wahrgenommen werden, verhaften könnten (USDOS 20.3.2023). Meta, der Firma zu der Facebook und WhatsApp gehören, z. B. entdeckte und entfernte im Oktober 2021 drei Hackergruppen der Syrian Electronic Army. Diese hatten Zugangsdaten zu Facebook-Konten und weitere sensible Informationen (z. B. Fotos, Kontaktlisten, Informationen über die verwendeten Geräte) gesucht (NMFA 5.2022)
Am 28.3.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem den Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die angebliche falsche oder übertriebene Nachrichten im Ausland verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist nun jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder anderweitig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das die Verbreitung von Nachrichten bestraft, die als Imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.4.2022). Das Gesetz verbietet überdies die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Die syrische Regierung hat auch die Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.5.2020).
Die Verfassung garantiert nominell die Pressefreiheit, aber in der Praxis werden die Medien stark eingeschränkt, und JournalistInnen, die kritisch über den Staat berichten, sind Ziele der Zensur sowie von Verhaftungen, Folter und Tod in Gefangenschaft. Alle Medien benötigen eine Erlaubnis des Innenministeriums. Private Medien im Regierungsgebiet gehören generell Personen mit Verbindungen zum Regime (FH 9.3.2023).
JournalistInnen sind in Syrien allgemein gefährdet, besonders durch Regimekräfte und extremistische Gruppen. Laut Committee to Protect Journalists (CPJ) wurden zwischen 2011 und 2022 142 MedienmitarbeiterInnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Weitere fünf wurden verhaftet und acht Personen gelten mit Stand Dezember 2022 als vermisst (FH 9.3.2023).
Die akademische Freiheit ist stark eingeschränkt. UniversitätsprofessorInnen im Regierungsgebiet werden wegen abweichender Meinungen entlassen oder inhaftiert und einige wurden aufgrund ihrer Unterstützung von Oppositionellen getötet (FH 9.3.2023).
Staatliche und nicht-staatliche Akteure begehen Akte sexueller Gewalt gegen Männer, Buben, Transgender-Frauen und non-binäre Menschen. Gemäß Artikel 520 des syrischen Strafrechts ist 'unnatürlicher Geschlechtsverkehr' mit bis zu drei Jahren Gefängnis strafbar (HRW 12.1.2023, FH 9.3.2023). I
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
Die Zahl der Übergriffe und Repressionen durch nichtstaatliche Akteure einschließlich der de-facto-Autoritäten im Nordwesten und Nordosten Syriens bleibt unverändert hoch. Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend. In den Gebieten, die durch regimefeindliche bewaffnete Gruppen kontrolliert werden, kommt es auch durch einige dieser Gruppierungen regelmäßig zu Übergriffen und Repressionen (AA 29.3.2023). In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UNCOI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlastet. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u. a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Im Fall von Free Syrian Army, HTS, bzw. Jabhat an-Nusra, sowie besonders vom IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNCOI 11.3.2021) [Anm.: zum Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch den IS sowie der anderen Organisationen siehe Bericht].
Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten und Rekrutierungen von Kindersoldaten (USDOS 20.3.2023). Personen, welche in Verdacht geraten, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu haben, sind in Gebieten extremistischer Gruppen der Gefahr von Exekutionen ausgesetzt (FH 9.3.2023).
Trotz der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Jahr 2019 (USDOS 12.4.2022) verübt die Gruppe weiterhin Morde, Angriffe und Entführungen (USDOS 12.4.2022, vergleiche USDOS 20.3.2023).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren das Rückzugsgebiet für viele moderate, aber auch radikale, teils terroristische Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021) [Anm.: siehe auch Kapitel Sicherheitslage]. HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets der Deeskalisierungszone Idlib dort auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen „Errettungs-Regierung“ aufgebaut. Auch unterhält HTS ein eigenes Gerichtswesen, welches die Sharia anwendet, sowie eigene Haftanstalten. HTS konsolidierte seine Machtposition im Nordwesten des Landes im Berichtszeitraum weiter und ging dabei teils brutal gegen Widerstand aus der Zivilgesellschaft vor, insbesondere eine weitere Einschränkung des Raums für zivilgesellschaftliches Engagement und die Verhaftung von Aktivistinnen und Aktivisten sowie anderen HTS-kritischen Akteuren, wiederholt auch ohne Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen und Rechtsbeiständen (AA 29.3.2023). In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Berichtet wurden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten, wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der UNCOI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab as-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden. Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der UNCOI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch HTS-Mitglieder, auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021). Die HTS greift in vermehrtem Ausmaß in alle Aspekte des zivilen Lebens ein, z. B. durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen, Vorschreiben von Kleidungsvorschriften und Frisuren sowie durch das wahllose Einheben von Steuern und Geldbußen. Er beschlagnahmt auch viele Häuser und Immobilien von Christen (HRW 13.1.2022). Zusätzlich verhaftete HTS eine Anzahl von IDPs unter dem Vorwand, dass diese sich weigerten, in Lager für IDPs zu ziehen, und HTS verhaftete auch BürgerInnen für die Kontaktierung von Familienangehörigen, die im Regierungsgebiet lebten (SNHR 3.1.2023).
In den von der Türkei besetzten Gebieten verletzen die Türkei und lokale syrische Gruppierungen ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung und schränken ihre Freiheiten ein. Im Zuge der türkischen Militäroperation Friedensquelle im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der SNA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB 1.10.2021). In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut SNHR willkürlich 162 Personen. Mit Dezember 2019 hatten die türkischen Behörden und die mit ihr verbündete SNA mindestens 63 syrische Staatsbürger verhaftet und illegalerweise in die Türkei verbracht, um sie wegen Anklagen mit potenziell lebenslangen Haftstrafen vor Gericht zu stellen. Fünf der 63 Syrer wurde bereits im Oktober 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt (HRW 13.1.2022). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut UN-COI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021). Auch in den von der Türkei bzw. der Türkei-nahen SNA kontrollierten Gebieten im Norden Syriens kam es vielfach zu Übergriffen und Verhaftungen, die laut UNCOI insbesondere die kurdische Zivilbevölkerung betreffen. In vielen Fällen befänden sich Kurdinnen und Kurden hier laut der UN-Kommission in einer doppelten Opferrolle: Nach einer früheren Zwangsrekrutierung durch die kurdischen SDF in vorherigen Phasen des Konflikts mit der Türkei würden sie nun für eben diesen unfreiwilligen Einsatz von der SNA verfolgt und inhaftiert. Auch darüber hinaus sind in SNA-Gebieten Fälle von willkürlichen Verhaftungen, Isolationshaft ohne Kontakt zur Außenwelt sowie Fälle von Folter in Haft von der UN-Kommission verzeichnet. Der grundsätzlich bestehende Rechtsweg, um sich gegen ungerechtfertigte Inhaftierungen rechtlich zur Wehr zu setzen, ist laut UN-Einschätzung aufgrund langer Verfahrensdauern nicht effektiv (AA 29.3.2023).
Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter Angriffe auf Wohngebiete, willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Versammlungs- und Redefreiheit wie auch die willkürliche Zerstörung von Häusern. Die SDF untersuchen die meisten gegen sie vorgebrachten Klagen, und einige SDF-Mitglieder werden wegen Misshandlungen angeklagt, wozu aber keine Statistiken vorliegen (USDOS 20.3.2023). Die SDF führten im Jahr 2021 'Massenverhaftungen von Zivilisten, darunter Aktivisten, Journalisten und Lehrer', durch. In der ersten Jahreshälfte 2021 belief sich die Zahl der Verhafteten laut dem SNHR auf 369 Personen (HRW 13.1.2022). Das US-Außenministerium berichtete hingegen für das Jahr 2021 von 'gelegentlichen' Einschränkungen von Menschenrechtsorganisationen und Schikanen gegen Aktivisten von Seiten der SDF und anderen Oppositionsgruppen, darunter 'in manchen Fällen' willkürliche Haft (USDOS 12.4.2022). Bezüglich des Jahres 2022 berichtet Human Rights Watch weiterhin von Massenverhaftungen von Zivilisten, darunter Aktivisten, Journalisten und Lehrer. Ende Juli 2022 verhafteten die SDF demnach inmitten erhöhter Spannungen mit der Türkei mindestens 16 AktivistInnen und MedienmitarbeiterInnen unter dem Vorwurf der 'Spionage' (HRW 12.1.2023). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023).
Nach der territorialen Niederlage des IS im Nordosten Syriens wies Human Rights Watch (HRW) auf die Notwendigkeit hin, dass Entschädigungen für zivile Opfer geleistet, dass Unterstützung bei der Ermittlung des Schicksals der vom IS Entführten angeboten wird, und dass man sich angemessen mit der Notlage von mehr als 60.000 syrischen und ausländischen Männern, Frauen und Kindern, die auf unbestimmte Zeit als IS-Verdächtige und deren Familienmitglieder unter schlechten Bedingungen in geschlossenen Lagern und Gefängnissen festgehalten werden, befasst (HRW 13.1.2022).
In Gebieten, in denen weder die Regierung noch extremistische Gruppen dominieren, ist der Spielraum der Redefreiheit etwas größer, auch wenn die Partei der Demokratischen Union (PYD) und einige andere Oppositionsfraktionen Berichten zufolge auch die Redefreiheit einschränken. Die Medienfreiheit variiert in Gebieten unter der Herrschaft anderer Gruppen, aber lokale Medien stehen normalweise unter großem Druck, die dominante Gruppe ihres Gebiets zu unterstützen. So suspendierte die PYD-geführte Verwaltung im Februar 2022 die Lizenz der im Nordirak ansässigen Rudaw-Mediengruppe unter dem Vorwurf der Falschinformation und Aufhetzung. Mitte März verlangte dieselbe Verwaltung von JournalistInnen den Beitritt zur Union of Free Media, welche sich unter ihrem Einfluss befindet. HTS schikaniert regelmäßig wahrgenommene KritierInnen, einschließlich JournalistInnen (FH 9.3.2023).
Haftbedingungen
Letzte Änderung 2023-07-17 12:41
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.3.2023). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind überdies stark überfüllt. Es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind (USDOS 20.3.2023). Diese Lage geht mit grassierenden Krankheiten, einschließlich COVID-19 (AA 29.3.2023), und mit einer entsprechend hohen Sterberate einher (USDOS 20.3.2023). Die hygienischen Zustände sind laut Auswärtigem Amt "katastrophal". Dies gilt generell, jedoch in besonderem Maße für diejenigen Gefängnisse, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind (AA 29.3.2023), und laut US-Außenministerium insbesondere in Hafteinrichtungen der Sicherheits- und Nachrichtendienste (USDOS 20.3.2023).
Besondere Bedürfnisse von Frauen werden kaum oder gar nicht berücksichtigt. Berichten zufolge müssen Frauen in Gefängnissen ohne jegliche Unterstützung entbinden und für ihre Kinder sorgen. Eine Versorgung mit Milch oder Hygieneartikeln erfolgt allenfalls durch Besucher, sofern sie in der entsprechenden Haftanstalt erlaubt sind (AA 29.3.2023).
Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen [Anm.: zu Hinrichtungen und Tod durch Folter - siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtlichen Tötungen sowie Folter und unmenschliche Behandlung] von Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt. Neben gewaltsamen Todesursachen ist eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auch auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).
Anmerkung: Weitere Informationen zu den Hafteinrichtungen (z. B. Saydnaya Gefängnis) sowie dortigen Zuständen und Menschenrechtsverletzungen befinden sich besonders in den Kapiteln je zu Folter und Todesstrafe. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst. Mehr zu Art und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen durch die jeweiligen bewaffneten Gruppen ist auch im Kapitel zur Sicherheitslage zu ihren jeweiligen Gebieten nachlesbar.
Bewegungsfreiheit
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung 2023-07-12 12:15
Erdbeben vom 6. Februar 2023
Am 6.2.2023 ereignete sich ein Erdbeben in der Türkei der Stärke 7,8, gefolgt von einem starken Nachbeben der Stärke 7,5 auf der Richter-Skala. Das erste Beben betraf, zumindest moderat, auch fast ganz Syrien. Am schwersten betroffenen waren die Gebiete im Nordwesten des Landes bzw. entlang der türkisch-syrischen Grenze. Das Nachbeben beschränkte sich auf die nördliche Landeshälfte, wieder mit besonders schwer betroffenen Gebieten entlang der Grenze (TNYT 6.2.2023):
Quelle: TNYT 6.2.2023
Mehr als 7.000 SyrerInnen wurden getötet und geschätzte 5,3 Millionen wurden obdachlos (USIP 14.3.2023). 350.000 Menschen in dem Land wurden durch die Katastrophe vertrieben (Zeit 15.2.2023). So waren laut UN-Koordinator für Syrien 10,9 Millionen Menschen in Syrien von den Erdbebenfolgen in den Gouvernements Hama, Lattakia, Idlib, Aleppo und Tartus betroffen (UN News 8.2.2023). Nachbeben führten dazu, dass Menschen immer wieder ins Freie flüchteten (UN News 12.2.2023). Die Erdbeben verstärkten die humanitäre Krise, und der Cholera-Ausbruch [seit August 2022 - Anmerkung, siehe auch Kapitel Medizinische Versorgung] unterstreicht die Fragilität des Gesundheitssystems sowie der Wasser- und Abwassersysteme (USIP 14.3.2023).
Die Weltbank beurteilte die Lage in den Gouvernements Aleppo, Hama, Idlib, Lattakia, Raqqah und Tartus mit einer tiefer gehenden Prüfung der Städte Aleppo, Harem, Jableh, Afrin, Ad-Dana, Jandairis, Azaz, Sarmada und Lattakia. Demnach trat der größte Schaden bei Unterkünften auf - 24 %, gefolgt vom Transportbereich, der Umwelt (Kosten für die Räumung des Schutts) und der Landwirtschaft, welche gemessen am Ausfall der Lebensmittel den größten Schaden aufweist. Die meisten Schäden werden im Gouvernement Aleppo mit 44 % aller Schäden verzeichnet - besonders in den Bereichen Obdach und Landwirtschaft, gefolgt von Idlib mit 21 %. Die Stadt Aleppo steht mit 60 % der Gesamtschäden an der Spitze der am meisten betroffenen Städte, gefolgt von Lattakia mit 12 % und Azaz mit 10 % (Weltbank 17.3.2023).
Insgesamt kritisierten z. B. die USAID-Chefin Samantha Power die Langsamkeit der Hilfe in Syrien. Zu den am schwersten betroffenen Gebieten in Syrien zählt die Provinz Lattakia, die vom Assad-Regime kontrolliert wird. Dort kommt vor allem humanitäre Hilfe der UN-Organisationen und des Welternährungsprogramms an (Zeit 15.2.2023). UNHCR konzentrierte sich z. B. auf Hilfe für Obdach und Hilfsgüter in den Sammelzentren für die Vertriebenen in Form von Zelten, Plastikplanen, Thermodecken etc. vor dem Hintergrund einer 'Krise in der Krise', in welcher noch Schneestürme in manchen Gegenden und durch die Erdbeben beschädigte Straßen hinzukamen. Bereits vor dem Erdbeben gab es laut UNHCR 6,8 Millionen Binnenvertriebene in Syrien (UNHCR 10.2.2023). Die Weltgesundheitsorganisation arbeitete in allen Teilen des Erdbebengebiets und verstärkte ihren Einsatz einschließlich im besonders betroffenen Nordwesten des Landes. Bereits vor dem Erdbeben waren nur gerade die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen in Betrieb. Nationale und internationale Organisationen, ebenso wie Nachbarn, Moscheen, Kirchen und Gruppen beeilten sich, mit Lebensmitteln, sauberem Wasser, medizinischer Versorgung und sicheren Schlafplätzen zu helfen (UN News 12.2.2023). Nach dem Erdbeben lockerte die EU vorübergehend ihre Sanktionen gegenüber dem Regime. Hilfsflüge aus Deutschland, Dänemark und Norwegen landeten direkt in Damaskus (Qantara 28.2.2023). Als Folge der Erdbeben eröffnen sich für den Iran in vielen Sektoren neue Einflussmöglichkeiten in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Unterkünfte und Transport in Gebieten, wo die syrische Regierung nicht ausreichend den Erdbebenopfern humanitäre Hilfe leisten kann. In der Küstenregion Baniyas, Jableh and Lattakia setzt Iran bereits humanitäre Hilfe als 'soft power' ein, denn neben dem militärischen Einfluss sucht Iran auch wirtschaftlichen Einfluss in Syrien (L'Orient 16.2.2023). Gleichzeitig gibt es Berichte, dass unter der Deckung humanitärer Hilfe Waffen ins Land gebracht wurden (L'Orient 12.4.2023) und UN-Hilfsgüter von Regierungsangestellten abgezweigt oder sonst in einer Form Einfluss genommen wurde (FDD 15.3.2023). Berichten zufolge fließt die aktuelle Nothilfe zu 90 % an das Regime(gebiet), obwohl 88 % der syrischen Erdbebenopfer in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (Qantara 28.2.2023).
In einer Geberkonferenz wurden mittlerweile 911 Millionen Euro für Erdbebenhilfe für Syrien zugesagt, welche von den UN-Organisationen und international anerkannten NGOs verwaltet werden. Faktoren bei der Vergabe der Verwaltung an die UNO (und nicht an die syrische Regierung) sowie Herausforderungen für die Umsetzung sind: das Ausmaß der Zerstörung, viele politische Einschränkungen, das als 'bankrott und korrupt' bezeichnete Regime sowie die Anzahl an politischen Akteuren in Nordsyrien. Dazukommt die Notwendigkeit von Wachsamkeit, dass es nicht zu demographischen Manipulationen entlang der türkischen Grenze kommt (CMEC 3.4.2023).
In das Oppositionsgebiet gelangten zuerst 80 LKW-Ladungen der International Organization for Migration (IOM) über die beiden neu für humanitäre Hilfe geöffneten Grenzübergänge Bab al-Salam und Al Ra'ee (IOM 21.2.2023). Hintergrund ist, dass die syrische Regierung weiterhin Hilfslieferungen in Gebieten außerhalb ihrer Kontrolle einschränkt oder verhindert. Allein im Nordwesten leben in solchen Gebieten mindestens vier Millionen Menschen in schlechten Bedingungen, die völlig auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Auch bewaffnete Oppositionsgruppen verhinderten Hilfslieferungen aus dem Regimegebiet. Darüber hinaus verhinderte die syrische Regierung Hilfslieferungen an die hauptsächlich kurdischen Stadtteile in Aleppo Stadt, die vom 'kurdischen Zivilrat' kontrolliert werden, und welche stark vom Erdbeben betroffen waren. Die kurdische Selbstverwaltung wurde von der Regierung bei Hilfslieferungen in Regierungsgebieten und den Nordwesten eingeschränkt, bzw. die Lieferungen verzögert. Im nördlichen Teil des Gouvernements schränkten pro-türkische Oppositionsgruppen die Lieferung von Hilfe an KurdInnen ein und behinderten Rettungsbemühungen (AI 2.2023).
Aufgrund der Erdbeben vom 6.2.2023 und (dem besonders starken Nachbeben) vom 20.2.2023 wird von der Weltbank ein Schrumpfen der Wirtschaft um 5,5 % prognostiziert. Wenn der Wiederaufbau vor dem Hintergrund beschränkter öffentlicher Ressourcen, schwacher privater Investitionen und beschränkt einlangender Hilfe langsamer als erwartet stattfinden sollte, könnte die Schrumpfung größer ausfallen (Weltbank 17.3.2023). Laut Einschätzung von Ärzte ohne Grenzen werden die Folgen des Erdbebens noch monate- und jahrelang in Nordsyrien spürbar sein. Menschen, deren Häuser nicht wiederaufgebaut werden können, werden in Lagern verbleiben (Standard 3.3.2023).
Die allgemeine sozioökonomische Lage
Die wirtschaftliche und die humanitäre Lage in Syrien bleibt laut deutschem Auswärtigem Amt desolat und hat sich durch das Erdbeben am 6.2.2023 noch einmal deutlich verschärft (AA 29.3.2023). Die UN Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic kam bereits in ihrem Bericht von September 2022 zu dem Schluss, dass sich Syrien in der schwersten wirtschaftlichen und humanitären Krise seit Ausbruch des Konflikts befindet (UNCOI 17.8.2022). Mehr als 90 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Aktuell sind mit steigender Tendenz 15,3 Mio. Menschen von humanitärer Hilfe abhängig (5 % bzw. 0,7 Mio. mehr als 2022), die jedoch laut Vereinten Nationen nicht in benötigtem Maße zur Verfügung gestellt werden kann. In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage weiterhin besonders angespannt. Die ohnehin schlechte Wirtschaftslage hat 2022 durch die rasant fortschreitende Devisen- und Währungskrise (Einbruch des BIP um 60 % zwischen 2010 und 2020, Währungsverfall des syrischen Pfunds um 51,7 % im Vergleich zum Vorjahresmonat (Februar 2022) und um 99,4 % gegenüber dem US-Dollar auf dem Schwarzmarkt seit Konfliktbeginn 2011) sowie durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und die Wirtschaftskrise im Libanon einen neuen Tiefpunkt erreicht (AA 29.3.2023). Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, weil die Situation regional unterschiedlich ist und davon abhängt, unter wessen Kontrolle das jeweilige Gebiet steht (BS 29.4.2020). Auch basiert das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken, die regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019). Die syrische Regierung kontrolliert auch die Sammlung von Daten (EIP 7.2019).
Aufgrund deutlich gestiegener Lebensmittel- und Kraftstoffpreise hat sich in den letzten zwölf Monaten die Versorgungslage nochmals deutlich verschlechtert. Insgesamt sind 12,1 Mio. Menschen von Hunger bedroht (68 % der Bevölkerung), ein Anstieg von etwa 55 % seit 2019. Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 (2022) auf 609.979 (2023). Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zw. sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Die Kosten für Lebensmittel haben sich seit 2020 um über 800 % erhöht. Die Kosten für einen Lebensmittelkorb des Welternährungsprogramms haben sich um 91 % im Vergleich zum Vorjahr erhöht (AA 29.3.2023). Das Welternährungsprogramm führt Syrien noch vor dem Jemen als Land mit der weitesten Verbreitung von ungenügender Ernährung im Nahen Osten und Nordafrika an: 10,4 Millionen Menschen können nur ungenügend Nahrung zu sich nehmen. Das sind 58 % der Bevölkerung in den Gebieten Syriens, zu denen das Welternährungsprogramm Erhebungen durchführen konnte (WFP 10.5.2023). Der UN-Koordinator für Syrien warnte nach dem Erdbeben, dass die Zahlen für humanitären Bedarf nach oben revidiert werden müssen (UN News 8.2.2023).
Preise für Nahrungsmittel, Benzin und Gas sind extremen Preisschwankungen ausgesetzt, aber steigen tendenziell landesweit an. Der Mangel an Treibstoff und Elektrizität birgt laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) Risiken für ca. sechs Mio. Menschen, die sich nicht angemessen vor Winterbedingungen schützen können, und dies betrifft nun 33 % mehr Haushalte als im zurückliegenden Jahr. Etwa 90 % aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 % der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023).
Die Wintersaison 2023 war besonders herausfordernd für bereits fragile Gemeinschaften und Menschen mit bereits bestehenden gesundheitlichen und sozialen Schwächen. Die Wintermaßnahmen sollten ursprünglich zwei Mio. Menschen unterstützen, die überwiegend in Lagern leben und als am verletzlichsten eingestuft werden. Dazu gehören Binnenvertriebene (IDP), die bereits das zwölfte Jahr in Zelten oder provisorischen Unterkünften bei Minustemperaturen, Schnee und Regen verbracht haben. Hinzu kamen nach dem Erdbeben am 6.2.2023 laut UN-Angaben weitere 11.000 Familien aus verschiedenen Teilen Syriens, deren Häuser eingestürzt sind bzw. schwer beschädigt wurden. 5,37 Mio. brauchen Hilfe bei der Unterbringung. Die geplante humanitäre Reaktion ist in allen Bereichen erheblich unterfinanziert. Laut Humanitarian Response Plan (HRP) 2022-23, herausgegeben von UNOCHA, waren mit Stand Dezember 2022 lediglich 47,4 % der Bedarfe finanziert (AA 29.3.2023). Einer anderen Aussage vom 6.5.2023 zufolge waren trotz der Erdbeben nur sieben % des benötigten Betrags bisher für das ohnedies unterfinanzierte Hilfsprogramm eingelangt (Al-Jazeera 6.5.2023).
Aufgrund der Unterfinanzierung erreichten die humanitären Hilfen in den Bereichen Unterkunft und Non-Food-Items (NFI) mindestens 1,2 Mio. der angestrebten 2,2 Mio. Menschen nicht. 2023 gab es 5,3 Mio. NFI-Bedürftige, ein Zuwachs um 15 % zum Vorjahr. 85 % der Bevölkerung gaben an, dass ihr monatliches Einkommen nicht zur Deckung der notwendigen Ausgaben reiche. Ein Großteil der Bevölkerung verfügt nach zwölf Jahren Konflikt über keine Ersparnisse mehr, 69 % der Haushalte haben sich folglich seit 2021 weiter verschuldet. Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der Krise betroffen. Rund 70 % der Bevölkerung machen von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Subventionierte Basisgüter sind nur in begrenztem Umfang und in Regime-kontrollierten Gebieten über eine elektronische Karte zu beziehen. Im Februar 2022 entzog Syriens Regierung über 600.000 Haushalten mit 2,5 Mio. Personen die Berechtigung zum Bezug subventionierter Güter (AA 29.3.2023).
Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 12.2022).
- Nordwest-Syrien (Oppositionsgebiete):
Prekär blieb die humanitäre Lage auch im Nordwesten Syriens. Ca. 2,9 Mio. der aktuell ca. 4,6 Mio. dort lebenden Menschen sind nach Schätzungen von UNOCHA Binnenvertriebene, die infolge von Kampfhandlungen nach oder innerhalb Idlibs geflohen sind oder durch vom Regime betriebene 'Evakuierungen' aus zuvor belagerten Gebieten dorthin verbracht wurden. Die hohe Bevölkerungsdichte stellt eine besondere Herausforderung dar, wenn auch die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs aufgrund der Nähe zur Türkei teilweise besser als in Regimegebieten ist. Mittlerweile leben 1,8 Mio. Binnenvertriebene in Lagern, 2022 waren es 1,7 Mio. Die Vereinten Nationen gehen von einem Anstieg auf zwei Mio. bis Jahresende aus (AA 29.3.2023).
Fast jeder und jede in Nordwest-Syrien war vom Erdbeben betroffen. Mehr als 4.500 Menschen starben. Mehr als 10.500 Personen wurden verletzt, und mehr als 100.000 wurden laut UN-Angaben durch das Erdbeben vertrieben. Durch die Erdbeben kollabierten fast 2.000 Gebäude und mehr als 4.000 Gebäude wurden als unsicher oder unbewohnbar eingestuft. Viele können ohne externe Hilfe nicht ihre Unterkünfte wiederaufbauen, und Nachbeben bleiben eine Sorge. Hinzukommt der Verlust von Einkommensmöglichkeiten als Folge des Erdbebens (Al Jazeera 6.5.2023). Die hohen Raten an Lebensmittelunsicherheit in der Region wurden durch die Erdbeben verschärft ebenso wie die Dürre. Die am stärksten von den Erdbeben betroffenen Gebiete in Syrien haben bedeutenden Wassermangel erlebt und viel Ackerland wird nun zur Unterbringung von Menschen genutzt, welche durch die Erdbeben ihr Obdach verloren (TNH 6.6.2023).
Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Lage weiter zugespitzt. 97 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze (Stand 2022); etwa 90 % der Menschen in der Region sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mangelernährung stellt ein wachsendes Problem in der Region dar. 3,3 Mio. Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Laut OCHA hat weniger als eins von zehn Kindern Zugang zu adäquater und ausreichender Ernährung. Die grenzüberschreitende humanitäre Versorgung von 4,1 Mio. Menschen in Nordwestsyrien bleibt daher weiterhin essenziell. Im November 2022 erreichten die Hilfsmaßnahmen der UNO 2,47 Mio. Menschen. Nach Auslaufen der Resolution 2585 konnte die notwendige Hilfe der Vereinten Nationen über den Grenzübergang Bab al-Hawa bisher jeweils immer um sechs Monate verlängert werden. Der UN-Sicherheitsrat verlängerte die Öffnung des Grenzübergangs erneut am 9. Januar 2023 bis zum 10. Juli 2023 (AA 29.3.2023). So kann jeweils für die Dauer von sechs Monaten humanitäre Hilfe ohne Zustimmung der syrischen Regierung in das Gebiet gebracht werden (Al Jazeera 6.5.2023).
- Der Nordosten
Auch im Nordosten Syriens bleibt die humanitäre Lage angespannt. In Nordostsyrien leben 2,7 Mio. Menschen, von denen rund 1,8 Mio. auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Prekär bleibt die Situation besonders für die etwa 630.000 Binnenvertriebenen in der Region, von denen 89 % bereits seit mindestens vier Jahren vertrieben sind. Nur vier % dieser Personen planen, innerhalb des nächsten Jahres in ihre Heimatorte zurückzukehren (AA 29.3.2023).
Mitte 2020 führten die türkisch-kontrollierten Gebiete in Nordsyrien die türkische Lira als Währung ein, um das volatile syrische Pfund zu umgehen (AA 4.12.2020). Die türkische Lira hat jedoch im Jahr 2022 ungefähr 30 % ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren und 44 % bereits im Jahr davor (Reuters 9.3.2023). Da die türkische Lira im Nordwesten Syriens mittlerweile eine weitverbreitete Währung ist, hat ihre Abwertung negative Auswirkungen auf die Menschen und die humanitäre Hilfe (UNOCHA 16.12.2021). Im Dezember 2021 wurde von Panikkäufen aufgrund des Währungsverfalls der türkischen Lira berichtet (The National 8.12.2021). Die selbst ernannte 'syrische Errettungsregierung' hat daraufhin beschlossen, die Preise für Ölprodukte, die in den von Hay'at Tahrir ash-Sham kontrollierten Teilen des Gouvernements Idlib verkauft werden, in US-Dollar statt in türkischen Lira anzugeben (TSR 14.12.2021).
Die allgemeine Wirtschaftslage
Mit 2021 belief sich der wirtschaftliche Schaden des Kriegs auf 1,2 Billionen US-Dollar, hauptsächlich durch die Zerstörung von Infrastruktur und die massiven Vertreibungen durch Einsatz verbotener Kriegstaktiken primär durch die syrischen und russischen Streitkräfte (HRW 13.1.2022). Mit dem Abflauen des Konflikts dominieren die sich weiter verschlechternde katastrophale wirtschaftliche Lage und infolgedessen die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch teils seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen. Die Wirtschaftskrise im Libanon, dem vor allem auch im Hinblick auf die Sanktionen eine zentrale Rolle als Umschlags-und Finanzplatz für die syrische Wirtschaft zukommt, und COVID-19 verschärften die Situation ab 2019 weiter. Es kommt immer wieder zu Verknappungen von Benzin und Diesel, der für Heizzwecke und angesichts der völlig unzureichenden öffentlichen Stromversorgung auch für Generatoren benötigt wird. Auch bei dem Grundnahrungsmittel Brot gibt es Engpässe. Die Preise für beide Güter wurden stark erhöht und die Subventionen zurückgefahren. Mit derzeit mehr als 15 Mio. von Nahrungsmittelunsicherheit betroffenen Menschen ist diese Zahl höher als am Höhepunkt des Konfliktes. Der Preis für den Nahrungsmittelkorb erhöhte sich seit 2019 um 800 %. Der Konflikt hat die soziale Ungleichheit verschärft. Die Gehälter bewegen sich zwischen 70.000 und 120.000 syrische Pfund (SYP), dies entspricht umgerechnet zum Marktkurs rund 20 bzw. 35 US-Dollar. 90 % der Menschen leben in Armut. Im Land begegnet überall der Eindruck des Fehlens jeglicher Hoffnung auf Besserung (ÖB Damaskus 12.2022), und die Wirtschaft taumelt am Rande des Kollaps (MEE 3.4.2023). Die Arbeitslosenrate wird auf 57 % geschätzt. Andererseits gibt es einen Mangel an qualifiziertem Personal in bestimmten Sektoren und Gebieten, u.a. bedingt durch die Vertreibung, Flucht und Abwanderung. Ein Drittel des Wohnungsbestandes wurde ganz oder teilweise zerstört (ÖB Damaskus 12.2022).
Nach zwei Jahren Wachstum brach die Wirtschaft 2020 um 8 % ein. Die Inflation betrug 2022 geschätzt 121,5 %. Der Verfall des syrischen Pfunds hat sich weiter beschleunigt. Einem offiziellen Kurs von 3.000 SYP/USD steht ein inoffizieller Kurs von 6.100 SYP/USD gegenüber, der Unterschied beträgt demnach bereits über 50 % und steigt weiter. Die Überweisungen der im Ausland lebenden Syrer bilden einen wesentlichen Plusposten. Die Währungsreserven sind von 21 Mrd. USD (2010) dem Vernehmen nach heuer zeitweise auf nur 100.000 USD gesunken. Der Verfall der Währung führt zur Verstärkung der wirtschaftlichen Zentrifugalkräfte in den Regionen. – Im Nordwesten wird verstärkt die türkische Lira im Zahlungsverkehr genützt. Das BIP schrumpfte auf ein Fünftel gegenüber 2010, das Budget beträgt real 2022 rund zehn des Budgets von 2010. Die Ölproduktion fiel von 380.000 auf 25.000 Barrel pro Tag. Der Konflikt verursachte auch erhebliche Schäden an der physischen Infrastruktur (ÖB Damaskus 12.2022).
Sieht man von Russland und Iran (v. a. im Grundstoffbereich) sowie in geringerem Ausmaß von China ab, sind keine größeren Auslandsinvestitionen zu erwarten; auch die syrische Diaspora zeigt sich sehr zurückhaltend. Die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sind derzeit nicht gegeben; die Perspektiven haben sich vielmehr verschlechtert. Mit dem Iran sieht sich ein wichtiger Kreditgeber und Erdöllieferant aufgrund der US-Sanktionen und aktuell aufgrund massiver Proteste im Land und weiterer Sanktionsschritte des Westens selbst massiv unter wirtschaftlichem Druck (ÖB Damaskus 12.2022).
Während die Staatsinstitutionen und -funktionen in Instrumente des Regimes transformiert wurden, wurden unter der Regimeführung illegale Wirtschaftsaktivitäten massiv ausgeweitet. Diese stellen nun eine immer wichtigere Einnahmequelle dar. Dazu gehören die Drogenproduktion (Captagon) im großen Stil, Schmuggel, Schutzgelderpressungen, informelle Besteuerung von Warenhandel über die Frontlinien hinweg, Erpressung etc. Hochrangige Militärs wie Maher al-Assad und die Vierte Division sind dabei zentral in dieser 'Parallelwirtschaft' (Brookings 27.1.2023).
Laut Economist stellen Produktion und Schmuggel von Drogen - besonders von Captagon - mittlerweile die Hauptquelle Syriens für Devisen dar (USDOS 20.3.2023), es stellt das wichtigste Exportgut des Landes dar (Spiegel 17.6.2022). Die Produktion und der Schmuggel erfolgen durch Elemente mit Verbindungen zu Regimefunktionären und der Hizbollah: Die Vierte Gepanzerte Division der Syrischen Armee und Maher al-Assad dominieren auch hierbei (USDOS 20.3.2023), bzw. verdienen mit (Spiegel 17.6.2022).
Größere Produktionsstätten liegen der folgenden Karte gemäß in und um Damaskus sowie in Lattakia sowie weiteren Regionen vor allem im Westen, Südwesten und Nordwesten des Landes. Im Gebietsstreifen zwischen Homs und Damaskus entlang der libanesischen Grenze ballen sich zahlreiche kleinere Produktionsstätten (Spiegel 17.6.2022).
Quelle: Spiegel 17.6.2022
In Europa und dem Nahen Osten erfolgen große Beschlagnahmungen von Captagon, die aus regimekontrollierten Gebieten in Syrien stammten (USDOS 20.3.2023) [Zur Funktion von Captagon als Einnahmequelle siehe auch Kapitel Politische Lage]. Allerdings gibt es keinen Hinweis, dass die Captagon-Produktion der syrischen Bevölkerung in irgendeiner Weise wirtschaftlich helfen würde. Stattdessen scheint Captagon Syrien in einen 'Narco-Staat' mit einer Abhängigkeit vom Drogenhandel zu verwandeln, in welchem die Staatsführung - auch privat - finanziell profitiert. Durch die Einnahmen in US-Dollar ist der Captagon von besonderer Bedeutung, weil die Sanktionen gegen Syrien den Zugang zu Dollars unterbinden sollen. So helfen die Profite von Captagon bei der Bezahlung von Assad-Unterstützern, Milizen und Leibwächtern, und schützen so die Assad-Loyalisten vor ihren heimischen Gegnern (Soufan 13.4.2023). Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden dabei nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität eingesetzt, sondern auch zum Schutz der wirtschaftlichen Privilegien (Brookings 27.1.2023). Währenddessen erlebt die syrische Bevölkerung nach UN-Einschätzung vom März 2023 eines der schwersten Jahre, verschlechtert durch die Zerstörungen durch das Erdbeben und durch verschiedene kumulierende Entwicklungen davor, einschließlich der anhaltenden Cholera-Epidemie (UNFPA 28.3.2023).
● Die Rolle der al-Muwafaqa al-Amniyeh (Sicherheitsgenehmigung) bei Wirtschaftstransaktionen im Regierungsgebiet
Sicherheitsgenehmigungen sind von Immobilientransaktionen bis hin zu kommerziellen oder industriellen Aktivitäten sowie Dienstleistungen - oder sogar für Künstler für ein Konzert nötig - ebenso für verschiedene Personenstandsangelegenheiten wie Registrierungen von Geburten und Todesfällen. Die Liste genehmigungspflichtiger Aktivitäten wurde stetig länger - wie z.B. das Mieten eines Hauses. Die Vollmachten für einige Personenstandsangelegenheiten wie Geburtenregistrierungen und Eheschließungen sowie Reisepässe und Freikäufe vom Wehrdienst (von Syrern im Ausland) wurden im Jahr 2018 wieder von der Regelung ausgenommen. So kann die syrische Regierung bezüglich Personenstandsangelegenheiten im Ausland am Laufenden bleiben, bzw. durch die Reisepass- und Befreiungsgebühren US-Dollars einnehmen. Vollmachten für vermisste und abwesende Personen bedürfen jedoch laut einem späteren Erlass weiterhin einer Sicherheitsgenehmigung, was für die Familien und besonders für weibliche Familienmitglieder von Vermissten nachteilige Folgen hat. Der Erlass bricht laut Beurteilung der NGO STJ (Syrians for Truth and Justice) syrisches Gesetz und die Verfassung. Die beiden Erlässe zu den Sicherheitsgenehmigungen dienen in Augen von STJ zur demografischen Umgestaltung von Gebieten, die zuvor von bewaffneten Oppositionsgruppen gehalten wurden. Auch verwenden Mitarbeiter des Sicherheitsapparats die Genehmigung zur Erpressung von BürgerInnen, verweigern diese auf Basis böswilliger Berichte oder profitieren durch Bestechungsgelder für die Erteilung der Genehmigung oder deren Beschleunigung (STJ 1.2023).
- Oppositionsgebiete
Auch Gebieten außerhalb staatlicher Kontrolle etablierten oder übernahmen die an der Macht befindlichen Bündnisse Institutionen, um ihre Autorität zu legitimieren. Neben rudimentären Sozialleistungen regulieren sie die lokalen Märkte und den Handel über Grenzen und Frontlinien hinweg. Sie verwalten die Verteilungen essenzieller Waren und humanitärer Hilfe und heben Steuern ein. Dies ermöglicht auch kriminelle Praktiken und Ausübung von Zwang, was das wirtschaftliche Überleben der bewaffneten Gruppen sichert, und ihre Anführer bereichert. Haft, Folter und extralegale Hinrichtungen werden nicht nur zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen und zur Aufrechterhaltung der Autorität der Gruppen eingesetzt, sondern auch zum Schutz ihrer wirtschaftlichen Vorteile. Während im Regimegebiet Organisierte Kriminalität staatliche Strukturen ausbeutet und durchdringt, kann in den Rebellengebieten eine Art 'Staatsaufbau' durch Organisierte Kriminalität wahrnehmen (Brookings 27.1.2023).
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung 2023-07-12 10:23
Der im gesamten Land ohnehin überlastete und in Teilen dysfunktionale öffentliche Gesundheitssektor ist weiterhin gemäß Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts unzureichend: 41 Prozent der öffentlichen Krankenhäuser sind nicht oder nur teilweise funktionsfähig. Große Teile der Gesundheitsinfrastruktur sind infolge militärischer Auseinandersetzungen und fehlender Instandhaltung weiterhin nicht oder nur eingeschränkt nutzbar (Stand August 2022). Notfalltransporte sind durch einen Mangel an Krankenwagen stark beeinträchtigt. Im Zeitraum 2015-2021 wurden 159 Ambulanzfahrzeuge beschädigt oder zerstört. Trotz einer Erhöhung der Zuweisungen durch die syrische Regierung im Jahr 2022 bleibt der syrische Gesundheitssektor chronisch unterfinanziert. Die Ausgaben wurden nominal um 97,1 Prozent und real um 4,2 Prozent im Vergleich zu 2021 erhöht. Das Defizit wird durch rückläufige finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland verstärkt. Überdies meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im September 2022 eine Finanzierungslücke von 69 Prozent (179 Mio. US-Dollar) (AA 29.3.2023).
Mehr als 15,3 Mio. Menschen sind derzeit auf Gesundheitshilfe angewiesen, eine Erhöhung um 3,2 Mio. im Vergleich zum Vorjahr. Der Anstieg 2023 wird unter anderem auf die sich verschlechternden sozioökonomische Lage der Gemeinden, COVID-19 und den Cholera-Ausbruch zurückgeführt. Der Zugang zu medizinischer Versorgung war schon vor der COVID-19-Pandemie stark eingeschränkt; medizinische Grund- und Notversorgung waren u. a. aufgrund von gezielten Angriffen auf das Gesundheitswesen kaum gewährleistet (AA 29.3.2023). Syrische Regierungstruppen und ihre Verbündeten waren mit Berichtszeitpunkt Juli 2021 für 90 Prozent von 600 verifizierten Angriffen auf medizinische Einrichtungen verantwortlich. Diese machten medizinische Einrichtungen sowohl für das medizinische Personal als auch für die Patienten zu tödlichen Orten und dezimierten den Gesundheitssektor im ganzen Land (PHR 7.2021). Auch werden MitarbeiterInnen von Gesundheitseinrichtungen Ziel von Verhaftungen und Folter (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung betrachtet medizinisches Personal als Staatsfeinde, wenn dieses diskriminierungsfrei medizinische Versorgung in Gebieten, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, anbietet (NMFA 5.2020), und auch sonst sind MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors spezifische Ziele wegen ihres Berufs oder ihrer tatsächlichen oder angenommenen medizinischen Versorgung von Oppositionellen: Verhaftungen betrafen so auch z. B. Gesundheitspersonal, das mit internationalen Medien über COVID-19 gesprochen hatte oder sonst dem strengkontrollierten offiziellen Narrativ über die Pandemie widersprach. Gegen diese wird Folter eingesetzt, z. B. um Informationen über Aktivitäten zur Gesundheitsversorgung oder über anderes medizinisches Personal zu erhalten oder auch um Verbrechen zu gestehen, welche die Gefolterten gar nicht begangen hatten. Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR - Syrian Network for Human Rights) sind weiterhin mindestens 3.407 Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs von Verschwindenlassen oder Haft betroffen, wobei die syrischen Regimekräfte für mehr als 3.358 Fälle verantwortlich sind (USDOS 20.3.2023). SNHR dokumentierte von 2011 bis November 2021 den von 861 MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors, PHR (Physicians for Human Rights) verzeichnete den Tod von 930 Personen aus dem medizinischen Bereich, wobei das Regime sowie die russischen Truppen für mehr als 90 % der Fälle die Verantwortung trugen (USDOS 12.4.2022). Aufgrund der Kampfhandlungen in der Provinz Idlib und der Abwanderung großer Teile des Gesundheitspersonals mussten seit Dezember 2019 mindestens 83 Gesundheitseinrichtungen schließen (Stand 2021). Zahlreiche Ärzte und Pflegekräfte wurden zudem bei Angriffen getötet: 2022 kamen bei 17 Angriffen 25 Patienten und drei Pflegekräfte ums Leben, knapp 100 wurden verletzt (AA 29.3.2023).
Gewalt macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung laut US-Außenministerium gefährlich und teuer, z. B. durch die fallweise Verweigerung des Passierens von schwangeren Frauen an Regime-Checkpoints oder durch die Bombardierung von Gesundheitseinrichtungen in Oppositionsgebieten, von denen zwei Fälle vom Jahr 2022 erwähnt werden (USDOS 20.3.2023).
Im Süden Syriens, in den Provinzen Dara’a, Quneitra und Sweida, sind fünf von sechs Krankenhäusern beschädigt und nur bedingt funktionstüchtig. Laut WHO können komplexere Operationen und spezialisierte Behandlungen für chronische Krankheiten derzeit ausschließlich in Damaskus oder den Küstenorten Tartus und Lattakia durchgeführt werden. Bei lebensrettenden Arzneimitteln, medizinischem Personal und Ausstattung sind erhebliche Engpässe ermittelt worden, insbesondere im Hinblick auf die medizinische Behandlung verletzter und chronisch kranker Personen. Dies hat auch zur Rückkehr übertragbarer Krankheiten wie Polio geführt. Aufgrund kritischer hygienischer Bedingungen sowie unzureichender vorbeugender Maßnahmen und Behandlungen mehren sich landesweit Cholera-, Diphtherie- und Leishmaniose-Fälle (AA 29.3.2023). Die verfügbaren Daten für Nicht-COVID-19-Bezogene Krankheiten zeigen, dass grippeähnliche Erkrankungen, akute Diarrhö, Leishmaniose und mutmaßlich Hepatitis in allen Altersgruppen die Hauptursachen für Sterblichkeit sind. Dies gilt insbesondere für Lager von Binnenvertriebenen, in denen die Indikatoren für den Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygienediensten durchwegs schlechter sind als außerhalb. Vertriebene sind aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, Überbevölkerung und anderen Risikofaktoren einem erhöhten Risiko von Infektionskrankheiten ausgesetzt (WHO 3.2021).
Gewalt gegen Mitarbeiter im Gesundheitsbereich und Angriffe auf medizinische Einrichtungen, verbunden mit den Folgen von COVID-19, erschweren den Zugang zu medizinischer Versorgung, auch für Personen mit konfliktbedingten Behinderungen (USDOS 12.4.2022) [Anm.: speziell zur Lage von Kindern mit Behinderungen siehe USDOS 20.3.2023]. 28 Prozent der Bevölkerung haben – mehrheitlich konfliktbedingte – Behinderungen, fast doppelt so viele wie der internationale Durchschnitt (15 Prozent). In Nordostsyrien sind es sogar 37 Prozent. Insgesamt 59 Prozent der syrischen Erwachsenen mit Behinderung sind arbeitslos und knapp 50 Prozent ohne Zugang zu medizinischer Versorgung (AA 29.3.2023). Menschen mit Behinderungen benötigen Rehabilitations- und Hilfsdienste (WHO 3.2021). 25 Prozent der Über-Zwölf-Jährigen in Syrien haben eine Beeinträchtigung und 36 Prozent der Binnenvertriebenen. Die Hälfte der Binnenvertriebenen zwischen zwölf und 23 Jahren mit Beeinträchtigung besucht die Schule im Vergleich zu 69 Prozent der Binnenvertriebenen ohne Beeinträchtigung (HNAP 7.4.2021). Frauen und Menschen mit Beeinträchtigung scheinen im Nordwesten stärker betroffen zu sein, wo mehr als die Hälfte der Frauen und mehr als 40 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung von einem Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten berichten, im Vergleich zu etwas mehr als 35 Prozent der Frauen und fast 20 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigung im Nordosten (USAID 16.04.2021).
Einer Studie zufolge leiden 60 Prozent der syrischen Bevölkerung an Symptomen, die auf eine mittelschwere bis schwere psychische Störung hindeuten. Schätzungen zufolge leiden eine Million SyrerInnen an schweren psychiatrischen Störungen, wobei 2018 nur 80 Psychiater im Land tätig waren (1 pro 100.000 Einwohner) (BJPSYCH 8.2021). Syrien ist unter den Ländern mit der höchsten Traumarate weltweit. Laut Angaben der Vereinten Nationen litten im Jahr 2020 36,9 Prozent der Bevölkerung unter Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD). Die Traumata bleiben häufig unbehandelt: Eine psychosoziale Betreuung der hohen Anzahl traumatisierter Menschen wird nur punktuell und fast ausschließlich durch Maßnahmen der WHO gewährleistet. Sexualisierte Gewalt ist so weit verbreitet, dass sie laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts inzwischen 'zum traurigen Alltag' insbesondere von Frauen und Mädchen gehört (AA 29.3.2023).
Die Folgen des Erbebens vom 6.2.2023
Der Mangel an Sanitäreinrichtungen, abgefülltem Trinkwasser und Wasser zum Baden sowie das [Anm.: im Frühjahr noch] kalte Wetter in stark überbelegten Sammelunterkünften und Zelten stellen ein Risiko für durch Wasser übertragbare Krankheiten und schwere Risken im Bereich reproduktiver Gesundheit, wie Infektionen dar. Es kam bereits zu Ausbrüchen von Krätze und anderen Krankheiten. Es gibt ein hohes Risiko für einen Cholera-Ausbruch in den betroffenen Gebieten. Mit Berichtszeitpunkt 3.3.2023 war bereits ein Anstieg der Cholera-Fälle von zwölf Prozent seit dem Erdbeben zu verzeichnen, darunter beinahe 1.700 Verdachtsfälle innerhalb einer Woche. Der Mangel an Laborausrüstungen und -materialien zur Überwachung der Qualität des Trinkwassers behindert die Prävention von durch Wasser übertragbare Krankheiten. Aus Lattakia, Tartus und Hama wird ein Mangel an Waschgelegenheiten gemeldet, was das Risiko von Läusen, Krätze, ansteckenden und infektiösen Krankheiten erhöht (DEEP 10.3.2023).
Gebiete außerhalb der Regierungskontrolle
Der Gesundheitssektor litt bereits vor den Erdbeben nach zwölf Jahren Krieg unter einem schweren Mangel an Ausstattung und medizinischem Personal (Al Jazeera 6.5.2023). Die Versorgung mit Medikamenten sowie die Abdeckung mit medizinischem Personal ist laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes noch schlechter als in Regimegebieten. Während es in Damaskus, Lattakia und Tartus immerhin 38-41 Pflegekräfte und Ärzte pro 10.000 Einwohner gibt, sind es in al-Hassaka, Raqqa und Dara’a lediglich 5-6 pro 10.000 Einwohner. Durch Vertreibungen aus in den vergangenen Monaten und Jahren vom Regime belagerten Gebieten, u. a. im Südwesten des Landes, wird das ohnehin extrem angespannte Gesundheitssystem im nicht vom Regime kontrollierten Nordwesten des Landes weiter belastet (AA 29.3.2023).
Die Erdbeben [Anm.: vom 6.2.2023 sowie Nachbeben] haben die Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung in Nordwest-Syrien verschärft, weil viele Gesundheitseinrichtungen beschädigt wurden, und daher nicht mehr in Betrieb sind. Weitere 42 medizinische Einrichtungen weisen eine Beschädigung von 20 bis 50 Prozent auf. Mehrere MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs starben, während bereits zuvor eine Knappheit an ausgebildeten MitarbeiterInnen herrschte (Al Jazeera 6.5.2023).
Auch die chronische Unterernährung von Kindern unter fünf Jahren ist in Nordost-Syrien doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Die Menschen im Nordwesten leiden unter Kampfhandlungen, Vertreibung und großer Armut, von den rund 4,6 Mio. Menschen dort leben knapp 1,8 Mio. notdürftig in Zelten. Aufgrund einer Finanzierungslücke von 82 Prozent sind im kommenden Winter laut United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs etwa 2,5 Mio. Menschen vom Erfrieren bedroht (AA 29.3.2023).
Humanitäre Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Sicherstellung einer Basisgesundheitsversorgung der Menschen dort werden vom Regime gezielt behindert bzw. verhindert. Auch gezielte Angriffe des Regimes gegen zivile Gesundheitseinrichtungen dauern an. Zwischen 2016-2019 wurden im Nordwesten 337 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gezählt, von den 606 durch die WHO erfassten Gesundheitseinrichtungen in Nordwestsyrien sind 131 funktionsunfähig. Laut Aid Worker Security Database steht Syrien mit insgesamt 337 (Stand Oktober 2022) Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen auf Platz drei weltweit – hinter dem Südsudan und Afghanistan. Hauptursachen waren Luftangriffe, Beschuss sowie Detonationen von Kampfmitteln (IEDs). Hilfsprogramme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in von der bewaffneten Opposition (Idlib) oder der kurdischen sog. „Selbstverwaltung“ kontrollierten Gebieten werden vom Regime durch Androhung einer Einstellung aller WHO-Operationen regelmäßig verhindert (AA 29.3.2023). Physicians for Human Rights (PHR) berichtete, dass schwangere Frauen in steigendem Maß Kaiserschnitte als Geburtsmethode wählten, um die Zeit in Krankenhäusern zu verringern, die als Ziel für Angriffe bekannt sind. Im Lauf des Jahres 2022 kam es weiterhin zu Luftangriffen des Regimes und der russischen Luftwaffe auf zivile Ziele, darunter auch Krankenhäuser (USDOS 20.3.2023).
Die Gesundheitsversorgung in den oppositionellen Gebieten wird weitestgehend von Nichtregierungsorganisationen geleistet, die von Zuwendungen der internationalen Gebergemeinschaft abhängig sind (AA 29.3.2023). Die aktuelle internationale Hilfe deckt laut einer Quelle vor Ort nur 25 Prozent des aktuellen Bedarfs an Medikamenten und medizinischer Ausstattung (Al Jazeera 6.5.2023). Die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, haben laut Aussagen humanitärer HelferInnen nicht annähernd mit der UNO vergleichbare Kapazitäten für den Ankauf und Transport von Hilfsgütern in den Nordwesten, wobei Russland wiederholt gedroht hat, mit einem Veto den UN-Hilfslieferungen und den UN-Geldern via Türkei ein Ende zu machen. Millionen Menschen in Nordost- und Nordwest-Syrien sind auf Lebensmittel, Medikamente und andere lebensnotwendige Hilfe - einschließlich COVID-19-Impfstoffen - über die syrisch-türkische Grenze angewiesen. In Nordost-Syrien konnten die Hilfsorganisationen, die nicht zur UNO gehören, nicht kompensieren, dass die UNO im Jänner 2020 ihre Hilfslieferungen vom Irak aus nach Syrien einstellen musste (HRW 12.1.2023). PatientInnen in den nordwestlichen Oppositionsgebieten, die vor den Erdbeben Behandlungen gegen Krebs in türkischen Spitälern erhalten konnten, können nicht lokal versorgt werden - ebenso wie auch Herzpatienten mit Operationsbedarf (Al Jazeera 6.5.2023).
Der Cholera-Ausbruch seit August 2022
Der Cholera-Fall vom 22.8.2022 gilt als der erste bekannte Fall (WHO 18.10.2022). Der Ausbruch begann in der Provinz Aleppo und ist höchstwahrscheinlich auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen, das zur Bewässerung von Feldern eingesetzt wurde, aber auch als Trinkwasser dient (AA 29.3.2023). Seit August 2022 hat sich die Cholera in Syrien ausgebreitet, wobei vor allem die Küste (ÖB Damaskus 12.2022) sowie die Provinzen Aleppo, Raqqa, Deir ez-Zor und Al-Hassakah am schlimmsten betroffen sind, obgleich in allen 14 Gouvernements Cholera-Fälle verzeichnet wurden (AA 29.3.2023). 23 Prozent von 84.607 Verdachtsfällen von Cholera aus ganz Syrien betreffen das Gouvernement Aleppo (DEEP 10.3.2023). Zwischen August 2022 und Januar 2023 wurden 100 zugeschriebene Todesfälle bei einer Fallsterblichkeitsrate von 0,13 Prozent verzeichnet. Zwar hat sich die Zahl der gemeldeten Verdachtsfälle in einigen Gouvernements mittlerweile deutlich verringert, insgesamt nehmen die kumulierten Fälle aber weiter zu. Die Gesundheitsbehörden in Nordostsyrien, deren Angaben nicht vom Gesundheitsministerium in Damaskus berücksichtigt werden, meldeten bis Ende Oktober 2022 152 positive Fälle und 29 Tote. (AA 29.3.2023)
Es wurde mittlerweile mit Impfungen gegen Cholera begonnen (UN Secretary General 21.2.2023).
Laut der WHO stellen das fragile Gesundheitssystem Syriens, Zugangsbeschränkungen zu Gebieten mit bewaffneter Gewalt und die mangelhafte Wasser-, Sanitäts- und Hygienesituation (Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Erschwinglichkeit von Wasser) bei hohen Preisen für sicheres Wasser die derzeit größten Herausforderungen dar (WHO 18.10.2022). Hinzu kommen Berichte, dass die Türkei keinen geregelten Wasserfluss in den Euphrat garantiert, und daher das Problem des Wassermangels zusätzlich verstärkt, während die syrische Regierung Hilfslieferungen für das Selbstverwaltungsgebiet behindert (AP News 7.11.2022, vergleiche HRW 7.11.2022).
COVID-19
Am 22.3.2020 wurde der erste Fall einer COVID-19 infizierten Person in Syrien bestätigt (ÖB Damaskus 29.9.2020). Unbestätigte Berichte deuteten damals darauf hin, dass das Virus schon früher entdeckt worden war, dies aber vertuscht wurde (Reuters 23.3.2020). Die offiziell verlautbarten Zahlen (rund 70 000 Fälle und 3300 Tote per Anfang Juli) für die von der Regierung kontrollierten Landesteile sind sehr niedrig; detto die der Testungen; die Dunkelziffer ist sehr hoch. Es folgten weitreichende Maßnahmen (u. a. Ausgangssperren, Verkehrsbeschränkungen, Schließungen von Bildungseinrichtungen und Geschäften), die zwischenzeitig weitgehend aufgehoben wurden. Die Pandemie traf ein Land mit einem Gesundheitssystem, das durch den Konflikt schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies trifft gerade auch für die humanitären Brennpunkte mit Hunderttausenden IDPs vor allem im Nordwesten zu (ÖB Damaskus 12.2022). Die vierte Welle erreichte das Land im Sommer 2021. Die WHO stufte Syrien aufgrund nicht vorhandener Kapazitäten im Gesundheitsbereich bereits zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 als Hochrisikoland ein. Impfstofflieferungen im Rahmen von COVAX verzögerten sich zu Beginn jedoch stark und die Auslieferung in Oppositionsgebiete wurde zeitweise durch das Regime zurückgehalten. Aufgrund fehlender persönlicher Schutzausrüstung, völlig unzureichender Test-, Isolations-, Kontroll- und Versorgungskapazitäten und aktiver Vertuschung der Pandemie durch das Regime gingen Nichtregierungsorganisationen mit Stand November 2021 von über einer halben Million tatsächlicher Infektionen aus (AA 29.11.2021). Die Informationen bzgl. der COVID-19 Pandemie sind landesweit weiterhin unzulänglich; laut syrischem Gesundheitsministerium gab es bis Ende Oktober 2022 57.354 Ansteckungen, 3.163 Menschen sind infolge einer Erkrankung verstorben. Bis Ende Juli 2022 erhielten 13,9 % der Syrerinnen und Syrer eine COVID-19-Impfung, 9,5 % sind doppelt geimpft (AA 29.3.2023).
Die Regierung erhielt mit Stand März 2021 geschätzte 120.000 Test-Sets und andere Ausrüstung von unterschiedlichen Ländern und soll diese an private Labore verkauft haben, statt sie im öffentlichen Gesundheitssystem zu verteilen. Es gibt auch Anschuldigungen, dass die Regierung Lieferungen, die für oppositionelle Gebiete bestimmt waren, für ähnliche Zwecke beschlagnahmt hat, bzw. sich bemüht, Hilfsgüter in die eigenen Gebiete zu lenken. Auch verweigerte die Regierung verschiedene kooperative Maßnahmen mit dem Selbstverwaltungsgebiet, was die dortigen Anti-Covid-Maßnahmen untergrub (COAR 10.3.2021) [Anm.: bzgl. Umgang mit Hilfsgütern siehe auch Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
Im Jahr 2020 berichteten die unterbesetzten medizinischen Fachkräfte, dass sie ihre Aufgaben unter der Aufsicht der mächtigen Sicherheitsdienste erfüllen mussten, welche die staatlichen Gesundheitseinrichtungen überwachen. Dies soll abschreckend auf Patienten wirken, die bereits zögern, sich in einem Land behandeln zu lassen, in dem die Angst vor dem Staatsapparat groß ist und jede kritische Diskussion über den Umgang mit der Pandemie als Bedrohung für eine Regierung angesehen werden könnte, die entschlossen ist, eine Botschaft der Kontrolle zu vermitteln (Al Jazeera 5.10.2020). Menschenrechtsaktivisten zufolge verhaftete das Regime MitarbeiterInnen des Gesundheitsbereichs, die mit internationalen Medien über die COVID-19-Krise sprachen oder dem streng kontrollierten Narrativ über die Auswirkungen der Pandemie auf das Land widersprachen (USDOS 20.3.2023).
Gewalt durch MitarbeiterInnen medizinischer Berufe sowie Korruptionsberichte besonders bzgl. der Weltgesundheitsorganisation in Syrien
Im Jänner 2022 begann in Deutschland ein Gerichtsverfahren gegen den syrischen Arzt Alaa Mousa, der eines Mordes und der Folter in 18 Fällen in Militärhospitälern in Homs und Damaskus angeklagt ist. Folterungen finden Berichten zufolge in mehreren Militärkrankenhäusern statt (USDOS 20.3.2023).
Im Oktober 2022 wurden Berichte über Korruption, Betrug und Übergriffen im Syrien-Büro der WHO bekannt. So soll die Leiterin Akjemal Magtymova laut der Associated Press Hilfsgelder in Millionenhöhe veruntreut und Regierungsvertreter mit kostspieligen Geschenken beeinflusst haben. Des Weiteren beschuldigen WHO-Mitarbeiter ihre Chefin, inkompetente Verwandte von teils fragwürdigen Staatsfunktionären angestellt und während der COVID-19-Pandemie dringend benötigte Gelder, die für humanitäre Hilfeleistungen vorgesehen waren, anderweitig ausgegeben zu haben. Dadurch konnte und kann die WHO laut eigenen Mitarbeitern in Syrien das Gesundheitssystem, welches beinahe gänzlich auf internationale Hilfeleistungen angewiesen ist, nicht adäquat unterstützen, vor allem da das letztjährige Budget nur ca. 115 Millionen US-Dollar betrug. Eine interne Untersuchung der WHO der berichteten Missstände war damals bereits seit mehreren Monaten am Laufen (AP News 20.10.2022, vergleiche TG 20.10.2022). Zusätzlich zu den Fällen bei der WHO sollen die Ehefrau und ein Bruder des syrischen Außenministers Faisal Mekdad sowie Angehörige anderen Spitzen des syrischen Staatsapparats ebenfalls im Lauf der Zeit in den Genuss von Anstellungen bei UN-Organisationen in Syrien gekommen sein (FDD 15.3.2023).
Anmerkung, Bzgl. Korruption im öffentlichen Sektor Syriens siehe Kapitel Korruption.
Rückkehr
Letzte Änderung 2023-07-12 09:54
Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten. Gleichzeitig steigt durch die diplomatische Normalisierung zwischen Syrien und der Arabischen Liga in manchen Staaten der Druck auf die Flüchtlinge, trotz der für sie unsicheren Lage nach Syrien zurückzukehren (CNN 10.5.2023).
Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 12.1.2022) RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023, vergleiche Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Schikanen durch die syrischen Behörden (HRW 12.1.2023). Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften an Rückkehrenden, die sich an verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassen Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).
Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023).
Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).
Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).
Hindernisse für die Rückkehr
Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z.B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).
Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).
Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z.B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialen wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].
Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).
Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: mehr dazu siehe in dem Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort sowie im Unterkapitel Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr].
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
2. Beweiswürdigung
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des BF
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Herkunft des BF, insbesondere zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, stützen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben des BF im Verfahren vor dem BFA sowie der mündlichen Verhandlung am 29.11.2023.
Dass die Heimatprovinz des BF, Idlib, unter der Kontrolle von Kampfgruppen der jihadistischen Allianz Hay’at ash-Sham (HTS) steht, ergibt sich aus der Einsicht in die tagesaktuelle Karte https://syria.livemap.com/ sowie den vorliegenden Länderfeststellungen.
Die Identität des BF geht aus einem in Vorlage gebrachten syrischen Personalausweis bzw. abgelaufenen Reisepass hervor.
Das Datum der Antragstellung und die Gewährung subsidiären Schutzes an den BF ergeben sich aus dem Akteninhalt.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtgrund des BF
Der BF stützte sein Fluchtvorbringen sowohl im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme als auch der mündlichen Beschwerdeverhandlung auf die allgemeinen Kriegszustände bzw. Angriffe auf das Haus seiner Familie. Bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung stellte er erstmals auch Probleme seiner Verwandten aufgrund der Tätigkeit seines Vaters als Soldat in den Raum, konkretisierte diese Unannehmlichkeiten jedoch in weiterer Folge nicht genau. Überdies deutete der BF Probleme mit der syrischen Regierung an, da sein Vater unerlaubt die Arbeitsstelle verlassen habe.
Aus einer ACCORD Anfragebeantwortung vom 14.10.2022 zu Fragen des BVWG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung ist jedoch abzuleiten, dass in Gebieten, die nicht unter der Kontrolle des Regimes stehen, eine Wehrpflicht de facto nicht umsetzbar ist, da der Zugriff auf die Administration und die davon betroffenen Personen fehlt. Ferner ist dieser Anfragebeantwortung zu entnehmen, dass Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) hauptsächlich im Gouvernement Idlib und anderen Gebieten im Nordwesten Syriens operiert (Grenzstädte zur Türkei). Das Gouvernement Idlib befindet sich vollständig außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann. Vor diesem Hintergrund ist eine asylrelevante Gefährdung des BF durch das syrische Regime in seiner Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, da die syrische Regierung ebendort mangels jedweder Kontrollmöglichkeit und fehlendes Behördenapparats niemanden zwangsrekrutieren kann.
Den Länderfeststellungen ist weiters zu entnehmen, dass bewaffnete oppositionelle Gruppen wie SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) – der auch die (ehemalige) Al Nusra Front angehört –, anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), Zivilisten in von den ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auferlegen. Gewaltsame Rekrutierungsversuche von oppositionellen Kräften bzw. eine Furcht vor solchen wurden vom BF auch nicht behauptet. Da der BF bislang nicht im Fokus oppositioneller Milizen stand und sich gewaltsame Rekrutierungsversuche durch oppositionelle Kräfte auch aus den Länderberichten nicht ableiten lassen, ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der BF im Fall einer Rückkehr gezwungen wäre, sich oppositionellen Kräften bei bewaffneten Einsätzen anzuschließen. Unabhängig davon, dass syrische Streitkräfte auf Personen, die aus Gebieten unter Kontrolle oppositioneller Milizen stammen, keinen direkten Zugriff haben, hatte der BF zudem auch nie Kontakt zu Vertretern des syrischen Regimes. Er ist auch zu keinem Zeitpunkt in führender bzw. exponierter Position als Gegner des syrischen Regimes in Erscheinung getreten, sodass sich kein Hinweis ergibt, dass er ins Blickfeld der syrischen Behörden geraten ist. Wenn er nunmehr im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung erklärt, aufgrund der Desertion seines Vaters Probleme zu bekommen, ist diesem Vorbringen zu entgegnen, dass er derartige Angaben vor dem BFA zur Gänze unerwähnt blieben und er diese Ausführung erstmals im Rahmen der Beschwerdeverhandlung erstattete. Abgesehen davon haben die syrischen Streitkräfte -wie bereits angeführt- im Gebiet der oppositionellen Gruppierungen keine Zugriffsmöglichkeiten, weshalb diesen Schilderungen bereits aus diesem Grund keine Relevanz zukommt.
Es ist daher bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände sowohl eine Bestrafung des BF wegen einer Wehrdienstverweigerung als auch eine Einziehung zum Wehrdienst in der syrischen Armee sowohl aufgrund der allgemeinen Ausführungen des BF hinsichtlich seiner Rückkehrbefürchtungen als auch den aktuellen Länderberichten in der vorliegenden speziellen Konstellation derzeit nicht maßgeblich wahrscheinlich. Es ist insbesondere anzumerken, dass der BF aus einer Region in der Provinz Idlib stammt.
Dem aktuellen Länderinformationsblatt zufolge wird die Provinz Idlib seit 2015 ununterbrochen von oppositionellen Kräften kontrolliert. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass syrische Kräfte sich seit 2019 im Süden und Osten der Stadt angenähert haben. Dieser Zustand dauert bereits mehrere Jahre an. Seit Ende Februar/Anfang März 2021 besteht ein Waffenstillstand, der trotz lokal begrenzter militärischer Gefechte zwischen den Konfliktparteien zu einer Deeskalation geführt hat.
Das Gebiet Idlib, das von oppositionellen Kräften unter Schutz der Türkei beherrscht wird, grenzt im Norden unmittelbar an das türkische Staatsgebiet an und ist einer ACCORD Anfragebeantwortung vom 22.11.2022 von dort auch zumindest über den Grenzübergang Bab Al-Hawa, der von oppositionellen Kräften kontrolliert wird, grundsätzlich erreichbar. Einer ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt vom 2.6.2023 ist zu entnehmen, dass Personen, die von der Türkei aus etwa nach Idlib, Afrin oder Dscharabulus reisen würden, nicht von der syrischen Regierung gefunden und zum Dienst in der Armee einberufen werden könnten, weil die syrische Regierung nicht von ihrer Einreise erfährt. Es ist anzumerken, dass sich das gesamte Gebiet zwischen Grenzübergang zwischen dem Grenzübergang Bab Al-Hawa und der Heimatregion des BF unter Kontrolle oppositioneller Milizen befindet. Eine Einreise ohne Kontakte zu Behörden des syrischen Regimes ist über diesen Grenzübergang daher möglich. Die für die Einreise notwendigen Unterlagen, wie z.B. einen syrischen Reisepass, kann sich der BF im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht bei der syrischen Botschaft in Wien ausstellen lassen. Dass die syrischen Botschaften bzw. Konsulate Reispässe auch dann ohne Probleme ausstellen, wenn männliche Syrer ihren Wehrdienst noch nicht geleistet haben, geht aus der Anfragebeantwortung „ACCORD: Reisepässe der syrischen Regierung für Männer im wehrdienstfähigen Alter; mögliches Sicherheitsrisiko für diese Personengruppe, im Ausland (insbesondere in der Türkei) einen Reisepass zu beantragen [a-12067-1]“ vom 27. Jänner 2023 zweifelsfrei hervor. Letztlich steht auch das gesamte Gebiet zwischen dem Grenzübergang Bab al-Hawa und der Heimatregion des BF unter der Kontrolle der Opposition/HTS.
Laut herangezogener Länderberichte haben noch im April 2022 über 16.000 Personen diesen Grenzübergang Richtung Syrien passiert. Einschränkungen und Sperren bei Grenzübergängen sowie Risikofaktoren auf den Reiserouten sind im Wesentlichen gleichfalls der allgemeinen (Bürgerkriegs-)Situation geschuldet, wobei auch damit im Zusammenhang stehenden Risiken letztlich durch die Gewährung von subsidiärem Schutz hinreichend Rechnung getragen wurde. Hierzu ist noch zu ergänzen, dass laut Berichten auch in den anderen Landesteilen Syriens, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, und auch für vermeintlich friedlichere Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie die Hauptstadt Damaskus weiterhin ein hohes Risiko besteht, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden.
Es ist daher in einer Zusammenschau dieser Umstände mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht davon auszugehen, dass dem BF im Falle einer Rückkehr nach Syrien eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird.
Vor diesem Hintergrund erscheint daher eine Rekrutierung des BF durch das syrische Regime oder die Freie Syrische Armee bzw. HTS nicht als hinreichend bzw maßgeblich wahrscheinlich. Im gesamten Verfahren sind keine Hinweise auf sonstige gefahrenerhöhende Umstände hervorgetreten, aufgrund derer der BF in Syrien aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in Gefahr laufen könnte, von der syrischen Regierung zum Militärdienst oder der Freien Syrischen Armee bzw. HTS eingezogen oder bestraft zu werden.
Die getroffenen Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF stützen sich auf die zitierten Quellen. Diese aktuellen Länderberichte beruhen auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nichtregierungsoffiziellen Stellen und bieten zum größten Teil ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche. Hinzu kommt, dass den Auskünften in der Regel Recherchen von vor Ort tätigen Personen oder Organisationen zu Grunde liegen, welche wohl auf Grund der Ortsanwesenheit am besten zur Einschätzung der Lage fähig sind. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
3. Rechtliche Beurteilung
Zu Spruchpunkt A)
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht und keiner der in Artikel eins, Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG ist der Antrag abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG) offensteht oder er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG) gesetzt hat.
Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.5.2021, Ra 2019/19/0428, mwN).
Es kann nicht angenommen werden, dass es der BF gelungen wäre, wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus Gründen der GFK glaubhaft zu machen: Wie bereits in der Beweiswürdigung hinreichend dargelegt wurde, ist es dem BF letztlich nicht gelungen, individuelle Gründe für die Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung glaubwürdig darzutun.
Es konnte auch keine reale Gefahr dafür erkannt werden, dass er bei einer Rückkehr in seine Heimatregion zum Militärdienst in die syrische Armee oder HTS zu Kampfeinsätzen eingezogen bzw. zwangsrekrutiert werden würde. Gleiches gilt für eine Verfolgung wegen illegaler Ausreise oder aufgrund sonstiger generalisierender Merkmale vergleiche dazu auch VwGH 11.11.2020, Zl. Ra 2020/18/0147; VwGH 07.03.2022, Zl. Ra 2022/19/0034; VwGh 21.04.2022, Zl. Ra 2022/14/0029; VwGH 25.04.2022, Zl. Ra 2022/20/0090).
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. ist daher als unbegründet abzuweisen.
Zu Spruchpunkt B)
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A) wiedergegeben.
Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
ECLI:AT:BVWG:2024:W294.2278349.1.00