Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

20.11.2023

Geschäftszahl

W250 2253161-1

Spruch


W250 2253162-1/12E
W250 2253158-1/12E
W250 2253157-1/12E
W250 2253159-1/12E
W250 2253161-1/12E
W250 2273319-1/9E

Schriftliche Ausfertigung des am 02.10.2023 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

römisch eins.

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) römisch 40 , 2.) mj. römisch 40 , 3.) mj. römisch 40 , 4.) mj. römisch 40 und 5.) mj. römisch 40 , alle StA. Syrien und vertreten durch RA Dr. Gregor KLAMMER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.02.2022, Zl. 1.) römisch 40 , 2.) römisch 40 , 3.) römisch 40 , 4.) römisch 40 , 5.) römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

römisch eins. Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins und 4 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

römisch 40 und römisch 40 , wird gemäß Paragraph 3, Absatz eins und 4 AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 34, Absatz 2, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

römisch II. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.

römisch II.

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde der römisch 40 alias römisch 40 , StA. Syrien, vertreten durch die BBU GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.04.2023, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer 1 bis 5 (im Folgenden BF1 bis BF5) reisten als Familienverband in das Bundesgebiet ein, die BF1 ist die Mutter der minderjährigen BF2 bis BF5. Die BF1 bis BF5 stellten am 31.08.2021 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung der BF1 fand am 01.09.2021 statt, dabei gab sie an, Syrien mit ihren Kindern wegen des Krieges verlassen zu haben (BF1 AS 11ff.). Am 15.10.2021 wurde die BF1 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde, Bundesamt oder BFA) niederschriftlich einvernommen und gab dabei im Wesentlichen an, sie habe Syrien aufgrund des Krieges verlassen und weil sie Angst habe, dass ihr ältester Sohn, der BF2, zwangsrekrutiert werde (BF1 AS 45ff.).

2. Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 03.02.2022 wurden die Asylanträge der BF1 bis BF5 vom 31.08.2021 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.), den BF der Status der Subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Das Bundesamt stellte fest, die Beschwerdeführer hätten Syrien wegen des Bürgerkrieges verlassen, die BF1 habe keine Gründe geltend gemacht, welche eine konkret gegen ihre Person gerichtete Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ableiten ließe (BF1 AS 127, Seite 72 des angefochtenen Bescheides).

3. Gegen Spruchpunkt römisch eins. dieser Bescheide erhoben die BF1 bis BF5 mit Schreiben vom 07.03.2022 Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, die BF1 befürchte im Falle einer Rückkehr als Staatenlose und Angehörige der Volksgruppe der Kurdinnen sowie der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen und aufgrund der ihr unterstellten regimekritischen Gesinnung, durch die illegale Ausreise und Familienangehörigkeit zu Wehrdienstverweigerern, verfolgt zu werden. Sowohl ihr als auch ihren Söhnen drohe von kurdischer Seite und ihren Söhnen auch von syrischer Seite der Einzug zum Militärdienst (BF1 AS 145, Seite 3ff. der Beschwerde).

4. Eine weitere Tochter der BF1, die Sechstbeschwerdeführerin (BF6) reiste nach ihrer Familie in das Bundesgebiet ein und stellte am 03.07.2022 für sich und ihren minderjährigen Sohn einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich (BF6 AS 13). Die Erstbefragung der BF6 fand am 04.07.2022 statt, dabei gab sie an, sie habe Syrien wegen des Krieges verlassen und befürchte den Tod für sich und ihren Sohn (BF6 AS 1ff.). Am 11.11.2022 wurde die BF6 vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen und gab dabei im Wesentlichen an, sie habe Syrien aufgrund des Krieges verlassen, da die Herkunftsregion ständig vom türkischen Militär bombardiert worden sei und ihr Leben und das ihres Kindes in Gefahr gewesen sei (BF6 AS 37ff.). Die BF6 legte ihr Familienbuch vor (AS 47ff.).

5. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 29.04.2023 wurde der Asylantrag der BF6 hinsichtlich des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.), der BF6 der Status der Subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Das Bundesamt stellte fest, die BF6 habe Syrien aufgrund des Bürgerkrieges verlassen. Eine individuelle Verfolgung ihrer Person habe nicht festgestellt werden können (BF6 AS 62, Seite 8f. des angefochtenen Bescheides).

6. Gegen Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheides erhob die BF6 mit Schreiben vom 07.06.2023 Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, sie sei gemeinsam mit ihrem Ehemann aus Syrien geflohen, da diesem eine Zwangsrekrutierung von Seiten des syrischen Regimes und von Seiten der kurdischen Milizen drohe. Sie habe nach der Heirat mit ihrem Ehemann im Haushalt ihrer Schwiegereltern gelebt und sie sei dort sowohl von den Schwiegereltern als auch dem Ehemann geschlagen und misshandelt worden, da sie sich geweigert habe, eine Burka zu tragen. Bei einer Rückkehr drohe ihr Verfolgung aufgrund ihrer Herkunft aus einem oppositionellen Gebiet, als alleinstehende Frau mit Kind, aufgrund der Familienzugehörigkeit zu ihrem Ehemann der ein Wehrdienstverweigerer sei, und aufgrund ihrer illegalen Ausreise und Asylantragstellung im Ausland (BF6 AS 258, Seite 2ff. der Beschwerde).

7. Das Bundesamt legte die Beschwerden der BF1 bis BF5 samt Bezug habenden Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht am 15.03.2022 vor. Das Bundesamt legte die Beschwerde der BF6 samt Bezug habenden Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht am 12.06.2023 vor.

8. Mit Fristsetzungsantrag vom 04.09.2023 an den VwGH gemäß Artikel 133, Absatz 11, Ziffer 2, B-VG brachten die BF1 bis BF5 eine Verletzung im Recht auf Entscheidung vor und beantragten der VwGH möge dem säumigen Verwaltungsgericht eine Frist zur Entscheidung setzen und den Beschwerdeführern Kostenersatz zusprechen.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 02.10.2023 in Anwesenheit der BF1, des BF2, der BF6, des Rechtsvertreters der BF1 bis BF5, der Rechtsvertreterin der BF6, und eines Dolmetschers für die kurdische Sprache, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In der Verhandlung wurde die BF1, der BF2 und die BF6 zu ihren Fluchtgründen, zur Herkunft und den persönlichen Lebensumständen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat befragt. Die BF1 legte die Kopie des Reisepasses ihres Bruders, der in Österreich asylberechtigt ist, vor, welche als Beilage ./A der Niederschrift angeschlossen wurde.

Unmittelbar nach Schluss der Verhandlung wurde das Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet.

10. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte am 02.10.2023 dem Bundesamt das Verhandlungsprotokoll und legte am 04.10.2023 dem Verwaltungsgerichtshof die Fristsetzungsanträge mitsamt der Verhandlungsniederschrift und der mündlichen Verkündung der Entscheidung vom 02.10.2023 vor.

11. Am 10.10.2023 stellte das Bundesamt einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der BF:

1.           Die Erstbeschwerdeführerin (BF1 W250 2253162-1) führt den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 . Sie ist die Mutter

2.           des Zweitbeschwerdeführers (BF2 W250 2253158-1), der den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , führt,

3.           des Drittbeschwerdeführers (BF3 W250 2253157-1), der den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , führt,

4.           des Viertbeschwerdeführers (BF4 W250 2253159-1), der den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , führt,

5.           der Fünftbeschwerdeführerin (BF5 W250 2253161-1), die den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , führt,

6.           sowie der Sechstbeschwerdeführerin (BF6 W250 2273319-1), die den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , führt.

Die Beschwerdeführer sind syrische Staatsangehöriger und Angehörige der Volksgruppe der Kurden, ihre Muttersprache ist Kurdisch. Die Beschwerdeführer bekennen sich zum sunnitisch muslimischen Glauben.

Das Herkunftsgebiet der Beschwerdeführer ist die Großstadt Qamishli. Diese liegt im Nordosten Syriens im Governement al-Hasaka, an der Grenze zur Türkei und befindet sich aktuell unter kurdischer Kontrolle.

Die Beschwerdeführer verfügen über keine Familienangehörige in Syrien.

Der Zweitbeschwerdeführer ist nicht verheiratet und hat keine Kinder.

Die Sechstbeschwerdeführerin ist seit römisch 40 verheiratet mit römisch 40 , geboren am römisch 40 , und hat mit ihm einen Sohn namens römisch 40 , geboren am römisch 40 . Der Ehemann der Sechstbeschwerdeführerin hält sich in der Türkei auf, ihr Sohn hält sich bei ihr in Österreich auf.

Der Zweitbeschwerdeführer und die Sechstbeschwerdeführerin sind gesund.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Die BF1 bis BF5 reisten gemeinsam im Sommer 2021 illegal aus Syrien aus, die BF6 verließ Syrien illegal mit ihrem Mann im April 2022. Alle BF hielten sich zuletzt in ihrem Herkunftsort Qamishli auf.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Zweitbeschwerdeführers:

1.2.1. In Syrien besteht ein verpflichteter Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Der Zweitbeschwerdeführer war zum Ausreisezeitpunkt mit ca. römisch 40 Jahren noch nicht im wehrpflichtigen Alter. Der Zweitbeschwerdeführer ist im gegenständlichen Zeitraum römisch 40 Jahre alt. Der noch minderjährige Zweitbeschwerdeführer hat seinen Wehrdienst somit noch nicht abgeleistet und ist von diesem nicht befreit. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien ist mit entsprechender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er als junger, männlicher Syrer von Seiten der syrischen Militärbehörde aufgefordert wird, den Militärdienst anzutreten bzw. sich bei der Rekrutierungsbehörde zu melden, wo er der Gefahr erheblicher Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre. Denn den Länderberichten zufolge sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren laut Gesetz dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen.

1.2.2. Im Falle einer Rückkehr besteht für den Zweitbeschwerdeführer die Gefahr, zum Militärdienst eingezogen zu werden. Der Zweitbeschwerdeführer lehnt es ab den Wehrdienst anzutreten. Im Falle einer Weigerung würde er zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden. Die Regierung betrachtet Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen.

1.2.3. Im Falle einer Rückkehr in die kurdisch kontrollierte Herkunftsprovinz besteht für den Zweitbeschwerdeführer die Gefahr, zum Militärdienst bei der YPG rekrutiert zu werden. Der Zweitbeschwerdeführer ist minderjährig und verfügt in Syrien über keine nahen männlichen Familienangehörigen. Der Zweitbeschwerdeführer lehnt auch einen Wehrdienst bei der YPG ab.

Neben der Gefährdung durch sexualisierte Gewalt und Kampfhandlungen bleibt die Zwangsrekrutierung von Kindern im Syrienkonflikt durch verschiedenste Parteien ein zentrales Problem. Neben Somalia und Nigeria zählte Syrien 2020 laut UNICEF zu den Ländern mit den höchsten Rekrutierungsquoten von Kindersoldaten. Als Verantwortliche benennen die Vereinten Nationen insbesondere die Terrororganisation HTS, bewaffnete Gruppierungen der ehemaligen Free Syrian Army (FSA), die kurdische YPG/YPJ sowie in geringerem Maße regimenahe Milizen (AA 29.3.2023). Der im Juni 2022 veröffentlichte Jahresbericht des Generalsekretärs an die UN-Generalversammlung über Kinder in bewaffneten Konflikten berichtet über die Rekrutierung und den Einsatz von insgesamt 1.296 Kindern (1.258 Buben und 38 Mädchen) im Konflikt in Syrien zwischen Januar und Dezember 2021. Dem Bericht zufolge wurden 1.285 der Kinder im Kampf eingesetzt. 569 verifizierte Fälle werden der SNA zugeschrieben, 380 der HTS, 220 der YPG und den mit der YPG verbundenen Frauenschutzeinheiten [YPJ] und 46 den regimenahen Kräften und Milizen, neben anderen Akteuren (UNGA 23.6.2022; vergleiche USDOS 20.3.2023).

Zur Rekrutierung minderjähriger Personen durch kurdische Milizen in den Regionen Aleppo, Mabij, Raqqa, Hasakah und Qamishli liegen konkret folgende Berichte vor:

Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) schreibt im November 2021, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) im großen Umfang Kinder zwangsrekrutieren. Kinder würden freiwillig oder zwangsweise rekrutiert, indem sie mit versprochenen Privilegien angelockt oder auch entführt würden. Sobald sie in Trainingscamps seien, sei es Kindern nicht mehr möglich, mit ihren Familien zu kommunizieren. Die Revolutionäre Jugend (Joanne Schurchkar), die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG) zählten zu den prominentesten Parteien, die für die Rekrutierung von Kindern und ihre Eingliederung in die Ausbildungslager und Kampfeinheiten der Demokratischen Kräfte Syriens verantwortlich seien.

SNHR berichtet Mitte Dezember 2021 weiters, dass seit Anfang November mindestens 19 Kinder, davon zehn Mädchen, (11 in der Provinz Hasaka, 8 in Aleppo) entführt und rekrutiert worden seien, davon seien seither nur drei wieder demobilisiert worden. SNHR liefert in diesem Bericht eine detaillierte Darstellung einiger der rekrutierten Kinder und der Umstände ihrer Rekrutierung. Die berichteten Fälle inkludieren zwei 12-jährige Mädchen, ein 14-jähriges Mädchen, vier 15-jährige Mädchen, einen 13-jährigen Jungen, einen 14-jährigen Jungen und zwei 15-jährige Jungen.

Hibr Press, eine 2013 in Aleppo gegründete syrische Wochenzeitschrift, berichtet Anfang Dezember 2021, dass Eltern in der Stadt Qamishli eine Mahnwache abgehalten hätten, um die Freilassung ihrer von PYD/PKK rekrutierten Kinder zu fordern.

The New Arab (Al Araby Al Jadeed), ein 2014 in London gegründetes Medienunternehmen, berichtet in einem Artikel auf seiner Nachrichtenwebseite vom September 2021 von Hinweisen, dass die Revolutionäre Jugend im Nordosten Syriens Entführungen Minderjähriger durchführe und sie in Rekrutierungslager bringe. Al-Araby Al-Jadeed habe von Anfang des Jahres bis Ende August die Entführung von sechs Mädchen [Dana Imad Suleiman (15), Fatima Idris Naasan (15), Ahd Abdel Ghani (16), Simaf Al-Othman (13), Ariana Bahri (13), Delphine Al-Omari (13)) und acht Jungen (Wael Adnan Ibrahim (14), Ahmed Ramou (15), Mohammed Ibrahim Saleh (16), Ibrahim Jarwa, (16), Mazen Khalil Al-Hassan (16), Abdul Aziz Houidi (17), Hahmoud Hassan Adel (17), Massoud Seif Eddin, (17)] dokumentiert. Die SDF hätten die Verantwortung für die Rekrutierung der Kinder bestritten. Die Namen der rekrutierten Kinder korrelieren mit Informationen aus dem Bericht von SNHR vom November 2021.

Al-Monitor berichtet im Juli 2021, dass das Kinderschutzbüro, das der kurdisch geführten Autonomieverwaltung in Manbij angegliedert sei, damit begonnen habe, Arbeitskarten für Kinder im Alter von 10 bis 18 Jahren auszustellen. Laut eines Mitarbeiters des Kinderschutzbüros sei das Ziel der Karten, Zwangsrekrutierungen durch die Demokratischen Kräfte Syriens zu verhindern. Die SDF hätten Anfang 2021 eine Wehrpflichtkampagne gestartet und unter anderem Minderjährige im Alter von 14 bis 16 Jahren verhaftet.

Middle East Monitor (MEMO) berichtet im Juni 2021 von Protesten in der Stadt Manbij gegen die Praxis der Zwangsrekrutierung von Minderjährigen durch die Volksverteidigungseinheiten (YPG). Auf die Protestierenden sei mit scharfer Munition geschossen worden. Laut MEMO würden die YPG regelmäßig überwiegend arabisch besiedelte Städte und Dörfer überfallen, um Minderjährige zu entführen und sie zur Wehrflicht zu zwingen.

Syrians for Truth and Justice (STJ) dokumentiert Anfang Juni 2021, dass die Revolutionäre Jugend (Revolutionary Youth’s Union, RYU) mindestens 19 Minderjährige zwischen Anfang Mai 2020 und Ende 2020 rekrutiert habe. Darüber hinaus verzeichnet STJ die Demobilisierung von vier weiblichen und drei männlichen Rekruten, nachdem Eltern Beschwerden bei den SDF eingereicht hätten. Im Laufe des ersten Quartals 2021 habe STJ dokumentiert, dass die RYU weitere sieben Minderjährige rekrutiert habe. Laut der Mehrheit der befragten Familien sei die RYU hauptsächlich für die Rekrutierung von Kindern im Nordosten Syriens verantwortlich. Mitglieder der RYU im Teenager-Alter würden Kinder in der Schule oder auf der Straße ansprechen, Freundschaften schließen, sie dann zu Vorträgen und Kursen einladen und sie schließlich dazu verleiten, sich militärischen Gruppen anzuschließen. Von den von STJ verifizierten rekrutierten Kindern im ersten Quartal des Jahres 2021 sei ein Kind 13 Jahre, ein Kind 14 Jahre, ein weiteres Kind 15 Jahre und zwei Kinder 16 Jahre alt gewesen. Auch in den Jahren 2019 und 2020 habe STJ die Rekrutierung von 14-, 15-, und 16-jährigen Kindern (Mädchen und Jungen) bestätigt.

Auch Syria Direct bestätigt in einem Artikel vom September 2020, dass laut mehreren Quellen, unter anderem den Eltern von entführten Kindern, die Gruppe Revolutionäre Jugend für viele der Entführungen und Rekrutierungen verantwortlich sei. Die Revolutionäre Jugend sei in Schulen und Bildungseinrichtungen präsent. Sie würden dort Grooming und Rekrutierung von Kindern betreiben. Sie würden Kinder dazu anleiten, Kurse zu besuchen, bevor sie in ein Trainingslager geschickt würden. Viele Familien würden ihre Kinder nie wiedersehen. Darüber hinaus wisse Syria Direct von mindestens 17 Fällen von Rekrutierung Minderjähriger im Jahr 2020 durch die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG).

Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das „Selbstverteidigungspflichtgesetz“ auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 29.3.2023), während der DIS nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der „Wehrpflicht“ um einen Monat bestraft würden – zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft „für eine Zeitspanne“. Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts. Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB Damaskus 12.2022). Eine Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen besteht nicht (DIS 6.2022; vergleiche EB 12.7.2019).

Die Absolvierung des „Wehrdiensts“ gemäß der Selbstverwaltung befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien (DIS 6.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z. B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).

Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der Beschwerdeführer somit Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime und/oder durch die kurdische YPG ausgesetzt zu sein.

1.3. Zu den Fluchtgründen der Sechstbeschwerdeführerin:

1.3.1. Der Ehemann der Sechstbeschwerdeführerin hat sich durch seine Ausreise aus Syrien einer Einziehung zum Militärdienst bei der kurdischen YPG und der syrischen Armee entzogen. Es ist daher mit entsprechend hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Ehemann deswegen in Syrien als Regimegegner angesehen wird und bereits in den Fokus der syrischen Behörden geraten ist.

Im Falle einer Rückkehr besteht für die Sechstbeschwerdeführerin die Gefahr, in ihrem Herkunftsort Qamishli oder bei einer Reise dorthin am Grenzkontrollposten, verhaftet und wegen ihrer eigenen Ausreise und ihrer Beziehung zu einem Wehrdienstverweigerer verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Bei einer Rückkehr würde der Beschwerdeführerin, aufgrund ihrer Ausreise und ihrer Beziehung zu einem Wehrdienstverweigerer, eine oppositionelle politische Gesinnung zumindest unterstellen werden.

Vor diesem Hintergrund besteht auf Grundlage der vorliegenden Länderberichte mit maßgeblicher Wahrscheinlichen auch die reale Gefahr, dass die Sechstbeschwerdeführerin als nahe Angehörige bei einer möglichen Rückkehr in die Heimat in das Blickfeld der syrischen Behörden geraten und ihr in weiterer Folge asylrelevante Verfolgung drohen würde. Festgestellt wird daher, dass der Sechstbeschwerdeführerin in Syrien bei einer Rückkehr die reale Gefahr droht, als Ehefrau eines Wehrdienstverweigerers von der syrischen Regierung verfolgt zu werden.

Auch Familien von Deserteuren, Wehrdienstverweigerern oder (vermeintlichen) Regimegegnern bzw. Kritikern haben in Syrien mit Konsequenzen zu rechnen. Eine Familie kann von der Regierung unter Druck gesetzt werden, wenn der Deserteur bzw. (mutmaßliche) Gegner des syrischen Regimes dadurch vielleicht gefunden werden kann. Familienmitglieder können festgenommen werden, um den Deserteur dazu zu bringen, sich zu stellen. Den Quellen zufolge betrachtet die syrische Regierung die Wehrdienstverweigerung nämlich nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland zu schützen. Weiters gehen die syrischen Sicherheitskräfte bei einer erfolglosen Fahndung nach möglichen Regierungsgegnern dazu über, die Familienangehörigen der betreffenden Person festzunehmen oder zu misshandeln. So sind zahllose Fälle bekannt, bei denen Personen für - als regierungsfeindlich angesehene - Tätigkeiten ihrer Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3. und 1.4.7.).

Aufgrund der besonderen Situation in Syrien ist die Schwelle dafür, von Seiten des syrischen Regimes als „oppositionell“ betrachtet zu werden, relativ niedrig. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3. und 1.4.7.).

Es ist daher davon auszugehen, dass die Sechstbeschwerdeführerin bei einer allfälligen Rückkehr in ihre Heimat das Interesse der syrischen Behörden auf sich ziehen und damit in deren Blickfeld geraten würde. Bei einer näheren Überprüfung ihrer Personalien würde ihr von den syrischen Staatsorganen, aufgrund der Verwandtschaft zu einem Wehrdienstverweigerer – ihrem Ehemann – und der gemeinsamen Ausreise mit diesem, eine regimekritische Haltung unterstellt werden. Ihr würde somit durch das syrische Regime eine oppositionelle Gesinnung zumindest unterstellt werden, was mit Haftstrafe und Folter bedroht ist. Der Sechstbeschwerdeführerin droht Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund ihrer Familienangehörigkeit zu ihrem Ehemann, der Syrien als Wehrdienstverweigerer verlassen hat.

1.3.2. Die Sechstbeschwerdeführerin wäre bei einer Rückkehr als alleinstehende junge Frau anzusehen, da sich ihre Kernfamilie im Ausland befindet.

Nachdem sich die Regierungstruppen 2012 aus dem Nordosten zurückgezogen und die Partei der Demokratischen Union (PYD) die Kontrolle übernommen hatte, wurde die Geschlechterfrage im kurdischen Nordosten zu einem zentralen Thema der PYD-Politik, und in jeder autonomen Gemeinde und auf jeder Ebene des Systems wurden Frauenverbände gegründet.

Der Sechstbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr auch Gefahr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Syrien.

Zur fallrelevanten Lage in Syrien wird festgestellt, dass alleinstehende Frauen in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Die gesellschaftliche Akzeptanz alleinstehender Frauen ist jedoch nicht mit europäischen Standards zu vergleichen. Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Unverheiratete Mädchen, Witwen und Geschiedene wurden als besonders gefährdet eingestuft vergleiche römisch II.1.4.5.1.2.).

Zu beachten ist hierbei, dass die Sechstbeschwerdeführerin als junge, alleinstehende Mutter eines Kleinkindes und als Rückkehrerin als besonders vulnerable Person anzusehen wäre.

Vor 2011 war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich, alleine zu leben, z. B. für Frauen mit Arbeit in städtischen Gebieten. Seit dem Beginn des Konflikts ist es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz hat. In den meisten Fällen würde eine Frau nach einer Scheidung zu ihrer Familie zurückkehren. Der Zugang alleinstehender Frauen zu Dokumenten hängt von ihrem Bildungsgrad, ihrer individuellen Situation und ihren bisherigen Erfahrungen ab. Die Wahrnehmung alleinstehender Frauen durch die Gesellschaft variiert von Gebiet zu Gebiet, in Damaskus-Stadt gibt es mehr gesellschaftliche Akzeptanz als in konservativeren Gebieten.

Die größte Bedrohung für Frauen ging vom syrischen Regime aus. Seit 2011 wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und syrische Gemeinschaften zu destabilisieren. Die CoI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) sowie zuletzt auch Berichte von Amnesty International (Bericht von September 2021) und Human Rights Watch (Bericht von Oktober 2021) dokumentieren weitverbreitete Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen vonseiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, militärischen Kontrollstellen und in Haftanstalten. Das Syrian Network for Human Rights bezifferte im November 2020 die Gesamtzahl bekannter Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen seit Beginn des Konflikts auf mindestens 8.021, darunter mindestens 879 Fälle in Haftanstalten und wenigstens 443 Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige. Menschenrechtsvertreter berichten, dass es bisher in mindestens 20 Haftanstalten in Syrien zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen gekommen sei. Ab dem Zeitpunkt der Festnahme und während der gesamten Haftzeit waren viele Frauen und Mädchen verschiedenen Arten sexueller Gewalt ausgesetzt: Dazu gehören Vergewaltigung, Leibesvisitationen und erzwungene Nacktheit, andere Akte sexueller Gewalt, die Androhung sexueller Gewalt, die Folterung an Geschlechtsorganen, die Verletzung der reproduktiven Rechte und der medizinischen Versorgung sowie andere erniedrigende und demütigende Behandlungen. Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:

Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:

●             Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien aus dem COI-CMS, Version 9 vom 17.07.2023

●             Die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen - 6. aktualisierte Fassung, März 2021

●             Die EUAA Country Guidance (ehemals EASO Leitlinien) zu Syrien vom Februar 2023

●             Die ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung Minderjähriger (Konzentration auf 14-16-jährige, regionale Unterschiede) vom 31.01.2022

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Version 9 vom 17.07.2023, wiedergegeben:

1.4.1. Politische Lage

„Letzte Änderung: 10.07.2023

(…) Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum November 2022-März 2023] nicht wesentlich verändert (AA 29.3.2023). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in den Gebieten unter seiner Kontrolle nicht grundlegend angefochten, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden substanziellen militärischen Unterstützung Russlands bzw. Irans und Iran-naher Kräfte. Allerdings gelang es dem Regime nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol in diesen Gebieten durchzusetzen. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht (AA 29.3.2023). Der von den Vereinten Nationen geleitete Friedensprozess, einschließlich des Verfassungsausschusses, hat 2022 keine Fortschritte gemacht (HRW 12.1.2023; vergleiche AA 29.3.2023). (…)“

1.4.2. Sicherheitslage

„Letzte Änderung: 11.07.2023

Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).

Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse

Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).

Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 29.3.2023). (…)

Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). (…)

Die CoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). (…)

Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022). (…)

Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).

(…) Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. […]“

1.4.2.1. Nordost-Syrien (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) und das Gebiet der SNA (Syrian National Army)

Letzte Änderung: 13.07.2023

Besonders volatil stellt sich laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amt die Lage im Nordosten Syriens (v.a. Gebiete unmittelbar um und östlich des Euphrats) dar. Als Reaktion auf einen, von der Türkei der PKK zugeschriebenen, Terroranschlag mit mehreren Toten in Istanbul startete das türkische Militär am 19.11.2022 eine mit Artillerie unterstützte Luftoperation gegen kurdische Ziele u. a. in Nordsyrien. Bereits zuvor war es immer wieder zu vereinzelten, teils schweren Auseinandersetzungen zwischen türkischen und Türkei-nahen Einheiten und Einheiten der kurdisch dominierten SDF (Syrian Defence Forces) sowie Truppen des Regimes gekommen, welche in Abstimmung mit den SDF nach Nordsyrien verlegt wurden. Als Folge dieser Auseinandersetzungen, insbesondere auch von seit Sommer 2022 zunehmenden türkischen Drohnenschlägen, wurden immer wieder auch zivile Todesopfer, darunter Kinder, vermeldet (AA 29.3.2023). Auch waren die SDF gezwungen, ihren Truppeneinsatz angesichts türkischer Luftschläge und einer potenziellen Bodenoffensive umzustrukturieren. Durch türkische Angriffe auf die zivile Infrastruktur sind auch Bemühungen um die humanitäre Lage gefährdet (Newlines 7.3.2023). Die Angriffe beschränkten sich bereits im 3. Quartal 2022 nicht mehr nur auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfanden; im Juli und August 2022 trafen türkische Drohnen Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobanê, Tell Abyad, Ar-Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und al-Hassakah (CC 3.11.2022). Bereits im Mai 2022 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine vierte türkische Invasion seit 2016 angekündigt (HRW 12.1.2023). Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der YPG als auch der Democratic Union Party (PYD) Nähe zur von der EU als Terrororganisation gelisteten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und bezeichnet diese daher ebenfalls als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.11.2021).

Der Think Tank Newslines Institute for Strategy and Policy sieht auf der folgenden Karte besonders die Gebiete von Tal Rifa'at, Manbij und and Kobanê als potenzielle Ziele einer türkischen Offensive. Auf der Karte sind auch die Strecken und Gebiete mit einer Präsenz von Regime- und pro-Regime-Kräften im Selbstverwaltungsgebiet ersichtlich, die sich vor allem entlang der Frontlinien zu den pro-türkischen Rebellengebieten und entlang der türkisch-syrischen Grenze entlangziehen. (…)

Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen (CMEC 2.10.2020) [Anm.: Siehe hierzu Unterkapitel türkische Militäroperationen in Nordsyrien im Kapitel Sicherheitslage]. Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der 'Syrian National Army' (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB Damaskus 1.10.2021). (…)

Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch präsent (ÖB Damaskus 1.10.2021; vergleiche AA 29.11.2021; JsF 9.9.2022). Am 4.9.2022 errichteten die US-Truppen einen neuen Militärstützpunkt im Dorf Naqara im Nordosten Syriens, der zu den drei Standorten der US-geführten internationalen Koalition in der Region Qamishli gehört. Der neue Militärstützpunkt kann dazu beitragen, die verstärkten Aktivitäten Russlands und Irans in der Region zu überwachen; insbesondere überblickt er direkt den von den russischen Streitkräften betriebenen Luftwaffenstützpunkt am Flughafen Qamishli. Er ist nur wenige Kilometer von den iranischen Militärstandorten südlich der Stadt entfernt (JsF 9.9.2022). Hinzukamen wiederholte Luft- bzw. Drohnenangriffe zwischen den in Nordost-Syrien stationierten US-Truppen und Iran-nahen Milizen (AA 29.3.2023).

SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad-Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022). Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS (PBS 22.2.2022), und die Region gilt als "Hauptschauplatz für den Aufstand des IS" (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022).

Die kurdischen, sogenannten 'Selbstverteidigungseinheiten' (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien vorgehen (AA 29.11.2021). In Reaktion auf die Reorganisation der Truppen zur Verstärkung der Front gegen die Türkei stellten die SDF vorübergehend ihre Operationen und andere Sicherheitsmaßnahmen gegen den Islamischen Staat ein. Dies weckte Befürchtungen bezüglich einer Stärkung des IS in Nordost-Syrien (Newlines 7.3.2023). Die SDF hatten mit Unterstützung US-amerikanischer Koalitionskräfte allein seit Ende 2021 mehrere Sicherheitsoperationen durchgeführt, in denen nach eigenen Angaben Hunderte mutmaßliche IS-Angehörige verhaftet wurden (AA 29.3.2023).

Der IS führt weiterhin militärische Operationen und Gegenangriffe durch, und IS-Zellen sind nach wie vor in der Lage, ein Sicherheitsvakuum zu nutzen und Attentate zu verüben. SOHR hat seit Anfang 2022 181 Operationen des IS, darunter bewaffnete Angriffe und Explosionen, in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung dokumentiert. Laut Statistiken des SOHR wurden bei diesen Operationen 135 Menschen getötet, darunter 52 Zivilisten und 82 Angehörige der SDF, der Inneren Sicherheitskräfte und anderer militärischer Formationen, die in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung operierten. Bei diesen Angriffen wurde der Angriff auf das Sina'a-Gefängnis in al-Hassakah nicht berücksichtigt (SOHR 29.11.2022).

Mit dem Angriff auf die Sina’a-Haftanstalt in Al-Hassakah in Nordostsyrien im Januar 2022 und den daran anschließenden mehrtägigen Kampfhandlungen mit insgesamt ca. 470 Todesopfern (IS-Angehörige, SDF-Kämpfer, Zivilisten) demonstrierte der IS propagandawirksam die Fähigkeit, mit entsprechendem Vorlauf praktisch überall im Land auch komplexe Operationen durchführen zu können (AA 29.3.2023). Bei den meisten Gefangenen handelte es sich um prominente IS-Anführer (AM 26.1.2022). Unter den insgesamt rund 5.000 Insassen des überfüllten Gefängnisses befanden sich nach Angaben von Angehörigen jedoch auch Personen, die aufgrund von fadenscheinigen Gründen festgenommen worden waren, nachdem sie sich der Zwangsrekrutierung durch die SDF widersetzt hatten, was die SDF jedoch bestritten (Al Jazeera 26.1.2022). Die Gefechte dauerten zehn Tage, und amerikanische wie britische Kräfte kämpften aufseiten der SDF (HRW 12.1.2023). US-Angaben zufolge war der Kampf die größte Konfrontation zwischen den US-amerikanischen Streitkräften und dem IS, seit die Gruppe 2019 das (vorübergehend) letzte Stück des von ihr kontrollierten Gebiets in Syrien verloren hatte (NYT 25.1.2022). Vielen Häftlingen gelang die Flucht, während sich andere im Gefängnis verbarrikadierten und Geiseln nahmen (ANI 26.1.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen mussten schätzungsweise 45.000 Einwohner von al-Hassakah aufgrund der Kämpfe aus ihren Häusern fliehen, und die SDF riegelte große Teile der Stadt ab (MEE 25.1.2022; vergleiche NYT 25.1.2022, EUAA 9.2022). Während der Kampfhandlungen erfolgten auch andernorts in Nordost-Syrien Angriffe des IS (TWP 24.2.2022). Die geflohenen Bewohner durften danach zurückkehren (MPF 8.2.2022), wobei Unterkünfte von mehr als 140 Familien scheinbar von den SDF während der Militäraktionen zerstört worden waren. Mit Berichtszeitpunkt Jänner 20223 waren Human Rights Watch keine Wiederaufpläne, Ersatzunterkünfte oder Kompensationen für die zerstörten Gebäude bekannt (HRW 12.1.2023).

Während vorhergehende IS-Angriffe von kurdischen Quellen als unkoordiniert eingestuft wurden, erfolgte die Aktion in al-Hassakah durch drei bestens koordinierte IS-Zellen. Die Tendenz geht demnach Richtung seltenerer, aber größerer und komplexerer Angriffe, während dezentralisierte Zellen häufige, kleinere Attacken durchführen. Der IS nutzt dabei besonders die große Not der in Lagern lebenden Binnenvertriebenen im Nordosten Syriens aus, z. B. durch die Bezahlung kleiner Beträge für Unterstützungsdienste. Der IS ermordete auch einige Personen, welche mit der Lokalverwaltung zusammenarbeiteten (TWP 24.2.2022). Das Ausüben von koordinierten und ausgeklügelten Anschlägen in Syrien und im Irak wird von einem Vertreter einer US-basierten Forschungsorganisation als Indiz dafür gesehen, dass die vermeintlich verstreuten Schläferzellen des IS wieder zu einer ernsthaften Bedrohung werden (NYT 25.1.2022). Trotz der laufenden Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung hat der IS in letzter Zeit im Nordosten Syriens an Stärke gewonnen und seine Aktivitäten im Gebiet der SDF intensiviert. Am 28.9.2022 gaben die SDF bekannt, dass sie eines der größten Waffenverstecke des IS seit Anfang 2019 erobert haben. Sowohl die Größe des Fundes als auch sein Standort sind ein Beleg für die wachsende Bedrohung, die der IS im Nordosten Syriens darstellt (TWI 12.10.2022). Bei einem weiteren koordinierten Angriff des IS auf das Quartier der kurdischen de facto-Polizeikräfte (ISF/Asayish) sowie auf ein nahegelegenes Gefängnis für IS-Insassen in Raqqa Stadt kamen am 26.12.2022 nach kurdischen Angaben sechs Sicherheitskräfte und ein Angreifer ums Leben (AA 29.3.2023). Laut dem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juli 2022 sind einige der Mitgliedstaaten der Meinung, dass der IS seine Ausbildungsaktivitäten, die zuvor eingeschränkt worden waren, insbesondere in der Wüste Badiya wieder aufgenommen habe (EUAA 9.2022). (…)

Die kurdischen Sicherheitskräfte kontrollieren weiterhin knapp 30 Lager mit 11.000 internierten IS-Kämpfern (davon 500 aus Europa) sowie die Lager mit Familienangehörigen; der Großteil davon in al-Hol (ÖB Damaskus 1.10.2021). Nach einigen Rückführungen und Repatriierungen beläuft sich die Gesamtzahl der Menschen in al-Hol nun auf etwa 53.000, von denen etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige sind (MSF 7.11.2022b), auch aus Österreich (ÖB Damaskus 1.10.2021). Das Ziel des IS ist es, diese zu befreien, aber auch seinen Anhängern zu zeigen, dass man dazu in der Lage ist, diese Personen herauszuholen (Zenith 11.2.2022). Das Lager war einst dazu gedacht, Zivilisten, die durch den Konflikt in Syrien und im Irak vertrieben wurden, eine sichere, vorübergehende Unterkunft und humanitäre Dienstleistungen zu bieten. Der Zweck von al-Hol hat sich jedoch längst gewandelt, und das Lager ist zunehmend zu einem unsicheren und unhygienischen Freiluftgefängnis geworden, nachdem die Menschen im Dezember 2018 aus den vom IS kontrollierten Gebieten dorthin gebracht wurden. 64 Prozent der Bewohner von al-Hol sind Kinder (MSF 7.11.2022b), die täglicher Gewalt und Kriminalität ausgesetzt sind (STC 5.5.2022; vergleiche MSF 7.11.2022a). Laut Ärzte ohne Grenzen wurden zusätzlich zu den 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen - der mit 38 Prozent häufigsten Todesursache in dem Lager - auch 30 Mordversuche gemeldet (MSF 7.11.2022a). Das Camp ist zusätzlich zu einem Refugium für den IS geworden, um Mitglieder zu rekrutieren (NBC News 6.10.2022). Am 22.11.2022 schlugen türkische Raketen in der Nähe des Lagers ein. Das Chaos, das zu den schwierigen humanitären Bedingungen im Lager hinzukommt, hat zu einem Klima geführt, das die Indoktrination durch den IS begünstigt. Die SDF sahen sich zudem gezwungen, ihre Kräfte zur Bewachung der IS-Gefangenenlager abzuziehen, um auf die türkische Bedrohung zu reagieren (AO 3.12.2022).

Türkische Angriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens (Zenith 11.2.2022). Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich heute in einer zunehmend prekären politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (TWI 15.3.2022). Wie in anderen Bereichen üben die dominanten Politiker der YPG, der mit ihr verbündeten Organisationen im Sicherheitsbereich sowie einflussreiche Geschäftsleute Einfluss auf die Wirtschaft aus, was verbreiteten Schmuggel zwischen den Kontrollgebieten in Syrien und in den Irak ermöglicht (Brookings 27.1.2023). Angesichts der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Nordosten Syriens haben die SDF zunehmend drakonische Maßnahmen ergriffen, um gegen abweichende Meinungen im Land vorzugehen und Proteste zum Schweigen zu bringen, da ihre Autorität von allen Seiten bedroht wird (Etana 30.6.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem wurde gegen den niedrigen Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.8.2021) sowie gegen steigende Treibstoffpreise (AM 30.5.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im Gouvernement al-Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem Asayish [Anm: Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion] in die Proteste eingriffen (al-Sharq 27.8.2021; vergleiche AM 30.5.2021). Die Türkei verschärft die wirtschaftliche Lage in AANES absichtlich, indem sie den Wasserfluss nach Syrien einschränkt (KF 5.2022). Obwohl es keine weitverbreiteten Rufe nach einer Rückkehr des Assad-Regimes gibt, verlieren einige Einwohner das Vertrauen, dass die kurdisch geführte AANES für Sicherheit und Stabilität sorgen kann (TWI 15.3.2022). […]

1.4.3. Folter und unmenschliche Behandlung

„Letzte Änderung: 14.07.2023

Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 12.1.2023). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie "verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).

Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).

Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).

Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 29.3.2023). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023), wobei die jüngsten Betroffenen erst elf Jahre alt waren (HRW 13.1.2022). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).

Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 29.3.2023). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023). (…)

Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 29.3.2023). (…) […]“

1.4.4. Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

1.4.4.1. Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst

„Letzte Änderung: 14.07.2023

Rechtliche Bestimmungen

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.3.2023). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).

Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022).

Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).

Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 29.3.2023). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023; vergleiche ICWA 24.5.2022).

Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vergleiche Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vergleiche ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vergleiche BAMF 2.2023).

Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).

Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).

Die Umsetzung

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).

Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vergleiche AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).

Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 29.3.2023).

Rekrutierungspraxis

Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023; vergleiche NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vergleiche NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023).

Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).

Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vergleiche ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Das Gesetz verbietet allerdings die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).

Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vergleiche FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).

Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vergleiche EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).

Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 29.3.2023).

Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle

Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).

Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vergleiche Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der "Gesuchten" zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).

(…)

Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung

Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).

In Syrien besteht seit 2011 de facto eine unbefristete Wehrpflicht (AA 29.3.2023), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte. Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Zuletzt erließ der syrische Präsident einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vergleiche SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vergleiche NMFA 5.2022).

Einsatz von Rekruten im Kampf

Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara'a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Alle Eingezogenen können dagegen laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023). […]“

1.4.4.2. Befreiung (…)

„Letzte Änderung 14.07.2023 (…)

Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vergleiche FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen [als vor dem Konflikt] und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vergleiche DRC/DIS 8.2017).
[…]“

1.4.4.3. Wehrdienstverweigerung / Desertion

„Letzte Änderung 17.07.2023

Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).

In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).

Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023).

Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern

In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).

Gesetzliche Lage

Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).

Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vergleiche AA 29.3.2023). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Artikel 102, bei Überlaufen zum Feind und gemäß Artikel 105, bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.3.2023).

Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vergleiche DIS 5.2020).

Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben (AA 29.3.2023). Das syrische Wehrpflichtgesetz (Artikel 97,) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). (…)

Handhabung

Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vergleiche Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).

Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).

Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).

"Versöhnungsabkommen" und Rückkehr von Wehrpflichtigen

Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).

In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch (HRW) berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines "Versöhnungsabkommens" zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).

Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter "Versöhnungsabkommen" zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 29.3.2023).

Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber "wahnsinnig", als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021). (…) […]“

1.4.4.4. Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen

„Letzte Änderung 17.07.2023

Im August 2022 hat die syrische Regierung ein Kinderschutzgesetz, Gesetz Nr. 21 von 2021 erlassen. Das Gesetz verbietet die Rekrutierung oder Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und allen anderen damit verbundenen Aktivitäten. Sowohl in strafrechtlicher als auch in zivilrechtlicher Hinsicht können Kinder nicht für die Begehung von Straftaten verantwortlich gemacht werden; stattdessen werden sie in den Augen dieses Gesetzes als Opfer betrachtet (OSS 18.1.2023). Auch das Gesetz Nr. 11/2013 kriminalisiert alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 Jahren durch die syrischen Streitkräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen (USDOS 29.7.2022).

Laut einem Bericht des US-amerikanischen Außenministeriums vom Juli 2022 hat die Regierung jedoch keine Bemühungen gezeigt, den Einsatz von Kindersoldaten durch Regierungs- und regierungstreue Milizen, bewaffnete Oppositionsgruppen und terroristische Organisationen zu verfolgen. Die Regierung berichtet nicht von der Untersuchung, Verfolgung oder Verurteilung von verdächtigten Menschenhändlern, noch werden Regierungsmitarbeiter, die an Menschenhandel, inklusive der Rekrutierung von Kindern, beteiligt waren, überprüft, verfolgt oder verurteilt. Die Regierung führt weiterhin Verhaftungen und Inhaftierungen durch und misshandelt Opfer von Menschenhandel schwer - inklusive Kindersoldaten - und bestraft diese für illegale Taten, zu denen sie von Menschenhändler gezwungen werden. Sie inhaftiert regelmäßig Kinder für die vermeintliche Verbindung zu bewaffneten Gruppen, vergewaltigt, foltert und exekutiert. Sie zeigt keine Bemühungen, diesen Kindern irgendwelche Schutzdienste zur Verfügung zu stellen. Die Regierung schützt Kinder auch nicht vor der Rekrutierung und dem Einsatz durch bewaffnete Oppositionsgruppen und Terrororganisationen (USDOS 29.7.2022).

Neben der Gefährdung durch sexualisierte Gewalt und Kampfhandlungen bleibt die Zwangsrekrutierung von Kindern im Syrienkonflikt durch verschiedenste Parteien ein zentrales Problem. Neben Somalia und Nigeria zählte Syrien 2020 laut UNICEF zu den Ländern mit den höchsten Rekrutierungsquoten von Kindersoldaten. Als Verantwortliche benennen die Vereinten Nationen insbesondere die Terrororganisation HTS, bewaffnete Gruppierungen der ehemaligen Free Syrian Army (FSA), die kurdische YPG/YPJ sowie in geringerem Maße regimenahe Milizen (AA 29.3.2023). Der im Juni 2022 veröffentlichte Jahresbericht des Generalsekretärs an die UN-Generalversammlung über Kinder in bewaffneten Konflikten berichtet über die Rekrutierung und den Einsatz von insgesamt 1.296 Kindern (1.258 Buben und 38 Mädchen) im Konflikt in Syrien zwischen Januar und Dezember 2021. Dem Bericht zufolge wurden 1.285 der Kinder im Kampf eingesetzt. 569 verifizierte Fälle werden der SNA zugeschrieben, 380 der HTS, 220 der YPG und den mit der YPG verbundenen Frauenschutzeinheiten [YPJ] und 46 den regimenahen Kräften und Milizen, neben anderen Akteuren (UNGA 23.6.2022; vergleiche USDOS 20.3.2023).

Die Regierung und regimenahe Milizen führten weiterhin Zwangsrekrutierungen von Kindersoldaten und deren Einsatz durch, was dazu führte, dass Kinder extremer Gewalt und Vergeltungsschlägen durch oppositionelle Kräfte ausgesetzt waren. Manche bewaffneten Gruppen, die für die syrische Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und regierungstreue Milizen, die als National Defence Forces (NDF) oder "Shabiha" bekannt sind, rekrutieren zwangsweise Kinder im Alter von sechs Jahren. Der Iran rekrutierte im Iran minderjährige Afghanen - darunter auch Zwölfjährige - unter Androhung von Abschiebung nach Afghanistan sowie iranische Minderjährige für schiitische Milizen in Syrien. Jabhat an-Nusra und der sogenannte Islamische Staat (IS) haben Kinder auch als menschliche Schutzschilder, Selbstmordattentäter, Scharfschützen und Henker eingesetzt. Bewaffnete Gruppierungen haben auch Kinder für Zwangsarbeit oder als Informanten eingesetzt, wodurch diese Vergeltungsschlägen und extremer Bestrafung ausgesetzt waren (USDOS 29.7.2022).

Praxis in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien"

Laut den Vereinten Nationen und dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) wurden zwischen Januar 2014 und September 2020 mindestens 911 Kinder durch die YPG zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023). Im Juni 2019 wurde von den Syrian Democratic Forces (SDF) [Anm.: YPG und YPJ sind Kernbestandteile der SDF] und dem Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte ein Aktionsplan zur Beendigung und Verhinderung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern unter 18 Jahren unterzeichnet. 2020 beschloss der Exekutivrat der Selbstverwaltung [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] die Einrichtung von Kinderschutzbüros und es gibt anhaltende Bemühungen der SDF, der Praxis der Rekrutierung von Kindern ein Ende zu setzen (UNHRC 7.2.2023).

Seit Inkrafttreten des Abkommens zwischen den SDF und den Vereinten Nationen im Jahr 2019 wurden rund 700-750 Kinder aus den Diensten der SDF entlassen (DIS 6.2022). Dennoch wurde im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von der Rekrutierung von Kindern in die SDF berichtet (UNHRC 7.2.2023). Bezüglich der Frage, wie es zu Rekrutierungen, bzw. möglichen Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen für die SDF kommt, gibt es verschiedene Erklärungen, darunter die schlechte Wirtschaftslage, welche das Gehalt der SDF attraktiv macht (DIS 6.2022). Einige Familien wandten sich an die Kinderschutzbüros, um Fälle zu melden, in denen Kinder im Alter von 14 Jahren rekrutiert wurden, aber ihnen wurde gesagt, dass keine Maßnahmen ergriffen werden könnten, da die Kinder von der Bewegung der kurdischen Revolutionären Jugend entführt worden seien. Trotz Anfragen von Familien blieb der Verbleib einiger rekrutierter Kinder unbekannt (UNHRC 7.2.2023).

Menschenrechtsorganisationen, darunter das Syria Justice and Accountability Center (SJAC), dokumentierten die Rekrutierung von Kindern durch die Revolutionäre Jugend, eine mit den SDF verbundene Organisation, die Jugendliche auf den Dienst bei der YPG und den Asayish, dem internen Sicherheits- und Geheimdienst der AANES, vorbereitet. Einige Minderjährige, die für Kampfeinsätze rekrutiert wurden, waren unter fünfzehn Jahre alt, eine Praxis, die nach Angaben von SJAC ein Kriegsverbrechen darstellt. Medienberichten zufolge erfolgt die Rekrutierung häufig über den Unterricht in Fächern wie Musik oder Sport, der von der Revolutionären Jugend durchgeführt wird. In diesen Klassen werden die Kinder schrittweise in der Ideologie der Organisation geschult, und in vielen Fällen werden sie dann in militärischen Ausbildungslagern untergebracht, ohne dass die Eltern über den Verbleib ihrer Kinder informiert werden. Andere werden unter dem Vorwand einer Anstellung angelockt (SJAC 3.2023). Die SDF und Asayish scheinen Rekrutierungen von Minderjährigen durch die Revolutionäre Jugend nicht zu verhindern. Ein Mitarbeiter des Kinderschutzbüros erklärte, dass das Büro nicht auf die Beschwerden über die Revolutionäre Jugend eingehen kann, da es nur für die SDF zuständig sei (DIS 6.2022). SJAC dokumentierte auch mehrere Fälle, in denen die Revolutionäre Jugend und andere SDF-Mitglieder die Familien von rekrutierten und vermissten Kindern einschüchterten und belästigten, wenn sie versuchten, Informationen über ihre Kinder zu erhalten (SJAC 3.2023). (…) […]“

1.4.4.5. Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien

„Letzte Änderung: 17.07.2023 (…)

Wehrpflichtgesetz der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien"

Auch aus den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens gibt es Berichte über Zwangsrekrutierungen.

Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat, Partei der Demokratischen Union] dominierte "Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsah, dass jede Familie einen "Freiwilligen" im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in den YPG [Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten] dient (AA 29.3.2023). Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur "Selbstverteidigungspflicht", das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männer über 18 Jahren im Gebiet der AANES ableisten müssen (EB 15.8.2022; vergleiche DIS 6.2022). Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Wehrpflicht auf Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren (geboren 1998 oder später) beschränkt. Zuvor war das Alterslimit - bis 40 Jahre - höher. Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist nun in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war (DIS 6.2022).

Die Wehrpflicht gilt in allen Gebieten unter der Kontrolle der AANES, auch wenn es Gebiete gibt, in denen die Wehrpflicht nach Protesten zeitweise ausgesetzt wurde [Anm.: Siehe weiter unten]. Es ist unklar, ob die Wehrpflicht auch für Personen aus Afrin gilt, das sich nicht mehr unter der Kontrolle der "Selbstverwaltung" befindet. Vom Danish Immigration Service (DIS) befragte Quellen machten hierzu unterschiedliche Angaben. Die Wehrpflicht gilt nicht für Personen, die in anderen Gebieten als den AANES wohnen oder aus diesen stammen. Sollten diese Personen jedoch seit mehr als fünf Jahren in den AANES wohnen, würde das Gesetz auch für sie gelten. Wenn jemand in seinem Ausweis als aus Hasakah stammend eingetragen ist, aber sein ganzes Leben lang z.B. in Damaskus gelebt hat, würde er von der "Selbsverwaltung" als aus den AANES stammend betrachtet werden und er müsste die "Selbstverteidigungspflicht" erfüllen. Alle ethnischen Gruppen und auch staatenlose Kurden (Ajanib und Maktoumin) sind zum Wehrdienst verpflichtet. Araber wurden ursprünglich nicht zur "Selbstverteidigungspflicht" eingezogen, dies hat sich allerdings seit 2020 nach und nach geändert (DIS 6.2022).

Ursprünglich betrug die Länge des Wehrdiensts sechs Monate, sie wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert (DIS 6.2022). Artikel zwei des Gesetzes über die "Selbstverteidigungspflicht" vom Juni 2019 sieht eine Dauer von zwölf Monaten vor (RIC 10.6.2020). Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen. In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je nach Gebiet entschieden wird. Beispielsweise wurde der Wehrdienst 2018 aufgrund der Lage in Baghouz um einen Monat verlängert. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 2017 um je zwei Monate ausgeweitet. Die Vertretung der "Selbstverwaltung" gab ebenfalls an, dass der Wehrdienst in manchen Fällen um einige Monate verlängert wurde. Wehrdienstverweigerer können zudem mit der Ableistung eines zusätzlichen Wehrdienstmonats bestraft werden (DIS 6.2022).

Nach dem abgeleisteten Wehrdienst gehören die Absolventen zur Reserve und können im Fall "höherer Gewalt" einberufen werden. Diese Entscheidung trifft der Militärrat des jeweiligen Gebiets. Derartige Einberufungen waren den vom DIS befragten Quellen nicht bekannt (DIS 6.2022).

Einsatzgebiet von Wehrpflichtigen

Die Selbstverteidigungseinheiten [Hêzên Xweparastinê, HXP] sind eine von den SDF separate Streitkraft, die vom Demokratischen Rat Syriens (Syrian Democratic Council, SDC) verwaltet wird und über eigene Militärkommandanten verfügt. Die SDF weisen den HXP allerdings Aufgaben zu und bestimmen, wo diese eingesetzt werden sollen. Die HXP gelten als Hilfseinheit der SDF. In den HXP dienen Wehrpflichtige wie auch Freiwillige, wobei die Wehrpflichtigen ein symbolisches Gehalt erhalten. Die Rekrutierung von Männern und Frauen in die SDF erfolgt dagegen freiwillig (DIS 6.2022).

Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der "Selbsverteidigungspflicht" erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen wie auch jenes in al-Hassakah, wo es im Jänner 2022 zu dem Befreiungsversuch des sogenannten Islamischen Staats (IS) mit Kampfhandlungen kam). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z. B. bei den Kämpfen gegen den IS 2016 und 2017 in Raqqa (DIS 6.2022).

Rekrutierungspraxis

Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen jährlich durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim "Büro für Selbstverteidigungspflicht" ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des Wehrdiensts dokumentiert wird - z.B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird (DIS 6.2022).

Wehrdienstverweigerung und Desertion

Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB Damaskus 12.2022). Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem Wehrdienst Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die "Militärpolizei" unter seiner Adresse. Die meisten sich der "Wehrpflicht" entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (DIS 6.2022).

Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das "Selbstverteidigungspflichtgesetz" auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 29.3.2023), während der DIS nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der "Wehrpflicht" um einen Monat bestraft würden - zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft "für eine Zeitspanne". Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts. Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB Damaskus 12.2022).

Bei Deserteuren hängen die Konsequenzen abseits von einer Zurücksendung zur Einheit und einer eventuellen Haft von ein bis zwei Monaten von den näheren Umständen und eventuellem Schaden ab. Dann könnte es zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht kommen (DIS 6.2022).

Eine Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen besteht nicht (DIS 6.2022; vergleiche EB 12.7.2019).

Aufschub des Wehrdienstes

Das Gesetz enthält Bestimmungen, die es Personen, die zur Ableistung der "Selbstverteidigungspflicht" verpflichtet sind, ermöglichen, ihren Dienst aufzuschieben oder von der Pflicht zu befreien, je nach den individuellen Umständen. Manche Ausnahmen vom "Wehrdienst" sind temporär und kostenpflichtig. Frühere Befreiungen für Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs und von NGOs sowie von Lehrern gelten nicht mehr (DIS 6.2022). Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen vom Wehrdienst befreit wurden (EB 12.7.2019). Im Ausland (Ausnahme: Türkei und Irak) lebende, unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallende Männer können gegen eine Befreiungsgebühr für kurzfristige Besuche zurückkehren, ohne den "Wehrdienst" antreten zu müssen, wobei zusätzliche Bedingungen eine Rolle spielen, ob dies möglich ist (DIS 6.2022).

Proteste gegen die "Selbstverteidigungspflicht"

Das Gesetz zur "Selbstverteidigungspflicht" stößt bei den Bürgern in den von den SDF kontrollierten Gebieten auf heftige Ablehnung, insbesondere bei vielen jungen Männern, welche die vom Regime kontrollierten Gebiete verlassen hatten, um dem Militärdienst zu entgehen (EB 12.7.2019). Im Jahr 2021 hat die Wehrpflicht besonders in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die Einberufungskampagnen der SDF gewehrt. Proteste im Mai 2021 richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht Menschen wurden am 1.6.2021 in Manbij (Menbij) bei einem Protest getötet, dessen Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war. Am 2.6.2021 einigten sich die SDF, der Militärrat von Manbij und der Zivilrat von Manbij mit Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten auf eine deeskalierende Vereinbarung, die vorsieht, die Rekrutierungskampagne einzustellen, während der Proteste festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen (COAR 7.6.2021). Diese Einigung resultierte nach einer Rekrutierungspause in der Herabsetzung des Alterskriteriums auf 18 bis 24 Jahre, was später auf die anderen Gebiete ausgeweitet wurde (DIS 6.2022).

Militärdienst von Frauen

Frauen können freiwilligen Militärdienst in den kurdischen Einheiten [YPJ - Frauenverteidigungseinheiten] (AA 29.3.2023; vergleiche DIS 6.2022) oder in den Selbstverteidigungseinheiten (HXP) leisten (DIS 6.2022). Es gibt Berichte von Zwangsrekrutierungen von Frauen in der Vergangenheit (AA 29.3.2023; vergleiche SNHR 26.1.2021) und minderjährigen Mädchen (Savelsberg 3.11.2017; vergleiche HRW 11.10.2019). (…)

Rekrutierung für den nationalen syrischen Wehrdienst

Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der Selbstverwaltung befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien (DIS 6.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z. B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022). (…) […]“

1.4.5. Relevante Bevölkerungsgruppen

1.4.5.1. Frauen

1.4.5.1.1. Allgemeine Informationen

„Letzte Änderung: 17.07.2023

Syrien ist eine patriarchalische Gesellschaft, aber je nach sozialer Schicht, Bildungsniveau, Geschlecht, städtischer oder ländlicher Lage, Region, Religion und ethnischer Zugehörigkeit gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug auf Rollenverteilung, Sexualität sowie Bildungs- und Berufschancen von Frauen. Der anhaltende Konflikt und seine sozialen Folgen sowie die Verschiebung der de-facto-Kontrolle durch bewaffnete Gruppen über Teile Syriens haben ebenfalls weitreichende Auswirkungen auf die Situation der Frauen (NMFA 6.2021). Mehr als ein Jahrzehnt des Konflikts hat ein Klima geschaffen, das der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zuträglich ist, besonders angesichts der sich verfestigenden patriarchalischen Gesellschaftsformen, und Fortschritte bei den Frauenrechten zunichtemachte. Diese Risiken steigen unvermeidlicherweise angesichts von mehr als 15 Millionen Menschen in Syrien, die im Jahr 2023 humanitäre Hilfe benötigen. Gleichzeitig gibt es einen Anstieg an Selbstmorden unter Frauen und Mädchen, was laut ExpertInnen auf den fehlenden Zugang von Heranwachsenden zu Möglichkeiten und entsprechenden Hilfsleistungen liegt (UNFPA 28.3.2023).

Offizielle Mechanismen, welche die Rechte von Frauen sicherstellen sollen, funktionieren Berichten zufolge nicht mehr, und zusammen mit dem generellen Niedergang von Recht und Ordnung sind Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen besonders durch extremistische Gruppen ausgesetzt, die ihre eigenen Interpretationen von Religionsgesetzen durchsetzen. Die persönliche gesellschaftliche Freiheit von Frauen variiert je Gebiet außerhalb der Regierungskontrolle und reicht von schwerwiegenden Kleidungs- und Verhaltensvorschriften in Gebieten extremistischer Gruppen bis hin zu formaler Gleichheit im Selbstverwaltungsgebiet der Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD). Durch die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) und dem Zurückgehen der Kampfhandlungen im Lauf der Zeit ist die Bevölkerung in geringerem Ausmaß den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheiten ausgesetzt (FH 9.3.2023). Gleichwohl haben verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufgrund der Pandemie und der Bewegungseinschränkungen zugenommen, welche auch zur ökonomischen Ausbeutung von Frauen beitragen (UNFPA 28.3.2023).

Frühe Heiraten nehmen zu (UNFPA 28.3.2023): In Syrien lässt sich in den letzten Jahren ein sinkendes Heiratsalter von Mädchen beobachten, weil erst eine Heirat ihnen die verloren gegangene, aber notwendige rechtliche Legitimität und einen sozialen Status, d. h. den 'Schutz' eines Mannes, zurückgibt (ÖB Damaskus 1.10.2021), denn die Angst vor sexueller Gewalt und ihr Stigma könnte die Mädchen zu Ausgestoßenen machen. Überdies müssen die Eltern durch eine möglichst frühe Verheiratung ihrer Töchter nicht mehr für deren Unterhalt aufkommen. Die Verheiratung von Minderjährigen gilt als die häufigste Form von Gewalt gegen heranwachsende Mädchen. Einige Frauen und Mädchen werden auch gezwungen, die Täter, welche ihnen sexuelle Gewalt angetan haben, zu heiraten. Bei Weigerung droht Isolation, weil sie nicht zu ihren Familien zurückkehren können, bzw. kann ein 'Ehrenmord' drohen. Hintergrund ist, dass rechtliche Mittel gegen den Täter zuweilen nicht leistbar sind, und so mangels eines justiziellen Wegs die Familien keine andere Möglichkeit als eine Zwangsehe sehen (UNFPA 28.3.2023). Dieses Phänomen ist insbesondere bei IDPs (FH 9.3.2023) (und Flüchtlingen in Nachbarländern) zu verzeichnen. Das gesunkene Heiratsalter wiederum führt zu einem Kreislauf von verhinderten Bildungsmöglichkeiten, zu frühen und mit Komplikationen verbundenen Schwangerschaften und in vielen Fällen zu häuslicher und sexueller Gewalt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Auch geschiedene oder verwitwete Frauen gelten als vulnerabel, denn sie können Druck zur Wiederverheiratung ausgesetzt sein (UNFPA 28.3.2023). Im Allgemeinen ist eine von fünf Frauen in Syrien heutzutage von sexueller Gewalt betroffen (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Bereits vor 2011 waren Frauen aufgrund des autoritären politischen Systems und der patriarchalischen Werte in der syrischen Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Häuser geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Es wird angenommen, dass konservative Bräuche, die Frauen in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zuweisen, für viele Syrer maßgeblicher waren als das formale Recht (FH 3.3.2010). Doch selbst die formellen Gesetze legen für Frauen nicht denselben Rechtsstatus und dieselben Rechte fest wie für Männer, obwohl die Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen vorsieht (USDOS 20.3.2023). Frauen werden vor allem durch das Personenstandsgesetz bezüglich Heirat, Scheidung, Sorgerecht und Erbschaft weiterhin diskriminiert (HRW 12.1.2023).

Per legem haben Männer und Frauen dieselben politische Rechte. Der Frauenanteil im syrischen Parlament liegt je nach herangezogener Quelle zwischen 11,2 und 13,2 %. Auch manche der höheren Regierungspositionen werden derzeit von Frauen besetzt. Allerdings sind sie im Allgemeinen von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und haben wenig Möglichkeiten, sich inmitten der Repression durch Staat und Milizen unabhängig zu organisieren. Im kurdisch-geprägten Selbstverwaltungsgebiet werden alle Führungspositionen von einem Mann und einer Frau geteilt, während außerhalb der PYD-Strukturen die politische Autonomie für die Bevölkerung eingeschränkt ist (FH 9.3.2023)

Die Gewalt zusammen mit bedeutendem kulturellem Druck schränkt stark die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten ein. Zusätzlich erlaubt das Gesetz, bestimmten männlichen Verwandten Frauen ein Reiseverbot aufzuerlegen. Bewegungseinschränkungen wurden einem UN-Bericht von Februar 2022 zufolge in 51 % der untersuchten Orte ermittelt (USDOS 20.3.2023). Obwohl erwachsene Frauen keine offizielle Genehmigung brauchen, um das Land zu verlassen, reisen viele Frauen in der Praxis nur dann ins Ausland, wenn der Ehemann oder die Familie dem zugestimmt hat (NMFA 5.2022). (…) […]“

1.4.5.1.2. Frauen in Wirtschaft und medizinischer Versorgung

„Letzte Änderung: 17.07.2023

Wirtschaft

Durch den anhaltenden Konflikt und die damit einhergehende Instabilität sowie sich verschlechternde wirtschaftliche Situation hat sich die Situation der Frauen zunehmend erschwert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Der Global Gender Gap Report stuft Syrien 2021 auf Platz 152 ein, dem fünftletzten Platz (WEF 3.2021). Aufgrund fehlender Daten ist Syrien im diesjährigen Bericht (2022) nicht erfasst (WEF 7.2022).

Während weiterhin Vorstellungen, welche Berufe für Frauen passend sind, die Arbeitsmöglichkeiten von Frauen einschränken oder ihnen Arbeitsmöglichkeiten verwehrt werden (UNFPA 28.3.2023), hat der Krieg auch ihre Rolle in der Arbeitswelt verändert, und ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet, die zuvor Männern vorbehalten waren (HART 2.8.2022): So wurden Frauen in einigen Haushalten zu denjenigen, die Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen (UNFPA 28.3.2023), weil viele Männer getötet wurden oder sich aus Angst vor der Einberufung zur Armee, vor Verhaftung oder Inhaftierung versteckt hielten. So lag die Beteiligung von Frauen an der syrischen Erwerbsbevölkerung im Jahr 2018 in Damaskus, Lattakia und Tartus im Durchschnitt zwischen 40 und 50 %, während in anderen Teilen des Landes der Anteil an erwerbstätigen Frauen zwischen 10 und 20 % betrug und in den Provinzen Idlib, Raqqa und Quneitra sogar noch niedriger war. Insgesamt waren Schätzungen zufolge im Jahr 2018 11,6 % der Frauen erwerbstätig, gegenüber 69,75 % der Männer (NMFA 5.2020). Mittlerweile stieg im Jahr 2022 die Erwerbsquote auf insgesamt 16,8 % der weiblichen Bevölkerung, sie ist aber noch immer niedriger als im Jahr 1990 (WB o.D.). Während der Anteil der erwerbstätigen Männer im Alter von 25 bis 54 Jahren im Jahr 2021 auf 95 % stieg, wurde die Zahl der Erwerbstätigen vor allem durch Frauen, Jugendliche und ältere Leute vergrößert - d.h. Menschen mit relativ begrenzten Verdienstmöglichkeiten. Die Weltbank sieht die steigende Zahl an Vulnerablen am Arbeitsmarkt als ein Indikator für die Notlage der Betroffenen, die darauf angewiesen sind, jedwede Einkommensmöglichkeit unabhängig von den Bedingungen anzunehmen (WB 2023): Geschlechtsbasierte Gewalt hat zugenommen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht einschließlich Ausbeutung bei der Arbeit wie auch Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit. 'Finanzielle Gewalt' in der Terminologie von UNFPA hat zugenommen, darunter die Vorenthaltung finanzieller Mittel, Bildung, Arbeitsmöglichkeiten und von Gehältern. Wenn Frauen das Nachgehen einer Erwerbsarbeit erlaubt wird, kann es zum Beispiel vorkommen, dass ihr Einkommen von männlichen Familienangehörigen an sich genommen wird (UNFPA 28.3.2023). Umgekehrt gibt es nun Frauen, die mehr an den finanziellen Entscheidungen ihrer Familie beteiligt sind (CARE 3.2016)

Neben der großen Kluft zwischen den Geschlechtern bei der Erwerbsbeteiligung existiert außerdem eine geschlechtsspezifische Benachteiligung bei Sozialleistungen. Dem Besitz von Grund durch Frauen stehen gesellschaftliche Praktiken gegenüber, welche davon abschrecken (FH 9.3.2023). Seit einer Änderung des Personenstandsrechts im Jahr 2019 ist es möglich, dass eine Frau fordert, dass in ihrem Ehevertrag das Recht auf Arbeit enthalten ist (SLJ 3.10.2019).

Frauen sind in verschiedenen öffentlichen und politischen Positionen tätig. Dies kann entweder aus freiem Willen geschehen oder aus der Notwendigkeit heraus, die Familie in Abwesenheit eines männlichen Versorgers zu unterstützen (NMFA 5.2022).

Von Frauen geführte Haushalte sind in besonderem Maß von der sozio-ökonomischen Krise betroffen (AA 29.3.2023) wie auch Haushalte mit behinderten Personen. 16 % der von Frauen geleiteten Haushalte sowie 12 % von Haushalten mit Menschen mit Behinderung sind überhaupt nicht in der Lage, ihren Lebensbedarf zu decken (UNFPA 28.3.2023).

Öffentliche Räume wie besonders Kontrollpunkte, aber auch Märkte, Schulen oder Straßen stellen potenzielle Risiken dar, wo Frauen und Mädchen sexueller Gewalt ausgesetzt sind (UNFPA 28.3.2023).

In Fällen, in denen der Zugang zu Bildung eingeschränkt ist, kompensieren Frauen den Verlust von Bildung, indem sie ihre Kinder zu Hause unterrichten. In Fällen, in denen der Zugang zu Infrastrukturgütern wie Wasser oder Strom eingeschränkt ist, legen die Frauen lange Wege zurück, um Wasser oder Diesel für den Betrieb ihrer eigenen Generatoren zu beschaffen. Darüber hinaus erhöht der Mangel an Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern die Arbeitsbelastung der Frauen zu Hause, weil die Aufgaben arbeitsintensiver geworden sind (z. B. backen Frauen zu Hause Brot, wenn es keine Bäckereien mehr gibt) (CARE 3.2016).

Alleinstehende Frauen

Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Die gesellschaftliche Akzeptanz alleinstehender Frauen ist jedoch nicht mit europäischen Standards zu vergleichen (STDOK 8.2017). Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Mädchen, Witwen und Geschiedene werden als besonders gefährdet eingestuft. Auch Überlebende sexueller Gewalt sind besonders vulnerabel (UNFPA 10.3.2019, vergleiche für aktuelle Beispiele UNFPA 28.3.2023). Vor 2011 war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich, allein zu leben, z. B. für Frauen mit Arbeit in städtischen Gebieten. Seit dem Beginn des Konflikts ist es fast undenkbar geworden, als Frau allein zu leben, weil eine Frau ohne Familie keinen sozialen Schutz hat. In den meisten Fällen würde eine Frau nach einer Scheidung zu ihrer Familie zurückkehren. Der Zugang alleinstehender Frauen zu Dokumenten hängt von ihrem Bildungsgrad, ihrer individuellen Situation und ihren bisherigen Erfahrungen ab. Für ältere Frauen, die immer zu Hause waren, ist es beispielsweise schwierig, Zugang zu Dokumenten zu erhalten, wenn sie nicht von jemandem begleitet werden, der mehr Erfahrung mit Behördengängen hat (STDOK 8.2017). Die Wahrnehmung alleinstehender Frauen durch die Gesellschaft variiert von Gebiet zu Gebiet, in Damaskus-Stadt gibt es mehr gesellschaftliche Akzeptanz als in konservativeren Gebieten (SD 30.7.2018).

Da die syrische Gesellschaft als konservativ beschrieben wird, gibt es strenge Normen und Werte in Bezug auf Frauen, obwohl es durchaus auch säkulare Einzelpersonen und Familien gibt. Es gibt zwar keine offizielle Kleiderordnung, bestimmte gesellschaftliche Erwartungen bestehen aber dennoch. In den Großstädten wie Damaskus oder Aleppo und in der Küstenregion haben Frauen mehr Freiheiten, sich modern zu kleiden. Trotzdem kann die eigene Familie einer Frau in dieser Hinsicht ein hinderlicher Faktor sein (NMFA 5.2022).

In Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand besteht ein höheres Risiko, sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, insbesondere für die Mädchen in diesen Familien. Witwen und geschiedene Frauen sind in der Gesellschaft mit einem sozialen Stigma konfrontiert (NMFA 5.2020).

Frauen und medizinische Versorgung

Angesichts der drastisch gekürzten öffentlichen Dienste sind syrische Frauen gezwungen, zusätzliche Aufgaben in ihren Familien und Gemeinden zu übernehmen und haben Berichten zufolge eine führende Rolle im informellen humanitären Bereich übernommen. Frauen kümmern sich um Verletzte, Behinderte, ältere Menschen und Menschen mit anderen medizinischen Problemen, wenn es keine Gesundheits- und Rehabilitationsdienste mehr gibt. Die Frauen erbringen die medizinische Versorgung entweder in ihren Häusern oder arbeiten als Freiwillige in improvisierten, geheimen Gesundheitszentren [Anm.: in den Oppositionsgebieten] (CARE 3.2016). Gewalt überall im Land macht den Zugang zu Gesundheitsversorgung einschließlich reproduktiver Medizin teuer und gefährlich (USDOS 20.3.2023). So schränkt die HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen ein und unterwirft sie Beschränkungen auch in Bezug auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung (SNHR 25.11.2019).

Syrischen AktivistInnen zufolge verweigerten die Regierung und bewaffnete Extremisten manchmal schwangeren Frauen das Passieren von Checkpoints und zwangen sie, unter oft gefährlichen und unhygienischen Bedingungen und ohne adäquate medizinische Betreuung ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Angriffe des Regimes und Russlands führen dazu, dass Gesundheitseinrichtungen oft im Geheimen operieren oder in einigen Fällen die Arbeit im Land einstellen. Konfliktbedingt ist der Sektor reproduktiver Gesundheit schwer belastet, und die Zahl der Frauen, welche während der Schwangerschaft oder der Geburt sterben, steigt weiterhin. Gemäß UNFPA (United Nations Population Fund) benötigen 7,3 Millionen Frauen und Mädchen Gesundheitsleistungen im Bereich reproduktiver und sexualmedizinischer Medizin wie auch Unterstützung in Fällen geschlechtsbasierter Gewalt, denn physische und sexuelle Gewalt wie auch Kinderheiraten sind im Steigen begriffen (USDOS 20.3.2023). Mit der Ausnahme, dass eine Fortführung der Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, sind Abtreibungen in Syrien nach wie vor illegal (UNFPA 12.2021).

Die Risiken von Kinderheiraten sind für Mädchen beträchtlich: Dazu gehören das erhöhte Risiko sexuell übertragbarer Infektionen, die enormen Gesundheitsrisiken für Mädchen durch frühe Schwangerschaften, das Risiko des Schulabbruchs und zusätzlicher Freiheits- und Bewegungseinschränkungen, das Risiko häuslicher Gewalt (physisch, verbal oder sexuell) und das Risiko, von Freunden und Familie isoliert zu werden. Kinderheiraten und die damit verbundenen Risiken können sich negativ, auch auf die psychische Gesundheit der Mädchen auswirken und zu emotionalen Problemen und Depressionen führen (UNFPA 11.2017). (…) […]“

1.4.5.1.3. Sexuelle Gewalt gegen Frauen und ’Ehrverbrechen’

„Letzte Änderung: 17.07.2023

Ausmaß und Berichtslage zu sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen (AA 29.3.2023). Der UN Population Fund (UNFPA) und weitere UN-Organisationen, NGOs und Medien stufen das Ausmaß an Vergewaltigungen und sexueller Gewalt als 'endemisch, zu wenig berichtet und unkontrolliert' ein (USDOS 20.3.2023). Allgemein ist eine von fünf Frauen in Syrien heute von sexueller Gewalt betroffen, wobei eine Zunahme von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt infolge der allgemeinen Unsicherheit und Perspektivlosigkeit der Menschen und der verloren gegangenen Rolle des Mannes als 'Ernährer der Familie' auch innerhalb der gebildeten städtischen Bevölkerung und auch in Damaskus zu verzeichnen ist (ÖB Damaskus 1.10.2021). 'Ehrverbrechen' in der Familie - meist gegen Frauen - kommen in ländlichen Gegenden bei fast allen Glaubensgemeinschaften vor (AA 29.3.2023).

Im November 2021 schätzte das Syrian Network for Human Rights (SNHR), dass die Konfliktparteien seit März 2011 sexuelle Gewalt in mindestens 11.526 Fällen verübt haben. Die Regimekräfte und mit ihr verbündete Milizen waren für den Großteil dieser Straftaten verantwortlich - mehr als 8.000 Fälle, darunter mehr als 880 Straftaten in Gefängnissen und mehr als 440 Übergriffe auf Mädchen unter 18 Jahre. Fast 3.490 Fälle sexueller Gewalt wurden vom sogenannten Islamischen Staat (IS) begangen und 13 Verbrechen durch die Syrian Democratic Forces (SDF) (USDOS 20.3.2023). Die Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Jahr 2019, Rückschläge für andere extremistische Gruppen und der Rückgang an Kampfhandlungen haben dazu geführt, dass die Bevölkerung nicht mehr derart den extremsten Verletzungen persönlicher gesellschaftlicher Freiheit ausgesetzt ist (FH 9.3.2023).

Sexuelle Gewalt durch Regimekräfte

Seit 2011 wurden Vergewaltigungen von den Regierungstruppen im Rahmen von Verhaftungen, Kontrollpunkten und Hausdurchsuchungen in großem Umfang als Kriegswaffe eingesetzt, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und die Gesellschaft zu destabilisieren sowie demografische Veränderungen, z. B. in Homs, durch Vertreibungen zu erreichen (LDHR 10.2018): U.a. die CoI, Amnesty International und Human Rights Watch berichten immer wieder über Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen und Mädchen, insbesondere von Seiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, bei Militärkontrollen und in Haftanstalten. Vor allem Haftpraktiken in Syrien wiesen hiernach eine konstant stark geschlechtsorientierte Komponente auf. Sowohl Frauen als auch Männer werden Opfer sexualisierter Gewalt, insbesondere als Bestandteil von Misshandlungs- und Folterpraktiken. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass es bisher in mindestens 20 Haftanstalten in Syrien zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen gekommen ist (AA 29.3.2023). Dazu gehören Vergewaltigung, Leibesvisitationen und erzwungene Nacktheit, andere Akte sexueller Gewalt, die Androhung sexueller Gewalt, die Folterung an Geschlechtsorganen und weitere erniedrigende und demütigende Behandlungen (SJAC 10.4.2019). Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen (USDOS 12.4.2022). Auch sind einer Menschenrechtsorganisation zufolge nach Syrien rückkehrende Flüchtlinge, besonders Frauen und Kinder, sexueller Gewalt durch Regimekräfte ausgesetzt (USDOS 20.3.2023).

Sexuelle Gewalt durch bewaffnete Gruppen in Gebieten außerhalb der Regimekontrolle

Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen. Sexualisierte Gewalt wird daneben nach früheren CoI-Berichten auch von anderen bewaffneten Gruppierungen systematisch ausgeübt, wie etwa den Terrororganisationen Hay'at Tahrir ash-Sham - HTS und IS (AA 29.3.2023). Frauen sind, bzw. waren, zudem in den vom sogenannten Islamischen Staat (IS) und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Der HTS mischt sich zunehmend in alle Bereiche des zivilen Lebens ein. HTS schränkt z. B. die Bewegungsfreiheit von Frauen ein und hat sogar Kleider- und sogar Frisurvorschriften erlassen (HRW 13.1.2022).

Der Niedergang von Recht und Ordnung setzt Frauen einer Bandbreite von Misshandlungen aus, besonders durch extremistische Gruppen, die der Bevölkerung ihre eigenen Interpretationen des Religionsrechts auferlegen (FH 9.3.2023): Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Frauen durch Mitglieder nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen sind zwar dokumentiert, kommen aber schätzungsweise weniger häufig vor als durch die Regierungstruppen und ihre Verbündeten. Berichten zufolge stehen Fälle von sexueller Gewalt dort im Zusammenhang mit sozialen Phänomenen wie Ausbeutung, Konfessionalismus und Rache, wobei Fälle dokumentiert sind, die Opfer mit kurdischem Hintergrund, vermeintliche Schiiten oder regierungstreue Personen sowie Minderheitengruppen wie Drusen und Christen betreffen (UNCOI 8.3.2018).

Sexuelle Gewalt ebenso wie Ausbeutung und Hürden beim Zugang zu Hilfsleistungen betreffen besonders oft geschiedene Frauen, Witwen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023). Neben Fällen von Versklavung, dem sinkenden Heiratsalter und Fällen von Zwangsheirat wurden offenbar vor allem in IS-kontrollierten Gebieten auch zunehmend Fälle von Genitalverstümmelung beobachtet, eine Praxis, die bis zum Ausbruch der Krise in Syrien unbekannt war und auf die Präsenz von Kämpfern aus Sudan und Somalia zurückzuführen war (ÖB Damaskus 1.10.2021).

In den Gebieten unter türkischer Kontrolle in Nordsyrien stehen laut Bericht der CoI von September 2022 insbesondere kurdische Aktivistinnen unter erhöhter Gefahr, Opfer von Repressionen durch die SNA zu werden. Zudem sind Frauen besonders vulnerabel bei willkürlichen Enteignungen und können durch bestehende Diskriminierungsmuster nur unter großen Schwierigkeiten Entschädigungen einfordern. Darüber hinaus geht SNA besonders rigoros gegen zivilgesellschaftliche Akteure vor, die sich zu Genderthemen äußern und auf sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam machen (AA 29.3.2023). Dazu kamen Berichte aus Afrin über die Auferlegung strenger Bekleidungsvorschriften für Frauen und Mädchen und die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit sowie die Belästigung durch Mitglieder der bewaffneten Gruppen, insbesondere beim Passieren von Kontrollpunkten (UNCOI 15.8.2019). Die Angst vor Entführung und sexueller Gewalt wird als ein wichtiger Faktor genannt, der die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen auch in den türkischen Einflussgebieten einschränkt, wobei auch die Angst vor Schande und Stigmatisierung im Zusammenhang mit sexueller Belästigung eine Rolle spielt (UNPFA 10.3.2019) Anmerkung, siehe auch weiter unten).

Ungefähr 12.715 Personen bestehend aus verwitweten und geschiedenen Frauen und Mädchen leben mit ihren Kindern in 42 Witwenlagern, was ihrem Schutz und dem Erhalt ihrer 'Ehre' dienen soll, aber ihre Isolierung basiert auf der Einstellung, dass unverheiratete Frauen Schande über ihre Familie bringen (UNPFA 28.3.2023).

Häusliche Gewalt und Gewalt in der Familie und an öffentlichen Orten sowie Umgang mit Gewaltopfern

Die meisten Fälle von 'Ehrenmorden' stehen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt, aber nicht notwendigerweise mit Vergewaltigung: In einigen Fällen sind es Belästigungen oder Übergriffe auf der Straße oder in anderen Fällen die Annahme, dass während der Entführung/Gefangenschaft sexuelle Gewalt stattgefunden habe (UNFPA 3.2019). Ehemalige weibliche Häftlinge leiden unter psychischen Problemen, in vielen Fällen unter schweren körperlichen Verletzungen durch Gewalt, einschließlich gynäkologischer Verletzungen durch sexuelle Gewalt, und unter gesundheitlichen Problemen wie Lungenentzündung und Hepatitis. Darüber hinaus ist die Annahme weit verbreitet, dass weibliche Häftlinge sexuelle Gewalt erfahren haben, was von der Familie und der Gemeinschaft als Schande für die Würde und Ehre des Opfers empfunden werden kann. Diese Stigmatisierung kann Berichten zufolge zu sozialer Isolation, Ablehnung von Arbeitsplätzen, Scheidung, Verstoßung durch die Familie und sogar zu 'Ehrenmorden' führen (UNFPA 11.2017). So bleibt die Gefahr von 'Ehrenmorden' durch Familienmitglieder einer der Gründe, warum sexuelle Gewalt nicht in vollem Ausmaß berichtsmäßig erfasst ist. Tausende Überlebende von Gewalt, sexueller Ausbeutung und Zwangsheiraten wurden von ihren Familien verstoßen (USDOS 20.3.2023). Eltern oder Ehemänner verstoßen oftmals Frauen, die während der Haft vergewaltigt wurden oder wenn eine Vergewaltigung auch nur vermutet wird (STDOK 8.2017). Frühe und erzwungene Heiraten kommen auch besonders bei Binnenvertriebenen vor, weil die Familien die Ehe unter anderem als Schutz vor der verbreiteten sexuellen Gewalt wahrnehmen (FH 9.3.2023).

Darüber hinaus stellt die Angst vor sozialer Stigmatisierung oder vor der Polizei ein Hindernis für die Anzeige von sexueller Gewalt dar. Einflussreiche Beziehungen der Frau oder des Täters spielen eine große Rolle bezüglich der Wirksamkeit einer solchen Anzeige. Es besteht die Gefahr, dass die Frau beschuldigt wird. Wenn sie einen Vorfall anzeigt - in der Regel gegen ihren Ehemann - ist der soziale Druck, die Anzeige zurückzuziehen, enorm. Es heißt daher, dass Frauen versuchen, häusliche Gewalt innerhalb der Familie zu klären. Welche Hilfe tatsächlich geleistet wird, hängt jedoch von ihrer Familie ab (NMFA 5.2022)

Berichten zufolge kam es seit 2011 zu einem Anstieg an 'Ehrenmorden' infolge des Konfliktes (USDOS 12.4.2022). Drei Organisationen dokumentieren zusammen von 2019 bis November 2022 insgesamt 185 'Ehrenmorde' (USDOS 20.3.2023). Laut dem niederländischen Außenministerium ist es jedoch nicht möglich, das konkrete Ausmaß an Blutfehden und 'Ehrenmorden' in Syrien in absoluten Zahlen auszudrücken. Dass diese vorkommen, wird aber von zahlreichen Quellen und Beispielen aus dem Berichtszeitraum [Anm.: Mai 2021 bis Mai 2022] belegt. Eine Quelle stellt zudem fest, dass sie hauptsächlich in Gebieten vorkommen, in denen Stämme eine wichtige Rolle spielen, wie z. B. in Suweida und im Nordosten, aber auch, dass sie nicht auf eine spezifische ethnische Gemeinschaft beschränkt sind (NMFA 5.2022).

Insbesondere Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sind einem erhöhten Risiko sexueller Gewalt ausgesetzt. Darüber hinaus sind unbegleitete Mädchen, Waisen oder solche, die bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern leben, Berichten zufolge von sexueller Gewalt bedroht. Syrische Mädchen, die für den UNFPA-Bericht 2017 befragt wurden, berichteten von einem besonderen Risiko sexueller Gewalt auf dem Weg zur oder von der Schule, und diese Risiken sollen oft der Hauptgrund dafür sein, dass Mädchen entweder die Schule abbrechen oder von ihren Eltern aus der Schule genommen werden (UNFPA 11.2017). Für aktuelle Beispiele hierzu siehe UNFPA vom 28.3.2023.

Anzeige und Strafverfolgung

Eine Anzeige wegen sexueller Gewalt in Syrien muss durch ein medizinisches Gutachten eines Gerichtsmediziners untermauert werden, aus dem die Schwere der körperlichen Verletzung hervorgeht. Dieses Verfahren sowie soziale Normen und Stigmata machen es Frauen, die missbraucht wurden, schwer, Hilfe zu suchen (NMFA 6.2021). Zudem besteht das Risiko, dass man ihr die Schuld für das Vorgefallene gibt (NMFA 5.2022). Die Anzeige von Gewalt durch Regierungsbeamte ist noch schwieriger, weil sie rechtlich gegen Anklagen für Handlungen geschützt sind, die sie im Rahmen ihrer Arbeit vornehmen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand es wagen würde, Sicherheitsbeamte wegen Gewaltanwendung trotz der Angst vor Verschwindenlassen, der Verhaftung oder der Anschuldigung des Terrorismus anzuzeigen (NMFA 6.2021). Obwohl Vergewaltigung außerhalb der Ehe strafbar ist, setzt die Regierung diese Bestimmungen nicht wirksam um. Darüber hinaus kann der Täter eine Strafminderung erhalten, wenn er das Opfer heiratet, um das soziale Stigma der Vergewaltigung zu vermeiden. Dem stimmen manche Familien wegen des sozialen Stigmas durch Vergewaltigungen zu (USDOS 20.3.2023). Eine Frau in Furcht vor einem 'Ehrverbrechen' kann keinen Schutz von den Behörden wie etwa in Form eines Frauenhauses erwarten. Ihre Optionen für eventuellen Schutz hängen gänzlich von ihren persönlichen und gesellschaftlichen Umständen ab (NMFA 5.2022), denn offizielle Mechanismen zum Schutz von Frauenrechten funktionieren Berichten zufolge nicht (FH 9.3.2023).

Die Tatsache, dass es sich bei einem Mord aus Anlass angeblicher 'illegitimer sexueller Handlungen' um einen 'Ehrenmord' handelt, wird aus rechtlicher Sicht seit März 2020 nicht mehr als mildernder Umstand als Motiv für einen Mord oder eine Körperverletzung an der Ehefrau oder nahen weiblichen Verwandten anerkannt. Allerdings bleiben andere Gesetze statt des Artikels 548 des Strafgesetzes in Kraft, welche trotzdem eine Strafmilderung erlauben (HRW 12.1.2023). Es kommt nur zu wenigen Strafverfolgungen wegen Mordes oder versuchten Mordes aus Gründen der 'Ehre' (NMFA 5.2022). Auch können sich Vergewaltiger durch die Heirat des Opfers vor Strafe schützen (FH 9.3.2023).

Bei 'Ehrverbrechen' in der Familie - meist gegen Frauen - besteht laut deutschem Auswärtigen Amt kein effektiver staatlicher Schutz (AA 29.3.2023). Es gibt zwar Frauenhäuser in verschiedenen Gegenden des Landes, aber diese sind vor allem für Witwen und geschiedene Frauen gedacht. Auch ist die Suche nach Zuflucht schwierig, denn die Schutz suchenden Frauen müssen in ein anderes Gebiet umziehen und den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen. Es gibt zwar Organisationen zur Unterstützung von Frauen in Not, aber die Dauer des Schutzes hängt von der Laufzeit des Projekts ab. Die Wahrscheinlichkeit ist nach Einschätzung des niederländischen Außenministeriums groß, dass die Frauen zu ihren Familien zurückkehren müssen (NMFA 5.2022). Die Finanzierung von Projekten gegen geschlechtsbasierte Gewalt ging im Jahr 2022 zurück - mit Auswirkungen auf die Sicherheit von Frauen und Mädchen (UNPFA 28.3.2023). (…) […]“

1.4.5.1.4. Die (selbstproklamierte) Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES - Autonomous Administration of North and East Syria)

„Letzte Änderung: 17.07.2023

Nachdem sich die Regierungstruppen 2012 aus dem Nordosten zurückgezogen und die Partei der Demokratischen Union (PYD) die Kontrolle übernommen hatte, wurde die Geschlechterfrage zu einem zentralen Thema der Politik der Partei der Demokratischen Union (PYD), und in jeder autonomen Gemeinde und auf jeder Ebene des Systems wurden Frauenverbände gegründet (Allsop, van Wilgenburg 2019). Per Gesetz werden alle Regierungseinrichtungen von einem Mann und einer Frau gleichzeitig geleitet, und die meisten staatlichen Behörden und Gremien müssen zwischen Männern und Frauen gleich besetzt sein, abgesehen von Einrichtungen, die nur für Frauen sind und von Frauen geleitet werden. Mit den YPJ-Einheiten (Women’s Protection Units, Y.P.J.) gibt es eigene Milizen aus Frauen (TNYT 24.2.2018), und bei der Rückeroberung Raqqas hatte ein Mitglied dieser Einheit das übergeordnete Kommando. Gesetze und Regulierungen sollen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen abschaffen. Kinderheiraten und häusliche Gewalt stehen unter Strafe (NMFA 6.2021). (…) Die Verwaltungscharta des Gesellschaftsvertrags räumt den Frauen das Recht auf Teilhabe an politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten ein und legt den Frauenanteil in allen Leitungsgremien, Institutionen und Ausschüssen auf 40 Prozent fest. Dies ist jedoch nur auf Bereiche beschränkt, die unter der Kontrolle der Syrian Democratic Forces (SDF) stehen, und es wird in diesem Zusammenhang betont, dass Partizipation nicht gleichbedeutend mit tatsächlicher Ermächtigung ist (AC 13.8.2019), zumal außerhalb der PYD-Strukturen die politische Autonomie für die Bevölkerung eingeschränkt ist (FH 9.3.2023).

Kurdische Frauen erleben liberalere kulturelle Normen in den kurdischen Gemeinschaften, was durch die politischen Parteien gefördert wird. Die Partizipation von Frauen an traditionell männlichen Aktivitäten ist in vielen Fällen weniger restriktiv. Allerdings ist die jeweilige Lage der Frauen großteils von ihren Familien und deren Einstellungen abhängig, sodass in religiöseren oder traditionelleren kurdischen Gemeinschaften auch mehr traditionelle gesellschaftliche Normen gelten (Allsop & van Wilgenburg 2019). Diese Aspekte gelten jedoch nur für kurdische Frauen in den kurdischen Gebieten, nicht für arabische Frauen in den kurdischen Gebieten oder für kurdische Frauen im Rest Syriens. Beispiele für vulnerable Frauen wären z. B. kurdische Frauen in den kurdischen Gebieten, die gegen die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) eingestellt sind (STDOK 8.2017).

Obwohl die Reformen definitiv Frauen zugutekommen, fühlen sich einige syrisch-kurdische Frauen Berichten zufolge mit der Ideologisierung der Frauenrechte, den impliziten Assoziationen von Befreiung mit Militarisierung und der Art der Umsetzung der Gleichberechtigung unwohl (Allsopp & van Wilgenburg 2019). (…)

Der Nordosten Syriens wird im Allgemeinen immer noch als ländliche und stammesgebundene Gesellschaft angesehen, in der die Rolle der Frauen auf die Arbeit im Haus oder innerhalb von Verwaltungseinrichtungen beschränkt ist (Atlanctic Council 12.3.2019). In Gebieten mit arabischer Mehrheitsbevölkerung, die als konservativer gelten und wo Stammesstrukturen noch stark verwurzelt sind, ist es für die kurdischen Behörden schwerer, Gleichberechtigungsmaßnahmen ohne Widerstand durchzusetzen. So wurde beispielsweise in Kobanê Polygamie verboten, von der lokalen Bevölkerung in Manbij gab es jedoch Widerstand durch lokale Stammesführer, was zu einer Ausnahme für Manbij von dieser Regelung führte (TNYT 24.2.2018).

Generell wurde geschlechtsspezifische Gewalt, wie sexuelle Gewalt, häusliche und familiäre Gewalt, Kinderehen und Ehrenmorde, aus allen Teilen Syriens gemeldet, auch aus den von den SDF kontrollierten Regionen (UNPFA 28.3.2023).

Jesidische Frauen litten Berichten zufolge unter dem Trauma ihrer Erlebnisse, unter der Furcht vor Stigmatisierung wegen der gegen sie verübten Gräueltaten durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) sowie unter dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung, psychologischer Unterstützung und Traumatherapie. Gemäß einer Entscheidung des Obersten Geistlichen Rates der Jesiden werden gerettete jesidische Frauen wieder in ihre Gemeinschaft aufgenommen, allerdings ohne ihre Kinder, die in Folge von Vergewaltigungen durch IS-Kämpfer geboren wurden. In einigen Fällen trug das Dilemma zwischen ihren Kindern und dem Exil von ihrer Gemeinschaft wählen zu müssen, dazu bei, dass jesidische Mütter zögerten, das Lager al-Hol zu verlassen, was sie weiter von ihren Gemeinschaften entfremdete (UNCOI 15.8.2019). (…) […]“

1.4.6. Bewegungsfreiheit: Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen

„Letzte Änderung: 13.07.2023

Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern. Die Kosten für einen Reisepass von 800 bis 2.000 USD macht diesen für viele unerschwinglich. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).

Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023). (…). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise für mehrere Wochen eingestellt werden (AA 29.3.2023).

Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022). (…)

Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen per Antrag an das Innenministerium die Ausreise aus Syrien zu verbieten, auch wenn Frauen, die älter als 18 Jahre sind, eigentlich das Recht haben, ohne die Zustimmung männlicher Angehöriger zu verreisen (USDOS 20.3.2023).

Einige in Syrien aufhältige PalästinenserInnen brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017). (…)

Rückkehr

Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023). (…)

Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 % (ÖB Damaskus 12.2022).

Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023).

Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022). (…)

Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023). (…)“

1.4.7. Rückkehr

„Letzte Änderung: 12.07.2023

Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten. Gleichzeitig steigt durch die diplomatische Normalisierung zwischen Syrien und der Arabischen Liga in manchen Staaten der Druck auf die Flüchtlinge, trotz der für sie unsicheren Lage nach Syrien zurückzukehren (CNN 10.5.2023).

Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 12.1.2022) RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023, vergleiche Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Schikanen durch die syrischen Behörden (HRW 12.1.2023). Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften an Rückkehrenden, die sich an verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassen Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).

Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023).

Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).

Laut Vereinten Nationen (u.a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).

Hindernisse für die Rückkehr

Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). (…)

Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).

Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021). (…)

Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrerer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).

Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) (…)“

1.4.8. Aus der ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung Minderjähriger (Konzentration auf 14-16-jährige, regionale Unterschiede) vom 31.01.2022:

1.4.8.1. Überblick der Rekrutierung Minderjähriger in Syrien in Zahlen

„Laut des Berichts über Kinder und bewaffnete Konflikte des UNO-Generalsekretärs im Mai 2021, hätten die Vereinen Nationen zwischen Jänner und Dezember 2020 die Rekrutierung und den Einsatz von 813 Kindern (777 Jungen, 36 Mädchen) verifiziert, darunter durch Hai‘at Tahrir asch-Scham (390); syrische bewaffnete Oppositionsgruppen, früher bekannt als Freie Syrische Armee (FSA) (170); die kurdischen Volksverteidigungseinheiten und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) (119) unter dem Dach der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF); regierungsfreundliche Milizen (42); Ahrar al-Sham (31), Nur al-Din al-Zanki (3) und Armee des Islam (Jaysh al-Islam) (3), die alle seit Oktober 2019 nominell unter dem Dach der oppositionellen Syrischen Nationalarmee (SNA) operieren würden; die Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (YDG-H) (30); die Kräfte der inneren Sicherheit (13); Hurras al-Din (6); Islamischer Staat (4); und syrische Regierungstruppen (2) verifiziert. Fälle seien hauptsächlich in Idlib (477) und Aleppo (119) bestätigt worden. Von allen insgesamt verifizierten Fällen seien 99 Prozent (805) im Kampf eingesetzt worden. Darüber hinaus sei die Rekrutierung und der Einsatz von weiteren 24 Kindern (20 Jungen, 4 Mädchen) durch Hai‘at Tahrir asch-Scham (7), syrische bewaffnete Oppositionsgruppen, früher bekannt als FSA (6), YPG/YPJ (8), Islamischer Staat, regierungstreue Milizen und die Kurdische Revolutionäre Jugend (je 1) zu einem späteren Zeitpunkt verifiziert worden (UNGA, 6. Mai 2021, Sitzung 24).

Im April 2021 wird der Bericht des UNO Generalsekretärs an den UNO Sicherheitsrat zu Kindern im bewaffneten Konflikt in Syrienveröffentlicht. Im Zeitraum vom 1. Juli 2018 bis zum 30. Juni 2020 habe es 1.423 bestätigte Fälle (1.306 Jungen, 117 Mädchen) von Rekrutierung und Einsatz von Kindern gegeben, davon 274 im zweiten Halbjahr 2018, 837 im Jahr 2019 und 312 im ersten Halbjahr 2020. Etwa 1.388 der Kinder (98 Prozent) hätten in einer Kampfrolle gedient. Zum Zeitpunkt der Rekrutierung seien 250 Kinder (18 Prozent) jünger als 15 Jahre alt gewesen. Die Anwerbung und der Einsatz von Kindern sei in 11 von 14 Provinzen verifiziert worden, wobei 73 Prozent der Fälle im nordwestlichen Teil Syriens (Idlib, Aleppo und Hama) und 26 Prozent im nordöstlichen Teil bestätigt wurden (Raqqa, Hasaka und Dayr al-Zor).

Verifizierte Fälle seien mindestens 25 verschiedenen Konfliktparteien zugeschrieben, darunter Hai‘at Tahrir asch-Scham (507); die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG, 318) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ, 99); bewaffnete syrische Oppositionsgruppen, früher bekannt als FSA (Freie Syrische Armee) (328), Ahrar al-Sham (55) und Nur al-Din al-Zanki (11), die seit Oktober 2019 nominell unter dem Dach der oppositionellen Syrischen Nationalen Armee operieren würden; andere SDF (Demokratischen Kräfte Syriens)-Komponenten (37); die internen Sicherheitskräfte (34); Regierungstruppen (13); regierungstreue Milizen (10); Islamischer Staat (6); die Afrin Liberation Forces (3); und nicht identifizierte bewaffnete Gruppen (2).

Bei der Rekrutierung und dem Einsatz von Kindern durch Haiʾat Tahrir asch-Scham sei mit 36 Prozent aller verifizierten Fälle ein signifikanter Anstieg beobachtet worden. Jungen im Alter von nur 10 Jahren seien aus 11 verschiedenen Distrikten in Idlib, Aleppo und Hama rekrutiert worden.

Für 35 Prozent aller bestätigten Fälle seien unterschiedliche Fraktionen der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien verantwortlich. Die Rekrutierung von Kindern durch die SDF und die internen Sicherheitskräfte sei jedoch im Berichtszeitraum deutlich zurückgegangen, insbesondere nach der Unterzeichnung eines gemeinsamen Aktionsplans mit den Vereinten Nationen im Juni 2019 zur Beendigung und Verhinderung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern. 67 Prozent der verifizierten Vorfälle hätten sich vor der Unterzeichnung des Aktionsplans ereignet. Seit dessen Unterzeichnung seien 160 Fälle aufgetreten, darunter 23 Kinder unter 15 Jahren und 149 Kinder, die in einer Kampfrolle gedient hätten. Die meisten Fälle seien in den Distrikten Raqqa (42) und Manbij (40) aufgetreten.

Mindestens 12 syrische bewaffnete Oppositionsgruppen, früher bekannt als FSA, sowie Ahrar al-Sham und Nur al-Din al-Zanki, seien für 28 Prozent aller bestätigten Fälle verantwortlich. Die Zahlen seien konstant hoch.

Insgesamt 23 Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch Regierungstruppen (13) und regierungstreue Milizen (10) seien verifiziert worden und Regierungstruppen in Daraa (5), Hasaka (4) und Aleppo (4) zugeschrieben, sowie regierungstreuen Milizen in Damaskus.

Faktoren bei der Rekrutierung von Kindern seien finanzielle Anreize; Rache für den Tod von Angehörigen; die Zugehörigkeit von Vätern, Brüdern und Onkeln; sozialer Status und Druck der Gemeinschaft; Zugang zu Dienstleistungen und Waren; Angst vor Verhaftung und Inhaftierung; sowie der Drang, ihre Gemeinschaften zu schützen (UN Security Council, 23. April 2021, Sitzung 3-5). (…)“

1.4.8.2. Rekrutierung durch kurdische Gruppierungen (Aleppo, Manbij, Raqqa, Hasakah, Qamishli)

„Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) schreibt im November 2021, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) im großen Umfang Kinder zwangsrekrutieren würden. Kinder würden freiwillig oder zwangsweise rekrutiert, indem sie mit versprochenen Privilegien angelockt oder auch entführt würden. Sobald sie in Trainingscamps seien, sei es Kindern nicht mehr möglich, mit ihren Familien zu kommunizieren.

Die Revolutionäre Jugend (Joanne Schurchkar), die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG) zählten zu den prominentesten Parteien, die für die Rekrutierung von Kindern und ihre Eingliederung in die Ausbildungslager und Kampfeinheiten der Demokratischen Kräfte Syriens verantwortlich seien (SNHR, 20. November 2021, Sitzung 42).

SNHR berichtet Mitte Dezember 2021, dass seit Anfang November mindestens 19 Kinder, davon zehn Mädchen, (11 in der Provinz Hasaka, 8 in Aleppo) entführt und rekrutiert worden seien, davon seien seither nur drei wieder demobilisiert worden (SNHR, 16. Dezember 2021, Sitzung 6). SNHR liefert in seinem Bericht eine detaillierte Darstellung einiger der rekrutierten Kinder und der Umstände ihrer Rekrutierung. Die berichteten Fälle inkludieren zwei 12-jährige Mädchen, ein 14-jähriges Mädchen, vier 15-jährige Mädchen, einen 13-jährigen Jungen, einen 14-jährigen Jungen und zwei 15-jährige Jungen. Detaillierte Informationen zu den verschiedenen Fällen befinden sich im Anhang (SNHR, 16. Dezember 2021, Sitzung 7/8/11).

Hibr Press, eine 2013 in Aleppo gegründete syrische Wochenzeitschrift, berichtet Anfang Dezember 2021, dass Eltern in der Stadt Qamishli eine Mahnwache abgehalten hätten, um die Freilassung ihrer von PYD/PKK rekrutierten Kindern zu fordern (Hibr Press, 7. Dezember 2021).

The New Arab (Al Araby Al Jadeed), ein 2014 in London gegründetes Medienunternehmen, berichtet in einem Artikel auf seiner Nachrichtenwebseite vom September 2021 von Hinweisen, dass die Revolutionäre Jugend im Nordosten Syriens Entführungen Minderjähriger durchführe und sie in Rekrutierungslager bringe. Al-Araby Al-Jadeed habe von Anfang des Jahres bis Ende August die Entführung von sechs Mädchen (Dana Imad Suleiman (15), Fatima Idris Naasan (15), Ahd Abdel Ghani (16), Simaf Al-Othman (13), Ariana Bahri (13), Delphine Al-Omari (13)) und acht Jungen (Wael Adnan Ibrahim (14), Ahmed Ramou (15), Mohammed Ibrahim Saleh (16), Ibrahim Jarwa, (16), Mazen Khalil Al-Hassan (16), Abdul Aziz Houidi (17), Hahmoud Hassan Adel (17), Massoud Seif Eddin, (17)) dokumentiert. Die SDF hätten die Verantwortung für die Rekrutierung der Kinder bestritten (Al-Araby Al-Jadeed, 5. September 2021). Die Namen der rekrutierten Kinder korrelieren mit Informationen aus dem Bericht von SNHR vom November 2021 (SNHR, 20. November 2021, Sitzung 43-45).

Al-Monitor berichtet im Juli 2021, dass das Kinderschutzbüro, das der kurdisch geführten Autonomieverwaltung in Manbij angegliedert sei, damit begonnen habe, Arbeitskarten für Kinder im Alter von 10 bis 18 Jahren auszustellen. Laut eines Mitarbeiters des Kinderschutzbüros sei das Ziel der Karten, Zwangsrekrutierungen durch die Demokratischen Kräfte Syriens zu verhindern. Die SDF hätten Anfang 2021 eine Wehrpflichtkampagne gestartet und unter anderem Minderjährige im Alter von 14 bis 16 Jahren verhaftet (Al-Monitor, 6. Juli 2021).

Middle East Monitor (MEMO) berichtet im Juni 2021 von Protesten in der Stadt Manbij gegen die Praxis der Zwangsrekrutierung von Minderjährigen durch die Volksverteidigungseinheiten (YPG). Auf die Protestierenden sei mit scharfer Munition geschossen worden. Laut MEMO würden die YPG regelmäßig überwiegend arabisch besiedelte Städte und Dörfer überfallen, um Minderjährige zu entführen und sie zur Wehrflicht zu zwingen (MEMO, 4. Juni 2021).

Syrians for Truth and Justice (STJ) dokumentiert Anfang Juni 2021, dass die Revolutionäre Jugend (Revolutionary Youth’s Union, RYU) mindestens 19 Minderjährige zwischen Anfang Mai 2020 und Ende 2020 rekrutiert habe. Darüber hinaus verzeichnet STJ die Demobilisierung von vier weiblichen und drei männlichen Rekruten, nachdem Eltern Beschwerden bei den SDF eingereicht hätten. Im Laufe des ersten Quartals 2021 habe STJ dokumentiert, dass die RYU weitere sieben Minderjährige rekrutiert habe (STJ, 2. Juni 2021, Sitzung 4). Laut der Mehrheit der befragten Familien sei die RYU hauptsächlich für die Rekrutierung von Kindern im Nordosten Syriens verantwortlich. Mitglieder der RYU im Teenager-Alter würden Kinder in der Schule oder auf der Straße ansprechen, Freundschaften schließen, sie dann zu Vorträgen und Kursen einladen und sie schließlich dazu verleiten, sich militärischen Gruppen anzuschließen (STJ, 2. Juni 2021, Sitzung 5). Von den von STJ verifizierten rekrutierten Kindern im ersten Quartal des Jahres 2021 sei ein Kind 13 Jahre, ein Kind 14 Jahre, ein weiteres Kind 15 Jahre und zwei Kinder 16 Jahre alt gewesen (STJ, 2. Juni 2021, Sitzung 6/9/10). Auch in den Jahren 2019 und 2020 habe STJ die Rekrutierung von 14-, 15-, und 16-jährigen Kindern (Mädchen und Jungen) bestätigt (STJ, 2. Juni 2021, Sitzung 15/16/18/20-24).

Auch Syria Direct bestätigt in einem Artikel vom September 2020, dass laut mehreren Quellen, unter anderem den Eltern von entführten Kindern, die Gruppe Revolutionäre Jugend für viele der Entführungen und Rekrutierungen verantwortlich sei. Die Revolutionäre Jugend sei in Schulen und Bildungseinrichtungen präsent. Sie würden dort Grooming und Rekrutierung von Kindern betreiben. Sie würden Kinder dazu anleiten, Kurse zu besuchen, bevor sie in ein Trainingslager geschickt würden. Viele Familien würden ihre Kinder nie wiedersehen. Darüber hinaus wisse Syria Direct von mindestens 17 Fällen von Rekrutierung Minderjähriger im Jahr 2020 durch die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG) (Syria Direct, 15. September 2020).“

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person der BF:

Die unter Pkt. 1.1. getroffenen Feststellungen beruhen auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren. Sowohl die Erstbeschwerdeführerin vergleiche BF1 AS 11ff., BF1 AS 45ff., Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023) als auch der Zweitbeschwerdeführer vergleiche Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023) und die Sechstbeschwerdeführerin vergleiche BF6 AS 1ff., AS 40ff., Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023) machten allesamt über das Verfahren hinweg gleichlautende und übereinstimmende Angaben zu den Identitäten der BF, der Familiensituation, ihrer Herkunft und den persönlichen Lebensumständen. Sowohl die BF1 als auch die BF6 legten im Verfahren ihre Familienbücher vor vergleiche BF6 AS 47 bis AS 52 sowie Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Das Geburtsdatum der BF6, römisch 40 , welches vom BFA zunächst als römisch 40 geführt wurde, ergibt sich aus dem glaubhaften Vorbringen der BF6 in der mündlichen Verhandlung vergleiche Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023) und dem in der Verhandlung im Original vorgelegtem Familienbuch der BF6, welches nach Übersetzung des in der Verhandlung anwesenden Dolmetschers, mit den bei der Einvernahme durch das BFA durch die BF6 bereits vorgelegten Kopien im Akt (AS 47 bis AS 52) übereinstimmen. Aus diesem Eintrag im Familienbuch ergibt sich das Geburtsdatum der BF6 vergleiche Kopien des Familienbuchs der BF6 in AS 50 sowie Übersetzung auf Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Auch die BF1, die Mutter der BF6, legte in der Verhandlung ihr Familienbuch vor, aus dem sich ebenfalls das Geburtsdatum der BF6 ergibt vergleiche Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Die Angehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden, ihre Muttersprache sowie das Bekenntnis zum sunnitisch muslimischen Glauben der BF1 bis BF6, ergeben sich aus ihren übereinstimmenden Angaben. Die Feststellung zur Staatsbürgerschaft der BF1 bis BF6 ergibt sich ebenfalls aus ihren Angaben in der Verhandlung. Hierbei ist zu beachten, dass die BF1 in der niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt am 15.10.2021 zunächst angab, staatenlos zu sein. Demnach sei ihr Mann syrischer Staatsbürger, sie sei in Syrien geboren und aufgewachsen und auch ihre Kinder seien syrische Staatsbürger. Sie habe ein Aufenthaltsrecht weil ihre Eltern in Syrien leben und sie in Syrien geboren sei (BF1 AS 46, Seite 2 der Niederschrift). Auch in der gegenständlichen Beschwerde brachte die BF1 vor, sie sei staatenlos (BF1 AS 148, Seite 4 der Beschwerde). In der mündlichen Verhandlung gab die BF1 nachgefragt dann aber an, sie sei syrische Staatsbürgerin (Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Zum Herkunftsgebiet der Beschwerdeführer Qamishli machten die BF1 bis BF6 über das Verfahren hinweg gleichlautende und glaubhafte Angaben, weshalb die Feststellung zum Herkunftsgebiet getroffen werden konnte vergleiche BF1 AS 11ff., BF1 AS 45ff., Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023, BF6 AS 1ff., AS 41, Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Die Feststellung, dass der Heimatort der Beschwerdeführer Qamishli im Nordosten Syriens im Gouvernement Al- Hasaka liegt und sich unter der Kontrolle der Kurden befindet, ergibt sich aus den herangezogenen Länderberichten sowie einer aktuellen Nachschau unter https://syria.liveuamap.com und den hierzu übereinstimmenden Angaben der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vergleiche Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Dass die Beschwerdeführer über keine Familienangehörigen in Syrien verfügen, ergibt sich aus den diesbezüglichen glaubhaften Angaben der BF1 in der Verhandlung, bei welcher sie vorbrachte, dass auch ihr Ehemann Syrien vor ca. sechs Monaten in die Türkei verlassen habe vergleiche Seite 7 und 8 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Auch die BF6 brachte im Verfahren glaubhaft vor, dass ihr Vater nach ihrer Mutter eine andere Frau geheiratet und mit dieser zwei weitere Töchter habe. Er habe sich zunächst noch in Syrien aufgehalten (BF6 AS 41) sei dann aber in die Türkei ausgereist. Die BF6 brachte in der Verhandlung glaubhaft vor, dass sie nach der Ausreise ihres Vaters in die Türkei nun keine Familienangehörigen mehr in Syrien habe vergleiche Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Im Verfahren ist nicht hervorgekommen, dass der BF2 verheiratet wäre oder Kinder hat. Die Feststellungen zur Familiensituation der BF6, zu ihrem Ehemann und ihrem Sohn, ergeben sich aus ihren dahingehend übereinstimmenden und glaubhaften Angaben im Verfahren vergleiche BF6 AS 1ff, AS 41, Seite 10 und 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Sie legte außerdem ihr Familienbuch bereits im Verfahren vor dem BFA vor (AS 47ff.). Entsprechend der Übersetzung des in der Verhandlung anwesenden Dolmetschers ergibt sich aus dem Familienbuch der BF6 sowohl die Identität des Ehemannes als auch das Geburtsdatum der BF6 (AS 50). Außerdem ist dem Familienbuch zu entnehmen, dass die Eheschließung am römisch 40 stattfand. Die Registrierung der Ehe erfolgte am römisch 40 vergleiche Seite 5 im Familienbuch der BF6 = AS 50 sowie Übersetzung auf Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Die Feststellungen über den Gesundheitszustand des BF2 und der BF6 ergeben sich aus dem Vorbringen der beiden in der mündlichen Verhandlung. Sowohl der BF2 als auch die BF6 gaben an gesund zu sein und keine Medikamente einzunehmen vergleiche Seite 10 und 12 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der BF ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister (Strafregisterauszug zu BF6 vom 02.10.2023, zu BF1 und BF2 vom 09.11.2023).

Die BF1 bis BF5 reisten gemeinsam im Sommer 2021 illegal aus Syrien aus (BF1 AS 49, Seite 8 der Niederschrift vom 02.10.2023). Die BF6 verließ Syrien illegal mit ihrem Mann im April 2022 und hielt sich zuletzt in ihrem Herkunftsort Qamishli auf vergleiche Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Die Angaben zur Ausreise brachten die Beschwerdeführer im Verfahren glaubhaft vor.

2.2. Zu den Fluchtgründen des Zweitbeschwerdeführers:

2.2.1. Die Feststellung, dass dem Zweitbeschwerdeführer eine Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime droht, ergibt sich aus seinem diesbezüglich glaubhaften und gleichlautenden Vorbringen in Übereinstimmung mit dem Länderinformationsblatt. Die Mutter des BF2, die BF1, brachte in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vor, sie befürchte eine Zwangsrekrutierung ihres Sohnes bei einer Rückkehr. Ihr Sohn werde in zwei Jahren wehrdienstpflichtig beim syrischen Regime und sie befürchte auch eine Rekrutierung durch die Kurden vergleiche Seite 8 und 9 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Selbiges Vorbringen, die Befürchtung einer Zwangsrekrutierung ihrer Kinder, brachte die BF1 bereits bei der niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt am 15.10.2021 vor. Sie habe miterlebt, wie viele Kinder im Alter ihres Sohnes zwangsrekrutiert worden seien und sie sei mit ihren Kindern ausgereist, weil sie eine Zwangsrekrutierung dieser befürchtet habe. Es habe noch keine Rekrutierungsversuche gegeben, aber sie habe Angst, dass ihr ältester Sohn zwangsrekrutiert werde, weshalb sie das Land verlassen habe vergleiche BF1 AS 51).

Im angefochtenen Bescheid stellt die Behörde fest, die gesetzliche Vertretung des BF2, seine Mutter, habe für ihn keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht und habe in der Einvernahme vorgebracht, dass er kein eigenes Fluchtvorbringen habe. Das BFA stellt im angefochtenen Bescheid fest, dem BF2 drohe bei einer Rückkehr keine konkrete Verfolgung seiner Person. Es seien auch amtswegig keine Asylgründe festgestellt worden vergleiche BF2 AS 19, Seite 13 und 72 des angefochtenen Bescheides). In der Beweiswürdigung dazu verweist das Bundesamt auf die Beweiswürdigung betreffend die gesetzliche Vertretung und Mutter des BF2, auf den Bescheid der BF1, und argumentiert im Wesentlichen, der BF2 habe Syrien wegen des dort herrschenden Bürgerkrieges verlassen und es bestehe keine individuelle Verfolgungsgefahr vergleiche BF2 AS 73, Seite 67 und 72 des angefochtenen Bescheides). Auf eine Bedrohung des BF2 aufgrund drohender Zwangsrekrutierung bei einer Rückkehr, geht das BFA im angefochtenen Bescheid gar nicht ein.

Das Alter des BF2 zum Ausreisezeitpunkt und zum aktuellen Zeitpunkt ergibt sich aus den dahingehend gleichlautenden Angaben seiner Mutter und gesetzlichen Vertreterin, der BF1, im Verfahren vergleiche BF1 AS 11ff., BF1 AS 45ff., Seite 7 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023) und den damit übereinstimmenden und glaubhaften Angaben des BF2 in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG vergleiche Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Zudem legte die BF1, die Mutter des BF2, in der Verhandlung ihr Familienbuch vor vergleiche Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Auch die belangte Behörde zog das Alter des BF2 nicht in Zweifel, stellte aber fest, dass die Identität des BF2 nicht feststehe vergleiche BF2 Seite 12 des angefochtenen Bescheides).

Die unter Pkt. 1.2. getroffenen Feststellungen zur Gefahr der Einziehung des BF2 zum Militärdienst der syrischen Armee bei einer Rückkehr basieren zur Gänze auf dem Inhalt des Länderinformationsblatts der BFA-Staatendokumentation zu Syrien vom 17.07.2023, der wiederum durch eine Vielzahl von unterschiedlichen aktuellen Quellen getragen ist. Die Feststellungen unter Pkt. 1.2. basieren auf dem genannten Länderinformationsblatt (siehe unter Punkt römisch II.1.4.4. LIB Wehr- und Reservedienst) und sind um den Inhalt einer – in der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingeführten und den Parteien auf diesem Wege vorgehaltenen – Anfragebeantwortung von ACCORD vom 31.01.2022 zur Zwangsrekrutierung Minderjähriger in Syrien ergänzt; diese Anfragebeantwortung ist ebenso von mehreren unterschiedlichen und hinreichend aktuellen Quellen getragen, die zum Großteil abgedruckt sind und nähere Details zu den Aussagen der Anfragebeantwortung bieten (siehe unter Punkt römisch II.1.4.8. ACCORD Anfagebeantwortung). Mangels Teilnahme an der Verhandlung trat die Behörde dem Inhalt dieses Berichts im Verfahren nicht weiter entgegen. Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend. Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein vergleiche römisch II.1.4.4.1.).

Die Feststellung, dass der minderjährige und aktuell römisch 40 Jahre alte BF2 seinen Wehrdienst in Syrien noch nicht abgeleistet hat, ergibt sich daraus, dass er im Alter von römisch 40 Jahren mit seiner Familie aus Syrien ausgereist ist. Im Verfahren ist keine Wehrdienstbefreiung des Beschwerdeführers hervorgekommen. Dieser ist weder der einzige Sohn seiner Familie noch hat er einen Aufschub aufgrund einer Ausbildung oder ähnlichem erhalten.

Aus den Länderinformationen ergibt sich der verpflichtete Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren und dass im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit entsprechender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der BF2 als junger, männlicher Syrer von Seiten der syrischen Militärbehörde aufgefordert wird, den Militärdienst anzutreten bzw. sich bei der Rekrutierungsbehörde zu melden. Dort wäre er der Gefahr erheblicher Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.

Den Länderberichten zufolge sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren laut Gesetz dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen, sich somit bereits ersten Vorbereitungshandlungen für eine darauffolgende Rekrutierung zu unterziehen. Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert vergleiche römisch II.1.4.4.1.).

2.2.2. Im Falle einer Rückkehr besteht für den Zweitbeschwerdeführer die Gefahr, zum Militärdienst eingezogen zu werden.

Der BF2 ist aktuell römisch 40 Jahre alt und wird demnächst römisch 40 Jahre alt. Es besteht die maßgebliche Gefahr, dass er sich bei einer Rückkehr nach Syrien ersten Vorbereitungshandlungen für eine darauffolgende Rekrutierung unterziehen muss.

Der BF2 wurde in der mündlichen Verhandlung am 02.10.2023 zu seinen Fluchtgründen und zu der im Verfahren vorgebrachten drohenden Zwangsrekrutierung befragt vergleiche Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Dabei brachte er vor, er wolle nicht für das Militär kämpfen und würde eine Zwangsrekrutierung ablehnen. Der BF2 brachte in der Verhandlung glaubhaft zum Ausdruck, eine Beteiligung an den Kampfhandlungen sowohl auf Seiten des syrischen Regimes, als auch auf kurdischer Seite abzulehnen: „RI: Angenommen Sie müssten nach Syrien ausreisen. Würden Sie im Militär kämpfen? BF2: Nein, ich will das nicht. RI: Warum nicht? BF2: Wenn ich mit irgendeiner Partei mitkämpfe, dann müsste ich in diesem Fall meine Brüder und meine Mitbürger töten.“ (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Die Feststellung, dass es der BF2 ablehnt, den Wehrdienst in Syrien anzutreten, ergibt sich aus seinen dahingehend glaubhaften Angaben in der Verhandlung. Diese werden anhand seiner (seitens der belangten Behörde mangels Teilnahme an der mündlichen Verhandlung unwidersprochen gebliebenen) Angaben im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht getroffen. Er tat in der mündlichen Verhandlung am 02.10.2023 für den erkennenden Richter hinreichend klar dar, dass er aus eigener Motivation keine Waffe führen und andere Menschen umbringen will, weshalb er jegliche Beteiligung an Kampfhandlungen in Syrien generell ablehnt. In diesem Zusammenhang ist nach altersgerechter Würdigung vergleiche VwGH 11.08.2020, Ra 2020/14/0347) seiner – insoweit ausreichend substantiierten – Angaben festzustellen, dass der BF2 bereits eine Grundhaltung entwickelte, die ihn gegen den bewaffneten Kampf sowohl kurdischer als auch syrischer militärischer Organisationen stellt.

Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass im Falle einer Weigerung zu kämpfen, der BF2 zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden würde. Die Regierung betrachtet Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen vergleiche römisch II.1.4.4.3. Wehrdienstverweigerung / Desertion LIB).

Der BF2 hat seinen Wehrdienst in Syrien nicht abgeleistet. Er reiste mit seiner Familie im Alter von römisch 40 Jahren aus Syrien aus. Er hat keinen Einberufungsbefehl und kein Wehrbuch erhalten. Seit seiner Ausreise hielt der BF2 sich nicht mehr in Syrien auf. Für männliche syrische Staatsangehörige zwischen 18 und 42 Jahren ist die Ableistung des Wehrdienstes in Syrien gesetzlich verpflichtend. Der Beschwerdeführer hat durch seine Ausreise aus Syrien im Alter von römisch 40 Jahren und seinem Aufenthalt außerhalb von Syrien seither die Ableistung des Militärdienstes verweigert. Er wird bald das wehrdienstfähige Alter erreichen, hat den in Syrien gesetzlich verpflichtenden Wehrdienst noch nicht abgeleistet, würde bei einer Rückkehr nach Syrien Gefahr laufen, vorbereitende Handlungen zu durchlaufen um in weiterer Folge für den Wehrdienst eingezogen zu werden und würde bei seiner Weigerung, den gesetzlich verpflichtenden Wehrdienst abzuleisten, auf asylrelevante Weise verfolgt werden. Der Beschwerdeführer verließ Syrien mit seiner Familie im Jahr 2011 und stellte den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, unter anderem weil er nicht im Militär des syrischen Regimes kämpfen will und nicht am Krieg in Syrien beteiligt sein will. Er hat sich durch seine Ausreise seinem Militärdienst entzogen und würde bei einer Rückkehr als Regimegegner angesehen werden.

Bei einer Rückkehr besteht für den Zweitbeschwerdeführer ein erhebliches Risiko, wegen oppositioneller Gesinnung vom syrischen Regime verfolgt zu werden. Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der Zweitbeschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen ausgesetzt zu sein. Es besteht das reale Risiko, dass der Zweitbeschwerdeführer am Grenzübergang bzw. an den Flughäfen oder einem der Checkpoints verhaftet und dem Militärdienst der syrischen Armee zugeführt wird. Im Falle einer Rückkehr besteht somit für den Zweitbeschwerdeführer die reale Gefahr, durch das syrische Regime wegen der Ausreise und damit einhergehenden Wehrdienstverweigerung verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Die Regierung betrachtet Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens.

2.2.3. Aus den aktuellen Länderinformationen in Zusammenhang mit dem Alter und der persönlichen Situation des BF2 ergibt sich außerdem die Gefahr, dass er im Falle einer Rückkehr in die kurdisch kontrollierte Herkunftsprovinz Qamishli zum Militärdienst bei der YPG rekrutiert wird. Der Zweitbeschwerdeführer ist wie festgestellt minderjährig.

Die Feststellung, dass der BF2 in Syrien über keine nahen männlichen Familienangehörigen verfügt, ergibt sich daraus, dass glaubwürdig im Verfahren sowohl durch die BF1 als auch die BF6 vorgebracht wurde, dass gar keine Familienmitglieder mehr in Syrien leben vergleiche Seite 7, 8 und 12 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Die Feststellung, dass der BF2 einen Wehrdienst auch bei der YPG ablehnt ergibt sich aus seinen dahingehend glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung. Der BF2 brachte in der Verhandlung glaubhaft zum Ausdruck, eine Beteiligung an den Kampfhandlungen sowohl auf Seiten des syrischen Regimes, als auch auf kurdischer Seite abzulehnen (Seite 10 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

In der mündlichen Verhandlung am 02.10.2023 brachte die BF1 glaubhaft vor, sie sei mit ihren Kindern ausgereist, weil ihre zwei Söhne bereits groß gewachsen seien und die YPG sie gezwungen hätte mit ihnen zu kämpfen. Die BF1 brachte in der mündlichen Verhandlung vor, dass sie in Syrien mitbekommen habe, dass die YPG Kinder im Alter ab 12 Jahren rekrutiert habe, weshalb sie mit ihrem ältesten Sohn, der zum Ausreisezeitpunkt ca. römisch 40 Jahre alt gewesen sei und ihren weiteren Kindern das Land verlassen habe vergleiche Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Die Familie wolle sich nicht am Bürgerkrieg beteiligen. Die BF1 brachte glaubhaft vor, sie könne mit ihren Kindern nicht nach Syrien zurückkehren, weil ihr Sohn, der BF2 in diesem Fall bedroht wäre, sowohl von den Kurden als auch vom syrische Regime rekrutiert zu werden vergleiche Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Die geschilderten Befürchtungen sind auch in Anbetracht der Länderinformationen zum Herkunftsort der Beschwerdeführer, Qamishli, glaubhaft. Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD dominierte "Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien" 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsah, dass jede Familie einen "Freiwilligen" im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in den YPG dient. Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Wehrpflicht auf Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren (geboren 1998 oder später) beschränkt. Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen jährlich durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz vergleiche römisch II.1.4.4.5. Wehr- und Reservedienst in der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien).

Aus dem aktuellen Länderinformationsblatt zu Syrien ergibt sich bezüglich der Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen wie im Punkt 1.2.3. festgestellt, dass neben der Gefährdung durch sexualisierte Gewalt und Kampfhandlungen die Zwangsrekrutierung von Kindern im Syrienkonflikt durch verschiedenste Parteien ein zentrales Problem bleibt. Als Verantwortliche benennen die Vereinten Nationen insbesondere die Terrororganisation HTS, bewaffnete Gruppierungen der ehemaligen Free Syrian Army (FSA), die kurdische YPG/YPJ sowie in geringerem Maße regimenahe Milizen. Wie festgestellt liegen zur Herkunftsregion des BF2 Qamishli, in welche dieser zurückkehren müsste, konkrete Berichte über die Entführung und Rekrutierung minderjähriger Personen durch kurdische Milizen vor vergleiche römisch II.1.4.4.4.). Die Gefahr ist demnach sehr hoch, dass der minderjährige BF2, der bei einer Rückkehr ohne Familienangehörige auf sich alleine gestellt wäre, einer Entführung und Rekrutierung durch kurdische Milizen ausgesetzt wäre, zumal er mit seinem Alter von aktuell römisch 40 Jahren auch in diese Risikogruppe fällt (die genannten Berichte beinhalten die Rekrutierung von 15 Jährigen; vergleiche oben Punkt 1.2.3. sowie genauer unter Punkt römisch II.1.4.4.4.). Es gibt zahlreiche Berichte zur Rekrutierung Minderjähriger im kurdisch kontrollierten Nordosten Syriens und dem BF2 würde bei einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Zwangsrekrutierung drohen, zumal er ohne Familie zurückkehren würde, in seinem Herkunftsort Qamishli bereits Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen stattgefunden haben und sich der BF2 in einem Alter befindet, in dem die Zwangsrekrutierung zur kurdischen Miliz sehr wahrscheinlich ist. Aus der ACCORD Anfragebeantwortung zu Zwangsrekrutierung Minderjähriger (Konzentration auf 14-16-jährige, regionale Unterschiede) vom 31.01.2022 ergibt sich, dass die Gefahr der Rekrutierung des Minderjährigen BF2 in seiner kurdischen Herkunftsprovinz hoch ist vergleiche römisch II.1.4.8.2.). Auch aus der aktuellen ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Kindern und der Einsatz von Kindersoldatinnen in der Autonomieverwaltung von Nordostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) vom 12.10.2023 zeichnet sich ein ähnliches Bild ab.

Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln entsprechend dem Länderinformationsblatt im kurdischen Gebiet denen im von der Regierung kontrollierten Teil Syriens. Dabei kommt es zu Haftstrafen und das kurdische „Selbstverteidigungspflichtgesetz“ wird auch mit Gewalt durchgesetzt vergleiche römisch II.1.4.4.5.).

Insgesamt stellte sich das Vorbringen des BF2 betreffend die Verfolgung in Syrien aufgrund der Wehrpflicht sowohl durch das syrische Regime als auch durch die kurdischen Kräfte als widerspruchsfrei, nachvollziehbar und gleichlautend dar. So besteht für den Zweitbeschwerdeführer bei einer Rückkehr die Gefahr, zum Wehrdienst beim syrischen Regime einberufen zu werden, was er ablehnt. Der BF2, der bisher noch keinen Wehrdienst in Syrien abgeleistet hat, hat sich durch die Ausreise mit seiner Familie im Kindesalter einer aktuellen Einberufung entzogen und würde bei einer Rückkehr daher als Regimegegner angesehen werden. Er hat insgesamt glaubhaft vorgebracht, bei einer Rückkehr eine Bestrafung aufgrund seiner Ausreise und der damit verbundenen Verweigerung des Wehrdienstes zu befürchten. Der BF2 befindet sich aktuell in einem Alter (er wird bald römisch 40 Jahre alt) in der die Gefahr groß ist, dass er bald einer medizinischen Untersuchung unterzogen wird und sein Wehrbuch abholen muss und ihm in weiterer Folge Haft oder Bestrafung für seine Ausreise oder der unmittelbare Einzug zum Militärdienst droht.

Auch durch die kurdische Miliz, die in seinem Herkunftsort Qamishli die Macht hat, droht ihm Zwangsrekrutierung. Bei einer Rückkehr als Minderjähriger ohne weitere männliche Familienangehörige droht ihm eine unmittelbare Rekrutierung. Es gibt zahlreiche Berichte über die Rekrutierung von Kindern und jungen Erwachsenen im Alter des BF2 in seinem Herkunftsgebiet durch kurdische Kräfte, weshalb eine solche bei seiner Rückkehr sehr wahrscheinlich ist.

Es entstand bei dem erkennenden Richter nicht der Eindruck, es könnte sich bei der vorgebrachten Bedrohung aufgrund einer Einberufung um eine einstudierte Fluchtgeschichte handeln. Das Fluchtvorbringen des Zweitbeschwerdeführers war aus den soeben angestellten Erwägungen insgesamt ausreichend substantiiert und schlüssig und hat sich auch vor dem Hintergrund der in den Länderfeststellungen zu Syrien enthaltenen Ausführungen vergleiche römisch II.1.2.) als nachvollziehbar und plausibel erwiesen. Das Vorbringen des Zweitbeschwerdeführers über die aktuelle Bedrohung der Wehrdienstrekrutierung in seiner Herkunftsregion deckt sich auch mit den Länderinformationen zu Syrien vergleiche dazu genauer römisch II.1.4.2.1. und 1.4.4.5.).

Die getroffenen Feststellungen zur Bedrohung des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr ergeben sich somit aus dem glaubhaften und gleichlautenden Vorbringen des Zweitbeschwerdeführers in Übereinstimmung mit den aktuellen Länderinformationen (LIB Version 9 vom 17.07.2023) und der ACCORD Anfragebeantwortung zur Zwangsrekrutierung Minderjähriger (Konzentration auf 14-16-jährige, regionale Unterschiede) vom 31.01.2022. Der BF2 brachte über das Verfahren hinweg gleichlautend und glaubhaft vor, bei einer Rückkehr nach Syrien eine Einberufung zum Wehrdienst durch das syrische Regime und die kurdische YPG und aufgrund seiner Ausreise ohne abgeleisteten Wehrdienst Bestrafung zu befürchten.

Aus den Länderberichten ergibt sich, dass Personen bei ihrer Einreise an der Grenzübergangsstelle (Landgrenze, Flughafen) untersucht werden, um festzustellen, ob sie im Zusammenhang mit sicherheitsbezogenen Vorfällen (wie Straftaten, tatsächliche oder vermeintliche regierungsfeindliche Aktivitäten oder Ansichten, Kontakte zu politischen Oppositionellen im Ausland, Einberufung etc.) gesucht werden. Dabei wird gleichzeitig auch überprüft, ob Männer im wehrfähigen Alter ihren Wehrdienst bereits geleistet haben. Junge Männer werden den Länderberichten zufolge an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert, wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden vergleiche römisch II.1.4.4.1.).

Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime oder durch die kurdische YPG ausgesetzt zu sein. Denn es ergibt sich aus den Länderfeststellungen vergleiche oben römisch II.1.4.4.3.), dass dem Beschwerdeführer im Falle der Weigerung den Wehrdienst in der syrischen Armee abzuleisten, zumindest eine mit Folter verbundene Gefängnisstrafe droht. Neben anderen Personengruppen sind insbesondere auch Wehrdienstverweigerer bzw. Deserteure Ziel der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung der syrischen Regierung vergleiche römisch II.1.4.4.3.).

Somit ergibt sich die Feststellung, dass die mit der Ausreise des Beschwerdeführers verbundene Wehrdienstentziehung und Asylantragstellung in Österreich vom syrischen Regime als Ausdruck oppositioneller Gesinnung gesehen wird.

Entsprechend dem Länderinformationsblatt vergleiche oben Punkt römisch II.1.4.4.3.) war es bereits vor 2011 ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten Fall im Rahmen des Militärverratsgesetzes behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Wehrdienstentzug wird entsprechend der aktuellen Länderinformationen gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht. Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen. Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren. Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab. Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit wahrscheinlich zuerst verhaftet vergleiche römisch II.1.4.4.3.).

Die Bedrohung des BF2, zum Wehrdienst rekrutiert zu werden, geht in diesem Fall vom syrischen Regime, somit vom Staat selbst, aus. Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass es im syrischen Bürgerkrieg zu - durch staatliche Stellen zu verantwortende - Menschenrechtsverletzungen kommt. Mitglieder aller Konfliktparteien in Syrien haben schwere Verletzungen im Bereich Menschenrechte und humanitäres Recht begangen. Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023, landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (vgl.II.1.2.).

Auch von kurdischer Seite droht dem BF2 bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Qamishli, die unter der kurdischen Kontrolle liegt, eine Zwangsrekrutierung, zu welcher der junge BF2 bei einer Rückkehr als junger Mann ohne Familienangehörige in Syrien gedrängt wäre. Die Konsequenzen einer Weigerung ähneln jenen durch das syrische Regime.

Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der BF2 somit Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime und/oder durch die kurdische YPG ausgesetzt zu sein, weshalb die entsprechende Feststellung getroffen werden konnte.

Im Falle einer Rückkehr besteht für den Zweitbeschwerdeführer daher die Gefahr, insbesondere bereits bei seiner Einreise am Grenzkontrollposten wegen der Wehrdienstverweigerung sowie aufgrund der Ausreise verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz besteht für den Zweitbeschwerdeführer die Gefahr von der dort herrschenden kurdischen YPG rekrutiert zu werden.

In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass auch eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Syrien für den Zweitbeschwerdeführer nicht besteht, zumal die Annahme ebendieser bereits im Widerspruch zum vom Bundesamt gewährten subsidiären Schutz stünde.

2.3. Zu den Fluchtgründen der Sechstbeschwerdeführerin:

2.3.1. Die Feststellung zum Ehemann der BF6 ergibt sich aus den im Verfahren durchwegs gleichlautenden und glaubhaften Angaben der Sechstbeschwerdeführerin. Diese brachte bereits in der Erstbefragung vor, verheiratet zu sein (BF6 AS 1ff.). Am 11.11.2022 wurde die BF6 vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen und gab auch dabei bereits an, sie sei verheiratet und ihr namentlich genannter Ehemann lebe in der Türkei und arbeite dort als Hilfsarbeiter (BF6 AS 41). Die Feststellungen zur Familiensituation der BF6 und zu ihrem Ehemann ergeben sich somit aus ihren dahingehend übereinstimmenden und glaubhaften Angaben im Verfahren vergleiche BF6 AS 1ff, AS 41, Seite 10 und 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Die BF6 legte außerdem ihr Familienbuch bereits im Verfahren vor dem BFA vor (AS 47ff.). Entsprechend der Übersetzung des in der Verhandlung anwesenden Dolmetschers ergibt sich aus dem Familienbuch der BF6 sowohl die Identität des Ehemannes (AS 50) als auch das Datum der Eheschließung und der Registrierung der Ehe vergleiche Seite 5 im Familienbuch der BF6 = AS 50 sowie Übersetzung auf Seite 11 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Auch das Bundesamt traf übereinstimmende Feststellungen betreffend die Familiensituation der BF6 vergleiche BF6 AS 61, Seite 7 des angefochtenen Bescheides vom 29.04.2023).

Die BF6 brachte im Verfahren vor, sie sei gemeinsam mit ihrem Ehemann aus Syrien geflohen, da diesem eine Zwangsrekrutierung von Seiten des syrischen Regimes und von Seiten der kurdischen Milizen drohe (BF6 AS 258, Seite 2ff. der Beschwerde). Hierzu brachte sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vor, sie habe Syrien illegal im April 2022 verlassen und sich zuletzt in ihrem Herkunftsort Qamishli aufgehalten vergleiche Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Die BF6 brachte über das Verfahren hinweg, gleichbleibend und glaubhaft vor, dass sie bei einer Rückkehr befürchte sie verhaftet und zumindest einer mit Folter verbundenen mehrtägigen Anhaltung zugeführt zu werden, da sie illegal ausgereist sei, im Ausland einen Asylantrag gestellt habe und sich ihr Ehemann durch die Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen habe (BF6 AS 259, Seite 3 der Beschwerde). Es drohe ihr Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur Familie ihres Ehemannes (BF6 AS 261, Seite 5 der Beschwerde).

Die BF6 brachte im Verfahren vor, die belangte Behörde habe es verabsäumt sich mit der zumindest unterstellten oppositionellen Gesinnung aufgrund der Familienangehörigeneigenschaft auseinanderzusetzen (BF6 AS 260, Seite 4 der Beschwerde).

Die Sechstbeschwerdeführerin brachte diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung am 02.10.2023 glaubhaft vor, dass ihr Ehemann, der sich nun in der Türkei aufhält, Syrien aufgrund drohenden Wehrdienstes verlassen habe und nun für den Wehrdienst gesucht werde. „(…) mein Ehemann nicht zurückkehren kann, weil er für den Wehrdienst gesucht wird.“ (Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Die BF6 schilderte in der Verhandlung insgesamt glaubhaft und lebensnah warum sie Syrien mit ihrem Ehemann und ihrem Kleinkind verlassen habe. Ihr Mann sei sowohl vom syrischen Regime als auch von den Kurden gesucht worden. Im Falle einer Rückkehr würden sie als Verräter betrachtet werden vergleiche Seite 13 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Sie brachte glaubhaft vor, es seien bereits Mitglieder der Kurden als auch Mitglieder des syrischen Regimes zu ihnen nach Hause gekommen und hätten ihren Ehemann zwangsrekrutieren wollen: „BF6: Sie sind wegen meines Mannes gekommen und wollten ihn mitnehmen, deswegen sind wir ausgereist. R: Wer kam da zu Ihnen? BF6: Die Kurden. Sowohl die Kurden, als auch das syrische Regime wollten ihn rekrutierten, (…), deswegen sind wir ausgereist.“ (Seite 13 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Sie schilderte glaubhaft, es sei bereits zwei bis drei Mal versucht worden, den Ehemann zu rekrutieren. Dieser habe eine Rekrutierung aber abgelehnt und habe weder für die Kurden noch für das syrische Regime kämpfen wollen. Zudem wäre in solch einem Fall die BF6 und ihr Sohn alleine geblieben und sie hätte keinen Schutz mehr durch ihren Ehemann gehabt, weshalb sie gemeinsam das Land verlassen hätten vergleiche Seite 14 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Insgesamt brachte die BF6 im Verfahren glaubhaft und widerspruchsfrei vor, bei einer Rückkehr Verfolgung zu befürchten, weil ihr Ehemann zur Zwangsrekrutierung gesucht worden sei. Sie schilderte glaubhaft ihre Befürchtungen bei einer Rückkehr inhaftiert zu werden und, dass ihr Ehemann bei einer Rückkehr zum Wehrdienst eingezogen werde vergleiche Seite 14 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Dies ist dem Bundesamt entgegenzuhalten, dass im angefochtenen Bescheid nicht auf die Bedrohung der BF6 als Ehefrau eines Wehrdienstverweigerers einging, aber beweiswürdigend argumentierte, eine eigene politische Meinung, die über eine allgemeine Ablehnung und Unzufriedenheit mit dem Regime hinausgehe, sei in der Einvernahme nicht zu erkennen gewesen. Es könne daher eine oppositionelle Gesinnung nicht angenommen werden und eine solche werde auch vom syrischen Regime nicht unterstellt, zumal die BF6 am syrischen Regime auch keine öffentliche Kritik geübt habe (BF6 AS 63, Seite 9 des angefochtenen Bescheides). Das Bundesamt argumentiert im angefochtenen Bescheid, es bestünden keine Anhaltspunkte für eine „Reflexverfolgung der BF6 wegen ihrer (möglichen) Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familienangehörigen von vielleicht zukünftigen Wehrdienstverweigerern (betrifft die in Österreich bereits aufhältigen Brüder mit einem Alter zwischen 11 und 14 Jahren).“ (BF6 AS 64, Seite 10 des angefochtenen Bescheides). Das Bundesamt geht diesbezüglich nur auf eine Reflexverfolgung der BF6 aufgrund der Wehrdienstverweigerung ihrer zwei jüngeren Brüder ein und verabsäumt eine solche aufgrund der Ausreise und der damit einhergehenden Wehrdienstverweigerung des Ehemannes der BF6 zu prüfen. Diese wiegt noch schwerer, da die BF6 mit ihrem Ehemann gemeinsam, also mit einem Wehrdienstverweigerer zusammen, ausgereist ist. Im Falle der BF6 besteht die maßgebliche Gefahr einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familienangehörigen eines Wehrdienstverweigerers, da sie als Ehefrau ihres Ehemannes, der Syrien im wehrpflichtigen Alter verlassen hat, bei einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer Bestrafung und Inhaftierung bis hin zur Folter zu rechnen hat. Der Ehemann der BF6 ist aktuell römisch 40 Jahre alt und somit im wehrpflichtigen Alter. Er verließ Syrien im wehrpflichtigen Alter ohne den Wehrdienst abgeleistet zu haben und gilt somit als Wehrdienstverweigerer. Erschwerend tritt im Fall der BF6 hinzu, dass nicht nur ihr Ehemann, der sich aktuell in der Türkei aufhält, Syrien als Wehrdienstverweigerer verlassen hat. Auch ihr jüngerer Bruder, der BF2 hat, wie in diesem Erkenntnis festgestellt vergleiche dazu oben Punkt römisch II.1.2.) Syrien aufgrund drohender Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime sowie durch die kurdische YPG verlassen.

Die belangte Behörde verneinte im angefochtenen Bescheid eine Reflexverfolgung wegen der Zugehörigkeit der BF6 zur sozialen Gruppe der Familienangehörigen von Wehrdienstverweigerern. Dabei nennt die Behörde ausschließlich die unter 14-jährigen Brüder der BF6. Allerdings floh die BF6 gemeinsam mit ihrem Ehemann aus Syrien, da diesem eine Zwangsrekrutierung von Seiten des syrischen Regimes, wie auch von Seiten der kurdischen Milizen, drohte. Aus diesem Grund ist die Reflexverfolgung der BF6 wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familienangehörigen von Wehrdienstverweigerern im gegenständlichen Fall jedenfalls gegeben. Erschwerend tritt hinzu, dass wie geschildert auch ihr jüngerer Bruder bald sein römisch 40 Lebensjahr vollendet hat und aufgrund seiner Ausreise und Weigerung bei einer Rückkehr, den Wehrdienst und Vorbereitungshandlungen dafür anzutreten, als Wehrdienstverweigerer gilt.

Die Feststellung, dass der Sechstbeschwerdeführerin als Ehefrau eines Wehrdienstverweigerers im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung durch die syrischen Behörden droht, ergibt sich aus den oben getroffenen Länderfeststellungen. Aus diesen geht klar hervor, dass auch Familien von Kritikern des syrischen Regimes bzw. von Wehrdienstverweigerern mit Konsequenzen zu rechnen haben. Familienmitglieder können festgenommen werden, um den Regierungsgegner bzw. Deserteur dazu zu bringen, sich zu stellen. Es sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen Familienmitglieder wegen der als regierungsfeindlich wahrgenommenen Tätigkeit von Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden, auch wenn die als regierungsfeindlich wahrgenommenen Personen ins Ausland geflüchtet waren vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3. und 1.4.7.).

Den Länderfeststellungen ist in diesem Zusammenhang zu entnehmen, dass aufgrund der besonderen Situation in Syrien die Schwelle dafür, von Seiten des syrischen Regimes als „oppositionell“ betrachtet zu werden, relativ niedrig ist und vor allem Personen einer oppositionellen Gesinnung bzw. einer Regimegegnerschaft verdächtigt werden, die während des staatlichen Ausnahmezustandes ihre Heimat verlassen und im Ausland einen Asylantrag gestellt haben. Auch ergibt sich aus den Länderfeststellungen, dass eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts der Umstand ist, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, eine politische Meinung unterstellen.

Vor allem ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass es für eine Bedrohung oder Verfolgung durch das syrische Regime nicht (unbedingt) darauf ankommt, ob eine behördliche Suche bereits vor der Ausreise stattgefunden hat oder ob die Ausreise legal erfolgen konnte, sondern vielmehr darauf, mit welcher Wahrscheinlichkeit von einer behördlichen Verfolgung im Falle einer Rückkehr/Wiedereinreise in den Herkunftsstaat auszugehen ist, was anhand der Situation im Herkunftsstaat und anhand des Profils der betroffenen Person zu beurteilen ist vergleiche römisch II.1.4.3. und 1.4.7.). Insgesamt ist die Gefährdung der BF6 aufgrund ihrer Eigenschaft als Ehefrau eines Wehrdienstverweigerers und ihrer gemeinsamen Ausreise mit diesem, für sich alleine ausreichend, die Flüchtlingseigenschaft der BF6 zu begründen. Die Rückkehrbefürchtung der BF6 stellt sich vor dem Hintergrund der dem gegenständlichen Verfahren zugrunde gelegten Länderfeststellungen daher insgesamt als plausibel dar vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3. und 1.4.7.).

Im Falle einer Rückkehr besteht für die BF6 die Gefahr, am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen ihrer illegalen Ausreise und ihrer Familienzugehörigkeit zu einem Wehrdienstverweigerer verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre.

Vor dem Hintergrund der vorliegenden Länderberichte besteht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die reale Gefahr, dass die Sechstbeschwerdeführerin als nahe Angehörige bei einer möglichen Rückkehr in die Heimat in das Blickfeld der syrischen Behörden gerät und ihr in weiterer Folge asylrelevante Verfolgung droht. Festgestellt wurde daher, dass der BF6 in Syrien bei einer Rückkehr die reale Gefahr droht, wegen ihrer illegalen Ausreise und Familienzugehörigkeit von der syrischen Regierung aufgrund von unterstellter oppositioneller Gesinnung verfolgt zu werden vergleiche römisch II.1.4.2., 1.4.3., 1.4.4.3. und 1.4.7.).

2.3.2. Die BF6 brachte im Verfahren auch vor, sie befürchte eine Rückkehr nach Syrien als alleinstehende Frau, die sie in eine äußerst verletzliche Situation bringen würde. Sie schilderte in der mündlichen Verhandlung glaubhaft, sie befürchte bei einer Rückkehr Gewalt und Misshandlung durch das syrische Regime ausgesetzt zu sein vergleiche Seite 13 und 14 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Die Feststellung, dass die BF6 bei einer Rückkehr als alleinstehende junge Frau anzusehen ist, da sich ihre Kernfamilie im Ausland befindet, ergibt sich daraus, dass sowohl die BF1 als auch die BF6 im Verfahren glaubhaft vorgebracht haben, dass mittlerweile die gesamte Familie aus Syrien ausgereist sei vergleiche Seite 13 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Zunächst sei noch der Vater der BF6 in Syrien mit seiner neuen Ehefrau und seinen zwei weiteren Töchtern verblieben (BF6 AS 41). Aber auch dieser sei mittlerweile ausgereist und befinde sich in der Türkei. Dass die Beschwerdeführer über keine Familienangehörige in Syrien verfügen, ergibt sich somit aus den diesbezüglichen glaubhaften Angaben der BF1 in der Verhandlung vergleiche Seite 7 und 8 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023) in Übereinstimmung mit den glaubhaften Angaben der BF6 im Verfahren (BF6 AS 41) und in der Verhandlung vergleiche Seite 12 und 13 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Die BF6 brachte in der mündlichen Verhandlung auch glaubhaft vor, dass sich ihr Ehemann nicht mehr in Syrien, sondern in der Türkei aufhält vergleiche Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Die BF6 brachte somit insgesamt glaubhaft vor, dass sie bei einer Rückkehr nach Syrien als alleinstehende junge Frau zurückkehren müsste:

„RI: Angenommen Sie müssten nach Syrien zurückkehren. Wo würden Sie wohnen? BF6: Ich habe niemanden dort, bei dem ich wohnen kann. Meine Eltern und meine Familie sind nicht mehr dort. R: In welcher Region in Syrien würden Sie versuchen, sich ein Leben aufzubauen? BF6: Ich kann nicht zurückkehren, weil ich keine Familienmitglieder habe. Ich habe keine Bleibe dort. Ich wäre alleine dort auf mich gestellt, weil meine Eltern nicht mehr dort sind und mein Ehemann nicht zurückkehren kann, weil er für den Wehrdienst gesucht wird.“ (Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Am 11.11.2022 wurde die BF6 vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen und gab dabei an, sie habe in Syrien nicht bei den Schwiegereltern leben können, da diese sehr konservativ seien und mit ihrem Aussehen nicht einverstanden wären (BF6 AS 43). Sie sei auch von den Schwiegereltern geschlagen worden (BF6 AS 43). Die BF6 brachte im Verfahren gleichlautend vor, dass sie auch vor der körperlichen Gewalt und Unterdrückung durch die Familie ihres Ehemanns geflüchtet sei (BF6 AS 259, Seite 3 der Beschwerde). Auch in der Beschwerde brachte die BF6 übereinstimmend vor, sie habe nach der Heirat mit ihrem Ehemann im Haushalt ihrer Schwiegereltern gelebt und sie sei dort sowohl von den Schwiegereltern als auch vom Ehemann geschlagen und misshandelt worden, da sie sich geweigert habe eine Burka zu tragen (BF6 AS 258, Seite 2ff. der Beschwerde). Der BF6 ist somit auch keine Rückkehr zu ihren Schwiegereltern zuzumuten.

Hier ist darauf zu verweisen, dass entsprechend der Länderinformationen häusliche Gewalt in Syrien von Sicherheitskräften als eine private und nicht als kriminelle Angelegenheit angesehen wird. Auch das Gesetz verbietet häusliche Gewalt nicht. Den Berichten zufolge sind Gewalt und Missbrauch so weit verbreitet und unkontrolliert geworden, dass sie für viele Frauen und Mädchen zur Normalität und geworden sind. Im Allgemeinen ist eine von fünf Frauen in Syrien heutzutage von sexueller Gewalt betroffen vergleiche römisch II.1.4.5.1.1.).

Die Feststellungen zur Situation für alleinstehende Frauen in Syrien ergeben sich aus dem aktuellen Länderinformationsblatt vergleiche römisch II.1.4.5.1.). Aus diesem ergibt sich, dass alleinstehende Frauen in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung vergleiche römisch II.1.4.5.1.2.). Mehr als ein Jahrzehnt des Konflikts in Syrien hat ein Klima geschaffen, das der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zuträglich ist, besonders angesichts der sich verfestigenden patriarchalischen Gesellschaftsformen, der Fortschritte bei den Frauenrechten zunichtemachte vergleiche römisch II.1.4.5.1.1.).

Die BF6 gab im Verfahren gleichlautend und glaubhaft an, dass sie in Syrien zwar ca. vier Jahre lang die Schule besucht habe, jedoch keinen Beruf erlernt oder ausgeübt habe. Sie gab zudem an, nicht so gut lesen und schreiben zu können vergleiche AS 41 und Seite 12 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). Sie müsste daher bei einer Rückkehr nach Syrien, ohne familiäres Unterstützungsnetzwerk, im derzeitigen Alter von römisch 40 Jahren und mit einem Kleinkind im Alter von römisch 40 Jahren, für welches sie verantwortlich ist, ohne Berufsausbildung für ihren Lebensunterhalt und den ihres Kindes sorgen. Durch den anhaltenden Konflikt und die damit einhergehende Instabilität sowie die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation hat sich die Situation der Frauen zunehmend erschwert. Geschlechtsbasierte Gewalt hat zugenommen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht einschließlich Ausbeutung bei der Arbeit wie auch Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit vergleiche römisch II.1.4.5.1.2.).

Dies ist dem Bundesamt entgegenzuhalten, das im angefochtenen Bescheid beweiswürdigend argumentiert, es bestehe gegenüber der BF6 kein Risiko der Verfolgung aufgrund ihrer Eigenschaft als Frau, die verheiratet und nicht alleinstehend sei. Eine derartige Gefährdungslage sei nach den aktuellen Länderberichten mangels Risikoprofils in ihrem Herkunftsgebiet, welches unter Kontrolle der Kurden stehe, nicht ersichtlich (BF6 AS 64, Seite 10 des angefochtenen Bescheides).

Bei dieser Argumentation geht das BFA davon aus, dass die BF6 verheiratet sei und bis zu ihrer Ausreise Ende 2021 unbehelligt als Frau in Syrien gelebt habe. Sie habe eine große Familie und ihr Vater lebe mit seiner Zweitfrau weiterhin in Syrien (BF6 AS 64, Seite 10 des angefochtenen Bescheides). Tatsächlich hat die BF6, wie festgestellt, aber keine Familienangehörigen mehr in Syrien. Sowohl ihr Ehemann als auch ihr Vater und dessen Zweitfrau haben Syrien verlassen und leben in der Türkei. Eine Rückkehr zu den Schwiegereltern kann der BF6 aufgrund der ihr dort drohender Misshandlungen nicht zugemutet werden. Bei einer Rückkehr hätte die BF6 keinen Schutz durch eine Familie, sondern müsste zwar als verheiratete Frau, aber ohne ihren Mann der sich in der Türkei aufhält und aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung nicht nach Syrien zurückkehren kann, als alleinstehende junge Frau mit ihrem römisch 40 Sohn zurückkehren. Dabei wäre sie als junge alleinstehende Frau mit Kleinkind einem enormen Risiko der Gewalt ausgesetzt.

Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass der BF6 in ihrer individuellen Situation auch im kurdischen Herkunftsgebiet Gefahr als junge, alleinstehende Frau und Mutter droht. Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic hat in ihren Berichten wiederholt festgestellt, dass praktisch alle Konfliktparteien in Syrien geschlechtsbezogene und/oder sexualisierte Gewalt anwenden, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen vergleiche römisch II.1.4.5.1.3.).

Entsprechend der aktuellen Länderinformationen ergibt sich für die BF6 auch in ihrem kurdischen Herkunftsgebiet eine Bedrohung als junge alleinstehende Frau und Mutter eines Kleinkindes. In der (selbstproklamierten) Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES - Autonomous Administration of North and East Syria) erleben kurdische Frauen liberalere kulturelle Normen in den kurdischen Gemeinschaften, was durch die politischen Parteien gefördert wird. Allerdings ist die jeweilige Lage der Frauen Großteiles von ihren Familien und deren Einstellungen abhängig, sodass in religiöseren oder traditionelleren kurdischen Gemeinschaften auch mehr traditionelle gesellschaftliche Normen gelten. Beispiele für vulnerable Frauen wären z. B. kurdische Frauen in den kurdischen Gebieten, die gegen die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) eingestellt sind vergleiche römisch II.1.4.5.1.4.). Da die BF6 mit ihrem Ehemann ausgereist ist, der einen Wehrdienst für die kurdische YPG verweigert hat und auch der jüngere Bruder der BF6 (der BF2) einen Militärdienst für die kurdische YPG umgangen hat, kann der BF6 durch die kurdische Partei leicht eine oppositionelle Gesinnung ihnen gegenüber unterstellt werden. Der Nordosten Syriens wird im Allgemeinen immer noch als ländliche und stammesgebundene Gesellschaft angesehen, in der die Rolle der Frauen auf die Arbeit im Haus oder innerhalb von Verwaltungseinrichtungen beschränkt ist. In Gebieten mit arabischer Mehrheitsbevölkerung, die als konservativer gelten und wo Stammesstrukturen noch stark verwurzelt sind, ist es für die kurdischen Behörden schwerer, Gleichberechtigungsmaßnahmen ohne Widerstand durchzusetzen. Im kurdischen Herkunftsgebiet der BF6 geht die Gefahr ihr gegenüber bei einer Rückkehr vor allem von der dort lebenden Gesellschaft aus, die trotz der für Frauenrechte werbenden kurdischen Partei, nach wie vor eher traditionell konservativ gestimmt ist. Generell wurde geschlechtsspezifische Gewalt, wie sexuelle Gewalt, häusliche und familiäre Gewalt, Kinderehen und Ehrenmorde, aus allen Teilen Syriens gemeldet, auch aus den von den SDF kontrollierten Regionen vergleiche römisch II.1.4.5.1.4.).

Zudem besteht das Risiko einer Zwangsrekrutierung der jungen BF6 durch die kurdischen Frauenverteidigungseinheiten im kurdisch kontrollierten Herkunftsgebiet. Diese Zwangsrekrutierung wird durch die fehlende familiäre Unterstützung bei einer Rückkehr verstärkt, da der BF6 gar keine andere Möglichkeit bliebe, als jede Art der Tätigkeit anzunehmen, die ihre eigene Versorgung und die ihres Sohnes gewährleisten würde. Die BF6 brachte im Verfahren glaubhaft vor, es habe nicht nur ihrem Ehemann, sondern auch ihrem Bruder und ihr selber eine Zwangsrekrutierung durch die Kurden gedroht, weshalb sie geheiratet habe um sich davor zu schützen vergleiche Seite 14 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023). In der mündlichen Verhandlung am 02.10.2023 brachte die Mutter der BF6, die BF1, glaubhaft vor, sie sei mit ihren Kindern ausgereist, da sich die Familie nicht am Bürgerkrieg in Syrien beteiligen wolle. Zum Schutz ihrer Tochter, der BF6, habe diese ca. fünf Monate vor der Ausreise der BF1 geheiratet vergleiche Seite 9 des Verhandlungsprotokolls vom 02.10.2023).

Dieses Vorbringen stimmt auch mit den Länderinformationen überein, wonach sich in Syrien in den letzten Jahren ein sinkendes Heiratsalter von Mädchen beobachten lässt, weil erst eine Heirat ihnen die verloren gegangene, aber notwendige rechtliche Legitimität und einen sozialen Status, d. h. den 'Schutz' eines Mannes, zurückgibt vergleiche römisch II.1.4.5.1.1. Frauen Allgemeine Informationen LIB).

Es ergibt sich bereits aus den Länderinformationen, auf die sich das BFA im angefochtenen Bescheid stützt, dass es Berichte von Zwangsrekrutierungen von Frauen und minderjährigen Mädchen gibt vergleiche römisch II.1.4.4.5.).

Die BF6 stammt aus einem Gebiet unter kurdischer Kontrolle, weshalb ihr auch aus diesem Grund durch das syrische Regime oppositionelle Gesinnung zumindest unterstellt werden könnte und sie auch aus diesem Grund, bei einer Rückkehr als alleinstehende Frau mit einem Kleinkind erhöhter Gewalt und sexuellem Missbrauch durch das syrische Regime ausgesetzt wäre. Hierbei ist auf die festgestellte Bedrohung für Frauen ausgehend vom syrischen Regime zu verweisen, wonach alleinstehende Frauen in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind. Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen vergleiche römisch II.1.4.5.1.3.). Amnesty International und Human Rights Watch berichten immer wieder über Vergewaltigungen, Folter und systematische Gewalt gegen Frauen und Mädchen, insbesondere von Seiten des syrischen Militärs und affiliierter Gruppen unter anderem an Grenzübergängen, bei Militärkontrollen und in Haftanstalten vergleiche römisch II.1.4.5.1.3.).

Insgesamt ergibt sich daraus, dass der BF6 bei einer Rückkehr Gefahr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Syrien droht. Zu beachten ist hierbei, dass die BF6 als junge, alleinstehende Mutter eines Kleinkindes und als Rückkehrerin sowie als Familienangehörige von Wehrdienstverweigerern als besonders vulnerable Person anzusehen wäre.

2.4. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen vergleiche oben römisch II.1.2.), insbesondere auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, aus dem Country of Origin - Content Management System (COI-CMS) – Syrien, Version 9 vom 17.07.2023 und der ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung Minderjähriger (Konzentration auf 14-16-jährige, regionale Unterschiede) vom 31.01.2022. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung:

Die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes vom 03.02.2022 betreffend die BF1 bis BF5 wurden der BF1 (sowohl ihr selbst und auch als gesetzliche Vertreterin der BF2 bis BF5) am 16.02.2023 zugestellt. Die am 07.03.2022 erhobene Beschwerde der BF1 bis BF5 ist damit rechtzeitig und zulässig. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 29.04.2023 betreffend die BF6 wurde dieser am 15.05.2023 zugestellt. Die am 07.06.2023 erhobene Beschwerde der BF6 ist damit rechtzeitig und zulässig.

3.1. Zu römisch eins. A) Stattgabe der Beschwerde:

3.1.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).

Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG 2005) gesetzt hat.

Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrages auf internationalen Schutz der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Flüchtling ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001; 28.03.2023, Ra 2023/20/0027).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt auch einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren vergleiche VwGH 10.04.2020, Ra 2019/19/0415, mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof hat auch ausgesprochen, dass die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden grundsätzlich daran zu messen ist, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben vergleiche VwGH 14.04.2021, Ra 2020/18/0126, mwN).

Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen vergleiche Artikel 9, Absatz eins, der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen vergleiche VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).

Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist nach Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht vergleiche VwGH 02.02.2023, Ro 2022/18/0002, mwN). Für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft letzterenfalls kommt es nicht bloß auf die tatsächliche politische Gesinnung an, auch die seitens der Verfolger dem Asylwerber unterstellte politische Gesinnung ist asylrechtlich relevant vergleiche dazu nochmals VwGH Ra 2023/20/0027, mwN). Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht vergleiche VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).

Für die Asylgewährung kommt es weiters auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste vergleiche etwa VwGH 07.03.2023, Ra 2022/18/0284, mwN). Relevant kann also nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der „Asylentscheidung“ immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche VwGH 19.10.2000, 98/20/0233, mwN; sowie unter Hinweis auf diese Entscheidung VfGH 27.02.2023, E 3307/2022).

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (zB VwGH 24.03.1999, 98/01/0352 mwN; 15.03.2001, 99/20/0036). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwSlg. 16.482 A/2004). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „internen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwSlg. 16.482 A/2004) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, 29.03.2001, 2000/20/0539; 17.03.2009, 2007/19/0459).

Die Bestimmung der Heimatregion des Asylwerbers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht und ob ihm – sollte dies der Fall sein – im Herkunftsstaat außerhalb der Heimatregion eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht vergleiche VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442, mwN).

Zur Bestimmung der Heimatregion kommt der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat. In Fällen, in denen ein Asylwerber nicht auf Grund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang auf Grund einer Vertreibung seinen dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hat und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnte (Zustand innerer Vertreibung), ist der ursprüngliche Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen vergleiche etwa VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192, mwN; 25.08.2022, Ra 2021/19/0442; 09.03.2023, Ra 2022/19/0317). Zur Beantwortung der Frage, wo sich die Heimatregion des Asylwerbers befindet, bedarf es somit einer Auseinandersetzung damit, welche Bindungen der Asylwerber zu den in Betracht kommenden Ortschaften – etwa in Hinblick auf familiäre und sonstige soziale Kontakte und örtliche Kenntnisse – aufweist vergleiche erneut VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192).

Der VwGH hat in seiner Entscheidung vom 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, betreffend die Erreichbarkeit festgelegt, dass die Verfolgungsgefahr in Bezug auf den Herkunftsstaat zu prüfen ist und der Rechtslage keine Einschränkung auf eine Region innerhalb des Herkunftsstaates zu entnehmen ist (Rz 14). Es ist gemäß Paragraph 3, AsylG 2005 einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat vergleiche Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 17, AsylG 2005) Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht. Die für die Asylgewährung erforderliche Verfolgungsgefahr ist daher in Bezug auf den Herkunftsstaat des Asylwerbers oder der Asylwerberin zu prüfen vergleiche dazu etwa VwGH 2.2.2023, Ra 2022/18/0266, mwN). Auch Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK und die Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) stellen auf das Herkunftsland vergleiche etwa Artikel 2, Litera n, Statusrichtlinie) des Asylwerbers oder der Asylwerberin ab und prüfen die Asylberechtigung hinsichtlich dieses Landes. Eine Einschränkung der Prüfung der Gewährung von Asyl auf die Herkunftsregion des Asylwerbers oder der Asylwerberin innerhalb des Herkunftsstaates ist dieser Rechtslage nicht zu entnehmen vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 14). Der VwGH hat klargestellt, dass sich die Rechtsansicht, es komme auf die (behauptete) Verfolgung aus asylrelevanten Gründen schon beim Grenzübertritt nicht an, als rechtlich unzutreffend erweist (Rz 25). Der VwGH stellte vielmehr fest, dass sich keinem der bisherigen höchstgerichtlichen Beschlüsse die Aussage entnehmen lässt, dass eine (asylrelevante) Verfolgungsbehauptung im Herkunftsstaat (wonach der Revisionswerber beim Grenzübertritt Verfolgung durch die syrischen Behörden zu erwarten hätte, ehe er überhaupt in seine Herkunftsregion gelangen werde), ungeprüft bleiben dürfe vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 23).

Diesbezüglich hat auch der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 29.06.2023, E 3450/2022-16, ausgeführt, dass zu prüfen ist, ob die Herkunftsregion für den Beschwerdeführer erreichbar ist, ohne dass ihm am Weg dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung iSd Paragraph 3, AsylG 2005 droht. Entsprechend dem VfGH muss durch das BVwG überprüft werden, ob der Beschwerdeführer in die Herkunftsregion gelangen kann, ohne festgestellter, asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt zu sein vergleiche VfGH vom 05.10.2023, E 872/2023, Rz 4 sowie VfGH 05.10.2023, E 1178/2023-14). Wenn das Bundesverwaltungsgericht nur prüft, ob einem Beschwerdeführer in seiner Herkunftsregion, Verfolgung droht, jedoch die Frage außer Acht lässt, ob dem Beschwerdeführer ein Weg in diese Region offensteht, auf dem er nicht der Gefahr läuft, einer Verfolgung iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK ausgesetzt zu sein, belastet es sein Erkenntnis mit Willkür vergleiche hinsichtlich der auf den Herkunftsstaat bezogenen Prüfung auch VwGH 4.7.2023, Ra 2023/18/0108).

Aufgrund der oben dargestellten Erwägungen ist es den Beschwerdeführern gelungen, eine drohende Verfolgung im Herkunftsstaat glaubhaft zu machen.

3.1.2. Zur Verfolgung des Zweitbeschwerdeführers:

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt vor dem Hintergrund der oben festgestellten Berichtslage zur Situation in Syrien, dass der BF2 Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist. Der im Beschwerdefall festgestellte Sachverhalt lässt erkennen, dass die behauptete Furcht des BF2 begründet ist.

Im gegenständlichen Fall handelt es sich bei der gegenüber dem BF2 bestehenden Verfolgungsgefahr um eine solche aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung.

In der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes wird ausgeführt, dass drohende Bestrafung wegen der Weigerung der Teilnahme an einem von der Völkergemeinschaft verurteilten Kriegseinsatz dann zur Asylgewährung führen könne, wenn dem jeweiligen Asylwerber eine feindliche politische Gesinnung unterstellt werde (siehe etwa VwGH 21.12.2000, 2000/01/0072). Der Verwaltungsgerichtshof vertritt darüber hinaus ausdrücklich die Auffassung, dass unter dem Gesichtspunkt des Zwangs zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen – etwa gegen die Zivilbevölkerung – auch eine bloße Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung darstellen kann (VwGH 25.03.2003, 2001/01/0009). Dies ist auch in Artikel 9, Absatz 2, Litera e, der Richtlinie 2011/95/EU ausdrücklich festgehalten. Daher wäre eine (drohende) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 der genannten Richtlinie fallen, eine (drohende) asylrelevante Verfolgung.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen. Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa der Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt vergleiche VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, Rn. 19, mwN). Würde der Wehrdienst dazu zwingen, an völkerrechtswidrigen Militäraktionen teilzunehmen, kann auch schon eine Bestrafung mit einer „bloßen“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274).

Ist Letzteres der Fall, so kann dies aber auch auf der - generellen - Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung beruhen, womit unabhängig von einer der Wehrdienstverweigerung bzw. Desertion im konkreten Fall wirklich zugrundeliegenden religiösen oder politischen Überzeugung der erforderliche Zusammenhang zu einem Konventionsgrund gegeben wäre vergleiche VwGH 14.09.2016, Ra 2016/18/0085; 14.12.2004, 2001/20/0692).

Wie der VwGH kürzlich erneut festlegte vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 28), kommen alle Verfolgungshandlungen gegen Wehrdienstverweigerer - im Lichte des Unionsrechts - insbesondere solche nach Artikel 9, Absatz 2, Litera b,, c und e Statusrichtlinie in Betracht, also etwa eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung des Wehrdienstverweigerers (Artikel 9, Absatz 2, Litera c,) oder eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikel 12, Absatz 2, fallen (Artikel 9, Absatz 2, Litera e,); Letzteres betrifft u.a. Fälle, in denen der Militärdienst die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich solcher, in denen der Asylwerber nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde (EuGH 26.2.2015, C-472/13, Rs. Shepherd). Hätte der Wehrpflichtige seinen Militärdienst im Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs abzuleisten, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Artikel 12, Absatz 2, Statusrichtlinie durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, so besteht nach den Ausführungen des EuGH eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem - allenfalls noch nicht bekannten - Einsatzgebiet dazu veranlasst sein würde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung der betreffenden Verbrechen teilzunehmen (EuGH 19.11.2020, C-238/19, Rs. EZ).

Selbst die Bejahung von Verfolgungshandlungen der geschilderten Art erübrigt es nicht, das Bestehen einer Verknüpfung zwischen (zumindest) einem der in Artikel 10, Statusrichtlinie bzw. Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Verfolgungsgründe und den Verfolgungshandlungen individuell zu prüfen. Wie der EuGH bereits klargestellt hat, ist die Verweigerung des Militärdienstes in vielen Fällen Ausdruck politischer Überzeugungen (sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zur Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehen), religiöser Überzeugungen oder sie hat ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. In diesen Konstellationen können die Verfolgungshandlungen aufgrund der Verweigerung des Wehrdienstes den einschlägigen Verfolgungsgründen zugeordnet werden vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 29f.).

In diesem Sinne hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass die (bloße) Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrelevante Verfolgung darstellt, sondern nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen kann vergleiche VwGH am 04.07.2023, Ra 2023/18/0108 Rz 32, VwGH 7.1.2021, Ra 2020/18/0491, mwN).

Die Plausibilität der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ist nach Auffassung des EuGH von den zuständigen nationalen Behörden in Anbetracht sämtlicher vom Asylwerber (oder der Asylwerberin) vorgetragenen Anhaltspunkte zu prüfen. Dabei spricht zwar eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Artikel 9, Absatz 2, Litera e, Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Artikel 10, Statusrichtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Dies entbindet die Asylbehörde bzw. das nachprüfende BVwG aber nicht von der erforderlichen Plausibilitätsprüfung (EuGH Rs. EZ vergleiche dazu auch jüngst deutsches BVerwG, 19.1.2023, 1 C 22.21, u.a. Rn. 48 ff).

3.1.2.1. Rekrutierung durch das syrische Regime:

Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien kann nicht ausgeschlossen werden, dass der BF2 im Falle seiner Rückkehr nach Syrien asylrelevanter Verfolgungsgefahr durch staatliche Stellen ausgesetzt wäre. Es ist davon auszugehen, dass er im Falle einer Rückkehr an Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einberufung zum Wehrdienst teilnehmen muss, ins Blickfeld der syrischen Behörden geraten wird und zum Wehrdienst eingezogen werden wird.

In Syrien besteht ein verpflichteter Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Der BF2 war zum Ausreisezeitpunkt mit ca. römisch 40 Jahren noch nicht im wehrpflichtigen Alter. Der BF2 ist im gegenständlichen Zeitraum römisch 40 Jahre alt, und er erreicht demnächst das Alter von römisch 40 Jahren. Der noch minderjährige BF2 hat seinen Wehrdienst somit noch nicht abgeleistet und ist von diesem nicht befreit. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien ist mit entsprechender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er als junger, männlicher Syrer von Seiten der syrischen Militärbehörde aufgefordert wird, den Militärdienst anzutreten bzw. sich bei der Rekrutierungsbehörde zu melden, wo er der Gefahr erheblicher Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre. Den Länderberichten zufolge sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren laut Gesetz dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen.

Im Falle einer Rückkehr besteht für den BF2 die Gefahr, zum Militärdienst eingezogen zu werden. Der BF2 lehnt es ab den Wehrdienst anzutreten. Im Falle einer Weigerung würde er zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden. Die Regierung betrachtet Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen.

Im vorliegenden Fall hat sich der BF2 durch die Ausreise aus Syrien mit seiner Familie im Kindesalter seinem jetzt aktuell drohenden Militärdienst entzogen und würde daher bei einer Rückkehr als Regimegegner angesehen werden. Er lehnt einen Militärdienst bei der syrischen Armee ab und vertritt eine politische Gesinnung, die in Opposition zum aktuellen syrischen Machthaber steht. Aktuell besteht bei einer Rückkehr aufgrund des Alters des Beschwerdeführers von römisch 40 , bald römisch 40 Jahren die sehr wahrscheinliche Gefahr, dass er zum Wehrdienst des syrischen Regimes einberufen wird, was er ablehnt. Es besteht fallgegenständlich somit der vom VwGH geforderte Konnex der Verfolgungshandlung mit einem der fünf in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Konventionsgründe, da die Wehrdienstverweigerung der Ausdruck der politischen Gesinnung des BF2 ist und ihm aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung eine oppositionelle Gesinnung zumindest unterstellt werden würde vergleiche VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rz 27).

Damit liegt im Hinblick auf die dem Beschwerdeführer zukünftig drohende Bestrafung wegen "Wehrdienstverweigerung" als (drohender) Eingriff von erheblicher Intensität eine asylrelevante Verfolgung vor, weil die Bestrafung in Zusammenhang mit einem Konventionsgrund, nämlich mit dem der (zumindest unterstellten) "politischen Gesinnung", steht.

Für den BF2 besteht im Falle einer Rückkehr aufgrund seiner Ausreise und der damit verbundenen Verweigerung des Militärdienstes asylrelevante Verfolgungsgefahr, weil er sich durch seine Ausreise dem syrischen Militärdienst, in dessen Rahmen er zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen (wie Angriffen auf die Zivilbevölkerung) gezwungen und bei Weigerung mit Haft und Folter bedroht werden würde, entzogen hat und somit als politischer Gegner des syrischen Regimes angesehen werden würde.

Zudem erfüllt der Beschwerdeführer auch ein ausdrückliches Risikoprofil (Wehrpflichtverweigerer und daraus resultierende unterstellte Gesinnung) der Erwägungen des UNHCR zum Schutzbedarf von Personen, die aus Syrien fliehen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt den Richtlinien von UNHCR Indizwirkung zu bzw. ist ihnen besondere Beachtung zu schenken vergleiche vergleiche VwGH 01.02.2022, Ra 2021/19/0056, Rn. 13, VwGH 05.03.2020, Ra 2018/19/0686; VwGH 13.02.2020, Ra 2019/19/0278). Der BF2 erfüllt auch ein zweites Risikoprofil, nämlich jenes von Zivilpersonen (insbesondere Männer und Jungen im kampffähigen Alter) aus derzeit oder ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten. Das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers, die Stadt Qamishli in der Provinz Al-Hassaka, befindet sich unter kurdischer Kontrolle.

Der BF2 lehnt einen Militärdienst bei der syrischen Armee klar ab. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ihm aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung, seiner Herkunft aus einem von der Opposition kontrollierten Gebiet und seiner Ausreise und Asylantragstellung im Ausland, eine oppositionelle politische Gesinnung durch die syrische Regierung zumindest unterstellt wird. Es besteht die konkrete Gefahr, dass der BF2 bei einer Rückkehr, aufgrund seines Alters von römisch 40 Jahren bald zu Vorbereitungen im Zusammenhang mit dem verpflichtenden Wehrdienst gezwungen und in weiterer Folge zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen wird, was er ablehnt. Es kann somit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der BF2 im Falle seiner Rückkehr und Einreise nach Syrien nicht dem Wehrdienst zugeführt werden würde vergleiche dazu oben römisch II.2.2.). Beachtlich ist dabei auch die Rechtsprechung des VwGH vergleiche VwGH 19.06.2019, Ra 2018/18/0548), wonach es für die Frage eines möglichen Asylanspruchs entscheidend ist, ob einem Beschwerdeführer bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat angesichts des in den Länderfeststellungen ausgewiesenen erhöhten Rekrutierungsdrucks der syrischen Armee und der besonderen Gefährdung von einreisenden Männern im wehrfähigen Alter mit maßgebender Wahrscheinlichkeit eine Einziehung zum Wehrdienst droht (siehe auch EuGH 19.11.2020, C-238/19, wonach im Kontext des Bürgerkriegs in Syrien eine starke Vermutung dafür spricht, dass die Weigerung, dort Militärdienst zu leisten, mit einem Grund in Zusammenhang steht, der einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann).

Angesichts dessen kann dem BF2 nicht entgegengehalten werden, dass seine Furcht vor Verfolgung nicht wohlbegründet wäre. Vielmehr würde sich eine Person in der Situation des Zweitbeschwerdeführers, der sich dem Militärdienst durch die Ausreise aus Syrien im Kindesalter mit seiner Familie entzogen hat, gerade jetzt im Alter von römisch 40 Jahren vor einer Rückkehr nach Syrien und der Einreise - verbunden mit einem drohenden Kontakt zu dem syrischen Regime - fürchten. Angesichts seiner Ausreise aus Syrien und der damit verbundenen endgültigen Verweigerung des Wehrdienstes droht dem BF2 im Falle seiner Rückkehr als politisch oppositionelle Person verfolgt zu werden. Auch auf Grund seiner Weigerung bei einer Rückkehr einer Einberufung Folge zu leisten, droht ihm im Falle seiner Rückkehr eine Verfolgung als politisch oppositionelle Person.

Es kommt nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass die schutzsuchende Person in der Vergangenheit bereits verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung für sich genommen nicht hinreichend. Entscheidend ist vielmehr, dass der schutzsuchenden Person im Zeitpunkt der Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in der GFK bzw. in Artikel 10, Statusrichtlinie genannten fünf Verfolgungsgründe drohen würde vergleiche VwGH am 04.07.2023, Ra 2023/18/0108 Rz 16, mit Verweis auf VwGH 3.5.2016, Ra 2015/18/0212; VwGH 7.3.2023, Ra 2022/18/0284, mwN). Der VwGH stellte bereits mehrfach fest, dass sich das BVwG mit der zum Entscheidungszeitpunkt herrschenden Einberufungssituation in Syrien auseinandersetzen muss vergleiche VwGH 03.05.2022, Ra 2021/18/0250-8).

Fallgegenständlich war somit zu bewerten, ob dem BF2 aktuell bei einer Rückkehr Gefahr droht und eine Prognose abzugeben. Im vorliegenden Fall droht dem BF2 im Falle einer Rückkehr aufgrund des noch nicht abgeleisteten Wehrdienstes und seines Alters bei Grenzübertritt nach Syrien die Einziehung zum Wehrdienst. Der BF2 ist aktuell römisch 40 Jahre alt und es droht ihm daher aktuell die oben dargelegte Gefahr einer Verfolgung.

Der VfGH hat kürzlich mehrmals festgestellt, dass das BVwG in einem Fall in dem der Beschwerdeführer noch nicht das 18te Lebensjahr und somit das Wehrpflichtalter in Syrien erreicht hat, nicht ohne weiteres die fehlende Aktualität der Verfolgung annehmen darf, sondern prüfen muss, ob für den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr die Verpflichtung besteht, die für den Wehrdienst vorbereitenden Tätigkeiten auszuführen vergleiche VfGH 18.09.2023, E 1167/2023, Rz 14f. sowie bereits VfGH 27.02.2023, E 3307/2022-9, Rz 15f samt Eingehen auf die vorbereitenden Tätigkeiten wie die Abholung des Wehrbuchs und einer medizinischen Untersuchung).

Laut VfGH ist durch das BVwG auf die vorgebrachte Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch das Erreichen des wehrfähigen Alters nach der Rückkehr einzugehen. Es hat somit eine Prüfung anhand maßgeblicher Kriterien der EASO Country Guidance zu Syrien zu ergehen und das BVwG muss sich im Rahmen einer Prognoseentscheidung mit einer etwaiger asylrelevanten Verfolgung im Zusammenhang mit einer vorgebrachten Einziehung in die syrische Armee auseinanderzusetzen vergleiche VfGH 13.06.2023, E 2987/2022, Rz 10f.).

Erst kürzlich hielt der VfGH in einem sehr ähnlichen Fall in dem es um einen römisch 40 Jährigen Beschwerdeführer aus dem Gouvernement Al Hasaka ging, fest (der BF2 wird römisch 40 alt und stammt ebenso aus Qamishli in Al Hasaka) für den Beschwerdeführer bestehe in wenigen Monaten die im syrischen Recht verankerte Verpflichtung die für den Wehrdienst vorbereitenden Tätigkeiten anzutreten und in etwas über einem Jahr habe er den Wehrdienst anzutreten. Das BVwG habe entsprechend dem VfGH im Fall unterlassen, die Gefahr einer drohenden Einziehung zum Militär in der syrischen Armee (bzw der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien) im Rahmen seiner Prognoseentscheidung zu prüfen vergleiche VfGH 18.09.2023, E 2019/2023-13, Rz 14f ). Es war daher gegenständlich auf die Wahrscheinlichkeit der drohenden Einberufung des BF2 als eine Prognoseentscheidung einzugehen, die wie oben dargelegt zu dem Ergebnis führt, dass dem BF2 mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr vorbereitende Tätigkeiten und in weiterer Folge ein baldiger Einzug zum Wehrdienst des syrischen Regimes drohen wird und ihm aktuell bereits eine Zwangsrekrutierung durch die kurdische YPG bei einer Rückkehr ins Herkunftsgebiet droht.

3.1.2.2. Rekrutierung durch die YPG:

Im Falle einer Rückkehr in die kurdisch kontrollierte Herkunftsprovinz besteht für den BF2 die Gefahr, zum Militärdienst bei der YPG rekrutiert zu werden. Der Zweitbeschwerdeführer ist minderjährig und verfügt in Syrien über keine nahen männlichen Familienangehörigen. Der BF2 lehnt einen Wehrdienst bei der YPG ab. Es ist davon auszugehen, dass der BF2 im Falle seiner Rückkehr in sein Herkunftsgebiet von kurdischen Kräften zwangsrekrutiert wird und er im Falle einer Weigerung mit zumindest einer mit Folter verbundenen Anhaltung bzw. Haft bestraft werden würde. Der BF2 konnte glaubhaft darlegen, dass er die Ableistung des Militärdienstes in Syrien sowohl für das syrische Regime als auch für die kurdischen YPG ablehnt.

Zur Rekrutierung minderjähriger Personen durch kurdische Milizen in der Herkunftsregion des BF2 – Qamishli – liegen konkrete Berichte vor. Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil. Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das „Selbstverteidigungspflichtgesetz“ im kurdischen Gebiet auch mit Gewalt durchgesetzt.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den getroffenen Feststellungen zur Rekrutierungspraxis durch kurdische bewaffnete Gruppierungen im Herkunftsgebiet des BF2, dass der aktuell römisch 40 und in etwas über einem Monat römisch 40 BF2 mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die YPG in seiner – von diesen Gruppierungen militärisch kontrollierten – Herkunftsregion betroffen wäre. So kam eine derartige Zwangsrekrutierung von gleichaltrigen Buben den Berichten entsprechend im Heimatort des BF2 bereits vor und seine Mutter brachte in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vor, gerade aus Angst vor einer solchen Zwangsrekrutierung ihres Sohnes das Land verlassen zu haben, was die Gefahr einer ihn treffenden zwangsweisen Rekrutierung unterstreicht bzw. für das Bundesverwaltungsgericht verdeutlicht. Dass der BF2 in diesem Zusammenhang besonders gefährdet wäre, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass er im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsort keine Obsorge berechtigten männlichen Familienangehörigen hätte, die ihn vor einem Zugriff der genannten militärischen Gruppierungen schützen könnten, weil sich alle seine Familienangehörigen mittlerweile außerhalb Syriens aufhalten. In Hinblick auf die Gefahr einer möglichen Zwangsrekrutierung durch die kurdische YPG erscheint der BF2 sohin besonders vulnerabel (idS auch UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic – Update römisch VI, März 2021, Sitzung 176 f.).

Eine Rekrutierung des BF2 durch die genannten Akteure würde aufgrund seiner gegen die Verwicklung in Kampfhandlungen im Syrien-Konflikt und damit gegen die Teilnahme an bewaffneten Verbänden in diesem Krieg gerichteten Einstellung mit Zwang, also durch Entführung oder die Androhung von Strafen bzw. körperlichen Misshandlungen im Verweigerungsfall, erfolgen und damit jedenfalls eine den Minderjährigen betreffende Verfolgungshandlung darstellen. Da diese Rekrutierung durch Zwang aufgrund der (politischen) Grundhaltung des Beschwerdeführers zu den angeführten Akteuren bzw. ihrer Tätigkeit im Syrien-Konflikt vergleiche Artikel 10, Absatz eins, Litera e, Statusrichtlinie) erfolgen würde, liegt auch hier ein Konnex zu einem der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe, nämlich der oppositionellen Gesinnung, vor (idS auch EUAA, Country Guidance: Syria, Sitzung 86).

3.1.2.3. Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der BF2 somit Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime und/oder die kurdische YPG ausgesetzt zu sein.

Dem BF2 droht aufgrund seiner (zumindest unterstellten) politischen Gesinnung Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK.

Eine Inanspruchnahme des Schutzes durch den syrischen Staat ist auszuschließen, da die geschilderte Bedrohung vom syrischen Regime selbst ausgeht. Betreffend die durch die kurdische YPG gegen den BF2 bestehende Gefahr aufgrund seiner Weigerung der Rekrutierung, ist der syrische Staat nicht gewillt den BF2 davor zu schützen.

Schon aufgrund der Aktualität der Länderinformationen ist davon auszugehen, dass die Verfolgung jetzt aktuell besteht, wobei auf die Erwägungen betreffend das Alter des BF2 und die ihm bei einer Rückkehr unmittelbar drohenden Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf den Wehrdienst, und die Tatsache, dass der BF2 bald römisch 40 Jahre alt wird, hinzuweisen ist.

Bei der vorliegenden Konstellation kann im gegenständlichen Fall auch nicht mit der erforderlichen maßgeblichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass der BF2 über die Möglichkeit verfügen würde, sich in Syrien in einer anderen Region niederzulassen. Eine abschließende Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative kann jedoch insbesondere auch vor dem Hintergrund entfallen, dass die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde, weil Paragraph 11, AsylG 2005 die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind vergleiche VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054, VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016).

Angesichts dieses Ergebnisses kann dahin gestellt bleiben, ob dem Zweitbeschwerdeführer auch Verfolgung aus anderen in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Gründen droht.

Da auch keiner der in Artikel eins, Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt, und ein Abweisungsgrund gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 im konkreten Fall nicht vorliegt, da dem BF2 – wie gezeigt – keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht und dieser keinen Asylausschlussgrund gesetzt hat, war der Beschwerde stattzugeben und dem BF2 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen. Diese Entscheidung war gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Zweitbeschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

3.1.3. Zur Erstbeschwerdeführerin und den minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern:

Nach Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG ist "Familienangehöriger":

„a. der Elternteil eines minderjährigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten;
b. der Ehegatte oder eingetragene Partner eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten, sofern die Ehe oder eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat;
c. ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten und
d. der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen ledigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten sowie ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind, für das einem Asylwerber, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten die gesetzliche Vertretung zukommt, sofern die gesetzliche Vertretung jeweils bereits vor der Einreise bestanden hat.“

Stellt ein Familienangehöriger iSd Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser gemäß Paragraph 34, Absatz eins, AsylG als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes. Die Behörde hat gemäß Paragraph 34, Absatz 2, AsylG aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist (Paragraph 2, Absatz 3, AsylG), die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK mit dem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (Paragraph 7, AsylG).

Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Absatz 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.

Gemäß Paragraph 34, Absatz 6, AsylG sind die Bestimmungen dieses Abschnitts nicht anzuwenden:

„1. auf Familienangehörige, die EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind;

2. auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind;

3. im Fall einer Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (Paragraph 30, NAG).“

Dem Zweitbeschwerdeführer war gegenständlich der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Der Erstbeschwerdeführerin kommt als Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers der Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 34, Absatz 2, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005 zu. Den minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern kommt wiederum als minderjährigen Kindern der Erstbeschwerdeführerin der Status von Asylberechtigten gemäß Paragraph 34, Absatz 2, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22 und Paragraph 34, Absatz 6, Ziffer 2, AsylG 2005 zu. Auch bei den genannten Familienangehörigen des Zweitbeschwerdeführers kamen keine Asylendigungs- bzw. -ausschlussgründe hervor.

Diese Entscheidung war gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 mit den Feststellungen zu verbinden, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

3.2. Zu römisch II. A) Stattgabe der Beschwerde:

Der Beschwerde der BF6 römisch 40 war gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 stattzugeben.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt vor dem Hintergrund der oben festgestellten Berichtslage zur Situation in Syrien, dass die BF6 Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist. Der im Beschwerdefall festgestellte Sachverhalt lässt erkennen, dass die behauptete Furcht der BF6 begründet ist.

Im gegenständlichen Fall handelt es sich bei der gegenüber der BF6 bestehenden Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK um eine solche aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung sowie aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, nämlich jener der Familie und jener der alleinstehenden Frauen.

3.2.1. Die BF6 würde als alleinstehende Frau nach Syrien zurückkehren. Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft die BF6 somit als junge Frau, deren Ehemann als Wehrdienstverweigerer das Land verlassen hat, und als Mutter eines Kleinkindes Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in ihre (sexuelle) Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime und/ oder die syrische Gesellschaft ausgesetzt zu sein.

3.2.2. Zur Familienangehörigkeit eines Wehrdienstverweigerers und zur Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung:

Der Ehemann der BF6 hat sich durch seine Ausreise aus Syrien einer Einziehung zum Militärdienst bei der kurdischen YPG und der syrischen Armee entzogen. Es ist daher mit entsprechend hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Ehemann deswegen in Syrien als Regimegegner angesehen wird und bereits in den Fokus der syrischen Behörden geraten ist.

Im Falle einer Rückkehr besteht für die BF6 die Gefahr, in ihrem Herkunftsort Qamishli oder bei einer Reise dorthin am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen ihrer eigenen Ausreise und ihrer Beziehung zu einem Wehrdienstverweigerer verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Bei einer Rückkehr würde der BF6 aufgrund ihrer Ausreise und ihrer Beziehung zu einem Wehrdienstverweigerer eine oppositionelle politische Gesinnung zumindest unterstellt werden.

Vor diesem Hintergrund besteht auf Grundlage der vorliegenden Länderberichte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch die reale Gefahr, dass die BF6 als nahe Angehörige bei einer möglichen Rückkehr in die Heimat in das Blickfeld der syrischen Behörden geraten und ihr in weiterer Folge asylrelevante Verfolgung drohen würde. Festgestellt wird daher, dass der BF6 in Syrien bei einer Rückkehr die reale Gefahr droht, als Ehefrau eines Wehrdienstverweigerers von der syrischen Regierung verfolgt zu werden.

Bei der Beurteilung, ob wohlbegründete Furcht vor Verfolgung vorliegt, ist die Gesamtsituation des Asylwerbers zu berücksichtigen. Es können hierbei auch Schicksale von Familienangehörigen im Rahmen der Beurteilung der Gesamtsituation des Asylwerbers – je nach Sachlage – nicht unmaßgeblich sein vergleiche VwGH 22.01.2016, Ra 2015/20/0157; zur Asylrelevanz einer Verfolgung wegen der „bloßen“ Angehörigeneigenschaft und zur Anerkennung des Familienverbandes als „soziale Gruppe“ im Sinne der GFK s. VwGH 14.01.2003, 2001/01/0508; vergleiche auch VwGH 16.12.2010, 2007/20/0939).

Auch Familien von Deserteuren, Wehrdienstverweigerern oder (vermeintlichen) Regimegegnern bzw. Kritikern haben in Syrien mit Konsequenzen zu rechnen. Betreffend eine Rückkehr der BF6 als Ehefrau eines Wehrdienstverweigerers ist zu erwarten, dass die BF6 als in Opposition zum syrischen Regime stehend angesehen wird bzw. dass ihr eine solche Gesinnung zumindest unterstellt wird. Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund ist somit jedenfalls gegeben, da der Grund für die Verfolgung der BF6 wesentlich in der ihr zugeschriebenen oppositionellen politischen Gesinnung zu sehen ist.

Der Asylgrund kann hierbei ebenfalls in der Angehörigeneigenschaft zum Ehemann der BF6 gesehen werden, der als Wehrpflichtverweigerer gemeinsam mit der BF6 Syrien verlassen hat. Die Beschwerdeführerin ist somit wegen ihres Ehemannes unter dem Blickwinkel des Konventionsgrundes der „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe", nämlich jener der „Familie“, mit asylrelevanter Verfolgung bedroht (zur Familie als soziale Gruppe vergleiche VwGH 14.01.2003, Ziffer 2001 /, 01 /, 0508,). Die drohende Inanspruchnahme der BF6 durch das syrische Regime wegen eines Familienangehörigen knüpft an den zuletzt genannten Konventionsgrund an; im Übrigen auch unabhängig davon, ob der Familienangehörige selbst aus Konventionsgründen verfolgt wird.

Der BF6 droht Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund ihrer Familienangehörigkeit zu ihrem Ehemann, der Syrien als Wehrdienstverweigerer verlassen hat. Im Falle einer Rückkehr besteht für die BF6 die Gefahr, am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen ihrer Ausreise und ihrer Familienzugehörigkeit zu einem Wehrdienstverweigerer verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Länderberichte besteht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die reale Gefahr, dass die BF6 als nahe Angehörige bei einer möglichen Rückkehr in die Heimat in das Blickfeld der syrischen Behörden geraten und ihr in weiterer Folge asylrelevante Verfolgung drohen würde.

Dem Umstand, dass die BF6 mit mehreren Wehrdienstverweigerern verwandt ist (mit ihrem Ehemann und ihrem jüngeren Bruder, dem BF2), die ins Ausland geflüchtet sind, ist dabei besondere Bedeutung beizumessen. Entsprechend den Länderfeststellungen gelten Wehrdienstverweigerer als Oppositionelle der syrischen Regierung, und deren Familien werden üblicherweise bedroht. Zudem gilt die Asylantragstellung im Ausland als illoyaler Akt und als Zeichen oppositioneller Gesinnung und gerade Angehörige von Menschen mit tatsächlicher oder unterstellter oppositioneller Einstellung sind der Verfolgung durch das syrische Regime ausgesetzt. Einer Verfolgung kann auch schon dann Asylrelevanz zukommen, wenn ihr Grund in der bloßen Angehörigeneigenschaft eines Asylwerbers, somit in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK, etwa jener der Familie, liegt (VwGH 14.01.2003, 2001/01/0508).

Es ist daher zu erwarten, dass die Beschwerdeführerin als in Opposition zum syrischen Regime stehend angesehen wird bzw. dass ihr eine solche Gesinnung zumindest unterstellt wird. Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund ist somit jedenfalls gegeben, da der Grund für die Verfolgung der Beschwerdeführerin wesentlich in der ihr zugeschriebenen oppositionellen politischen Gesinnung zu sehen ist. Die Beschwerdeführerin ist wegen ihres Ehemannes und ihres Bruders auch unter dem Blickwinkel des Konventionsgrundes der „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe", nämlich jener der „Familie“, mit asylrelevanter Verfolgung bedroht (zur Familie als soziale Gruppe vergleiche VwGH 14.01.2003, Ziffer 2001 /, 01 /, 0508,).

Für das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr ist es im Übrigen nicht maßgeblich, ob der Asylwerber wegen einer von ihm tatsächlich vertretenen oppositionellen Gesinnung verfolgt wird. Es reicht aus, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist, oder dass eine Strafe für ein Delikt so unverhältnismäßig hoch festgelegt wird, dass die Strafe nicht mehr als Maßnahme einzustufen wäre, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dient vergleiche VwGH 06.05.2004, 2002/20/0156). Davon, dass es sich bei den drohenden Repressalien um Maßnahmen zum Schutz legitimer Interessen des Staates handelt, kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden.

3.2.3. Zur Verfolgungsgefahr als alleinstehende Frau in Syrien:

Die BF6 wäre bei einer Rückkehr als alleinstehende junge Frau anzusehen, da sich ihre Kernfamilie im Ausland befindet. Der BF6 droht bei einer Rückkehr auch Gefahr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Syrien.

Zur fallrelevanten Lage in Syrien wurde festgestellt, dass alleinstehende Frauen in Syrien aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind. Das Ausmaß des Risikos hängt vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Armut, Vertreibung, das Führen eines Haushalts oder ein junges Alter ohne elterliche Aufsicht bringen Frauen und Mädchen in eine Position geringerer Macht und erhöhen daher das Risiko der sexuellen Ausbeutung. Unverheiratete Mädchen, Witwen und Geschiedene wurden als besonders gefährdet eingestuft vergleiche römisch II.1.4.5.1.2.).

Zu beachten ist hierbei, dass die BF6 als junge, alleinstehende Mutter eines Kleinkindes und als Rückkehrerin sowie als Familienangehörige zweier Wehrdienstverweigerer als besonders vulnerable Person anzusehen wäre.

Nach der Definition des Artikel 10, Absatz eins, Litera d, der Statusrichtlinie gilt eine Gruppe insbesondere als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird vergleiche das Urteil des EuGH vom 07.11.2013 in den verbundenen Rechtssachen C-199/12 bis C-201/12). Bei der sozialen Gruppe handelt es sich um einen Auffangtatbestand. Eine soziale Gruppe kann aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (VwGH 14.08.2020, Ro 2020/14/0002, mwN).

Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung vergleiche VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350). Dabei ist zu beachten, dass nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als „Verfolgung“ im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK anzusehen ist, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen vergleiche Artikel 9, Absatz eins, Status-RL). Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295).

Unter Berücksichtigung der Judikatur zur sozialen Gruppe ist der BF6 der Status einer Asylberechtigten zuzuerkennen. Die BF6 verfügt über ein Merkmal (getrennt lebend ohne männlichen Schutz und ohne familiäre Unterstützung in Syrien), wobei sie dahingehend nicht gezwungen werden kann, darauf zu verzichten (z.B. durch eine ([Zwangs-]Heirat). Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konfliktes einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt. Der syrische Staat ist nach den Länderfeststellungen nicht willens und/oder nicht in der Lage, die BF6 als alleinstehende Frau vor Übergriffen zu schützen bzw. gehen diese Übergriffe – wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt – auch vom Staat selbst/den Regimekräften aus. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien besteht für die BF6 daher eine asylrelevante Verfolgungsgefahr, weil sie als alleinstehende Frau Gefahr läuft, maßgeblich verfolgt zu werden. So geht aus den Länderfeststellungen klar hervor, dass alleinstehende Frauen in Syrien keinen sozialen Schutz haben und daher häufig von (sexueller) Gewalt betroffen sind. Auch UNHCR sieht Frauen (insbesondere Frauen und Mädchen ohne echte familiäre Unterstützung, einschließlich Witwen und geschiedener Frauen) als eine schützenswerte Risikogruppe an vergleiche etwa VwGH 16.01.2008, 2006/19/0182, mwN). Zudem ist auch an der notwendigen Kausalität nicht zu zweifeln, da die BF6 glaubhaft darlegen konnte, dass sie bei einer Rückkehr ohne männlichen Schutz wäre bzw. keine familiäre Unterstützung hätte und sich aus den Länderfeststellungen eindeutig ergibt, dass alleinstehende Frauen in Syrien einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt sind.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die BF6 aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der (alleinstehenden) Frauen verfolgt zu werden, außerhalb Syriens befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren.

Die BF6 würde ohne ihren Ehemann nach Syrien zurückkehren da sich dieser in der Türkei aufhält. Auch ihr Vater lebt außerhalb Syriens und es befinden sich keine Familienangehörigen der BF6 mehr in Syrien, weshalb sie bei einer Rückkehr als alleinstehend anzusehen ist. Der BF6 droht als alleinstehender Frau in Syrien, selbst in Damaskus, eine Verfolgung, die sich alleine darauf richtet, dass die BF6 eben alleinstehend und Frau ist. Diese droht auch bzw. insbesondere durch Soldaten des Regimes, weil die BF6 als alleinstehende Frau keinen sozialen Schutz erfahren würde. Der BF6 droht somit bei einer Rückkehr Gefahr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Syrien. Zu beachten ist hierbei, dass die BF6 aus islamischer Sicht als junge, alleinstehende Frau und Mutter eines Kleinkindes und als Rückkehrerin als besonders vulnerable Person anzusehen wäre.

Insgesamt erreicht die Diskriminierung von Frauen ein Niveau, das, insbesondere im Lichte der drohenden Strafen, eine Schwere erreicht, die einer asylrelevanten Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen gleichkommt. Dies insbesondere unter Beachtung des Einzelfalles der BF6 die als besonders vulnerable Person anzusehen ist, weil sie als junge, alleinstehende Mutter eines Kleinkindes ohne Familienangehörige in Syrien und als Verwandte zweier Wehrdienstverweigerer nach einer illegalen Ausreise zurückkehren würde. Angesichts dessen kann der BF6 nicht entgegengehalten werden, dass ihre Furcht vor Verfolgung nicht wohlbegründet wäre. Vielmehr würde sich eine Person in der Situation der BF6 fürchten verfolgt zu werden.

Eine Bedrohung der BF6 als junge, alleinstehende Frau und Mutter eines Kleinkindes ohne Familienangehörige ist auch im kurdischen Herkunftsgebiet gegeben.

Sowohl aus den oben zitierten Länderberichten als auch aus den UNHCR-Richtlinien geht hervor, dass die BF6 aus einer Kumulation von Gründen bei einer Rückkehr nach Syrien eine objektiv nachvollziehbare und somit wohlbegründete Frucht vor Verfolgung aufgrund der ihr unterstellten oppositionellen Gesinnung und aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe haben müsste. Insbesondere als alleinstehende Frau, der bei einer Rückkehr Misshandlung und Gewalt droht und die aus einem von der Opposition kontrollierten Gebiet stammt, aufgrund ihrer illegalen Ausreise und Asylantragstellung im Ausland sowie der Familienangehörigeneigenschaft zu ihrem Ehemann und ihrem Bruder, die beide Wehrdienstverweigerer sind. Im Falle der BF6 besteht somit ein mehrfacher Konnex zu den in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Gründen.

Angesichts dessen kann der BF6 nicht entgegengehalten werden, dass ihre Furcht vor Verfolgung nicht wohlbegründet wäre. Vielmehr würde sich eine Person in der Situation der BF6, die als alleinstehende junge Frau mit einem Kleinkind nach Syrien zurückkehren müsste und dort keine Familienangehörigen hat, zu denen sie zurückkehren kann, und als Ehefrau eines Wehrdienstverweigerers, der sich sowohl einer Rekrutierung durch die kurdische Miliz als auch einer Zwangsrekrutierung durch das syrische Regime, durch seine gemeinsame Ausreise mit der BF6 aus Syrien entzogen hat, bei einer Rückkehr nach Syrien und bei einer Rückkehr in die Heimatprovinz, fürchten. Die Furcht vor Verfolgung der BF6 ist daher unter Beachtung ihrer individuellen Situation und aller sie betreffenden Risikofaktoren wohl begründet.

Die Gefährdung der BF6 geht betreffend die Gefahr ihrer Verfolgung aufgrund der Familienzugehörigkeit zu ihrem Ehemann, der ein Wehrdienstverweigerer ist, vorrangig vom syrischen Regime, somit vom Staat selbst aus. Betreffend die Gefahr der BF6 bei einer Rückkehr als junge, alleinstehende Frau geht die Gefährdung sowohl vom Staat als auch von der Gesellschaft aus, wobei das syrische Regime nicht gewillt ist, die BF6 vor drohender Gewalt zu schützen.

Entsprechend der aktuellen Länderinformationen ist die gegen die BF6 geschilderte Bedrohung auch aktuell.

3.2.4. Schon die rechtskräftige Gewährung von subsidiärem Schutz durch die belangte Behörde steht mangels einer diesbezüglichen relevanten Änderung der Rechts- oder Tatsachenlage der Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative entgegen (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054). Da die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Hinblick auf das ihr u.a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül die sichere und legale Erreichbarkeit des ins Auge gefassten Gebietes erfordert (VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063) und eine sichere und legale Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Syrien nur über den Flughafen von Damaskus oder Grenzübergänge, die in der Hand des Regimes bzw. der kurdischen Kräfte liegen, möglich wäre, kommt eine innerstaatliche Fluchtalternative auch aus diesem Grund nicht in Betracht. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für die BF6 somit nicht, da nicht angenommen werden kann, dass sie in bestimmten Landesteilen Syriens sicher wäre. Sie könnte über Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints in ganz Syrien, vor allem bei einer Einreise, durch das syrische Regime oder die kurdische YPJ verhaftet und für ihre Ausreise und die Wehrpflichtverweigerung ihres Ehemannes festgenommen und bestraft werden.

Ein Abweisungsgrund gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 liegt im konkreten Fall nicht vor, da der Sechstbeschwerdeführerin – wie gezeigt – keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht und diese keinen Asylausschlussgrund gesetzt hat.

Der Beschwerde war daher stattzugeben und der Sechstbeschwerdeführerin gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Diese Entscheidung war gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 mit der Feststellung zu verbinden, dass der Sechstbeschwerdeführerin damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 gestellt wurden, wodurch insbesondere die Paragraphen 2, Absatz eins, Ziffer 15 und 3 Absatz 4, AsylG 2005 in der Fassung des Bundesgesetzes Bundesgesetzblatt Teil eins, 24 aus 2016, („Asyl auf Zeit“) gemäß Paragraph 75, Absatz 24, leg. cit. im konkreten Fall bereits Anwendung finden.

Gemäß Paragraph 3, Absatz 4, AsylG 2005 kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu. Diese Aufenthaltsberechtigung verlängert sich kraft Gesetzes nach Ablauf dieser Zeit auf eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Aberkennungsverfahrens nicht vorliegen oder ein Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Dementsprechend verfügen die Beschwerdeführer nun über eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung.

Den Beschwerdeführern kommt damit eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigte gemäß Paragraph 3, Absatz 4, AsylG 2005 kraft Gesetzes unmittelbar zu, ohne dass die Erteilung einer solchen Aufenthaltsberechtigung zu erfolgen hätte vergleiche VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373).

3.3. Zu römisch eins. und römisch II. B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG) hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2023:W250.2253161.1.00