Bundesverwaltungsgericht
23.08.2023
W159 2262313-1
W159 2262313-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde der römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. IRAN, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2022, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.07.2023 zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, Asylgesetz 2005 idgF der Status einer Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, leg.cit wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Die Beschwerdeführerin, eine iranische Staatbürgerin und Angehörige der kurdischen Volksgruppe, gelangte im Juni 2021 (von Ungarn kommend) nach Österreich und stellte am 06.05.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu den Fluchtgründen führte sie aus, dass sie ihren Ehemann ohne Erlaubnis geheiratet habe. Sie seien Kurden und stark traditionsverhaftet. Sie sei keine Jungfrau mehr und wenn sie nachhause zurückkehre, würde sie ihr Vater töten. Sie sei mit römisch 40 , geboren römisch 40 , welcher in Österreich asylberechtigt sei, verheiratet. Mit Schriftsatz vom 29.04.2022 gab Rechtanwältin Mag. Nadja LORENZ die Vertretung der Beschwerdeführerin bekannt und erstattete einen vorbereiteten Schriftsatz.
Am 11.08.2022 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien. Die Beschwerdeführerin legte ihre Originalheiratsurkunde vor. Sie wiederholte ihren Namen und gab an, dass sie am römisch 40 in römisch 40 im Iran geboren sei. Sie habe dort die letzten 12 Jahre bis zu ihrer Ausreise gelebt. Ihre Familie lebe noch immer dort. Sie habe zwei Schwestern und einen Bruder, habe aber nur mit ihrer jüngsten Schwester Kontakt. Vor der Heirat sei das Verhältnis zu ihren Eltern gut gewesen. Seither nicht mehr. Sie habe ihren Ehemann am 04.09.2021 standesamtlich in römisch 40 , Dänemark geheiratet. In Österreich hätten sie ohne Einverständnis ihres Vaters nicht heiraten dürfen.
Sie sei Kurdin und Moslemin, Schiitin. Sie habe 12 Jahre lang die Grundschule und vier Jahre die Universität in römisch 40 besucht. Danach habe sie in römisch 40 ihren Master in Pflanzenzucht gemacht und sei sie als Ingenieurin tätig gewesen. Sie habe den Iran am 09.12.2020 legal verlassen und sei nach römisch 40 geflogen und habe dort studiert. Sie sei dann zwischen Österreich und römisch 40 hin und hergependelt. Zu ihren Fluchtgründen führte sie aus, dass ihr Vater ein sehr traditionsverbundener Mensch sei und sie im Falle einer Rückkehr in den Iran töten würde. Er war Militärangehöriger beim Sepah. Aufgrund des Altersunterschiedes und weil ihr Ehemann schon einmal verheiratet gewesen sei, habe ihr Vater die Heirat abgelehnt. Er habe sie bedroht und mehrmals gesagt, dass er sie töten werde. Sie sei fünf bis sechsmal, im Zeitraum von April bis August 2021, von ihm bedroht worden. Hilfe bei den staatlichen Behörden habe sie jedoch keine gesucht. Persönlich sei sie von staatlicher Seite nicht verfolgt worden, aber als Kurden und Frauen hätten sie im Iran keine Rechte. Nunmehr wohne sie bei ihrem Ehemann römisch 40 , der sie auch finanziell unterstütze. Sie lerne derzeit in einer Volkshochschule Deutsch. Gefragt, wie die Bedrohungen genau stattgefunden hätten, gab sie an, dass ihr Vater am Telefon wütend gesagt habe, dass er sie genauso wie römisch 40 töten würde. Da die iranische Regierung sie nicht schützen werde, wenn ein Mädchen nicht mehr Jungfrau sei, könne sie bestraft und getötet werden. römisch 40 sei die Tochter des Cousins mütterlicherseits seines Vaters gewesen. Ihr Vater sei Abteilungsleiter beim Militär gewesen und habe beste Beziehungen zur Regierung. Da sie vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt habe, würde sie von ihrem Vater als Hure bezeichnet werden und hätte er seiner Auffassung nach das Recht sie zu töten.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien vom 12.10.2022 wurde unter Spruchteil römisch eins. der Antrag auf internationalen Schutz vom 06.05.2022 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch unter Spruchteil römisch II. hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten im Bezug auf den Herkunftsstaat Iran abgewiesen, unter Spruchpunkt römisch III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt römisch IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt römisch fünf. die Abschiebung in den Iran für zulässig erklärt und unter Spruchpunkt römisch VI. eine Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen eingeräumt.
In der Begründung des Bescheides wurde der bisherige Verfahrensgang einschließlich der oben bereits im Wesentlichen inhaltwiedergegebenen Einvernahme dargestellt und die Beweismittel aufgelistet und Feststellungen zur Person und zum Herkunftsstaat getroffen. Beweiswürdigend wurde zunächst ausgeführt, dass aufgrund der Vorlage des Reisepasses im Original die Identität feststehe und die Feststellungen zur Herkunftsregion, der Religion und der Volksgruppenzugehörigkeit auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen der Beschwerdeführerin beruhen würden. Weiters stehe aufgrund der vorgelegten Heiratsurkunde die Eheschließung in Dänemark fest.
Das Vorbringen hinsichtlich der Verfolgung durch den Vater der Beschwerdeführerin sei jedoch insgesamt vage und wenig konkret geblieben. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin erst mehr als ein halbes Jahr nach der Eheschließung in Dänemark den gegenständlichen Asylantrag gestellt habe. Es könne insgesamt davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin im Iran keiner realen Verfolgung durch ihren Vater ausgesetzt gewesen sei und auch weder von der Polizei, von Gerichten oder sonstigen Behörden gesucht worden sei. Sie sei insgesamt nicht in der Lage gewesen, ein glaubhaftes und nachvollziehbares Fluchtvorbringen darzulegen. Zu Spruchpunkt römisch eins. wurde insbesondere dargelegt, dass sich bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise auf das Vorliegen eines Sachverhaltes, welcher zur Gewährung von Asyl führen würde, ergeben hätten. Deswegen sei auch nicht von Vorliegen einer Gefahr im Sinne des Paragraph 50, FPG auszugehen (Spruchpunkt römisch II.). Es bestehe auch kein Hinweis auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände (lebensbedrohliche Erkrankung oder dergleichen) und sei sowohl die medizinische als auch die ökonomische Versorgung im Iran grundsätzlich gewährleistet und würden auch keine Hinweise darauf vorliegen, dass die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr eine einer existenzgefährdende Lage geraten würde. Auch die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel nach Paragraph 57, Asylgesetz lägen nicht vor (Spruchpunkt römisch III.). Zu Spruchpunkt römisch IV. wurde zunächst hervorgestrichen, dass die Beschwerdeführerin wohl verheiratet sei und ihr Ehemann zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt sei. Sie sei jedoch die Ehe zu einem Zeitpunkt eingegangen, als sie sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus hätte bewusst sein müssen und habe sie aufgrund der Kürze ihres Aufenthaltes in Österreich noch keine verfahrensrelevanten Kontakte knüpfen können. Es wären auch keine Anhaltspunkte hervorgetreten, die die Vermutung einer besonderen Integration in Österreich rechtfertigen würden. Bei Gesamtabwägung der Interessen und der Beachtung aller bekannten Umstände ergäbe sich daher, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei und daher die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu unterbleiben gehabt habe. Zu Spruchpunkt römisch fünf. wurde insbesondere dargelegt, dass im vorliegenden Fall keine Gefährdung im Sinne des Paragraph 50, FPG vorliege und die Abschiebung im Iran auch keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entgegenstehe, so dass diese als zulässig zu bezeichnen sei. Weiters wären auch keine Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise hervorgekommen (Spruchpunkt römisch VI.).
Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin, vertreten durch die Bundesbetreuungsagentur, fristgerecht im vollen Umfang Beschwerde. Zunächst wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin der Volksgruppe der Kurdinnen angehöre und dem Islam mit schiitischer Ausrichtung. Sie habe ihren jetzigen Ehemann bereits zwei Jahre vor ihrer Ausreise über Instagram kennengelernt, wobei die Familienmitglieder von diesem Kontakt nichts hätten wissen dürfen. Ihr Ehemann befinde sich seit 1998 in Österreich und sei ihm 2003 der Asylstatus zuerkannt worden. Sie sei am 09.12.2020 legal nach Ungarn gereist, um in römisch 40 ihrem Studium nachzugehen und sei dann zwischen Ungarn und Österreich hin und hergependelt und hätte sich die Beziehung zu ihrem jetzigen Ehemann vertieft. Sie hätten sich verlobt und habe die Beschwerdeführerin ihren Eltern von der vorehelichen Beziehung und der beabsichtigten Verehelichung erzählt. Ihr Vater habe sich jedoch strikt gegen die Heirat ausgesprochen und sie telefonisch mit dem Umbringen bedroht oder ausdrücklich gesagt, dass ihr dasselbe passieren werde wie der Tochter des Cousins ihres Vaters, der diese umgebracht habe. Die Beschwerdeführerin habe ohne Einverständniserklärung ihres Vaters in Österreich nicht heiraten können und hätten sie dann am 04.09.2021 in römisch 40 , Dänemark, ohne Zustimmung ihres Vaters geheiratet. Sie lege auch die Korrespondenz mit dem Magistrat/Standesamt vor, aus welcher hervorgehe, dass ohne Einverständniserklärung des Vaters in Österreich eine Eheschließung für Iranerinnen aufgrund der Normen des internationalen Privatrechtes nicht möglich sei. Bei einer Rückkehr fürchte sie Racheakte ihres Vaters, der ihr eine Verletzung der Familienehre vorwerfe und sei eine im solchen Fall der iranische Staat nicht gewillt, die Beschwerdeführerin zu schützen.
Bei der Beschwerdeführerin handle es sich um eine westlich orientierte Frau, die in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führe, sich modern kleide und ihre Freiheit in Österreich genieße. Sie weiche damit vehement vom konservativen islamisch geprägten Frauenbild im Iran ab. Sie genieße in Österreich ihre Kleidungs- und Bewegungsfreiheit sowie das Recht auf freie Meinungsbildung und persönliche Weiterbildung. Die Behörde habe es jedoch unterlassen sich mit den aktuellen Länderberichten betreffend die Situation der Frauen im Iran auseinanderzusetzen.
Die Beschwerdeführerin habe auch entgegen der Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides ihr Vorbringen sehr detailliert und lebensnahe gestaltet und über die drohende Verfolgung durch ihren Vater frei gesprochen und sei unter Berücksichtigung der aktuellen Länderberichte die von der Beschwerdeführerin geschilderte Verfolgungsgefahr objektiv nachvollziehbar. Der Vater der Beschwerdeführerin sei strikt gegen die Beziehung zu Herrn römisch 40 , weil dieser 17 Jahre älter sei und bereits einmal verheiratet gewesen sei und auch nicht in den Iran zurückkehren dürfe. Ihrem Vater sei wohl Bildung als Wert sehr wichtig, sei jedoch sonst, insbesondere hinsichtlich Heirat, streng konservativ.
Die Beschwerdeführerin gehöre einer sozialen Gruppe an, nämlich jener Frauen, welche von häuslicher Gewalt und Zwangsheirat bedroht sei. Die der Beschwerdeführerin überdies drohende staatliche Verfolgung knüpfe unzweifelhaft an den Konventionsgrund der Religion an. Schließlich werde die Beschwerdeführerin auch wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen im Iran verfolgt und sei ihr deswegen Asyl zu gewähren. Weiters drohe der Beschwerdeführerin durch ihren Vater eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung und damit ein ernsthaftes Risiko einer Verletzung des Artikel 3, EMRK, sodass ihr in eventu subsidiärer Schutz zu gewähren wäre. Auch bestehe keine innerstaatliche Fluchtalternative, da bei sogenannten Ehrverbrechen kein effektiver staatlicher Schutz für die Opfer bestehe. Schließlich verletze auch die Rückkehrentscheidung und Zulässigkeit der Abschiebung die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf Privat- und Familienleben (Artikel 8, EMRK), da sie mit einem in Österreich Asylberechtigten verheiratet sei. Schließlich wurde auch (begründet) die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine solche für den 26.07.2023 an, zu der die Beschwerdeführerin in Begleitung einer Mitarbeiterin der BBU erschien. Diese beantragte die Einvernahme des Ehemannes der Beschwerdeführerin römisch 40 zum Beweise des Fluchtvorbringens, dass die Beschwerdeführerin tatsächlich von ihrem Vater mit dem Umbringen bedroht werde sowie dass sie aufgrund ihrer religiösen Einstellung sowie jener zum Regime im Fall einer Rückkehr asylrelevant verfolgt würde. Weiters legte die Rechtsvertreterin ein Teilnahmezertifikat des FH Campus römisch 40 , ein Unterstützungsschreiben des Projektes „Miteinander leben“, ein Empfehlungsschreiben des römisch 40 vom FH Campus römisch 40 sowie ein Empfehlungsschreiben der römisch 40 vor. Die Beschwerdeführerin erschien in kurzer Jeans, zu einem „Rossschweif“ zusammen gebundenen Haare gebundenen Haaren, ohne Kopftuch und Schleier und insgesamt sehr westlich gekleidet.
Sie hielt die Beschwerde und das bisherige Vorbringen aufrecht. Sie kritisierte, dass nicht protokolliert worden sei, dass sie angegeben habe, dass sie keiner Religion angehöre. Sie sei Staatsangehörige des Iran, Kurdin und religionslos. Sie glaube wohl an Gott, aber keine Religion. Sie würde einer streng religiösen muslimisch-schiitischen Familie entstammen. Sie sei am römisch 40 in römisch 40 geboren. Das sei ein Teil von Kurdistan. Ihre Muttersprache sei Kurdisch. Sie spreche aber lieber Farsi, weil es im Kurdischen so viele Dialekte gebe. Im Iran habe sie nach der Matura einen Bachelorabschluss in römisch 40 und dann einen Masterabschluss in römisch 40 gemacht. Sie hätte die Studienabschlüsse im Fach Landwirtschaft/Pflanzenzucht. Solange sie eine Ausbildung gemacht habe, habe sie ihr Vater finanziell unterstützt. Dann habe sie an verschiedenen Projekten mitgearbeitet. Ihr Vater habe sie aber noch weiter unterstützt. Sie sei vor ihrer jetzigen Heirat noch nie verheiratet oder verlobt gewesen. Ihre Eltern würden in römisch 40 , in Kurdistan leben. Sie habe zwei Schwestern und einen Brudern, die alle dort leben würden. Ihre Einstellung sei komplett gegen das Regime im Iran. Da ihr Vater aber ein pensionierter Militärangehöriger sei, habe sie es nicht gewagt, sich zuhause kritisch gegenüber dem Regime zu äußern. Sie habe jedoch kritische Äußerungen gegenüber Freunden gemacht. Sie lehne alles am Regime ab, insbesondere die Gnadenlosigkeit gegenüber den Frauen. Frauen seien nicht einmal Menschen zweiter oder dritter Klasse. Die Herrschaft würden ausschließlich die Männer ausüben. Sie sei auch aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit als Kurdin diskriminiert worden. Sie habe beispielsweise eine Stelle nicht bekommen, weil sie Kurdin sei. An Demonstrationen habe sie im Iran nicht teilgenommen.
Ihren jetzigen Ehemann habe sie über eine Onlinegruppe zwei Jahre vor ihrer Flucht kennengelernt. Zunächst sei die Beziehung rein freundschaftlich gewesen. Ihre Eltern hätten erst davon erfahren, als sie beschlossen hätten, zu heiraten. Sie sei im Dezember 2020 zwecks Studium nach Ungarn gereist und habe sich dann öfters mit ihrem nunmehrigen Ehemann getroffen. Das erste Mal Jänner 2021. Sie habe im März oder April 2021 ihren Eltern mitgeteilt, dass sie heiraten möchte und hätte sie sich bei Standesämtern in römisch 40 erkundigt, aber immer die Auskunft erhalten, dass sie aufgrund der IPR-Bestimmungen bei Eheschließungen von Iranerinnen die Zustimmung des Vaters notwendig sei. Ihr Vater sei aber einerseits aufgrund des Altersunterschiedes von 17 Jahren und andererseits, weil ihr Mann ein Flüchtling sei und er selbst ein Militärangehöriger, total abgelehnt worden. Außerdem sei ihr Mann schon einmal verheiratet gewesen, und zwar mit einer Nichtmoslemin. Ihr Vater habe gedroht, sie umzubringen, weil sie zugegeben habe, dass sie mit ihm schon Geschlechtsverkehr gehabt habe und habe sie als Hure bezeichnet. Sie sei dann ab Juni 2021 zwischen Ungarn und Österreich hin und hergependelt und ab Juni 2021 sei sie dann ständig in Österreich bei ihrem Mann geblieben. Sie hätten in Dänemark geheiratet, weil Dänemark keine Zustimmung ihres Vaters verlangt habe. Ihr Ehemann habe deswegen Asyl bekommen, weil er im Iran bei einem Gericht gearbeitet habe und politische Probleme gehabt habe. Ihr Mann sei Atheist und der Sohn ihres Mannes Christ. Seine Ex-Frau sei Polin und auch Christin. Ihr Mann arbeite als Busfahrer bei der römisch 40 . Sie habe zu ihren Familienangehörigen keinen Kontakt mehr, außer sehr eingeschränkt mit ihrer jüngeren Schwester. Bevor sie nach Dänemark gegangen wären, um zu heiraten, habe sie ihre Eltern von der beabsichtigten Eheschließung in Kenntnis gesetzt. Ihr Vater habe sie nur beleidigt und auch ihren Mann am Telefon beleidigt und das Gespräch abgebrochen. Sie habe dann ihrer Mutter gesagt, dass sie in Dänemark geheiratet hätten und diese habe ihr geantwortet, dass sie überhaupt nicht mehr anrufen solle. Ihr Vater habe gesagt, dass er sie umbringen würde sowie sein Cousin seine Tochter umgebracht habe. Ihr Vater sei sehr religiös und er kenne sich im iranischen System und dem islamischen Recht gut aus. Er habe ihr gesagt, wenn er sie umbringen würde, würde er sich dafür nicht verantworten müssen. Auch die Tochter des Cousins ihres Vaters habe eine voreheliche sexuelle Beziehung gehabt und sei deswegen getötet worden.
Gefragt, warum sie nicht in einen anderen Teil des Irans hätte ziehen können, um den Drohungen ihres Vaters zu entgehen, gab die Beschwerdeführerin an, dass das nicht möglich sei, weil das Gesetz die Frauen im Iran nicht schützen würde. Auch römisch 40 sei vor der Polizei geflüchtet und diese habe sie ihrem Vater „übergeben“, der sie dann umgebracht habe.
Gefragt, was sie derzeit in Österreich mache, gab sie an, dass sie Deutsch lerne und schon ein Zertifikat auf B1 Niveau habe und weiter für das B2 Diplom lerne. Sie möchte dann weiter auf der Universität für Bodenkultur studieren oder an einer FH. Sie habe noch nicht gearbeitet, weil sie keine Arbeitserlaubnis in Österreich habe. Sie führe den Haushalt, ihr Mann lerne ihr Fahrrad fahren. Sie würden gemeinsam schwimmen gehen, Ausflüge machen und Filme anschauen. Schwimmen gehe sie in einem Badeanzug oder Bikini. Sie treffe sich auch ohne ihren Mann mit Freunden und gehe zur Bibliothek, lerne Deutsch und betreibe Sport. Sie habe aufgrund des Deutschkurses Personen aus verschiedenen Ländern kennengelernt. Außerdem gehe sie in Yoga und ins Fitnessstudio.
Sie habe in Österreich auch an Demonstrationen gegen das iranische Regime teilgenommen und sei bei einer Demonstration auch gefilmt worden. Ein unbekannter Account habe ihr das dann geschickt und sie bedroht. Sie sei ca. zehnmal bei Demonstrationen gewesen und habe sie auch eine Petition für die Verteidigung der Gefangenen im Iran unterzeichnet. Sie sei gesund. Sie möchte in Österreich ihre Ausbildung fortsetzen, einen guten Beruf ausüben und ein nützlicher Teil der Gesellschaft werden. Eine Rückkehr in den Iran würde sie nicht überleben. Im Iran würden dauernd „Ehrenmorde“ passieren.
Als sie noch bei ihren Eltern gelebt habe, sei sie gezwungen worden zu fasten und zu beten, aber als sie dann auf die Universität gegangen sei, habe sie weder gefastet noch gebetet. Ihre Eltern würden von ihrer religiösen Einstellung auch wissen. Anschließend führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie ein freier Mensch sein möchte und sich so kleiden möchte, wie sie möchte, was im Iran nicht möglich sei.
Schließlich wurde der Zeuge römisch 40 (der Ehemann der Beschwerdeführerin) unter Wahrheitspflicht als Zeuge befragt. Der Beschwerdeführer gab an, dass er gegen Religionen eingestellt sei. Er glaube an Gott, aber an keine Religion. Er habe seinerzeit im Iran als Beamter am Militärgericht gearbeitet und politische Probleme bekommen. Seine Ehefrau habe die gleiche religiöse Einstellung wie er. Sie hätten alles versucht, um eine Zustimmung des Vaters seiner Frau zur Eheschließung zu erhalten, aber der Vater habe sie nur bedroht und habe auch ihm gedroht, ihn zu zerreißen. Ein vernünftiges Gespräch mit dem Vater seiner Frau sei nicht möglich gewesen. Er habe seine Frau und ihn nur beschimpft.
Er sei gemeinsam mit seiner Frau oft auf Demonstrationen gegen die iranische Regierung gegangen. Er trete für eine Trennung von Politik und Religion ein. Seine Ehefrau habe sich auch im Internet kritisch gegenüber dem islamischen Regime geäußert und sei sie deswegen auch beschimpft und bedroht worden. Sie sei nur auf dem Papier Moslem. Sein Sohn sei in Österreich geboren und als Christ getauft worden.
Bei einer Rückkehr in den Iran wäre sehr schlimm für seine Frau. Er dürfe nicht in den Iran einreisen.
Am Schluss der Verhandlung wurde den Verfahrensparteien das aktuelle Länderinformationsblatt zum Iran, Version 6 vom 13.04.2023 zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von drei Wochen eingeräumt.
Von dieser Möglichkeit machte die Beschwerdeführerin durch ihre ausgewiesene Vertretung Gebrauch. Darin wurde auf ein jüngst ergangenes Erkenntnis des VfGH vom 12.06.2023 hingewiesen (VfGH E-583/2023-11), wo die Asylrelevanz der westlichen Orientierung einer iranischen Frau im Zusammenhang mit der aktuellen politischen Situation im Iran dargelegt worden sei und ähnle der dieser Entscheidung zugrundeliegende Fall dem vorliegenden. Auch die Beschwerdeführerin habe in der Verhandlung konsequent vorgebracht, dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen wolle. Dieses habe sich auch bereits durch ihr Studium in römisch 40 manifestiert. Sie kleide sich auch westlich und sei eine Ehe gegen den Willen ihres Vaters eingegangen.
Die Beschwerdeführerin spreche sich strikt gegen das brutale Vorgehen des Regimes aus, genieße in Österreich die freie Meinungsäußerung und nutze diese auch, um gegen das Regime zu demonstrieren, wobei sie auch fotografiert worden sei und die Bilder veröffentlicht worden sein. Die Beschwerdeführerin habe in der Beschwerdeverhandlung glaubhaft vorgebracht, dass sie bei einer Rückkehr fürchte, von ihrem Vater wegen ihrer vorehelichen sexuellen Beziehung getötet zu werden, wie der Cousin seines Vaters auch seine Tochter getötet habe und würde sie diesbezüglich auch keinen effektiven Schutz durch den iranischen Staat erwarten. Es wurde daher der Antrag auf Gewährung des Asylstatus wiederholt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Beschwerdeführerin ist Staatsbürgerin des Iran und Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Sie ist aktuell religionslos. Sie entstammt aber einer strenggläubigen und traditionsverhafteten schiitischen muslimischen Familie. Sie wurde am römisch 40 in römisch 40 , iranisch Kurdistan geboren. Nach der Matura absolvierte sie zunächst das Bachelorstudium und anschließend ein Masterstudium. Im Bereich Landwirtschaft/Pflanzenzucht. Sie hat sich schon während ihres Studiums innerlich vom Islam völlig losgelöst und das iranische Regime, insbesondere wegen der Unterdrückung von Frauen vehement abgelehnt, sich jedoch wegen ihres Vaters, der ein pensionierter Militärangehöriger ist, nicht getraut, offen ihre politisch und religiöse Einstellung zu zeigen. Sie lernte ihren nunmehrigen Ehemann römisch 40 durch das Internet kennen und handelte es sich zunächst um eine freundschaftliche Beziehung. Im Dezember 2020 reiste die Beschwerdeführerin mit einem Studentenvisum legal nach Ungarn und begann dort zu studieren. Im Jänner 2021 lernte sie dann ihren Ehemann persönlich kennen und pendelte sie in der Folge zwischen Österreich und Ungarn hin und her. Im März oder April 2021 teilte sie ihren Eltern mit, dass sie beabsichtige, zu heiraten. Ihr Vater war jedoch strikt gegen diese Heirat, da ihr Ehemann 17 Jahre älter ist, schon einmal verheiratet war und überdies Asylberechtigter ist, während der Vater der Beschwerdeführerin dem iranischen Regime eng verbunden ist. Außerdem war er bereits mit einer Christin verheiratet und ist auch sein Sohn Christ. In Gesprächen beschimpfte er die Beschwerdeführerin und bedrohte sie mit dem Umbringen, wobei er darauf verwies, dass er es so machen werde, wie sein Cousin, der seine Tochter wegen einer vorehelichen Beziehung getötet hatte. Da die Partner aufgrund der IPR-Bestimmungen in Österreich ohne Zustimmung des Vaters der Beschwerdeführerin nicht heiraten durften, heirateten sie am 04.09.2021 in römisch 40 , Dänemark. Ab Juni 2021 war die Beschwerdeführerin dann ständig in Österreich. Die Beschwerdeführerin nimmt ihre Rechte als Frau in Österreich in Anspruch, kleidet sich „westlich“, bildet sich weiter, macht Sport und trifft sich auch mit Freunden. Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann haben bereits an zahlreichen Demonstrationen gegen das iranische Regime teilgenommen und wurden dabei auch gefilmt und wurden die Fotos auch ins Internet gestellt.
Die Beschwerdeführerin ist gesund. Sie hat bereits ein B1 Diplom und möchte demnächst das B2 Diplom erwerben und anschließend an der Universität für Bodenkultur oder einer Fachhochschule weiter studieren. Sie führt mit ihrem Ehemann ein Familienleben, während der Kontakt von ihren Eltern abgebrochen wurde und sie nur mehr über geringfügig Kontakte mit ihrer Schwester verfügt. Die Beschwerdeführerin ist unbescholten.
Zum Iran wird verfahrensbezogen Folgendes festgestellt:
Politische Lage
Letzte Änderung: 13.04.2023
Iran ist seit 1979 eine Islamische Republik (FAZ 24.3.2023). Sie kombiniert republikanisch-demokratische Elemente mit einem theokratischen System (BS 23.2.2022; vergleiche BPB 10.1.2020). Das Kernkonzept der Verfassung ist die „Rechtsgelehrtenherrschaft“ (velayat-e faqih). Nach schiitischem Glauben gibt es einen verborgenen Zwölften Imam, den als Erlöser am Jüngsten Gericht von Gott gesandten Muhammad al-Mahdi (BPB 10.1.2020). Gemäß diesem Prinzip soll ein schiitischer Theologe praktisch in Stellvertretung des seit dem Jahr 874 in Verborgenheit weilenden Mahdi agieren und die Geschicke des Gemeinwesens lenken (BAMF 5.2022). Darauf aufbauend schuf Ajatollah Ruhollah Khomeini 1979 ein auf ihn zugeschnittenes Amt, das über allen gewählten Organen steht, und somit die republikanischen Verfassungselemente des Präsidenten und des Parlaments neutralisiert: das Amt des „Herrschenden Rechtsgelehrten“ (vali-ye faqih), dessen Inhaber auch „Revolutionsführer“ (rahbar) genannt wird. Der Revolutionsführer übt quasi stellvertretend für den Zwölften Imam bis zu dessen Rückkehr die Macht aus (BPB 10.1.2020).
Der Revolutionsführer (auch Oberster Führer, Oberster Rechtsgelehrter, religiöser Führer) ist seit 1989 Ayatollah Seyed Ali Hosseini Khamenei (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche USDOS 20.3.2023). Er wird von einer Klerikerversammlung (Expertenrat) auf Lebenszeit gewählt (AA 14.9.2021), ist höchste Autorität des Landes, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und ernennt den Leiter des Justizwesens sowie des staatlichen Rundfunks und die Mitglieder des Schlichtungsrats (FH 10.3.2023). Ihm unterstehen auch die Islamischen Revolutionsgarden (Pasdaran oder IRGC) inkl. der mehrere Millionen Mitglieder umfassenden, paramilitärischen Basij-Milizen. In der Hand religiöser Stiftungen und der „Garden“ liegen mächtige Wirtschaftsunternehmen, die von der infolge der US-Sanktionen wachsenden Schattenwirtschaft profitieren (ÖB Teheran 11.2021). Obwohl der Revolutionsführer oberste Entscheidungsinstanz ist, kann er zentrale Entscheidungen nicht gegen wichtige Machtzentren treffen. Die Revolutionsgarden, die direkt Revolutionsführer Khamenei unterstehen, bleiben ein militärischer, politischer und wirtschaftlicher Machtfaktor (AA 30.11.2022).
Entscheidende Gremien sind der vom Volk direkt gewählte Expertenrat mit 86 Mitgliedern sowie der Wächterrat mit zwölf Mitgliedern, davon sind sechs vom Obersten Führer ernannte Geistliche und sechs von der Judikative bestimmte (klerikale) Juristen, die vom Parlament bestätigt werden müssen (ÖB Teheran 11.2021). Des Weiteren gibt es noch den Schlichtungsrat. Er vermittelt im Gesetzgebungsverfahren und hat darüber hinaus die Aufgabe, auf die Wahrung der „Gesamtinteressen des Systems“ zu achten (AA 14.9.2021). Der Expertenrat ernennt den Obersten Führer und kann diesen (theoretisch) auch absetzen (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche USDOS 20.3.2023), er sollte die Arbeit des Revolutionsführers kontrollieren. In der Praxis scheint er die Entscheidungen des Revolutionsführers jedoch nicht herauszufordern (FH 10.3.2023). Auch wenn der Expertenrat nominell direkt von der Bevölkerung gewählt wird, hat der Revolutionsführer indirekt Einfluss auf dessen Zusammensetzung, da der Wächterrat, der zur Hälfte vom Revolutionsführer und zur Hälfte vom (durch den Revolutionsführer eingesetzten) Leiter des Justizwesens besetzt wird, die Kandidatenauswahl dafür vornimmt und den Wahlvorgang kontrolliert (USDOS 20.3.2023). Der Wächterrat hat mit einem Verfassungsgerichtshof vergleichbare Kompetenzen (Gesetzeskontrolle), ist jedoch wesentlich mächtiger. Ihm obliegt unter anderem auch die Genehmigung von Kandidaten bei allen nationalen Wahlen (ÖB Teheran 11.2021). Da der Wächterrat die Kandidaten für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen (majles oder Islamische Beratende Versammlung) überprüft und regelmäßig eine bedeutsame Anzahl an Kandidaten von der Wahl ausschließt und den Wahlvorgang kontrolliert, übt der Revolutionsführer somit indirekt Einfluss auf die legislativen und exekutiven Institutionen des Landes aus (USDOS 20.3.2023). Der Wächterrat ist somit das zentrale Mittel zur Machtausübung des Revolutionsführers (GIZ 2020).
Der Präsident ist nach dem Revolutionsführer der zweithöchsteAmtsträger im Staat. Er bildet ein Regierungskabinett, das vom Parlament bestätigt werden muss (FH 10.3.2023). Das iranische Regierungssystem ist damit ein semipräsidiales und an der Spitze der Regierung steht der vom Volk für vier Jahre direkt gewählte Präsident (ÖB Teheran 11.2021). Der Präsident ist für das tagespolitische Geschäft zuständig und hat einen bedeutsamen Einfluss auf die Innenund Außenpolitik des Landes (BBC 8.10.2022). Seine Macht ist allerdings vergleichsweise beschränkt (BBC 8.10.2022; vergleiche BPB 10.1.2020). Der religiöse Führer hat das letzte Wort in allen staatlichen Angelegenheiten (DW 16.6.2021). Die Macht des Präsidenten wird auch durch das Parlament eingeschränkt und der Wächterrat muss neuen Gesetzen zustimmen oder kann ein Veto einlegen (BBC 8.10.2022).

Quelle: BPB 10.1.2020
Am 18.6.2021 fanden in Iran Präsidentschaftswahlen statt (AA 14.9.2021). Gewonnen hat die Wahl der konservative Hardliner und vormalige Justizchef Ebrahim Raisi mit mehr als 62 % der Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei unter 50 % und war somit niedriger als jemals zuvor in der Geschichte der Islamischen Republik. In der Hauptstadt Teheran lag die Wahlbeteiligung bei nur 26 %. Zudem wurden mehr als 3,7 Millionen Stimmzettel für ungültig erklärt (Standard 19.6.2021). Der Wettbewerb um die Wählerstimmen war stark manipuliert. Der Wächterrat hatte im Vorfeld die meisten der 600 Präsidentschaftskandidaten - darunter auch 40 Frauen abgelehnt. Drei der genehmigten Kandidaten zogen ihre Kandidatur wenige Tage vor der Wahl zurück. Die Behörden übten auf die Medien Druck aus, um kritische Berichterstattung über Raisi oder den Wahlvorgang zu verhindern (FH 10.3.2023). In Folge der Präsidentschaftswahlen vom Juni 2021 befindet sich die gesamte Befehlskette in konservativer bzw. erzkonservativer Hand (Oberster Führer, Präsident/Regierungschef, Leiter der religiösen Judikative, Regierung, Parlament, Wächterrat, Expertenrat) (ÖB Teheran 11.2021).
Ebenfalls alle vier Jahre gewählt wird das Einkammerparlament, genannt Majles, mit 290 Abgeordneten, das gewisse legislative Kompetenzen hat und Ministern das Vertrauen entziehen kann (ÖB Teheran 11.2021). Die Bewerber um einen Parlamentssitz erhalten ihre Unterstützung nicht von Parteien, sondern von klerikalen und wirtschaftlichen Interessengruppen. Das Parlament ist die gesetzgebende Institution Irans. Allerdings muss bei Gesetzesvorhaben ihre Vereinbarkeit mit der islamischen Rechtstradition beachtet werden. Gesetzesvorschläge kommen von den Ministern oder den Abgeordneten. Ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz kann vom Wächterrat so lange an das Parlament zurückverwiesen werden, bis es seinen Vorstellungen entspricht (DW 16.6.2021). Bei den Parlamentswahlen vom 21.2.2020 haben (ultra-)konservative Kandidaten knapp 80 % der Sitze im Parlament gewonnen (AA30.11.2022). Vor derAbstimmung disqualifizierte der Wächterrat mehr als 9.000 der 16.000 Personen, die sich für eine Kandidatur angemeldet hatten, darunter eine große Anzahl reformistischer und gemäßigter Kandidaten (FH 10.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 42,6 %, was als die niedrigste Wahlbeteiligung in die Geschichte der Islamischen Republik einging (FH 10.3.2023; vergleiche AA 30.11.2022).
Präsident, Parlament und Expertenrat werden also in geheimen und direkten Wahlen vom Volk gewählt. Den OECD-Standards entspricht das Wahlsystem jedoch schon aus dem Grund nicht, dass sämtliche Kandidaten im Vorfeld durch den vom Revolutionsführer und Justizchef ernannten Wächterrat zugelassen werden müssen (AA 30.11.2022; vergleiche FH 10.3.2023, BPB 31.1.2020a). Dennoch kommt es in kaum einem anderen Land des Nahen Ostens zu derart umkämpften Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Die bestehenden programmatischen Differenzen zwischen prinzipientreuem Klerus und neokonservativen Technokraten, wirtschaftsliberalen Pragmatikern und klerikalen oder gar säkularen Reformern spiegeln einen Pluralismus in Iran wider, der allerdings phasenweise aufs Schärfste bedroht ist (BPB 31.1.2020a).
Das Regime reagierte auch unter der moderaten Regierung von Ex-Präsident Rohani in den letzten Jahren auf die wirtschaftliche Krise und immer wieder hochkommenden Unmut und Demonstrationen mit einem harten Vorgehen gegen Menschenrechtsverteidiger, Frauenrechtsaktivisten, religiöse und ethnische Minderheiten und Umweltaktivisten. Die Regierung Raisi ist noch dabei, ihre Machtstruktur auf allen Ebenen zu festigen. Sie hat jedoch bereits stärkere Einschränkungen der Meinungsfreiheit im Sinne der „islamischen Gesellschaftsordnung“ (Rolle der Frauen fokussiert auf Gebärfunktion), der Ablehnung „westlicher“ Kultur, der Unterdrückung von Kritik (Internetzensur) und eine stärkere Ausrichtung auf Russland und China und deren politische Modelle angekündigt (ÖB Teheran 11.2021).
Frauen haben das aktive Wahlrecht, werden bei der politischen Teilhabe allerdings mit bedeutsamen rechtlichen, religiösen und kulturellen Hindernissen konfrontiert. Nach Interpretation des Wächterrats verwehrt die iranische Verfassung es Frauen, die Ämter des Revolutionsführers oder Präsidenten, Funktionen im Experten-, Wächter- und Schlichtungsrat sowie mancher Richterposten anzutreten (USDOS 20.3.2023). Unter 40-Jährige, die etwa drei Viertel der iranischen Bevölkerung ausmachen, waren bislang größtenteils von jeglicher politischen Partizipation ausgeschlossen. Politische Ämter werden überwiegend von Männern der ersten Generation der Elite der Islamischen Republik - den heute über 70-jährigen Gründungsvätern - und der zweiten Generation - den heute über 60-jährigen Veteranen des Iran-Irak-Kriegs sowie Vertretern der Revolutionsgarden - regiert (BPB 31.1.2020a).
Nach dem Tod der 22-Jährigen Mahsa Jîna (ihr kurdischer Vorname) Amini am 16.9.2022 (US-DOS 20.3.2023) in Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei (Gasht-e Ershâd) in Teheran (BPB 16.2.2023) aufgrund eines angeblich unkorrekt getragenen Hidschabs kam es in Iran zu den größten Protesten seit Jahren (EN 1.2.2023). Der Protest erreichte schnell alle Teile des Landes und hat eine politische Dimension angenommen, die weit über die „Kopftuch-Frage“ und die Überlappung von geschlechtsspezifischer und ethnischer Diskriminierung hinausgeht.
Die von den Demonstrantinnen und Demonstranten verwendete Parole lautet „Zan, Zendegi, Âzâdi“ [Anm.: Persisch für „Frau, Leben, Freiheit“; ursprüngl. Kurdisch: Jin, Jîyan, Azadî] und ist gepaart mit der Forderung nach einem Regimewechsel. Die Proteste werden insbesondere von den folgenden Gruppen getragen: Frauen, Jugendliche, Studentinnen und Studenten sowie von marginalisierten Ethnien - insbesondere Kurden und Belutschen. Das iranische Regime reagierte mit massiver Repression auf die Proteste, zeitweise wurden rund 20.000 Personen inhaftiert und rund 500 Protestteilnehmer wurden von den Sicherheitskräften getötet. Die Proteste zeichnen sich bislang durch ihre Dezentralität, die Bedeutung von zivilem Ungehorsam und Flashmobs als Protestform - insbesondere durch Frauen, die ihr Kopftuch ablegen - und, wie vor allem in europäischen Debatten oft bemängelt wird, durch fehlende Organisations- und Führungsstrukturen aus (BPB 16.2.2023). Die fehlenden Führungsstrukturen sind sowohl Stärke als auch Schwäche der derzeitigen Proteste, bei denen das Internet und soziale Medien eine große Rolle zur Mobilisierung und Verbreitung der Protestbotschaften spielen: Einerseits machen die fehlenden Führungsstrukturen staatliche Repression schwieriger, andererseits erschweren sie auch die Herausbildung einer politischen Bewegung, welche eine politische Alternative zum derzeitigen System darstellen könnte (FR24 16.12.2022).
Anmerkung, Informationen zur Protestwelle seit September 2022 können insb. auch den Kapiteln
„Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition“ und „Ethnische Minderheiten“ sowie den dazugehörigen Unterkapiteln entnommen werden.
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.9.2021): Iran: Politisches Porträt, https://www.auswaertig es-amt.de/de/service/laender/iran-node/politisches-portrait/202450, Zugriff 24.3.2023;
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (30.11.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 18. November 2022), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2083021/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_a syl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_18.11.2
022%29%2C_30.11.2022.pdf, Zugriff 2.2.2023 [Login erforderlich];
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (5.2022): Länderreport 52 Iran: Konversion und Evangelikalismus aus der Sicht der staatlichen Verfolger, https://www.ecoi.net/en/ file/local/2079128/Deutschland._Bundesamt_f%C3%BCr_Migration_und_Fl%C3%BCchtlinge%
2C_Iran_-_Konversion_und_Evangelikalismus_aus_der_Sicht_der_staatlichen_Verfolger%2C_0 1.05.2022._%28L%C3%A4nderreport___52%29.pdf, Zugriff 16.3.2023;
BBC - British Broadcasting Corporation (8.10.2022): Who is in charge of Iran?, https://www.bbc.co m/news/world-middle-east-57260831, Zugriff 24.3.2023;
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (10.1.2020): Machtkonstante Theokratie: Iran nach 1979, https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/iran/40110/machtkonstante-the okratie-iran-nach-1979/, Zugriff 24.3.2023;
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (16.2.2023): Der revolutionäre Prozess in Iran, https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/iran/518072/der-revolutionaere-prozess -in-iran/, Zugriff 24.3.2023;
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (31.1.2020): Machtgefüge Iran: Kleriker, Garden – und eine Generation ohne Einfluss, https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-ost en/iran/40113/machtgefuege-iran-kleriker-garden-und-eine-generation-ohne-einfluss/, Zugriff 24.3.2023;
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Iran, https://www.ecoi.net/en/file /local/2069656/country_report_2022_IRN.pdf, Zugriff 14.2.2023;
DW - Deutsche Welle (16.6.2021): Irans Regierungssystem kurz erklärt, https://www.dw.com/de/ir ans-regierungssystem-kurz-erkl%C3%A4rt/a-57888174, Zugriff 24.3.2023;
EN - Euronews (1.2.2023): Iran protests: What caused them? Are they different this time? Will the regime fall?, https://www.euronews.com/2022/12/20/iran-protests-what-caused-them-who-is-gen eration-z-will-the-unrest-lead-to-revolution, Zugriff 14.3.2023;
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.3.2023): Schlaglicht auf einen Schattenkrieg, https: //www.faz.net/aktuell/politik/thema/iran, Zugriff 24.3.2023;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Iran, https://freedomhouse.org/c ountry/iran/freedom-world/2023, Zugriff 14.3.2023;
FR24 - France 24 (16.12.2022): Lack of leadership is both a strength and weakness of Iran’s protest movement, https://www.france24.com/en/middle-east/20221216-ni, Zugriff 27.3.2023;
GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (2020): Iran: Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/iran/geschichte-staat/, Zugriff 24.3.2023;
ÖB Teheran - Österreichische Botschaft Teheran [Österreich] (11.2021): Asylländerbericht – Islamische Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064921/IRAN_%C3%96B-Bericht_2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 [Login erforderlich];
Standard - Standard, Der (19.6.2021): Hardliner Raisi gewann Präsidentenwahl im Iran, https: //www.derstandard.at/story/2000127545908/kleriker-raisi-fuehrt-laut-medienberichten-bei-praesid entenwahl-im-iran, Zugriff 24.3.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089063.html, Zugriff 22.3.2023;
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 13.04.2023
Verglichen mit Nachbarstaaten wie dem Irak, Libanon, Syrien und Afghanistan hat Iran eine sehr starke Zentralregierung mit mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsbehörden. Mit Ausnahme von einigen peripheren Grenzregionen ist die Regierung im Besitz der Kontrolle über das gesamte Staatsterritorium. In den Provinzen West-Aserbaidschan und Kermanshah, an der westlichen Staatsgrenze zu Irakisch-Kurdistan, kommt es regelmäßig zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den Islamischen Revolutionsgarden (IRGC, Pasdaran) und separatistischen Gruppierungen, wie der Kurdistan Democratic Party of Iran (KDPI) und der Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê (PJAK) (BS 23.2.2022).
Die schwierige Wirtschaftslage und latente Spannungen im Land führen periodisch zu Kundgebungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Preiserhöhungen oder mit (religiösen) Lokalfeierund Gedenktagen. Dabei muss mit schweren Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten sowie mit Straßenblockaden gerechnet werden. Seit Mitte September 2022 kommt es in zahlreichen Städten des Landes zu Protesten gegen die Regierung. Bei Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Demonstrierenden sind zahlreiche Personen getötet oder verletzt worden. Teilweise wird scharfe Munition eingesetzt (EDA 10.2.2023). Die Sicherheitskräfte gingen insbesondere in Randgebieten wie den Provinzen Kurdistan sowie in Sistan und Belutschistan hart gegen Protestierende vor (Newsweek 1.12.2022; vergleiche UNHRC 7.2.2023). Während Mitglieder der Basij-Miliz in Teheran Demonstranten verprügelten, haben die Sicherheitsbehörden in Kurdistan, Belutschistan undAhwaz beispielsweise schwere Maschinengewehre, gepanzerte Fahrzeuge, schwere Artillerie und sogar Kampfhubschrauber zur Bekämpfung der Proteste in Stellung gebracht (TWI 14.10.2022).
[Anm.: s. Kap. „Versammlungsfreiheit“ sowie „ethnische Minderheiten“ samt der Unterkapitel für weitergehende Informationen zu den Protesten.]
Im ganzen Land besteht ein Risiko für Anschläge. In den Grenzprovinzen im Osten und Westen werden die Sicherheitskräfte immer wieder Ziel von bewaffneten Überfällen und Anschlägen (EDA 10.2.2023). Vor allem in Regionen mit einem hohen Anteil an Minderheiten in der Bevölkerung kommt es unregelmäßig zu Zwischenfällen mit terroristischem Hintergrund. Die iranischen Behörden haben seit einiger Zeit die allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen im Grenzbereich zum Irak und zu Pakistan, aber auch in der Hauptstadt Teheran erhöht (AA 8.2.2023).
In der Provinz Sistan und Belutschistan (Südosten, Grenze zu Pakistan/Afghanistan) kommt es regelmäßig zu Konflikten zwischen iranischen Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppierungen. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, und es gibt vermehrt Sicherheits- und Personenkontrollen (AA 8.2.2023). Die Grenzzone zu Afghanistan, das östliches Kerman und Sistan und Belutschistan stehen teilweise unter dem Einfluss von Drogenhändler- sowie von extremistischen Organisationen. Diese verüben immer wieder Anschläge und setzen teilweise Landminen auf Überlandstraßen ein. Es kann hier jederzeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften kommen (EDA 10.2.2023). An der Grenze zu Afghanistan kommt es auch immer wieder zu Schusswechseln zwischen iranischen Sicherheitsbehörden und Grenzschützern der Taliban (IRINTL 3.9.2022).
In der Provinz Kurdistan und der ebenfalls von Kurden bewohnten Provinz West-Aserbaidschan gibt es wiederholt Anschläge gegen Sicherheitskräfte, Personal der Justiz und Angehörige des Klerus. In diesem Zusammenhang haben Sicherheitskräfte ihr Vorgehen gegen kurdische Separatistengruppen sowie Kontrollen mit Checkpoints noch einmal verstärkt (AA 8.2.2023). Im iranisch-irakischen Grenzgebiet sind zahlreiche Minenfelder vorhanden (in der Regel Sperrzonen). Gelegentlich kommt es zu Schusswechseln zwischen aufständischen Gruppierungen, kriminellen Banden und den Sicherheitskräften (EDA 10.2.2023). Im Herbst 2022 schoss Iran zur Bekämpfung iranisch-kurdischer Gruppen mehr als 70 Raketen über die Grenze auf Gebiete des benachbarten Irak - der größte grenzüberschreitende Angriff des Landes seit den 1990er-Jahren (DW 13.11.2022; vgl.K24 28.11.2022, Rudaw 28.9.2022).
Gelegentlich kommt es auch im Grenzgebiet zur Türkei zu Schusswechseln zwischen militanten Gruppierungen und den iranischen Sicherheitskräften. Auch für unbeteiligte Personen besteht das Risiko, unversehens in einen Schusswechsel zu geraten (EDA 10.2.2023).
Seit 2015 wurden nach iranischen Angaben in der Provinz Khuzestan und in anderen Landesteilen, auch in Teheran, wiederholt Personen verhaftet, die mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) in Verbindung stehen und Terroranschläge in Iran geplant haben sollen (AA 8.2.2023; vergleiche TWI 31.10.2022). Im Oktober 2022 fand laut der iranischen Nachrichtenagentur IRNA ein Anschlag auf einen schiitischen Schrein in der südiranischen Stadt Shiraz [Provinz Fars] statt, bei dem mindestens 15 Menschen getötet wurden und zu dem sich der IS bekannt hat (AJ 26.10.2022; vergleiche MAITIC 3.11.2022). Dies war der erste Anschlag des IS auf iranischem Boden seit 2018. Zuvor hatte der afghanische Zweig des IS - Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) mehrere Drohungen gegen den iranischen Staat ausgesprochen (TWI 31.10.2022).
Der neue de facto-Anführer von al-Qaida - sein Amtsantritt wurde bislang nicht offiziell bekannt gegeben - Sayf al-Adl befindet sich nach Einschätzungen von Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats in Iran (UNSC 13.2.2023).
Den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage in Iran auswirken (EDA 10.2.2023).
Im Jänner und April 2023 wurde von israelischen Drohnenangriffen auf militärische Ziele in Iran berichtet (IRINTL 5.4.2023, RFE/RL 31.1.2023). Im vergangenen Jahr kam es in Iran zu einer Reihe von Zwischenfällen, darunter Sabotage- und Cyberangriffe, Attentate und die mysteriöse Ermordung von Mitgliedern der IRGC sowie von Wissenschaftlern und Ingenieuren. Teheran hat einige der Vorfälle Israel, seinem regionalen Feind, angelastet (RFE/RL 31.1.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.2.2023): Iran: Reise- und Sicherheitshinweise (Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/laender/iran-node/iransicherheit/202396#cont ent_5, Zugriff 15.3.2023 [Login erforderlich];
AJ - Al Jazeera (26.10.2022): Attack on Shiraz shrine kills 15: Iranian state media, https://www. aljazeera.com/news/2022/10/26/attack-on-shiraz-shrine-kills-15-iranian-state-media, Zugriff 7.4.2023;
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Iran, https://www.ecoi.net/en/file /local/2069656/country_report_2022_IRN.pdf, Zugriff 14.2.2023;
DW - Deutsche Welle (13.11.2022): Northern Iraq: A new base for Iran’s protest movement?, https://www.dw.com/en/northern-iraq-a-new-base-for-irans-protest-movement/a-63731091, Zugriff 6.4.2023;
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (10.2.2023): Reisehinweise für den Iran, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise /iran/reisehinweise-fuerdeniran.html, Zugriff 7.4.2023;
IRINTL - Iran International (3.9.2022): Four Iranian Forces Killed In Clashes With Taliban Border Guards, https://www.iranintl.com/en/202203098998, Zugriff 7.4.2023;
IRINTL - Iran International (5.4.2023): IRGC Say Drone Downed Near Military Site Amidst Governorate Denials, https://www.iranintl.com/en/202304055252, Zugriff 7.4.2023;
K24 - Kurdistan 24 (28.11.2022): Who are the Iranian-Kurdish rebels in northern Iraq?, https: //www.kurdistan24.net/en/story/30066-Who-are-the-Iranian-Kurdish-rebels-in-northern-Iraq, Zugriff 6.4.2023;
MAITIC - Meir Amit Intelligence and Terrorism Infomation Center (3.11.2022): ISIS’s attack on a Shiite shrine in Shiraz, Iran: analysis and possible implications, https://www.terrorism-info.org. il/en/isiss-attack-on-a-shiite-shrine-in-shiraz-iran-analysis-and-possible-implications/, Zugriff 7.4.2023;
Newsweek - Newsweek (1.12.2022):As Iran Unrest Turns toArmed Clashes, Government Prepares Fight to Survive, https://www.newsweek.com/iran-unrest-turns-armed-clashes-government-prepa res-fight-survive-1763724, Zugriff 7.4.2023;
RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (31.1.2023): Suspected Israeli Drone Strike In Iran Part Of New ’Containment Strategy’, https://www.rferl.org/a/iran-suspected-israeli-drone-strikes-conta inment/32247689.html, Zugriff 7.4.2023;
Rudaw - Rudaw Media Network (28.9.2022): IRGC rains down missiles, drones on Kurdistan
Region killing nine, https://www.rudaw.net/english/kurdistan/28092022, Zugriff 6.4.2023;
TWI - Washington Institute for Near East Policy, The (14.10.2022): As Anti-Regime Protests Swell Across Iran, Ethnic Minorities Demand Freedom and Equality, https://www.washingtoninstitute.or g/policy-analysis/anti-regime-protests-swell-across-iran-ethnic-minorities-demand-freedom-and, Zugriff 14.3.2023;
TWI - Washington Institute for Near East Policy, The (31.10.2022): The Islamic State Attacks the Islamic Republic, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/islamic-state-attacks-islamic -republic, Zugriff 7.4.2023;
UNHRC - United Nations Human Rights Council (7.2.2023): Situation of human rights in the Islamic Republic of Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2088389/G2301095.pdf, Zugriff 14.3.2023;
UNSC - United Nations Security Council (13.2.2023): Thirty-first report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team submitted pursuant to resolution 2610 (2021) concerning ISIL
(Da’esh), Al-Qaida and associated individuals and entities, https://www.ecoi.net/en/file/local/208 7006/N2303891.pdf, Zugriff 27.3.2023;
Verbotene Organisationen
Letzte Änderung: 13.04.2023
Die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen kann zu staatlichen Zwangsmaßnahmen und Sanktionen führen. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder die islamischen Grundsätze infrage stellt. Dies ist besonders ausgeprägt bei Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der Islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden (AA 30.11.2022).
In den iranischen Oppositionsgruppen spiegeln sich unterschiedliche politische Missstände, ethnische Spannungen und ideologische Strömungen wider. Die sichtbarsten Gegner des Regimes sitzen teilweise oder ganz außerhalb Irans. Ihre Ziele sind entweder ein Regimewechsel oder die Selbstbestimmung einer ethnischen Gruppe innerhalb Irans. Die Regierung hat Mitglieder der nachstehend erwähnten Gruppierungen verfolgt und strafrechtlich belangt. Einige Gruppierungen haben Verbindungen zu benachbarten Regierungen in der Region, andere operieren von Europa aus (USIP 2.7.2020).
Zu den militanten separatistischen Gruppen in Iran zählen insbesondere die kurdisch-marxistische Komala(h)-Partei(en), die Democratic Party of Iranian Kurdistan (KDPI), die Partiya Jiyana Azad a Kurdistane [Partei für ein freies Leben in Kurdistan] (PJAK), die eng mit ihrer Schwesterorganisation, der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans - PKK, zusammenarbeitet, die aus Belutschistan stammende Jundallah (AA 30.11.2022), ihre Absplitterung Jaish al-Adl (Armee der Gerechtigkeit [JAA, JUA]) und das Arab Struggle Movement for the Liberation of Ahwaz (ASMLA) in der Provinz Khuzestan. Die Mujahadeen-e Khalq (MEK) tritt vom Exil aus für einen Regimewechsel ein. Sie hat sich ab 2003 von der Gewalt losgesagt (USIP 2.7.2020).
Die iranischen Geheimdienste überwachen die Aktivitäten von Gruppierungen wie der MEK, Angehörige der separatistischen Befreiungsbewegung für die Ahwaz-Region sowie iranischkurdische Bewegungen auch im westlichen Ausland (BMP 7.10.2022). In einzelnen Fällen kam es auch zu Entführungen und Tötungen von Dissidenten im Ausland (USIP 5.4.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (30.11.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 18. November 2022), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2083021/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_a syl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_18.11.2 022%29%2C_30.11.2022.pdf, Zugriff 2.2.2023 [Login erforderlich];
BMP - Berliner Morgenpost (7.10.2022): Gewalt im Iran: Innenminister wollen Abschiebestopp prüfen, https://www.morgenpost.de/politik/article236619987/iran-proteste-innenministerium-absch iebestopp-asyl.html, Zugriff 14.3.2023;
USIP - United States Institute of Peace [USA] (2.7.2020): Profiles: Iranian Opposition Groups, https://iranprimer.usip.org/blog/2020/jul/02/profiles-iranian-opposition-groups, Zugriff 16.3.2023;
USIP - United States Institute of Peace [USA] (5.4.2023): Profiles: Iran’s Intelligence Agencies, https://iranprimer.usip.org/blog/2023/apr/05/profiles-iran%E2%80%99s-intelligence-agencies, Zugriff 11.4.2023;
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 13.04.2023
Das in der iranischen Verfassung enthaltene Gebot der Gewaltenteilung ist in der Praxis stark eingeschränkt (AA 30.11.2022; vergleiche BS 23.2.2022). Artikel 57, der Verfassung verleiht dem Revolutionsführer weitreichende Aufsichtsbefugnisse über das Justizwesen (BS 23.2.2022). Er ernennt für jeweils fünf Jahre den Chef der Judikative (AA 30.11.2022; vergleiche FH 10.3.2023), der wiederum für die Ernennung und Entlassung von Richtern zuständig ist (BS 23.2.2022). Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 30.11.2022). Während die Gerichte innerhalb des herrschenden Establishments ein gewisses Maß an Autonomie genießen, wird das Justizsystem jedoch regelmäßig als Instrument eingesetzt, um Regimekritiker und Oppositionelle zum Schweigen zu bringen (FH 10.3.2023). Der Sicherheitsapparat (AA 30.11.2022) insbesondere die Revolutionsgarden (BS 23.2.2022) - nehmen v.a. in politischen Fällen jedoch massiven Einfluss auf Urteilsfindung und Strafzumessung (AA 30.11.2022; vergleiche BS 23.2.2022).
Das Justizwesen ist geprägt von Korruption (AA 30.11.2022; vergleiche USIP 1.8.2015). Es wird von Fällen berichtet, in denen Richter bestochen wurden, um Gerichtsprozesse zu beeinflussen (IrWire 28.4.2021).
Iranische Gerichte, insbesondere Revolutionsgerichte, sind regelmäßig weit davon entfernt, faire Gerichtsverfahren zu gewährleisten (HRW 12.1.2023). So verweigerten die Behörden z.B. Untersuchungshäftlingen den Zugang zu einem Rechtsbeistand, ließen Inhaftierte „verschwinden“ oder hielten sie ohne Kontakt zur Außenwelt fest (AI 27.3.2023), ließen in Prozessen „Geständnisse“ als Beweise zu, die unter Folter erpresst worden waren (AI 27.3.2023; vergleiche HRW 12.1.2023), und führten summarische und geheime Scheinprozesse durch, die keinerlei Ähnlichkeit mit fairen Verfahren aufwiesen, in denen jedoch Haftstrafen, Körperstrafen und Todesurteile verhängt wurden (AI 27.3.2023). Im Zusammenhang mit den weitverbreiteten Protesten haben die Justizbehörden im September und November 2022 über 1.000 Anklagen erhoben (HRW 12.1.2023), wobei in den ersten Wochen der Proteste über 15.000 Personen inhaftiert worden sind. Im Laufe des Jahres 2022 wurden Tausende Menschen willkürlich inhaftiert und/oder zu Unrecht strafrechtlich verfolgt, nur weil sie friedlich ihre Menschenrechte wahrgenommen haben. Unzählige weitere bleiben zu Unrecht in Haft (AI 27.3.2023).
Gerichtswesen
Die iranische Justiz verwaltet ein vielschichtiges Gerichtssystem. Eine Strafverfolgung geht von niedrigeren Gerichten aus und kann bei höheren Gerichten angefochten werden. Der Oberste Gerichtshof überprüft Fälle von Kapitalverbrechen und entscheidet über Todesurteile. Er hat auch die Aufgabe, für die ordnungsgemäße Anwendung der Gesetze und die Einheitlichkeit der Gerichtsverfahren zu sorgen (USIP 1.8.2015). Die allgemeinen Gerichte des Iran sind offiziell damit beauftragt, alle Arten von Fällen und Streitigkeiten zu schlichten. Diese verteilen sich auf die kleineren Landkreise, Bezirke und Distrikte des Landes. In den Strafgerichten werden Fälle gemäß der iranischen Strafprozessordnung behandelt, in den Zivilgerichten [Anm.: im Originaltext „legal courts“] gilt die Zivilprozessordnung (IrWire 9.9.2020).
Die Strafgerichte unterteilen sich in verschiedene Untereinheiten (IrWire 9.9.2020): Neben den Strafgerichten 1 und 2 existieren die Revolutionsgerichte, Jugendgerichte und Militärgerichte (Landinfo/et al. 12.2021). Darüber hinaus gibt es mehrere Sondergerichte (IrWire 9.9.2020), darunter beispielsweise ein Sondergericht für die Geistlichkeit (dadgah-e vīzheh-ye rouhaniyat), das als einziges Gericht nicht dem Justizchef, sondern direkt dem Revolutionsführer untersteht (Landinfo/et al. 12.2021). Es wird u.a. dazu genutzt, um prominente Kleriker, welche Kritik am Regime äußern, strafrechtlich zu verfolgen (IrWire 9.9.2020; vergleiche USIP 1.8.2015). Das Gesetz ermöglicht die Einsetzung eines zuständigen Gerichts zur Behandlung von Verstößen gegen das Pressegesetz von 1986 - sogenannte Pressegerichte - die unter Einbeziehung von Schöffen tagen sollen. Derzeit werden Journalisten allerdings eher vor Revolutionsgerichten wegen Vergehen gegen die nationale Sicherheit, „Propaganda gegen den Staat“ und/oder das „Schüren von Angst in der öffentlichen Meinung“ angeklagt - nach Ansicht eines Experten, um Prozesse unter Anwesenheit von Schöffen zu vermeiden. Pressegerichte sind derzeit nicht im Einsatz (Landinfo/et al. 12.2021).
Die Verfassung sieht weder die Einrichtung noch das Mandat der Revolutionsgerichte vor, die gemäß dem Dekret des ehemaligen obersten Führers, Ayatollah Khomeini, unmittelbar nach der Revolution von 1979 geschaffen wurden, wobei ein Scharia-Richter zum Leiter der Gerichte ernannt worden ist. Die Gerichte waren ursprünglich als vorübergehende Maßnahme gedacht, um hochrangige Beamte der abgesetzten Monarchie vor Gericht zu stellen, aber sie wurden später institutionalisiert und arbeiten weiterhin parallel zum restlichen Strafjustizsystem (USDOS 20.3.2023). Die Revolutionsgerichte sollten eigentlich von der Justiz beaufsichtigt werden. In der Praxis werden sie allerdings von und für Sicherheitsbehörden betrieben, die außerhalb des Gesetzes stehen (IrWire 9.9.2020). Manche Quellen gehen davon aus, dass die Revolutionsgerichte in Zusammenarbeit mit den Revolutionsgarden und dem Geheimdienstministerium (MOIS) operieren (Landinfo/et al. 12.2021).
Die Revolutionsgerichte haben verschiedene Zweige in der Hauptstadt, in den Provinzen und in manchen Justizdistrikten (Landinfo/et al. 12.2021). Die Zuständigkeit der Revolutionsgerichte beschränkt sich auf die folgenden Delikte:
• Beleidigung des Revolutionsgründers Ayatollah Khomeini und aller Revolutionsführer, die ihm nachfolgen (JIS 8.9.2018; vergleiche IrWire 9.9.2020);
• Verschwörung gegen das Regime; Anschläge auf politische Personen oder Einrichtungen
(JIS 8.9.2018); „baghei“: bewaffneter Aufstand gegen die Regierung (IrWire 9.9.2020);
• Spionage gegen das Regime (JIS 8.9.2018);
• alle Schmuggel- und Drogendelikte (JIS 8.9.2018);
• Straftaten betreffend die nationale Sicherheit des Landes; Anstiftung zur Verhetzung (JIS 8.9.2018); „mohārebeh“: Waffenaufnahme gegen Gott und Staat (IrWire 9.9.2020);
• in Artikel 49, der Verfassung erwähnte Delikte wie Bestechung, Korruption, Unterschlagung öffentlicher Mittel und Verschwendung von Volksvermögen (JIS 8.9.2018).
Strafrecht undSharia
Die Verfassung Irans ist ein hybrides System aus republikanisch-demokratischen und theokratisch-autoritären Elementen unter dem Vorrang des islamischen Rechts der Ja’afari-Rechtsschule (BAMF 5.2021). Die iranische Verfassung besagt, dass alle Gesetze sowie die Verfassung auf islamischen Grundsätzen beruhen müssen (ÖB Teheran 11.2021). Von den drei Staatsgewalten haben die Geistlichen in der Judikative die stärkste Präsenz, wobei sie eine Ausbildung in islamischer Rechtswissenschaft oder Abschlüsse von religiösen Rechtsschulen haben müssen, um Richter zu werden. Der Chef der Justiz, der Generalstaatsanwalt des Landes und alle Richter des Obersten Gerichtshofs müssen hochrangige Geistliche oder Mujtahids sein (USIP 1.8.2015), also Rechtsgelehrte, die nach schiitischer Auslegung dazu qualifiziert sind, Ijtihad zu betreiben (EB o.D.a), d.h. islamische Texte in ungeklärten Rechtsfragen unabhängig auszulegen (EB o.D.b). Die iranische Justiz ist insofern ein einzigartiges System, als sie islamische Prinzipien und eine vom französischen System inspirierte Gesamtstruktur kombiniert. Nach der islamischen Revolution wurde das Justizsystem stark verändert, um die Scharia einzubeziehen.
Das neue System wurde jedoch auf einer bereits bestehenden säkularen Struktur aufgebaut, wodurch ein sehr komplexes Justizwesen entstanden ist (Landinfo/et al. 12.2021).
Mit der islamischen Revolution von 1979 kam es zur Wiedereinführung des islamischen Strafrechts, das die bisherige, vom „code pénal napoléon“ von 1810 beeinflusste Gesetzgebung, ablöste und sich aus drei eigenständigen Teilbereichen zusammensetzt (BAMF 5.2021). Die Schwere und Art einer Straftat sowie die vorgeschriebene Strafe bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung des Falles zuständig ist. Artikel 14, des Islamischen Strafgesetzbuches (IStGB) unterteilt Verbrechen in vier Strafkategorien gemäß der Scharia: Hadd, Qisas, Diyah und Ta’zir (Landinfo/et al. 12.2021).
Hadd-Delikte umfassen Unzucht/Ehebruch (zina), Sodomie (levat), lesbische Beziehung (mosaheqeh), Beschaffung von Prostitution (qavadī), falsche Anschuldigung der Unzucht/Sodomie (qazf), Verleumdung des Propheten (sabb-e nabī), Alkoholkonsum (shorb-e-khamr), Raub/Diebstahl, Waffennahme gegen Gott (mohārebeh ba khoda), Korruption auf Erden (efsad fe-l-arz) und Rebellion (baghei). Zu den Hadd-Strafen gehören die Todesstrafe, Steinigung, Kreuzigung, Auspeitschung, Amputation (von Hand und Fuß), lebenslange Haft und Verbannung. Art und Umfang dieser Strafen werden vom islamischen Recht bestimmt und gelten als von Gott festgelegt, sie können daher von einem Richter nicht abgeändert oder begnadigt werden. Aufgrund der Schwere der Strafen und der Tatsache, dass sie unveränderlich sind, gelten strenge Beweis- und andere Anforderungen. Iranische Aktivisten und Dissidenten, darunter Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, werden normalerweise mit vage formulierten und weit gefassten Anklagen konfrontiert, die aus dem IStGB stammen. Die Hadd-Verbrechen „Waffennahme gegen Gott“ (mohārebeh) und „Korruption auf Erden“ (efsād fe-l-arz) sind dabei die berüchtigtsten (Landinfo/et al. 12.2021). Hadd-Strafen werden im zweiten Buch des IStGB (Artikel 217 –, 288,) behandelt (BAMF 5.2021).
Qisas-Vebrechen sind sogenannte Talions- oder Vergeltungsstrafen (Landinfo/et al. 12.2021; vergleiche BAMF 5.2021). Sie basieren auf einem Prinzip des islamischen Rechts, den Opfern eine analoge Vergeltung für Gewaltverbrechen wie Totschlag oder Körperverletzung zu erlauben – unter der Voraussetzung, dass die Taten vorsätzlich waren. Angehörige eines Tötungsopfers (nächste Familienangehörige) und Opfer von Körperverletzung können alternativ ihre Forderung nach Vergeltung gegen Geldentschädigung (Diyah), also Blutgeld, zurücknehmen und den Täter freilassen. Sie können dem Täter auch ganz vergeben und auf Diyah verzichten. Das iranische Rechtssystem betrachtet diese Verbrechen als Angelegenheit zwischen Privatpersonen. Die Rolle des Staates besteht darin, die Ermittlungen und Gerichtsverfahren in diesen Fällen zu erleichtern und sicherzustellen, dass nachfolgende Bestrafungen in organisierter Form erfolgen. Doch selbst wenn die Bluträcher auf ihren Anspruch auf Vergeltung verzichten, kann der Staat eine zusätzliche Strafe verhängen, wenn er der Ansicht ist, dass das Verbrechen die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Gesellschaft stört. In Fällen von Körperverletzung ist Vergeltung selten. Auch bei Mord ist es für die Angehörigen oftmals attraktiver, Diyah anzunehmen. Bei nicht vorsätzlicher Körperverletzung oder Totschlag ist Diyah dagegen grundsätzlich vorgesehen (und nicht nur als Alternative zu Vergeltung, so die Opfer oder ihre Angehörigen zustimmen). Diyah wird weiters auch in manchen Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung angewendet, in denen Vergeltung verboten oder undurchführbar ist (Landinfo/et al. 12.2021). Qisas-Strafen werden im dritten Buch (Artikel 289 –, 447,) und im vierten Buch das Blutgeld bzw. Diyah (Artikel 448 –, 728,) behandelt (BAMF 5.2021).
Für alle sonstigen aus Sicht der Rechtsordnung strafwürdigen Taten sind Ta’zir-Strafen (BAMF 5.2021; vergleiche Landinfo/et al. 12.2021) - Ermessensstrafen - und sogenannte „Abschreckungsstrafen“ (mojāzāt-e bāzdārandeh) vorgesehen. Letztere dienen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Während Hadd, Qisas und Diyah durch islamisches Recht definiert werden, leiten sich Ta’zir und Abschreckungsstrafen aus dem staatlichen Recht ab. In diese Kategorien fallen zum Beispiel Straftaten gegen die interne und externe Sicherheit des Staates (Artikel 498512 und 610-611 IStGB); Fälschung (Artikel 523 -, 542, IStGB); Vergehen gegen öffentliche Moral und Anstand (Artikel 637 -, 641, IStGB) - beispielsweise ungehörige Beziehungen zwischen Männern und Frauen, wie z. B. Berührungen und Küsse (Artikel 637,), oder unislamische Kleidung (Artikel 638,); Diebstahl (Artikel 651 -, 667, IStGB); sowie öffentliche Konsumation von Alkohol, Glücksspiel und Vagabundieren (Artikel 701 -, 713, IStGB). Ta’zīr-Strafen werden nach Art und Umfang nach Ermessen des Richters (auf der Grundlage des kodifizierten Rechts) verhängt (Landinfo/et al. 12.2021).
Wenn sich Gesetze, die seit der Gründung der Islamischen Republik erlassen wurden, mit einer spezifischen Rechtssituation nicht befassen, rät die Regierung den Richtern, ihrer Kenntnis und Auslegung der Scharia (islamisches Gesetz) Vorrang einzuräumen. Bei dieser Methode können Richter eine Person aufgrund ihres eigenen „göttlichen Wissens“ [divine knowledge] für schuldig erklären (USDOS 20.3.2023).
Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis, Rechtsschutz
Bei Delikten, die im starken Widerspruch zu islamischen Grundsätzen stehen, können jederzeit Körperstrafen ausgesprochen und auch exekutiert werden (ÖB Teheran 11.2021). Im iranischen Strafrecht sind also körperliche Strafen wie die Amputation von Fingern, Händen und Füßen vorgesehen. Berichte über erfolgte Amputationen dringen selten an die Öffentlichkeit. Wie hoch die Zahl der durchgeführten Amputationen ist, kann nicht geschätzt werden (AA 30.11.2022). Auf die Anwendung der Vergeltungsstrafen (Qisas) der Amputation (z.B. von Fingern bei Diebstahl) und der Blendung kann der Geschädigte gegen Erhalt eines Abstandsgeldes (Diyah) verzichten. Derzeit ist bei Ehebruch noch die Strafe der Steinigung vorgesehen. Auch auf diese kann vom Geschädigten gegen Diyah verzichtet werden. Im Jahr 2002 wurde ein Moratorium für die Verhängung der Steinigungsstrafe erlassen, seit 2009 sind keine Fälle von Steinigungen belegbar (ÖB Teheran 11.2021).
Verlässliche Aussagen zur Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis sind nur eingeschränkt möglich, da diese sich durch Willkür auszeichnet. Mitunter bewusst unbestimmte Formulierungen von Straftatbeständen und Rechtsfolgen sowie eine unzureichende Kontrolle innerhalb der Justiz ermöglichen ein willkürliches Handeln von Richtern. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass Gerichte in politischen Verfahren nicht unabhängig agieren. Auch willkürliche Verhaftungen kommen häufig vor und führen dazu, dass Häftlinge ohne ein anhängiges Strafverfahren festgehalten werden. Wohl häufigster Anknüpfungspunkt für Diskriminierung im Bereich der Strafverfolgung ist die politische Überzeugung. Beschuldigten bzw. Angeklagten werden grundlegende Rechte vorenthalten, die auch nach iranischem Recht eigentlich garantiert sind. Untersuchungshäftlinge werden bei Verdacht einer Straftat unbefristet ohne Anklage festgehalten. Oft erhalten Gefangene während der laufenden Ermittlungen keinen rechtlichen Beistand, weil ihnen dieses Recht bewusst verwehrt wird oder ihnen die finanziellen Mittel fehlen. Bei bestimmten Anklagepunkten – wie Gefährdung der nationalen Sicherheit – dürfen Angeklagte zumindest im Anfangsstadium des Verfahrens nur aus einer Liste mit vom Staat zugelassenen und damit mutmaßlich systemfreundlichen Anwälten auswählen. Insbesondere bei politisch motivierten Verfahren gegen Oppositionelle erfolgt die Anklage oft aufgrund konstruierter oder vorgeschobener Straftaten. Die Strafen sind in Bezug auf die vorgeworfene Tat oft unverhältnismäßig hoch, besonders bei Verurteilungen wegen Äußerungen in sozialen Medien oder Engagement gegen die Hijab-Pflicht (Kopftuchzwang) (AA 30.11.2022).
Hafterlass ist nach Ableistung der Hälfte der Strafe möglich. Amnestien werden unregelmäßig vom Revolutionsführer auf Vorschlag des Chefs der Justiz im Zusammenhang mit hohen religiösen Feiertagen und dem iranischen Neujahrsfest am 21. März ausgesprochen (AA 30.11.2022).
Rechtsschutz ist nur eingeschränkt gegeben (AA 30.11.2022). Es gibt Fälle von Rechtsanwälten, welche Dissidenten vertraten und daraufhin inhaftiert und mit einem Berufsverbot belegt worden sind (FH 10.3.2023). Anwälte, die politische Fälle übernehmen, werden systematisch eingeschüchtert oder an der Übernahme der Mandate gehindert, zum Teil auch selbst inhaftiert und verurteilt. Der Zugang von Verteidigern zu staatlichem Beweismaterial wird häufig eingeschränkt oder verwehrt. Die Unschuldsvermutung wird – insbesondere bei politisch aufgeladenen Verfahren – nicht beachtet. Zeugen werden durch Drohungen zu belastenden Aussagen gezwungen. Insbesondere Isolationshaft wird genutzt, um politische Gefangene und Journalisten psychisch unter Druck zu setzen. Gegen Kautionszahlungen können Familienmitglieder die Isolationshaft in einzelnen Fällen verhindern oder verkürzen. Fälle von Sippenhaft existieren, meistens in politischen Fällen. Üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (AA 30.11.2022).
Strafverfahren vor den Revolutionsgerichten finden oft hinter verschlossenen Türen unter dem Vorsitz von Geistlichen statt, ohne dass Standardgarantien eines Strafverfahrens, wie etwa die Gewährung von Zeit und Zugang zu Anwälten zur Vorbereitung einer Verteidigung, gewährleistet sind (Conversation 13.1.2023). Anwälte benötigen in der Regel schon alleine dafür die Erlaubnis der Richter, um den Gerichtssaal betreten zu können. Anwälten von Personen, die in der Vergangenheit wegen mohārebeh angeklagt waren, wurde manchmal die Teilnahme am Prozess verweigert. In anderen sicherheitsrelevanten Fällen durften sie teilnehmen, aber ihr Recht auf eine angemessene Verteidigung wurde eingeschränkt (Landinfo/et al. 12.2021). Laut Menschenrechtsgruppen und internationalen Beobachtern werden vor Revolutionsgerichten, die im Allgemeinen die Fälle politischer Gefangener anhören, routinemäßig grob unfaire Gerichtsverfahren ohne ordnungsgemäße Verfahren abgehalten; es werden vorab festgelegte Urteile verkündet und Hinrichtungen für politische Zwecke befürwortet. Diese unlauteren Praktiken treten Berichten zufolge in allen Phasen der Strafverfahren vor den Revolutionsgerichten auf (USDOS 20.3.2023). Die Revolutionsgerichte haben sich bei der Verurteilung von Personen im Zusammenhang mit den Protesten seit September 2022 auf unter Folter oder durch andere Zwangsmittel erzwungene Geständnisse als Beweismittel gestützt, unter anderem auch bei Todesurteilen (UNHRC 7.2.2023). Die Revolutionsgerichte sehen meist davon ab, das Urteil an die Angeklagten zu übermitteln. In der Regel laden sie den Anwalt des Angeklagten vor Gericht und verlesen das Urteil. Solche Urteile sind folglich auf der elektronischen Datenbank Adliran nicht zugänglich. Rechtsanwälte dürfen Urteile lediglich direkt bei Gericht lesen und sich dort Notizen machen (Landinfo/et al. 12.2021).
In Iran gibt es eine als unabhängige Organisation aufgestellte Rechtsanwaltskammer (Iranian Bar Association; IBA), deren Unabhängigkeit die Judikative einzuschränken versucht. Anwälte der IBA sind staatlichem Druck und Einschüchterungsmaßnahmen ausgesetzt (AA 30.11.2022).
Doppelbestrafung
Das Verbot der Doppelbestrafung gilt nur stark eingeschränkt. Nach dem IStGB werden Iraner oderAusländer, die bestimmte Straftaten imAusland begangen haben und in Iran festgenommen werden, nach den jeweils geltenden iranischen Gesetzen bestraft. Auf die Verhängung von islamischen Strafen haben bereits ergangene ausländische Gerichtsurteile keinen Einfluss; die Gerichte erlassen eigene Urteile. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen drohen drastische Strafen. In jüngster Vergangenheit sind keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden (AA 30.11.2022).
Quellen
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USIP - United States Institute of Peace [USA] (1.8.2015): The Islamic Judiciary, https://iranprimer .usip.org/resource/islamic-judiciary, Zugriff 30.3.2023;
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 13.04.2023
Diverse Behörden teilen sich die Verantwortung für die innere Sicherheit. Das Informationsoder Geheimdienstministerium [vezarat -e etela’at - VAJA, wobei auch das englischsprachige Akronym MOIS weit verbreitet ist] und die Strafverfolgungsbehörden unterstehen dem Innenministerium, das dem Präsidenten verantwortlich ist. Die Islamischen Revolutionsgarden [sepah-e pasdaran -e enqhelab -e Islami - IRGC] unterstehen direkt dem Obersten Führer Khamenei. Die Basij, eine aus Freiwilligen bestehende paramilitärische Gruppierung, agieren zum Teil unter den Revolutionsgarden als Hilfseinheiten zum Gesetzesvollzug. Die Revolutionsgarden und die nationale Armee (Artesh) sorgen für die externe Verteidigung (USDOS 20.3.2023). Die zivilen Behörden bzw. die Regierung behalten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte (USDOS 20.3.2023; vergleiche BS 23.2.2022) und über den größten Teil des Landes, mit Ausnahme einiger Grenzgebiete (BS 23.2.2022). Der Oberste Führer hat die höchste Autorität über alle Sicherheitsorganisationen (USDOS 20.3.2023).
Polizei - Strafverfolgungsbehörde NAJA
Die iranische Polizei wird offiziell „Strafverfolgungsbehörde“ (nīrū-ye entezāmī-ye jomhūrīye eslāmī-ye īrān) genannt und ist auch unter ihrem Akronym in Farsi bekannt, nämlich NAJA. Sie unterteilt sich in verschiedene Zweige (Landinfo/et al. 12.2021): Kriminalpolizei, Polizei für Sicherheit und öffentliche Ordnung (Sittenpolizei), Internet-, Drogen-, Militär-, Luftfahrt- sowie Grenzschutzpolizei, Küstenwache, eine Polizeispezialtruppe zur Terrorismusbekämpfung und Verkehrspolizei. Die Polizei hat auch einen eigenen Geheimdienst (AA30.11.2022). Ungefähr die Hälfte der Polizeikräfte sind Wehrpflichtige, die in der Polizei ihren verpflichtenden Wehrdienst ableisten. Seit dem Jahr 2000 werden bestimmte Verwaltungsaufgaben in teilprivate, der NAJA angegliederte Firmen ausgelagert. Zu den Aufgaben dieser Firmen zählen beispielsweise die Ausstellung von Führerscheinen und Schutz- bzw. Wachdienste (Landinfo/et al. 12.2021).
Zu den Zweigen der NAJA gehört die Polizei für Geheimdienst und öffentliche Sicherheit (polīs-e ettelā’āt va amnīyat-e‘ omūmī - PAVA). Eine der Untereinheiten der PAVA ist die Sittenpolizei (polīs-e amnīyat-e akhlāqī). Ihr Auftrag ist die Überwachung von Bekleidungsvorschriften für Frauen (u. a. richtig getragene Hijabs) und Männer (Vermeidung eines „unislamischen“ Erscheinungsbilds) in der Öffentlichkeit sowie die Überwachung (und Verhinderung) von Verhalten gegen die „islamische Moral“ im Allgemeinen. Die Sittenstreife (gasht-e ershād [auch: „Belehrungsstreife“]) ist eine Untereinheit der Sittenpolizei. Sie besteht aus männlichen wie weiblichen Sicherheitskräften und ist üblicherweise in Polizeiautos auf öffentlichen Plätzen stationiert. Dort überwachen sie die Lage und verhaften Personen, insbesondere Frauen, die vorgeblich „unzüchtig“ gekleidet sind, oder versuchen, eine Vermischung der Geschlechter zu unterbinden [Anm.: So die betroffenen Männer und Frauen nicht nah miteinander verwandt sind] (Landinfo/et al. 12.2021). Die Sittenpolizei wird beschuldigt, Frauen willkürlich wegen Übertretungen zu verhaften. Der Tod einer jungen Frau, die zuvor von der Sittenpolizei wegen eines angeblich unkorrekt getragenen Hijabs festgenommen worden war, hat zuletzt monatelange Proteste ausgelöst (DW 4.12.2022). Anfang Dezember 2022 berichteten Medien, dass die Sittenpolizei aufgelöst werden soll (DW 4.12.2022; vergleiche Tagesschau 11.3.2023), was als Zugeständnis an die Protestbewegung gewertet wurde. Mit Stand März 2023 besteht die Sittenpolizei allerdings weiterhin (Tagesschau 11.3.2023).
Revolutionsgarden
Die Revolutionsgarden (auch bekannt als Pasdaran oder Sepah) sind sowohl militärische Kampftruppe, Sicherheitsbehörde und Geheimdienstorganisation als auch eine soziale und kulturelle Macht und ein industrielles wie wirtschaftliches Konglomerat. Ihr Einfluss hat in allen genannten Bereichen im vergangenen Jahrzehnt zugenommen (Landinfo/et al. 12.2021). Die Revolutionsgarden nehmen eine Sonderrolle ein. Ihr Auftrag ist formell der Schutz der Islamischen Revolution. Als Parallelarmee haben die Revolutionsgarden neben ihrer herausragenden Bedeutung im Sicherheitsapparat im Laufe der Zeit Wirtschaft, Politik und Verwaltung durchdrungen und sich zu einem Staat im Staate entwickelt. Militärisch kommt ihnen eine höhere Bedeutung als dem regulären Militär zu. Sie verfügen über eine fortschrittlichere Ausrüstung als die reguläre Armee, eigene Gefängnisse und Geheimdienste, die auch mit Inlandsaufgaben betraut sind, sowie über engste Verbindungen zum Revolutionsführer (AA 30.11.2022). Die Revolutionsgarden unterhalten auch eine eigene Bodenkampftruppe, Luftwaffe und Marine sowie mehrere Einheiten für nicht-konventionelle Kriegsführung und verdeckte Operationen. Den Revolutionsgarden unterstehen auch die Basij. Die Quds-Einheiten (sepāh-e qods) sind für alle verdeckten und militärischen Auslandseinsätze der Revolutionsgarden zuständig (Landinfo/et al. 12.2021). Heute sollen die Revolutionsgarden über ca. 190.000 Soldatinnen und Soldaten verfügen, während die regulären Streitkräfte 420.000 Mann unter Waffen haben. Hinzu kommen noch einmal 450.000 Reservisten als Teil der Basij-Milizen, die ebenfalls den Revolutionsgarden unterstellt sind (IRJ 1.2.2021), wobei Schätzungen über die Zahl der Basij weit auseinandergehen und bis zu mehreren Millionen reichen (ÖB Teheran 11.2021).
Die Revolutionsgarden spielen eine dominante Rolle in der iranischen Wirtschaft (FH 10.3.2023). In den vergangenen Jahrzehnten haben sie ihren ökonomischen Einfluss massiv ausgebaut.
Sie besitzen ein Baukonglomerat, das bei vielen strategischen Infrastrukturprojekten und milliardenschweren Investitionen federführend ist: Khatam-al-Anbia. Die Revolutionsgarden betreiben gigantische Wirtschaftsunternehmen, bauen Kraftfahrzeuge, Autobahnen, Eisenbahnstrecken und U-Bahnen. Sie sind eng mit der Öl- und Gaswirtschaft des Landes verflochten, bauen Staudämme und sind im Bergbau aktiv. Wie groß der Anteil der iranischen Volkswirtschaft insgesamt ist, den die Revolutionsgarden inzwischen kontrollieren, lässt sich nicht sagen. Genaue Statistiken und Daten dazu fehlen (DW 7.3.2023). Die Unternehmen der Revolutionsgarden sind jedenfalls breit aufgestellt. Unter anderem betreiben sie auch Hotelketten, Versicherungen, private Banken und entwickeln Kriegsgerät (LMD 2020a). Sie betreiben den Imam Khomeini International Airport in der iranischen Hauptstadt und verfügen damit allein durch Start- und Landegebühren über ein äußerst lukratives Geschäft. Auch an den anderen Flug- und Seehäfen im Land kontrollieren die Truppen der Revolutionsgarden Irans Grenzen. Sie entscheiden, welche Waren ins Land gelassen werden und welche nicht. Sie zahlen weder Zoll noch Steuern (DW 18.2.2016). Mittlerweile sind die wirtschaftlichen Aktivitäten der Revolutionsgarden außerhalb des normalen Marktgeschehens so umfangreich, dass der Privatsektor in vielen Bereichen nicht mehr existiert. Er wurde verdrängt und ist gegenüber der Marktbeherrschung der Garden nicht mehr wettbewerbsfähig (IRJ 1.2.2021).
Die Revolutionsgarden sind nicht nur in Iran, sondern auch in der Region aktiv. Es gibt nur wenige Konflikte, an denen sie nicht beteiligt sind. Libanon, Irak, Syrien, Jemen – überall mischen die Revolutionsgarden mit und versuchen, die islamische Revolution zu exportieren. Ihre Al-QudsBrigaden sind als Kommandoeinheit speziell für Einsätze im Ausland ausgebildet (Tagesschau
8.6.2017).
Basij
Die Basij haben unter anderem in Schulen und Universitäten Stützpunkte, wodurch die permanente Kontrolle der iranischen Jugend gewährleistet ist (ÖB Teheran 11.2021). Sie sind auch in Moscheen stationiert (DW 7.3.2023). Das Regime setzt eine ausgewählte Gruppe an Basij in Zivil für Sicherheitsagenden und zur „Kontrolle bei Massenansammlungen“ ein (Kayhan 14.10.2022). Diese Einheiten sind bewaffnet und werden in Zivil zur gewaltsamen Unterdrückung von Demonstrationen eingesetzt. So spielen sie bei der Unterdrückung der Protestaktionen [seit September 2022] eine Schlüsselrolle (DW 7.3.2023). Die meist jungen Freiwilligen absolvieren normalerweise eine begrenzte Ausbildung, um als Hilfskräfte für die lokale Sicherheit zu dienen und die staatliche Kontrolle über die Gesellschaft durchzusetzen, indem sie Demonstrationen unterdrücken und Informationen sammeln (IRINTL 1.7.2022).Alle Basij-Mitglieder, die über 15 Jahre alt sind, müssen als Teil ihres Dienstes ein zweimonatiges Militärtraining bei den Revolutionsgarden absolvieren (FP 30.1.2023). Die Basij-Organisation ist in verschiedene Zweige mit unterschiedlichen Spezialisierungen unterteilt (USIP 6.10.2010; vergleiche ABC News 13.10.2022). Der Sicherheitsapparat der Basij umfasst bewaffnete Brigaden, Aufstandsbekämpfungseinheiten und ein umfangreiches Netzwerk an Informanten (ABC News 13.10.2022). Darüber hinaus gibt es auch Zweige wie zum Beispiel die Schüler-Basij [basij-e danesh-amouzi], StudentenBasij [basij-e daneshjouyi] oder die Arbeiter-Basij [basij-e karegaran], die ein Gegengewicht zu zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Gewerkschaften oder Studentenvereinigungen bilden sollen (USIP 6.10.2010).
Wichtigste Nachrichten- und Geheimdienste
Die beiden wichtigsten Geheimdienste Irans sind das MOIS und der Geheimdienst der Revolutionsgarden (USIP 17.2.2023). Das MOIS ist mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, Gegenspionage und der Beobachtung religiöser und illegaler politischer Gruppen beauftragt. Aufgeteilt ist dieser in den Inlandsgeheimdienst, Auslandsgeheimdienst und den technischen Aufklärungsdienst. Der Inlandsgeheimdienst beobachtet die politische Opposition und übt Druck auf diese aus (AA 30.11.2022). Die Missionen des MOIS und des Geheimdienstes der Revolutionsgarden überlappen sich deutlich, da beide Institutionen umfangreiche Aufgabenbereiche haben. Die Hauptaufgabe des MOIS wie des Geheimdienstes der Revolutionsgarden ist es, die Islamische Republik an der Macht zu halten. Die Überwachung von Dissidenten im In- und Ausland und die Unterdrückung organisierter Opposition sind wichtige Aufgabenfelder der Dienste (USIP 17.2.2023). Das MOIS ist laut dem Verfassungsschutz der Bundesrepublik Deutschland der Hauptakteur iranischer Nachrichtendienstaktivitäten in Deutschland. In seinem Fokus stehen insbesondere iranische Oppositionsgruppen. Darüber hinaus sind auch die geheimdienstlich agierenden Quds-Kräfte in Deutschland aktiv (BMIH 7.6.2022). Das Netzwerk iranischer Nachrichtendienste ist auch in Österreich präsent (BMI 2022). Der Leiter des MOIS hat einen Kabinettsposten inne und ist dem Präsidenten verantwortlich. Der Geheimdienst der Revolutionsgarden fällt dagegen unter die militärische Befehlskette und untersteht direkt dem Obersten Führer (USIP 17.2.2023).
Behörden zur Überwachung von Internetaktivitäten
Zur Überwachung des Internets wurde der „Hohe Rat für den Cyberspace“ gegründet. Er setzt sich aus hochrangigen Militärs und Politikern zusammen (DlF 26.9.2022; vergleiche RSF o.D.a). Dem Innenministerium unterstellt ist darüber hinaus die Cyberpolizei (polīs-e fazā-ye toulīd va tabādol-e ettelā’āt - FATA), wortwörtlich die „Polizei für virtuellen Raum und Informationsaustausch“ (Landinfo/et al. 12.2021). Sie beschäftigt sich mit Internetkriminalität mit Fokus auf Wirtschaftskriminalität, Betrugsfällen, Verletzungen der Privatsphäre im Internet sowie der Beobachtung von Aktivitäten in sozialen Netzwerken und sonstigen politisch relevanten Äußerungen im Internet. Sie steht auf der EU-Menschenrechtssanktionsliste (AA 30.11.2022). Die Ausforschung von Verkäufern von Virtual Private Network (VPN)-Zugängen zählt ebenfalls zum Aufgabenfeld der FATA. Das Aufgabenfeld der FATA überlappt sich mit jenem des Zentrums zur Überwachung Organisierter Kriminalität (markaz-e barrasī-ye jarā’em-e sāzmān-yāfteh - CIOC) und dem Cyberverteidigungskommando der Revolutionsgarden (qarārgāh-e defā’-e sāiberī). Diese beschäftigen sich jedoch in stärkerem Ausmaß mit Fragen der nationalen Sicherheit, wie zum Beispiel der Verbreitung von Onlinematerial kurdischer Parteien und politischer Bewegungen, oder der Verbreitung des christlichen Glaubens in den sozialen Medien. Die FATA beschäftigt sich demgegenüber eher mit „einfachen“ Verbrechen, darunter auch Sittenverbrechen (Landinfo/et al. 12.2021).
Reguläre Armee - Artesh
Das reguläre Militär (Artesh) erfüllt im Wesentlichen Aufgaben der Landesverteidigung und Gebäudesicherung (AA 30.11.2022).
Behandlung der Zivilbevölkerung
In Bezug auf die Überwachung der Bevölkerung ist nicht bekannt, wie groß die Kapazität der iranischen Behörden ist. Die Behörden können nicht jeden zu jeder Zeit überwachen, haben aber eine Atmosphäre geschaffen, in der die Bürger von einer ständigen Beobachtung ausgehen (DIS 23.2.2018). Die kurdische Region ist das am stärksten militarisierte Gebiet Irans. Die Regierung überwacht die Bevölkerung dort durch ein Netzwerk von Kontrollpunkten (DIS 7.2.2020).
Angehörige der Sicherheitskräfte können Misshandlungen begehen, ohne befürchten zu müssen, bestraft zu werden. Straffreiheit innerhalb des Sicherheitsapparates ist weiterhin ein Problem. Menschenrechtsgruppen beschuldigen reguläre und paramilitärische Sicherheitskräfte (wie zum Beispiel die Basij), zahlreiche Menschenrechtsverletzungen zu begehen, darunter Folter, Verschwindenlassen und Gewaltakte gegen Demonstranten und Umstehende bei öffentlichen Demonstrationen. Die Regierung unternimmt nur wenige Schritte, um Beamte, die Menschenrechtsverletzungen begehen, zu identifizieren, zu untersuchen, strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen. Die Straflosigkeit bleibt auf allen Ebenen der Regierung und der Sicherheitskräfte allgegenwärtig (USDOS 20.3.2023).
Mit willkürlichen Verhaftungen kann und muss jederzeit gerechnet werden, da die Geheimdienste (der Regierung und der Revolutionsgarden) sowie Basij de facto willkürlich handeln können. Bereits auffälliges Hören von (insbesondere westlicher) Musik, ungewöhnliche Bekleidung, Parties oder gemeinsame Autofahrten junger nicht miteinander verheirateter Männer und Frauen können den Unwillen zufällig anwesender Basij bzw. mit diesen sympathisierenden Personen hervorrufen. Willkürliche Verhaftungen oder Misshandlung durch Basij können in diesem Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden (ÖB Teheran 11.2021). Bei der brutalen Durchsetzung von Regeln wie der Kopftuchpflicht für Frauen, die im September 2022 Auslöser der Proteste war, stehen nicht unbedingt die regulären Polizeieinheiten im Fokus, sondern „überambitionierte Freiwillige“, die sich normalerweise aus den Basij-Milizen rekrutieren. Sie nennen sich die „Hezbollahis“, also „Parteigänger Gottes“ und vertreten dabei das islamische Prinzip des „Gebieten des Guten, Verbieten des Schlechten“ (al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿani-l-munkar) [Anm.: nicht gleichzusetzen mit der libanesischen Hisbollah]. Die Polizei hat wenig Anreiz, Frauen vor Willkür zu schützen und sich mit den übereifrigen, politisch bestens vernetzten Hezbollahis anzulegen, die sich als Schutzherren der öffentlichen Moral aufspielen. Sie lassen die Miliz gewähren und vertrauen darauf, dass sich die Gewalt im Rahmen hält (Zenith 21.9.2022).
Es wird sowohl von „großer“ Korruption durch hochrangige Vertreter der Sicherheits- und Strafvollzugsbehörden berichtet (FP 28.2.2023; vergleiche IrWire 4.6.2021) als auch von der Zahlung von Bestechungsgeldern („Teegeld“) an Polizeibeamte, beispielsweise zur Vermeidung von Strafen wegen Geschwindigkeitsübertretungen oder Drogenbesitzes. Manchmal werden auch Mitglieder der Revolutionsgarden und Basij oder Richter bestochen, um Strafen wegen schwerwiegenderer Taten zu verhindern, oder um Gerichtsprozesse zu beeinflussen. Umgekehrt zahlen auch Einbruchsopfer manchmal Bestechungsgelder an Polizisten, um die „Chancen auf die Fassung des Diebes zu erhöhen“ (IrWire 28.4.2021). Die Bestechung von Militärangehörigen, Polizeibeamten und anderen Mitgliedern der Strafvollzugsbehörden in Iran wurde als „systemisch“ bezeichnet. Begünstigende Faktoren sind unter anderem die Anwerbung von Personen mit Vorstrafen als Polizeibeamte. Auch Ungleichheiten und Lohndiskriminierung spielen eine Rolle, ebenso wie das Fehlen einer angemessenen Aufsicht durch verantwortliche Beamte. Die Polizei leidet zudem an „ineffizienter Organisation“ (IrWire 6.9.2021).
Quellen
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ABC News - Australian Broadcasting Corporation News (13.10.2022): What we know about the Basij, the paramilitary volunteer group cracking down on protesters in Iran , https://www.abc.net.
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BMIH - Bundesministerium des Inneren und für Heimat (7.6.2022): Verfassungsschutzbericht 2021, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-g esamt.pdf?__blob=publicationFile&v=6, Zugriff 28.3.2023;
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Iran, https://www.ecoi.net/en/file /local/2069656/country_report_2022_IRN.pdf, Zugriff 14.2.2023;
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Zenith - Zenith (21.9.2022): Die unverhüllte Wahrheit über Irans Regime, https://magazin.zenith.m e/de/politik/die-islamische-republik-und-der-tod-von-mahsa-amini-iran, Zugriff 27.3.2023;
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 12.04.2023
Folter ist nach Artikel 38, der iranischen Verfassung (AA 30.11.2022) und dem Strafgesetzbuch verboten, ebenso wie die Verwendung von unter Zwang erlangten Geständnissen in Gerichtsprozessen (UNHRC 13.1.2022). Dennoch sind psychische und physische Folter sowie unmenschliche Behandlung bei Verhören und in Haft, insbesondere in politischen Fällen, durchaus üblich (AA 30.11.2022; vergleiche USDOS 20.3.2023) bzw. weit verbreitet (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche AI 29.3.2022a). Folter wird in politischen Fällen nicht nur geduldet, sondern mitunter angeordnet (AA 30.11.2022). Ziel der Folter sind einerseits Geständnisse, auf die das iranische Justizsystem stark angewiesen ist (IrWire 17.2.2023; vergleiche AA 30.11.2022). Ehemalige Gefangene berichten, dass sie während der Haft geschlagen und gefoltert wurden, bis sie Verbrechen gestanden haben, die von Vernehmungsbeamten diktiert wurden (FH 10.3.2023). Andererseits dient die systematische und weitverbreitete Anwendung von Folter der Abschreckung. Das dritte Motiv für die Folter, das mit zuvor genanntem verbunden ist und ausschließlich für politische Gefangene gilt, ist die öffentliche Zurschaustellung von gebrochenen Persönlichkeiten. Die Folterung von politischen Gegnern mit dem Ziel, falsche Geständnisse zu erlangen und diese öffentlich zu verbreiten, ist eine Botschaft an die Gesellschaft, dass die Regierung jeden Widerstand niederschlagen kann (IrWire 17.2.2023; vergleiche AA 30.11.2022). Durch Folter erzwungene „Geständnisse“ wurden im staatlichen Fernsehen ausgestrahlt und regelmäßig für Schuldsprüche herangezogen (AI 29.3.2022a).
Der Tod einer jungen Frau im September 2022, nachdem sie von der Moralpolizei in Teheran wegen eines „unangemessen“ getragenen Hijabs verhaftet worden war, führte zu weitverbreiteten Protesten, wobei in jüngster Zeit mehrere Vorfälle bekannt wurden, bei denen die Polizei unrechtmäßig Gewalt gegen Frauen anwandte, die sich nicht an die auferlegten Bekleidungsvorschriften für Frauen hielten (HRW 16.9.2022). Im Zuge der Niederschlagung der Proteste festgenommene Personen waren Berichten zufolge mitunter der Folter ausgesetzt, teilweise mit Todesfolge, (BBC 19.12.2022; vergleiche RFE/RL 3.2.2023, NDR 1.2.2023, IrWire 17.2.2023) ebenso wie sexuellem Missbrauch und Vergewaltigungen (USDOS 20.3.2023). Laut einer Untersuchung von IranWire [Anm.: regimekritische Nachrichtenorganisation] lassen sich die Todesursachen von Gefangenen oder vor Kurzem aus der Haft Entlassenen, darunter auch Protestteilnehmern, in folgende Hauptkategorien unterteilen: 1. verweigerte medizinische Behandlung; 2. unmittelbare Zufügung extremer und qualvoller körperlicher Verletzungen; 3. unmittelbare Zufügung extremer und qualvoller mentaler und emotionaler Schäden. Die Ursache für den Tod von Gefangenen kurz nach der Entlassung ist in den meisten Fällen Selbstmord, der auf die Haftbedingungen oder die Angst vor einer Rückkehr in diese Bedingungen zurückzuführen ist (IrWire 17.2.2023).
Folter wird sowohl seitens der Polizei, im parallelen System der Basij/Pasdaran als auch in Gefängnissen angewandt (ÖB Teheran 11.2021). Fälle von Folter wie auch Todesfälle aufgrund von Gewaltanwendung wurden überdies in verschiedenen Prozessstadien verzeichnet, beispielsweise während Voruntersuchungen und in Haftzentren von ermittelnden Polizeieinheiten (Agahi), dem Geheimdienstministerium, der regulären Stadtpolizei sowie von Grenz- und Einwanderungspolizei, Cyber-Polizei, den Revolutionsgarden (UNHRC 13.1.2022) wie auch der Moralpolizei (HRW 16.9.2022). Menschenrechtsorganisationen verwiesen häufig auf Haftanstalten, in denen politische Gegner grausam und über längere Zeit gefoltert wurden, insbesondere in den Abteilungen Nr. 209 und Nr. 2 des Evin-Gefängnisses, die Berichten zufolge von den Revolutionsgarden kontrolliert werden (USDOS 20.3.2023) bzw. dem Geheimdienstministerium unterstehen und in dem politische Gefangene inhaftiert sind (AA 30.11.2022). Die Behörden unterhalten angeblich auch inoffizielle Geheimgefängnisse und Haftanstalten außerhalb des staatlichen Gefängnissystems, in denen es zu Misshandlungen kommt (USDOS 20.3.2023).
Straflosigkeit ist nach wie vor ein weitverbreitetes Problem bei allen Sicherheitskräften (USDOS 20.3.2023).
Gerichte verhängen weiterhin körperliche Strafen, wie zum Beispiel Auspeitschungen, Blendung, Steinigung und Amputation. Diese werden von der iranischen Regierung als „Strafe“ und nicht als Folter betrachtet (USDOS 20.3.2023). Bei Delikten, die im Widerspruch zu islamischen Grundsätzen stehen, können jederzeit Körperstrafen ausgesprochen und auch exekutiert werden. Bereits der Besitz geringer Mengen von Alkohol kann zur Verurteilung zu Peitschenhieben führen (eine zweistellige Zahl an Peitschenhieben ist dabei durchaus realistisch). Die häufigsten Fälle, für welche die Strafe der Auspeitschung durchgeführt wird, sind illegitime Beziehungen, außerehelicher Geschlechtsverkehr, Teilnahme an gemischt-geschlechtlichen Veranstaltungen, Drogendelikte und Vergehen gegen die öffentliche Sicherheit. Auch werden Auspeitschungen zum Teil öffentlich vollstreckt (ÖB Teheran 11.2021).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (30.11.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 18. November 2022), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2083021/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_a syl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_18.11.2 022%29%2C_30.11.2022.pdf, Zugriff 2.2.2023 [Login erforderlich];
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BBC - British Broadcasting Corporation (19.12.2022): Iran protests: Family finds signs of torture on man’s exhumed body, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-64025754, Zugriff 10.2.2023;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Iran, https://freedomhouse.org/c ountry/iran/freedom-world/2023, Zugriff 14.3.2023;
HRW - Human Rights Watch (16.9.2022): Woman Dies in Custody of Iran’s ‘Morality Police’, https: //www.hrw.org/news/2022/09/16/woman-dies-custody-irans-morality-police, Zugriff 10.2.2023;
IrWire - Iran Wire (17.2.2023): Death is My Business: A Look at the Death of Citizens in the Custody of the Islamic Republic , https://iranwire.com/en/politics/113911-death-is-my-business-a-look-at-t he-death-of-citizens-in-the-custody-of-the-islamic-republic/, Zugriff 22.3.2023;
NDR - Norddeutscher Rundfunk (1.2.2023): Knochenbrüche, Peitschenhiebe, psychische Gewalt: Recherche gibt umfassend Einblick in Irans Folterpraxis gegen Demonstranten, https://www.ndr. de/der_ndr/presse/mitteilungen/Knochenbrueche-Peitschenhiebe-psychische-Gewalt-Recherche -gibt-umfassend-Einblick-in-Irans-Folterpraxis-gegen-Demonstranten,pressemeldungndr23706.h tml, Zugriff 17.2.2023;
ÖB Teheran - Österreichische Botschaft Teheran [Österreich] (11.2021): Asylländerbericht – Islamische Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064921/IRAN_%C3%96B-Bericht_2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 [Login erforderlich];
RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (3.2.2023): ’They Deserve To Die’: Iranian Doctors Who
Treated Wounded Protesters ’Arrested, Tortured’, https://www.ecoi.net/de/dokument/2086333.html, Zugriff 10.2.2023;
UNHRC - United Nations Human Rights Council (13.1.2022): Situation of human rights in the Islamic Republic of Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068145/A_HRC_49_75_E.pdf, Zugriff 10.2.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089063.html, Zugriff 22.3.2023;
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 12.04.2023
Die iranische Verfassung (IRV) vom 15.11.1979 enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog. Der Generalvorbehalt des Einklangs mit islamischen Prinzipien des Artikel 4, IRV lässt jedoch erhebliche Einschränkungen zu. Der im Jahr 2001 geschaffene „Hohe Rat für Menschenrechte“ untersteht unmittelbar der Justiz. Das Gremium erfüllt allerdings nicht die Voraussetzungen der 1993 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten „Pariser Prinzipien“ (AA 30.11.2022).
Iran hat folgende UN-Menschenrechtsabkommen ratifiziert:
• Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR)
• Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) (ICCPR)
• Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD)
• Übereinkommen über die Rechte des Kindes (unter Vorbehalt des Einklangs mit islamischem Recht) (CRC)
• Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (CRC-OP-SC)
• Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
• Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes
• UNESCO Konvention gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen
• UN-Apartheid-Konvention
• Internationales Übereinkommen gegen Apartheid im Sport (AA 28.1.2022)
Bislang hat Iran auch 15 Konventionen und ein Protokoll der International Labor Organization (ILO) unterzeichnet (FITR 8.2.2023).
Iran hat folgende UN-Menschenrechtsabkommen nicht ratifiziert:
• Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT)
• Fakultativprotokoll zur Antifolterkonvention (OP-CAT)
• Zweites Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OP2-ICCPR)
• Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW)
• Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CED)
• Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten (CRC-OP-AC) (unterzeichnet aber nicht ratifiziert) (AA 28.1.2022).
Iran zählt zu den Ländern mit einer anhaltend beunruhigenden Menschenrechtslage, insbesondere der politischen und bürgerlichen Rechte, wobei sich der Spielraum für zivilgesellschaftliches Engagement im Menschenrechtsbereich in den letzten Jahren erheblich verengt hat (ÖB Teheran 11.2021). Der iranische Staat verstößt regelmäßig gegen die Menschenrechte nach westlicher Definition, jedoch auch immer wieder gegen die islamisch definierten (GIZ 2020). Zu den wichtigsten Menschenrechtsproblemen gehören: rechtswidrige oder willkürliche Tötungen durch die Regierung und ihre Vertreter, vor allem Hinrichtungen für Verbrechen, die nicht dem internationalen Rechtsstandard für „schwerste Verbrechen“ entsprechen, oder für Verbrechen, die von jugendlichen Straftätern begangen wurden, sowie Hinrichtungen nach Gerichtsverfahren ohne ordnungsgemäßen Prozess; Verschwindenlassen und Folter durch Regierungsbeamte; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; systematische Inhaftierungen, einschließlich politischer Gefangener. Weiters gibt es unrechtmäßige Eingriffe in die Privatsphäre; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz, insbesondere der Revolutionsgerichte; Bestrafung von Familienmitgliedern, Beschränkungen der freien Meinungsäußerung, der Presse und des Internets - einschließlich Gewalt, Androhung von Gewalt sowie ungerechtfertigte Festnahmen und Strafverfolgung gegen Journalisten, Zensur, Blockieren von Webseiten und strafrechtliche Verfolgung sogar von Verleumdung und übler Nachrede; erhebliche Eingriffe in das Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit; Einschränkungen der Religionsfreiheit; Beschränkungen der politischen Beteiligung durch willkürliche Kandidatenprüfung; weitverbreitete Korruption auf allen Regierungsebenen; rechtswidrige Rekrutierung von Kindersoldaten durch Regierungsakteure zur Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien; Menschenhandel; Gewalt gegen ethnische Minderheiten; strenge staatliche Beschränkungen der Rechte von Frauen und Minderheiten; Kriminalisierung von sexuellen Minderheiten sowie Verbrechen, die Gewalt oder Gewaltdrohungen gegen Angehörige sexueller Minderheiten beinhalten; und schließlich das Verbot unabhängiger Gewerkschaften. Die Regierung unternimmt kaum Schritte, um verantwortliche Beamte zur Rechenschaft zu ziehen. Straffreiheit ist auf allen Ebenen der Regierung und der Sicherheitskräfte weit verbreitet (USDOS 20.3.2023).
Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder die islamische Grundsätze infrage stellt. Dies ist besonders ausgeprägt bei Gruppierungen, welche die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weit gefasste Straftatbestände vergleiche Artikel 279 bis 288 iStGB) sowie Staatsschutzdelikte (insbesondere Artikel eins bis 18 des 5. Buches des iStGB). Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der Islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, laufen Gefahr, der Spionage beschuldigt zu werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niedrigschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv (AA 30.11.2022).
Die Behörden haben im Jahr 2022 weitverbreitete Proteste, bei denen Grundrechte gefordert wurden, brutal unterdrückt, wobei die Sicherheitskräfte unrechtmäßig mit übermäßiger und tödlicher Gewalt gegen die Demonstranten vorgingen. Sie verhafteten und verurteilten im Jahr 2022 zahlreiche friedliche Menschenrechtsaktivisten aufgrund vager Anschuldigungen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit und unterließen es, Berichten über Misshandlungen oder Folter durch Polizei und Sicherheitskräfte nachzugehen. Die Sicherheitskräfte nehmen ethnische und religiöse Minderheiten ins Visier und setzen diskriminierende Kleidervorschriften für Frauen gewaltsam durch (HRW 12.1.2023). Auch Umweltaktivisten sind von Geldbußen, Haftstrafen und Folter betroffen (BS 23.2.2022).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.1.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Iran (Stand: 23.12.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2068037/Ausw%C3%A4rtige s_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Iran_%28St and_23.12.2021%29%2C_28.01.2022.pdf, Zugriff 24.3.2023 [Login erforderlich];
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (30.11.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 18. November 2022), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2083021/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_a syl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_18.11.2 022%29%2C_30.11.2022.pdf, Zugriff 2.2.2023 [Login erforderlich];
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Iran, https://www.ecoi.net/en/file /local/2069656/country_report_2022_IRN.pdf, Zugriff 14.2.2023;
FITR - Financial Tribune (8.2.2023): Iran Ratifies ILO Convention on Occupational Safety, Health, https://financialtribune.com/articles/domestic-economy/117037/iran-ratifies-ilo-convention-on-occ upational-safety-health, Zugriff 24.3.2023;
GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (2020): Iran: Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/iran/geschichte-staat/, Zugriff 24.3.2023;
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Iran, https://www.ecoi.net/de/doku ment/2085460.html, Zugriff 14.3.2023;
ÖB Teheran - Österreichische Botschaft Teheran [Österreich] (11.2021): Asylländerbericht – Islamische Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064921/IRAN_%C3%96B-Bericht_2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 [Login erforderlich];
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human
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Meinungs- und Pressefreiheit, Internet
Letzte Änderung: 12.04.2023
Die Verfassung sieht das Recht auf freie Meinungsäußerung vor, auch für Mitglieder der Presse und anderer Medien, es sei denn, etwas wird als „schädlich für die Grundprinzipien des Islam oder die Rechte der Öffentlichkeit“ angesehen (USDOS 20.3.2023; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). In der Praxis sehen sich Meinungs- und Pressefreiheit mit starken Einschränkungen konfrontiert (AA30.11.2022; vergleiche HRW 12.1.2023), sowohl online als auch offline (FH 10.3.2023). Die Gesetzgebung sieht die strafrechtliche Verfolgung von Personen vor, die der Anstiftung zu Straftaten gegen den Staat oder die nationale Sicherheit oder der „Beleidigung“ des Islam beschuldigt werden. Die Regierung nutzt Gesetze, um Personen, welche die Regierung direkt kritisieren oder Menschenrechtsprobleme ansprechen, einzuschüchtern oder strafrechtlich zu verfolgen, sowie um normale Bürger zur Einhaltung des Moralkodex der Regierung zu zwingen (USDOS 20.3.2023).
Für Funk- und Fernsehanstalten besteht ein staatliches Monopol. Der Empfang ausländischer Satellitenprogramme ist ohne spezielle Genehmigung untersagt, wenngleich weit verbreitet (AA 30.11.2022). Satellitenschüsseln sind verboten, und Übertragungen in persischer Sprache aus dem Ausland werden regelmäßig gestört (sogenanntes Jamming). Die Polizei führt regelmäßig Razzien in Privathäusern durch und beschlagnahmt Satellitenschüsseln (FH 10.3.2023). Mit Stand Jänner 2022 nutzten über 80% der Bevölkerung das Internet (FH 18.10.2022), wobei mehr als 60% des Internetverkehrs über mobiles Internet läuft (RSF 5.10.2022). Seit 2009 haben die Behörden erhebliche Mittel in den Ausbau der Infrastruktur, aber auch in die Kontrolle ihrer Nutzung investiert (Landinfo 9.11.2022). Die Investitionen der Regierung in die IKT-Infrastruktur haben die Internetanbindung ländlicher Gebiete verbessert und die Kluft zwischen Stadt und Land etwas verringert, auch wenn die Preise weiterhin hoch sind (FH 18.10.2022). Zensur und Überwachung sind umfassend. Es wurde eine Cyberpolizei eingerichtet, und auch mehrere andere Regierungsbehörden haben Aufgaben im Zusammenhang mit der Überwachung des Internets und der sozialen Medien (Landinfo 9.11.2022). Mit dem National Information Network (NIN) haben die iranischen Behörden eine lokalisierte Internetarchitektur aufgebaut. Damit sind die Behörden in der Lage, die Verbindungen zum globalen Internet zu kappen und gleichzeitig die inländischen Dienste online zu halten (FH 18.10.2022).
Der staatliche Rundfunk wird von Hardlinern streng kontrolliert und vom Sicherheitsapparat beeinflusst. Nachrichten und Analysen werden stark zensiert, wobei das staatliche Fernsehen für die iranische Bevölkerung eine wichtige Informationsquelle ist (FH 10.3.2023). Auch wenn die iranische Presselandschaft bislang eine gewisse Bandbreite unterschiedlicher Positionen innerhalb des politischen Spektrums widergespiegelt hat, ist mit der Amtsübernahme der ultrakonservativen Regierung eine deutlich strengere Berichterstattung auf Regimelinie feststellbar. Geprägt wird die Presse ohnehin von einer Vielzahl höchst wandelbarer, da nicht schriftlich fixierter „roter Linien“ des Revolutionsführers, die in erheblichem Maß zu Selbstzensur führen. Bei Verstößen drohen Sanktionen bis hin zum Verbot von Zeitungen (AA 30.11.2022). Nach dem Gesetz wird jeder, der in irgendeiner Form „Propaganda“ gegen die Islamische Republik Iran oder zur Unterstützung oppositioneller Gruppen und Vereinigungen betreibt, mit drei Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft (USDOS 20.3.2023), wobei „Propaganda“ nicht definiert ist. Zeitungen und Medien sind daher stets der Gefahr ausgesetzt, bei unliebsamer Berichterstattung geschlossen zu werden. Dies gilt auch für Regimemedien. Oft werden in diesem Zusammenhang die Zeitungsherausgeber verhaftet (ÖB Teheran 11.2021). Mitarbeiter von ausländischen Presseagenturen (insbesondere kritische farsisprachige Medien wie BBC, DW oder Voice of America) sowie unabhängige Journalisten sind Berichten zufolge oft mit Verzögerungen bei der Gewährung der Presselizenz durch die iranischen Behörden, Verhaftungen, körperlicher Züchtigung (ÖB Teheran 11.2021) sowie Einschüchterung ihrer Angehörigen konfrontiert (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche AA 30.11.2022). Infolge der Mitte September 2022 ausgebrochenen landesweiten Proteste hat der Druck auf Journalistinnen und Journalisten weiter zugenommen (AA 30.11.2022). Es kam zu einer Welle an Festnahmen und Verhaftungen iranischer Medienschaffender, die über den Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini und die darauffolgenden Proteste berichtet hatten (AA 30.11.2022; vergleiche FH 10.3.2023).
Inhaftierte Journalisten sind – wie alle politischen Gefangenen – besorgniserregenden Haftbedingungen ausgesetzt, die sich aufgrund der COVID-19-Pandemie noch verschärft haben. Unter politischen Gefangenen kommt es regelmäßig zu Hungerstreiks gegen Haftbedingungen, auch gegen die hygienischen Bedingungen und die mangelhafte medizinische Versorgung (AA 30.11.2022). Reporter ohne Grenzen bezeichnet Iran als eines der repressivsten Länder weltweit für Journalistinnen und Journalisten (RSF o.D.b). 2022 belegte das Land Rang 178 von 180 in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen [Anm.: je höher der Rang, desto geringer die Pressefreiheit] (RSF 2022).
Ebenso unter Druck stehen Künstler, vor allem dann, wenn ihre Kunst als „unislamisch“ oder regimekritisch angesehen wird, oder sie ihre Filme an ausländische Filmproduktionsfirmen verkaufen oder auch nur im Ausland aufführen (dies unterliegt einer Genehmigungspflicht). Über zahlreiche Künstler wurden Strafen wegen zumeist „regimefeindlicher Propaganda“ und anderen Anschuldigungen verhängt. Viele sind regelmäßig in Haft bzw. zu langjährigen Tätigkeits- und Interviewverboten verurteilt (ÖB Teheran 11.2021).
Die regimekritische Debatte findet weitgehend in den sozialen Medien statt. Für illegale Oppositionsparteien ist das Internet der bevorzugte Kanal für den Informationsaustausch (Landinfo 9.11.2022). Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil der Protestbewegung seit Mitte September 2022 und werden zur Mobilisierung wie auch zur Verbreitung der Protestbotschaften verwendet (DW 15.11.2022). Irans vage definierte Redebeschränkungen, harte strafrechtliche Sanktionen und die staatliche Überwachung der Online-Kommunikation gehören zu den Faktoren, welche die Bürgerinnen und Bürger davon abhalten, sich an offenen und freien privaten Diskussionen zu beteiligen. Trotz der Risiken und Einschränkungen äußern viele ihre abweichende Meinung in den sozialen Medien und umgehen in einigen Fällen die offiziellen Sperren auf bestimmten Plattformen (FH 10.3.2023).
Millionen Internetseiten sind gesperrt bzw. nur via Virtual Private Network (VPN) erreichbar (ÖB Teheran 11.2021). Soziale Medienplattformen und Messaging-Tools wie Telegram, Twitter, Facebook, YouTube und Signal werden blockiert, aber verschiedene „Umgehungswerkzeuge“ wie VPNs sind weit verbreitet (Landinfo 9.11.2022), wenn auch illegal (USDOS 20.3.2023). Im Zuge der Repressionen gegen die Proteste seit September 2022 nahm die Regierung auch VPNs ins Visier (RSF 5.10.2022).
Im November 2019 verhängten die Behörden zum ersten und bislang einzigen Mal eine landesweite, fast vollständigeAbschaltung des Internets für mindestens sieben Tage. Die Entscheidung, das Land vom weltweiten Internet zu trennen, wurde vom Nationalen Sicherheitsrat nach einer Protestwelle getroffen, die durch die plötzliche Ankündigung einer erheblichen Erhöhung der Treibstoffpreise ausgelöst worden war. Örtlich begrenzte Internetabschaltungen werden häufig eingesetzt, um Proteste zu unterbinden und eine genaue Berichterstattung über Demonstrationen zu verhindern (FH 18.10.2022), so auch bei den Protesten nach dem Tod von Mahsa Amini im September 2022 (taz 22.9.2022). Auch kommt es zu Drosselungen der Internetgeschwindigkeit (NatGeo 17.10.2022; vergleiche Intercept 28.10.2022).
Der Internetverlauf kann „gefiltert“ bzw. mitgelesen werden. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyberkrieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (AA 30.11.2022). Der Staat überwacht soziale Medien auf Aktivitäten, die er für illegal hält. Im Mai 2020 kündigte die Cyberpolizei FATA an, dass das Nichttragen des Hijabs im Internet als Straftat betrachtet wird und dass diejenigen, die diese Regel nicht befolgen, strafrechtlich verfolgt werden. Die Regierungsbehörden verhaften Nutzer sozialer Medien wegen ihrer Beteiligung an Online-Mobilisierungsinitiativen. Im Juli 2022 protestierten Frauen in den sozialen Medien gegen die strengen Hijab-Gesetze des Landes, indem sie Videos posteten, in denen sie ihren Hijab ablegten. Während dieser Zeit wurde eine Aktivistin verhaftet, nachdem sie an der Social-Media-Kampagne „Nein zur Hijab-Pflicht“ teilgenommen hatte (FH 18.10.2022). Seit Beginn der Massenproteste Ende September 2022 verhafteten die Behörden Tausende von Menschen, darunter Prominente, Menschenrechtsaktivisten und andere, die ihre Unterstützung für die Bewegung durch Beiträge in den sozialen Medien oder durch die öffentliche Missachtung der Hijab-Vorschriften, die zu Mahsa Aminis Verhaftung und Tod geführt hatten, zum Ausdruck gebracht haben. Die Revolutionsgarden (IRGC) forderten die Justiz auf, jeden strafrechtlich zu verfolgen, der „falsche Nachrichten und Gerüchte“ verbreitet (FH 10.3.2023).
Abseits von Maßnahmen, wie der Überwachung von Inhalten im Internet (AA 30.11.2022) und der Drosselung der Internetgeschwindigkeit (NatGeo 17.10.2022), ist wenig über die konkrete Vorgehensweise der Behörden bei der Unterdrückung der Proteste bekannt. Es wird jedoch vermutet, dass die Behörden ein Computersystem verwenden, das hinter den Kulissen der iranischen Mobilfunknetze arbeitet und den Betreibern eine breite Palette von Fernbefehlen zur Verfügung stellt, mit denen sie die Nutzung der Telefone ihrer Kunden verändern, stören und überwachen können, wie zum Beispiel die Datenverbindungen verlangsamen, die Verschlüsselung von Telefongesprächen knacken, die Bewegungen von Einzelpersonen oder großen Gruppen verfolgen und detaillierte Zusammenfassungen von Metadaten darüber erstellen, wer mit wem, wann und wo gesprochen hat (Intercept 28.10.2022). Beobachterinnen der derzeitigen Proteste berichteten, dass viele Demonstranten nicht auf den Straßen verhaftet wurden, sondern ein oder zwei Tage später zu Hause (Wired 10.1.2023). Iranische Mobiltelefonnutzer berichteten von SMS, die sie von lokalen Polizeistationen mit dem Hinweis erhalten haben, dass sie sich in einem „Unruhegebiet“ aufgehalten hätten und dieses Gebiet nicht noch einmal aufsuchen oder mit „anti-revolutionären“ Regierungsgegnern online in Verbindung treten sollten (Intercept 28.10.2022).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (30.11.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 18. November 2022), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2083021/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_a syl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_18.11.2
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DW - Deutsche Welle (15.11.2022): Iranians use social media to keep protest movement alive, https://www.dw.com/en/iranians-use-social-media-to-keep-protest-movement-alive/a-63767075, Zugriff 23.3.2023;
FH - Freedom House (10.3.2023): Freedom in the World 2023 - Iran, https://freedomhouse.org/c ountry/iran/freedom-world/2023, Zugriff 14.3.2023;
FH - Freedom House (18.10.2022): Freedom on the Net 2022 - Iran, https://www.ecoi.net/de/doku ment/2081758.html, Zugriff 23.3.2023;
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Iran, https://www.ecoi.net/de/doku ment/2085460.html, Zugriff 14.3.2023;
Intercept - Intercept, The (28.10.2022): HACKED DOCUMENTS: HOW IRAN CAN TRACK AND CONTROL PROTESTERS’ PHONES, https://theintercept.com/2022/10/28/iran-protests-phone-s urveillance/?mc_cid=1909e734fc&mc_eid=3e61af82a4, Zugriff 23.3.2023;
Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (9.11.2022): Iran: Internett og sosiale medier, https://www.ecoi.net/en/file/local/2083376/Temanotat-Iran-Inter nett-og-sosiale-medier-09112022.pdf, Zugriff 23.3.2023;
NatGeo - National Geographic (17.10.2022): „Frau, Leben, Freiheit”: Die Proteste in Iran und ihre Geschichte, https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2022/10/frau-leben-freihei t-proteste-iran-geschichte-frauenrechte, Zugriff 14.3.2023;
ÖB Teheran - Österreichische Botschaft Teheran [Österreich] (11.2021): Asylländerbericht – Islamische Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064921/IRAN_%C3%96B-Bericht_2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 [Login erforderlich];
RSF - Reporter ohne Grenzen (2022): Rangliste der Pressefreiheit 2022, https://www.reporter-o hne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Downloads/Ranglisten/Rangliste_2022/RSF_Rangliste_der_ Pressefreiheit_2022.pdf, Zugriff 23.3.2023;
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taz - Tageszeitung, Die (22.9.2022): Kampf um die Informationen, https://taz.de/Proteste-im-Iran/ !5879784/, Zugriff 24.3.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089063.html, Zugriff 22.3.2023;
Wired - Wired (10.1.2023): Iran Says Face Recognition Will ID Women Breaking Hijab Laws, https://www.wired.com/story/iran-says-face-recognition-will-id-women-breaking-hijab-laws/?mc_ cid=476a7f16e9&mc_eid=3e61af82a4, Zugriff 23.3.2023;
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition
Letzte Änderung: 13.04.2023
In der Verfassung heißt es, dass öffentliche Demonstrationen zulässig sind, wenn sie „den Grundprinzipien des Islam nicht abträglich sind“. In der Praxis sind in der Regel nur staatlich genehmigte Demonstrationen erlaubt (FH 10.3.2023). Die Ausübung der verfassungsrechtlich garantierten Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit steht für öffentliche Versammlungen somit unter einem Genehmigungsvorbehalt. Demonstrationen der Opposition sind seit den Wahlen 2009 nicht mehr genehmigt worden, finden jedoch in kleinem Umfang statt (AA 30.11.2022). Die Sicherheitskräfte lösten in den letzten Jahren nicht genehmigte Versammlungen gewaltsam auf, nahmen Teilnehmer fest und wendeten tödliche Gewalt gegen sie an (FH 10.3.2023). Demgegenüber stehen Demonstrationen systemnaher Organisationen, zu deren Teilnahme Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung sowie Schüler und Studierende teilweise verpflichtet werden (AA 30.11.2022).
Proteste gegen das Regime fanden in der Islamischen Republik Iran in der Vergangenheit immer wieder statt. Die [bis zu den Protesten ab Mitte September 2022] größte Protestwelle wurde durch den massiven Betrug bei den Präsidentschaftswahlen 2009 ausgelöst und brachte Millionen von Menschen auf die Straße, bis die Behörden gegen die Führer der sogenannten Grünen Bewegung, Mir Hossein Mousavi und Mehdi Karroubi, vorgingen (TWI 28.9.2022). Zuletzt fanden 2019 weitreichende Proteste statt, nachdem die Regierung beschlossen hatte, die Benzinpreise zu erhöhen (TWI 28.9.2022). Die iranischen Sicherheitsbehörden setzten zur Unterdrückung der Proteste auch tödliche Gewalt ein, darunter scharfe Munition, die wahllos auf Demonstranten abgefeuert wurde. Die Anzahl der Todesopfer ist schwierig zu verifizieren. Schätzungen reichen von 304 verifizierten Todesopfern bis zu 1.500 in unbestätigten Berichten (DIS 1.7.2020). 2021 gab es Proteste von Arbeitnehmern, Rentnern und Landwirten in Bezug auf Löhne, Arbeitsplatzsicherheit und das Recht auf kollektive Organisierung (UNHRC 13.1.2022) sowie in der Provinz Khuzestan Proteste aufgrund mangelnden Zugangs zu Wasser (HRW 22.7.2021).
Letztere wurden gewaltsam niedergeschlagen (HRW 22.7.2021; vergleiche UNHRC 13.1.2022).
Jüngste Proteste
Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Jina (ihr kurdischer Vorname) Amini am 16.9.2022 (US- DOS 20.3.2023) kam es in Iran zu den größten Protesten seit Jahren (EN 1.2.2023; vergleiche GD 17.2.2023). Mit Stand Mitte Februar 2023 dauerten die Proteste noch weiter an (GD 17.2.2023). Amini war kurz vor ihrem Tod von der Sittenpolizei des Landes wegen angeblicher Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften für Frauen verhaftet und laut Augenzeugenberichten geschlagen worden (BBC 16.9.2022). Angehörige von Amini wie auch Protestteilnehmer und -teilnehmerinnen wiesen die Behauptung der Behörden zurück,Amini sei aufgrund einer unentdeckten Vorerkrankung gestorben (EN 1.2.2023). Den Protesten unter der Parole „Frau, Leben, Freiheit“ (in kurdischer Sprache: „Jin, Jîyan, Azadî“) (NatGeo 17.10.2022), die im Wesentlichen von Frauen gestartet wurden (EN 1.2.2023), schlossen sich Iraner und Iranerinnen aller Altersgruppen und Ethnien an, wobei sie vor allem von den jüngeren Generationen auf die Straße getragen wurden (NatGeo 17.10.2022). Die Proteste fanden in allen größeren sowie vielen kleineren Städten Irans statt. Die iranischen Behörden reagierten gewaltsam darauf, mitunter kam es auch zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Demonstrantinnen und Demonstranten mit den Sicherheitsbehörden (EN 1.2.2023).
Laut Menschenrechtsaktivisten wurden im Zeitraum September 2022 bis Februar 2023 über 500 Demonstrantinnen und Demonstranten getötet, darunter 71 Minderjährige (REU 17.2.2023). Human Rights Watch (HRW) dokumentierte, dass Sicherheitskräfte Schrotflinten, Sturmgewehre und Handfeuerwaffen gegen Demonstranten eingesetzt haben, und zwar in weitgehend friedlichem Umfeld und oft in überlaufenen Gegenden (HRW 12.1.2023). Ethnische Minderheiten waren überproportional stark von den Repressionen gegen die Proteste betroffen (UNHRC 7.2.2023; VOA 16.11.2022). Am 30.9.2022 eröffneten beispielsweise Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstrantinnen und Demonstranten in der Stadt Zahedan (Provinz Sistan und Belutschistan), wobei Dutzende von Menschen getötet und verletzt worden sind [Anm.: siehe zu diesem Vorfall auch das Kapitel ethnische Minderheiten - Belutschen] (HRW 12.1.2023). In den kurdischen Gebieten wurden Truppen, schwere Waffen und Militärfahrzeuge in Stellung gebracht, um die Demonstranten niederzuschlagen (EN 1.2.2023).
Rund 20.000 Protestteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden zeitweise inhaftiert (REU 17.2.2023; vergleiche DW 13.3.2023). Laut staatsnahen iranischen Medien ist ein bedeutender Anteil der Festgenommenen minderjährig (AI 16.3.2023; vergleiche UNHRC 7.2.2023). Festgenommene berichteten von Folter während der Inhaftierung (NDR 1.2.2023; AI 16.3.2023), darunter auch von Minderjährigen (AI 16.3.2023), sowie von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung (FH 10.3.2023; vergleiche AI 16.3.2023). Nach Angaben der Justizbehörden wurden mit Stand Februar 2023 vier Personen im Zusammenhang mit den Protesten gehängt (REU 17.2.2023). Bis Mitte Jänner wurden 18 weitere Personen im Zusammenhang mit den Protesten zum Tod verurteilt (BBC 18.1.2023), und laut der NGO Iran Human Rights (IHRNGO) laufen rund 100 weitere Protestteilnehmer und -teilnehmerinnen Gefahr, zum Tod verurteilt zu werden (IHRNGO 27.12.2022). Vor den Nowruz-
Feierlichkeiten im März 2023 kündigten die iranischen Justizbehörden an, dass rund 22.000 Menschen, die im Zusammenhang mit den Protesten festgenommen worden waren, begnadigt würden. Menschenrechtsgruppen hatten die Zahl der inhaftierten Protestteilnehmer zuvor auf rund 19.700 geschätzt (DW 13.3.2023). Die meisten Minderjährigen sind nach Einschätzung von Amnesty International (AI) mit Stand März 2023 wieder freigelassen worden, manche auf Kaution und mit laufenden Verfahren. Viele wurden erst freigelassen, nachdem sie gezwungen wurden, „Reue“-Schreiben zu unterzeichnen und sich zu verpflichten, von „politischen Aktivitäten“ abzusehen und an regierungsfreundlichen Kundgebungen teilzunehmen (AI 16.3.2023). Laut dem Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats zu Iran hat das iranische Regime im Zusammenhang mit der Protestniederschlagung Verstöße begangen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten (BBC 20.3.2023).
Viele Gegnerinnen und Gegner der Regierung drücken ihren Protest derzeit durch zivilen Ungehorsam aus, etwa indem sie den Kopftuchzwang ignorieren (Spiegel 19.1.2023). Im November 2022 ging ein Video eines tanzenden Paares vor dem Teheraner Wahrzeichen Azadi-Turm [Azadi: Freiheit in Farsi] viral, wobei die weibliche Tanzpartnerin keinen Hijab trug, und Tanzen in der Öffentlichkeit für Frauen verboten ist. Das Paar wurde nach Veröffentlichung des Videos von einem Teheraner Revolutionsgericht aufgrund der „Förderung von Korruption und öffentlicher Prostitution“ sowie „Versammlungen mit der Absicht, die nationale Sicherheit zu stören“ zu jeweils über zehn Jahren Gefängnis verurteilt und mit Ausreiseverboten sowie Zugangsbeschränkungen zum Internet belegt (GD 31.1.2023).
Gewerkschaftliche Aktivitäten, politische Parteien und Opposition
Vereinigungen auf Arbeitnehmerseite werden misstrauisch beobachtet. Es gibt keine Betätigungsmöglichkeit für unabhängige Gewerkschaften (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche FH 10.3.2023). Unabhängige gewerkschaftliche Betätigung wird als „Propaganda gegen das System“ und „Handlungen gegen die nationale Sicherheit“ verfolgt. Das Streikrecht hingegen ist prinzipiell gewährleistet (AA 30.11.2022), jedoch können streikende Arbeiter von Entlassung und Verhaftung bedroht sein. Im Juni 2022 berichtete der Koordinierungsrat der iranischen Lehrergewerkschaft beispielsweise, dass mehr als 100 Lehrer verhaftet worden waren, weil sie an einer landesweiten Protestaktion teilgenommen hatten, bei der bessere Arbeitsbedingungen und die Freilassung zuvor inhaftierter Lehrer gefordert wurden. Trotz solcher Repressalien haben die Arbeiterproteste in den letzten Jahren aufgrund der wachsenden wirtschaftlichen Not zugenommen (FH 10.3.2023). Im Februar 2023 fanden beispielsweise Streiks von Pensionistengruppen und Beschäftigten der Bäckergewerkschaft, der Stahlindustrie und der Zuckerfabriken statt, nachdem der iranische Rial weiter an Wert verloren hatte, und die Lebenserhaltungskosten gestiegen waren (IRINTL 26.2.2023). Im Dezember 2022 streikten Ölarbeiter im Süden Irans wegen mangelnder Arbeitsplatzsicherheit in diesem Sektor (RFE/RL 17.12.2022).
Die Verfassung lässt die Gründung politischer Parteien, von Berufsverbänden oder religiösen Organisationen so lange zu, als sie nicht gegen islamische Prinzipien, die nationale Einheit oder die Souveränität des Staates verstoßen und nicht den Islam als Grundlage des Regierungssystems infrage stellen. Hinzu kommen immer wieder verhängte, drakonische Strafen aufgrund diffuser Straftatbestände („regimefeindliche Propaganda“, „Beleidigung des Obersten Führers“ etc.) (ÖB Teheran 11.2021). Zwar gab es in der Vergangenheit einen gewissen Spielraum für Machtverschiebungen zwischen anerkannten Fraktionen innerhalb des Establishments, doch stellen Elemente der Realverfassung ein dauerhaftes Hindernis für Wahlsiege der Opposition und echte Machtwechsel dar (FH 10.3.2023). In Iran gibt es keine politischen Parteien mit vergleichbaren Strukturen westlich-demokratischer Prägung. Auch im Parlament existiert keine, mit europäischen Demokratien vergleichbare, in festen Fraktionen organisierte parlamentarische Opposition. Sowohl bei Präsidentschafts- als auch bei Parlamentswahlen nimmt der Wächterrat die Auswahl der Kandidaten vor. Kandidaten werden unter fadenscheinigen Gründen aussortiert – dabei wurden auch schon ehemalige Präsidenten als „nicht geeignet“ ausgeschlossen. Nach langen Debatten bewertete der Wächterrat – dem nur Männer angehören – die Kandidatur von Frauen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2021 als prinzipiell zulässig, dennoch wurde auch diesmal keine einzige der Kandidatinnen zugelassen (ÖB Teheran 11.2021). Reformistische Gruppen sind insbesondere seit 2009 verstärkt staatlichen Repressionen ausgesetzt, und Politiker, die ihnen angehören, werden willkürlich festgenommen und aufgrund vager strafrechtlicher Anschuldigungen inhaftiert (FH 10.3.2023).
Der Spielraum für die außerparlamentarische Opposition wird vor allem durch einen Überwachungsstaat eingeschränkt, was die Vernetzung oppositioneller Gruppen extrem riskant macht (Einschränkung des Versammlungsrechts, Telefon- und Internetüberwachung, Spitzelwesen, Omnipräsenz von Basij-Vertretern u. a. in Schulen, Universitäten sowie Basij-Sympathisanten im öffentlichen Raum, etc.). Angehörige der außerparlamentarischen Opposition immer wieder unter anderen Vorwürfen festgenommen (ÖB Teheran 11.2021). Viele Anhänger der Oppositionsbewegungen wurden verhaftet, haben Iran verlassen oder sind nicht mehr politisch aktiv (AA 30.11.2022). Führende Oppositionspolitiker werden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Mir Hossein Mousavi, Zahra Rahnavard und Mehdi Karroubi, die Führer der reformorientierten Grünen Bewegung, deren Proteste nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2009 gewaltsam niedergeschlagen worden war, stehen seit 2011 ohne offizielle Anklage unter Hausarrest. Die Beschränkungen für Mousavi und Karroubi wurden in den letzten Jahren gelegentlich gelockert. Der reformorientierte ehemalige Präsident Mohammad Khatami unterliegt einem Medienverbot, das es der Presse untersagt, ihn zu erwähnen und seine Fotos zu veröffentlichen. Der ehemalige Präsident Mahmud Ahmadinedschad, der in Ungnade gefallen ist, weil er Chamenei herausgefordert hat, durfte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2021 nicht mehr antreten (FH 10.3.2023).
An sich gäbe es ein breites Spektrum an Ideologien, welche die Islamische Republik ablehnen, angefangen von den Nationalisten bis hin zu Monarchisten und Kommunisten (ÖB Teheran 11.2021). Das Fehlen oppositioneller Führung zeigte sich bei den Unruhen zum Jahreswechsel 2017/2018 sowie bei den Protesten im November 2019. Auch bei den im September 2022 begonnen Protesten nach dem Tod von Mahsa Amini ist mit Stand 18.11.2022 keine Führungsfigur erkennbar, der Sicherheitsapparat verhaftet umgehend alle Personen, die einen erkennbaren Grad an Sichtbarkeit oder Vernetzung mitbringen. Der Protest zeichnet sich durch einen hohen Grad an dezentralen Aktivitäten aus, die weniger Sichtbarkeit als Großdemonstrationen mit sich bringen, aber dadurch auch weniger leicht kontrollierbar sind (AA 30.11.2022).
Quellen
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Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 12.04.2023
In Iran leben schätzungsweise rund 87,6 Millionen Menschen (CIA 7.3.2023), von denen ungefähr 99 % dem Islam angehören. Etwa 90 % der Bevölkerung sind Schiiten, ca. 9 % sind Sunniten und der Rest verteilt sich auf Christen, Juden, Zoroastrier, Baha‘i, Sufis, Ahl-e Haqq (Yaresan) und nicht weiter spezifizierte religiöse Gruppierungen (STDOK 3.5.2018; vergleiche USDOS 2.6.2022). Nachstehender Karte können die Hauptsiedlungsgebiete der größten Glaubensgruppen in Iran entnommen werden. Demnach leben Sunniten mehrheitlich in den Grenzregionen im äußersten Nordwesten Irans, im Norden in einem Gebiet an der Grenze zu Turkmenistan [Provinz Golistan] sowie im Süden bei Bandar-e Abbas [Provinz Hormuzgan] und an der Grenze zu Pakistan und dem Südwesten Afghanistans [in Iran: Provinz Sistan und Belutschistan]. Der größte Teil des Landes wird mehrheitlich von Schiiten bewohnt. Minderheitengruppen wie Zoriastrier, Bahai, Juden und Sikhs werden auf der Karte nicht dargestellt; insbesondere in urbanen Zentren ist die Bevölkerung sehr heterogen und kann auf dieser Karte nicht dargestellt werden (BMI/BMLVS 2017).

Quelle: BMI/BMLVS 2017
Legende:

Laut Verfassung ist Iran eine islamische Republik und der schiitische Zwölfer- oder Ja’afari-Islam ist die offizielle Staatsreligion. Die Verfassung schreibt vor, dass alle Gesetze und Vorschriften auf „islamischen Kriterien“ und einer offiziellen Auslegung der Scharia beruhen müssen. In der Verfassung heißt es, dass die Bürger alle menschlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte „in Übereinstimmung mit islamischen Kriterien“ genießen sollen (USDOS 2.6.2022). Für Frauen bedeutet dies beispielsweise unter anderem eine allgemeine Kopftuchpflicht in der Öffentlichkeit, die zuletzt im Zuge der Proteste anlässlich des Todes von Mahsa Amini von vielen Protestierenden abgelehnt wurde und in den Fokus der Auseinandersetzung zwischen dem Regime und seinen Gegnern geriet (Tagesschau 6.10.2022). Gleichwohl dürfen die in Artikel 13, der iranischen Verfassung anerkannten ’Buchreligionen’ (Christen, Juden, Zoroastrier) ihren Glauben in ihren Gemeinden relativ frei ausüben (AA 30.11.2022; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). In Fragen des Ehe- und Familienrechts genießen sie verfassungsrechtlich Autonomie (AA 30.11.2022).
Die Lehrpläne aller öffentlichen und privaten Schulen müssen einen Kurs über die schiitischen Lehren enthalten. Sunnitische Schüler und Schülerinnen, sowie jene, die einer anerkannten religiösen Minderheit angehören, müssen die Kurse über den schiitischen Islam belegen und bestehen, obwohl sie auch separate Kurse über ihre eigenen religiösen Überzeugungen belegen können. Anerkannte religiöse Minderheitengruppen, mit Ausnahme der sunnitischen Muslime, dürfen Privatschulen betreiben (USDOS 2.6.2022).
Nach dem Gesetz dürfen Nicht-Muslime nicht missionieren oder versuchen, einen Muslim zu einem anderen Glauben zu bekehren. Das Gesetz betrachtet diese Aktivitäten als Bekehrungsversuche, die mit dem Tod bestraft werden können (USDOS 2.6.2022). Nicht einmal Zeugen Jehovas missionieren in Iran (DIS 23.2.2018). Das Parlament höhlte das Recht auf Religionsund Glaubensfreiheit im Jänner 2021 weiter aus, indem es zwei neue Paragrafen in das Strafgesetzbuch aufnahm, wonach die „Diffamierung staatlich anerkannter Religionen, iranischer Bevölkerungsgruppen und islamischer Glaubensrichtungen“ sowie „abweichende erzieherische oder missionarische Aktivitäten, die dem Islam widersprechen“ mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren und/oder einer Geldstrafe geahndet werden können. Im Juli 2021 wurden drei Männer, die zum Christentum konvertiert waren, auf dieser Grundlage zu langjährigen Haftstrafen verurteilt (AI 29.3.2022b).
Anhänger religiöser Minderheiten unterliegen Beschränkungen beim Zugang zu höheren Staatsämtern. Lediglich schiitische Muslime dürfen in vollem Umfang am politischen Leben teilnehmen (AA 30.11.2022; vergleiche MRG 24.11.2022). Nichtmuslime sehen sich darüber hinaus im Familienund Erbrecht nachteiliger Behandlung ausgesetzt, sobald ein Muslim Teil der relevanten Personengruppe ist (AA 30.11.2022). Auch anerkannte religiöse Minderheiten (Zoroastrier, Juden, Christen) werden diskriminiert. Sie sind in ihrer Religionsausübung jedoch nur relativ geringen Einschränkungen unterworfen. Sie haben gewisse rechtlich garantierte Minderheitenrechte (ÖB Teheran 11.2021). Im Parlament sind beispielsweise fünf der insgesamt 290 Sitze für ihre Vertreterinnen und Vertreter reserviert: zwei für armenische Christen, einer für Juden, einer für Zoroastrier und einer für assyrische Christen (Zeit online 19.1.2023; vergleiche FH 10.3.2023). Nichtmuslimische Abgeordnete dürfen jedoch nicht in Vertretungsorgane oder in leitende Positionen in der Regierung, beim Geheimdienst oder beim Militär gewählt werden (USDOS 2.6.2022) und ihre politische Vertretung bleibt schwach (FH 10.3.2023). Wichtige politische Ämter stehen ausschließlich schiitischen Muslimen offen (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche OpD 18.1.2023). Sunniten werden v.a. beim beruflichen Aufstieg im öffentlichen Dienst diskriminiert (ÖB Teheran 11.2021). Für nicht anerkannte religiöse Gruppen gibt es keine rechtlichen Schutzgarantien. Diese Gruppierungen - z.B. Baha’i, Sabäer-Mandäer, Yaresani [Anm.: auch Ahl-e Haqq] (MRG 24.11.2022; vergleiche BAMF 5.2022), konvertierte evangelikale Christen, Sufi (Derwisch-Orden),Atheisten - werden in unterschiedlichem Ausmaß verfolgt (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche OpD 18.1.2023).
Das Ministerium für Kultur und islamische Führung und das Ministerium für Nachrichtenwesen und Sicherheit (MOIS) überwachen religiöse Aktivitäten. Die Revolutionsgarden überwachen auch Kirchen (USDOS 2.6.2022; vergleiche OpD 18.1.2023). Die iranische Regierung verfolgt Angehörige religiöser Minderheiten bisweilen unter dem Vorwand, diese seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit, und nicht, weil sie beispielsweise Christen sind (CNEN 4.2.2023). Führende Vertreter von Minderheitengruppen und Aktivisten werden oftmals unter dem allgemeinen Vorwurf der Bedrohung der „öffentlichen Moral“ oder der nationalen Sicherheit zu langen Haftstrafen oder zum Tod verurteilt (MRG 24.11.2022; vgl.OpD 18.1.2023).Auch oppositionelle schiitische Geistliche und muslimische Sekten sind der Verfolgung ausgesetzt (ÖB Teheran 11.2021). Die Regierung überwacht die Aussagen und Ansichten hochrangiger schiitischer religiöser Führer, die die Regierungspolitik oder die Ansichten des Obersten Führers Ali Khamenei nicht unterstützten. Diese werden durch Behörden weiterhin mit Festnahmen, Inhaftierungen, Mittelkürzungen, Verlust von geistlichen Berechtigungsnachweisen und Beschlagnahmungen von Eigentum unter Druck gesetzt (USDOS 2.6.2022). Beispielsweise im Jänner 2023 wurde ein sunnitischer Geistlicher verhaftet, dem die Behörden eine „Manipulation der öffentlichen Meinung“ sowie „Kommunikation mit ausländischen Personen und Medien“ vorwarfen (USIP 9.3.2023).
Ethnische und religiöse Minderheiten, die jahrzehntelang unter systemischer und systematischer Diskriminierung und Verfolgung gelitten haben, sind von der Welle der Repression seit Beginn der Proteste im September 2022 unverhältnismäßig stark betroffen. Unter anderem verwehrten die iranischen Behörden Angehörigen von getöteten Protestteilnehmerinnen und Protestteilnehmern, Begräbnisse nach ihren religiösen Riten zu vollziehen (UNHRC 7.2.2023).
Religiöse Minderheiten und Nichtgläubige berichteten auch von eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten, der Verweigerung oder Schwierigkeiten, Genehmigungen für die Gründung eigener Unternehmen zu erhalten, sowie eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten und verhetzenden Äußerungen (IrWire 27.2.2023). Muslimische Geistliche rufen manchmal zu Gewalt gegen religiöse Minderheiten auf (OpD 18.1.2023). Dabei ist die iranische Gesellschaft weniger fanatisch als ihre Führung (OpD 18.1.2023; vergleiche NLM 23.2.2023). Dies ist zum Teil auf den weitverbreiteten Einfluss des gemäßigteren Sufi-Islams zurückzuführen sowie auf den Stolz des iranischen Volkes auf seine vorislamische persische Kultur (OpD 18.1.2023). Dennoch wird mitunter von bedrohlicher Diskriminierung von Nicht-Schiiten seitens des familiären oder gesellschaftlichen Umfelds berichtet (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche OpD 18.1.2023).
Menschen, deren Eltern von den Behörden als Muslime eingestuft wurden, laufen Gefahr, willkürlich inhaftiert, gefoltert oder wegen „Apostasie“ mit der Todesstrafe belegt zu werden, wenn sie andere Religionen oder atheistische Überzeugungen annehmen (AI 29.3.2022b; vergleiche ÖB Teheran 11.2021), auch wenn Fälle von Hinrichtungen aus diesem Grund in den letzten Jahren nicht bekannt wurden. In der Praxis werden kaum mehr Verurteilungen wegen Apostasie registriert. Bei keiner der Hinrichtungen in den letzten Jahren gab es Hinweise darauf, dass Apostasie ein bzw. der eigentliche Verurteilungsgrund gewesen ist (ÖB Teheran 11.2021).
Quellen
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Apostasie, Konversion zum Christentum, Proselytismus, Hauskirchen
Letzte Änderung: 12.04.2023
Abfall vom Islam, Apostasie (Farsi: ertedad) fällt in den Bereich der sog. Hadd-Strafen der Sharia, die allgemein mit der Todesstrafe geahndet werden, obwohl die islamischen autoritativen Rechtsquellen wie der Koran und Hadithe (Aussagen des Propheten) nicht immer eindeutig und zuweilen auch widersprüchlich sind. Das Strafgesetzbuch der Islamischen Republik Iran (IStGB) ist nicht mit der Sharia identisch und Apostasie wird nicht als Straftatbestand im IStGB aufgeführt. In Fällen wie diesen erlaubt Artikel 167, der Verfassung Richtern den Rückgriff auf traditionelle islamische Rechtsquellen (Koran, Hadith und Fatwas, sog. Rechtsgutachten). Damit besteht rechtlich zumindest in der Theorie die Möglichkeit, bei Apostasie eine Bestrafung gemäß den islamischen Rechtsquellen und Fatwas vorzunehmen. Obwohl die iranischen Behörden zuweilen mit Apostasie-Anklagen drohen, sind solche jedoch sehr selten (BAMF 5.2022; vergleiche ARTICLE 19 6.7.2022). Zum Christentum Konvertierte können jedoch auf Grundlage anderer Straftatbestände angeklagt werden, wobei diese Anklagepunkte zu den sogenannten TaʿzirStrafen (Ermessensstrafen) zählen, bei denen die Urteilsfindung und das Strafmaß im Ermessen des vorsitzenden Richters liegen. Mögliche Anklagepunkte, die lt. IStGB mit unterschiedlich langen Haftstrafen geahndet werden, sind z.B.: Aktionen gegen die nationale Sicherheit (IStGB 5. Buch/Art. 498-99), Propaganda gegen das System (IStGB 5. Buch/Art. 500), Beleidigung heiliger islamischer Werte und Prinzipien (IStGB 5. Buch/Art. 513), Versammlung und Verschwörung zur Unterminierung der Landessicherheit (IStGB/Art. 610) oder Alkoholgenuss [im Zuge der Heiligen Kommunion] (IStGB/Art. 701) (BAMF 5.2022), obwohl der Alkoholkonsum im Rahmen der religiösen Riten einer registrierten Gemeinschaft erlaubt ist (ÖB Teheran 11.2021). Andere politisch motivierte Anklagen wie Feindschaft gegen Gott (moharebeh) und Verderbtheit auf Erden (efsad-e fi’l-arz) wurden ebenfalls verschiedentlich dokumentiert, sind im Zusammenhang mit Bekenntnissen zu religiösen Alternativen allerdings eher selten (BAMF 5.2022). Zwar können die Gerichte immer noch Todesurteile wegen Apostasie verhängen, indem sie sich in Artikel 167, des Strafgesetzbuches auf die Scharia berufen. In den letzten 33 Jahren haben sie das jedoch - vermutlich auf internationalen Druck - nur dreimal getan. Die einzige Hinrichtung aufgrund von Apostasie fand 1990 statt (OpD 20.2.2023; vergleiche IRB 9.3.2021).
Trotz des Verbots des „Abfalls vom Islam“ ist in Iran ein anhaltender Trend von Konversion zum Christentum festzustellen. Unter den Christinnen und Christen des Landes stellen Konvertiten aus dem Islam mit schätzungsweise mehreren Hunderttausend inzwischen die größte Gruppe dar, noch vor den Angehörigen traditioneller Kirchen. Viele vor allem jüngere Iranerinnen und Iraner haben sich von der Religion auch gänzlich abgewendet, weil sie mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit der islamischen Revolution nicht einverstanden sind (AA 30.11.2022).
Das Regime ist bestrebt, die Werte der Islamischen Revolution von 1979 zu schützen, von denen es seine Legitimität ableitet. Der christliche Glaube gilt als gefährlicher westlicher Einfluss und als Bedrohung der islamischen Identität der Republik (OpD 20.2.2023). Konversion und Bekenntnis zum Christentum sind damit Akte des Protests, der Fundamentalopposition und des Bruches mit der Islamischen Republik (BAMF 5.2022). Dies erklärt, warum insbesondere Konvertiten, die sich vom Islam ab- und dem christlichen Glauben zugewandt haben, wegen „Verbrechen gegen die nationale Sicherheit“ verurteilt werden (OpD 20.2.2023).Aufgrund der häufigen Unterstützung ausländischer Kirchen für Kirchen in Iran und der Rückkehr von Christen aus dem Ausland lautet das Urteil oft auch Verdacht auf Spionage und Verbindung zu ausländischen Staaten und Feinden des Islam (z. B. Zionisten) (ÖB Teheran 11.2021). Freikirchliche Protestanten werden des „evangelikalen und zionistischen“ Christen- bzw. Sektentums bezichtigt (BAMF 5.2022).
Bezüglich dieser Thematik entschied der Oberste Gerichtshof im November 2021, dass neun christliche Konvertiten, die wegen ihrer Beteiligung an Hauskirchen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden waren, nicht wegen „Handelns gegen die nationale Sicherheit“ angeklagt werden sollten.
In der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs heißt es: „Die bloße Verkündigung des Christentums und die Förderung der ’evangelikalen zionistischen Sekte’, wobei beides offensichtlich die Propagierung das Christentum durch Familientreffen [Hauskirchen] bedeutet, ist kein Ausdruck der Zusammenkunft und der geheimen Absprache, um die Sicherheit des Landes zu stören, weder im Inneren noch nach außen“ (ARTICLE18 25.11.2021; vergleiche RFE/RL 5.5.2022). Anders als die Berufungsgerichte kann der Oberste Gerichtshof keine neuen Urteile erlassen, sondern entscheidet lediglich über die Wiederaufnahme von Gerichtsverfahren. Der Fall wurde nun an eine Zweigstelle des Berufungsgerichtshofes innerhalb des Revolutionsgerichts überstellt, das nun unabhängig von den bislang ergangenen Gerichtsurteilen - aber auch unabhängig vom Obersten Gerichtshof - zu einem Urteil in der Sache gelangen konnte. Die Konvertiten wurden daraufhin im Februar 2022 freigesprochen und bis auf eine Person, die wegen ihrer christlichen Aktivitäten noch eine andere Haftstrafe verbüßt, freigelassen. Gegen zwei der Freigelassenen wurden umgehend neue Anklagen erhoben (BAMF 5.2022). Während die Interessensgruppe Article 18 ursprünglich davon ausging, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofs ein potenziell wegweisendes Urteil sein könnte (ARTICLE18 25.11.2021), wurde im September 2022 bekannt, dass mehrere Christinnen und Christen aufgrund ihrer Beteiligung an Hauskirchen unter dem Anklagepunkt „Bildung und Betrieb illegaler Organisationen, mit dem Ziel die Sicherheit des Landes zu stören“, teilweise zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren (ET 24.9.2022; vergleiche OpD 22.9.2022).
In Iran Konvertierte nehmen von öffentlichen Bezeugungen ihrer Konversion naturgemäß Abstand, behalten ihren muslimischen Namen und treten in Schulen, Universitäten und am Arbeitsplatz als Muslime auf. Wer zum Islam zurückkehrt, tut dies ohne besondere religiöse Zeremonie, um Aufsehen zu vermeiden. Es genügt, wenn die betreffende Person glaubhaft versichert, weiterhin oder wieder dem islamischen Glauben zu folgen. Es gibt hier für den Rückkehrer bestimmte religiöse Formeln, die dem Beitritt zum Islam ähneln bzw. nahezu identisch sind. Die Probleme, die durch Konversion auftreten können, sind breit gefächert. Sie beginnen in der Schule, wo Kinder aus konvertierten Familien einen Verweis oder die Verwehrung des Hochschuleintritts riskieren, sollten sie den Fächern Religionsunterricht, Islamische Lehre und Koranstunde fernbleiben (ÖB Teheran 11.2021).
Missionarische Tätigkeit – d. h. jegliches nicht-islamisches religiösesAgieren in der Öffentlichkeit - ist verboten und wird geahndet (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche USDOS 2.6.2022). Das Strafgesetz sieht für Proselytismus formell die Todesstrafe vor, wobei es laut der österreichischen Botschaft in Teheran in den letzten Jahren zu keinem derartigen Urteil gekommen ist (ÖB Teheran 11.2021). Im September 2022 wurde jedoch bekannt, dass zwei Aktivistinnen für die Rechte von Angehörigen sexueller Minderheiten, denen die Behörden neben anderen Anklagepunkten auch „Missionierung für das Christentum“ vorwarfen, zum Tod verurteilt worden waren (BAMF 1.1.2023; vergleiche OMCT 22.9.2022).
Die iranischen Behörden gestatten Konvertiten nicht, die Kirchen der armenischen und assyrischen Gemeinschaften zu besuchen, deren Rechte in der Verfassung des Landes anerkannt werden. Darüber hinaus ist es diesen Gemeinschaften selbst verboten, Gottesdienste in persischer Sprache abzuhalten, um Konvertiten vom Besuch abzuhalten (ARTICLE18 o.D.). Einige Konvertiten haben sich den „Assemblies of God“-Kirchen angeschlossen, andere gehören verschiedenen evangelikalen Hauskirchen-Netzwerken an (RFE/RL 5.5.2022). Die Schließungen von „Assembly of God“-Kirchen im Jahr 2013 führten zu einer Ausbreitung der Hauskirchen. Einer vom Danish Immigration Service (DIS) befragten Quelle zufolge zeigt die steigende Zahl von Hauskirchen, dass sie Spielraum für ihre Tätigkeit haben, obwohl sie illegal sind (DIS 23.2.2018). Die hauskirchlichen Vereinigungen stehen unter besonderer Beobachtung, ihre Versammlungen werden regelmäßig aufgelöst und ihreAngehörigen gelegentlich festgenommen (AA30.11.2022). Die Behörden fürchten die Ausbreitung der Hauskirchen und beobachten sie. Allerdings ist es schwierig, diese zu kontrollieren, da sie verstreut, unstrukturiert und ihre Örtlichkeiten meist nicht bekannt sind. Eine Hauskirche kann beispielsweise durch Nachbarn aufgedeckt werden, die ungewöhnliche Aktivitäten um ein Haus bemerken und dies den Behörden melden. Weiters setzen die Behörden Informanten ein. Ansonsten haben die Behörden eigentlich keine Möglichkeit, eine Hauskirche zu entdecken, da die Mitglieder in der Regel sehr diskret sind. Erfolgreiche Hauskirchen sind einem größeren Risiko ausgesetzt: Ob Behörden eingreifen, hängt auch von der Größe der Gemeinde ab. Eine andere Quelle gab dagegen an, dass Hauskirchen systematisch durchsucht werden. Eine Überwachung von Telekommunikation, Social Media und Online-Aktivitäten ist weit verbreitet, wenn ein Christ das Interesse der Behörden geweckt hat. So können zum Beispiel Stichwörter wie „Kirche“, „Christ“, „Jesus“ oder „Taufe“ als Grundlage für eine elektronische Überwachung dienen (DIS 23.2.2018).
Christen aus nicht anerkannten Gemeinschaften, insbesondere Evangelikale und andere Konvertiten aus dem Islam, sind nach Angaben christlicher NGOs weiterhin unverhältnismäßig vielen Verhaftungen und Inhaftierungen sowie einem hohen Maß an Schikanen und Überwachung ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen und christliche NGOs berichten weiterhin, dass die Behörden Christen, einschließlich Mitgliedern nicht anerkannter Kirchen, aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit oder ihrer Aktivitäten verhaften und sie beschuldigen, illegal in Privathäusern aktiv zu sein oder „feindliche“ Länder zu unterstützen und Hilfe von ihnen anzunehmen. Viele Verhaftungen finden Berichten zufolge im Rahmen von Polizeirazzien bei religiösen Versammlungen statt und umfassen auch die Beschlagnahmung von religiösem Eigentum. Nachrichtenberichten zufolge setzen die Behörden verhaftete Christen schweren physischen und psychischen Misshandlungen aus, die zuweilen Schläge und Isolationshaft beinhalten (USDOS 2.6.2022). Inhaftierten Christen, besonders christlichen Konvertiten, wird oft eine Entlassung gegen Kaution angeboten. Dabei geht es meist um hohe Geldbeträge, die Berichten zufolge zwischen 2.000 und 150.000 US-Dollar liegen. Die betroffenen Christen oder deren Familien werden dadurch gezwungen, ihre Häuser oder Geschäfte mit Hypotheken zu belasten. Personen, die gegen Kaution freigelassen werden, schweigen oft, da sie den Verlust ihres Familienbesitzes fürchten müssen. Das iranische Regime drängt sie, das Land zu verlassen und damit ihre Kaution zu verlieren. Es wird angenommen, dass Regierungsbeamte das Kautionssystem nutzen, um sich zu bereichern und Christen finanziell in den Ruin zu treiben (OpD 20.2.2023).
Einige derjenigen Christen, die die schwersten Strafen erhalten haben (2-10 Jahre Gefängnis), wurden wegen der Leitung/Organisation von Hauskirchen verurteilt (Landinfo 20.6.2022). Typischerweise werden die Leiter von Hauskirchen verhaftet und wieder freigelassen, da die Behörden die Hauskirche schwächen wollen (DIS 23.2.2018). Gewöhnliche Mitglieder von Hauskirchen riskieren ebenfalls, in einer Hauskirche verhaftet zu werden (DIS 23.2.2018; vergleiche OpD 20.2.2023, BAMF 5.2022). Manche der Festgenommenen werden später nicht verurteilt und inhaftiert (Landinfo 20.6.2022). Ob ein Mitglied einer Hauskirche im Visier der Behörden steht, hängt auch von seinen durchgeführten Aktivitäten, und ob es auch im Ausland bekannt ist, ab. Normale Mitglieder von Hauskirchen riskieren, zu regelmäßigen Befragungen vorgeladen zu werden, da die Behörden diese Personen schikanieren und einschüchtern wollen. Eine Konversion und ein anonymes Leben als konvertierter Christ allein führen meist nicht zu einer Verhaftung. Wenn der Konversion aber andere Aktivitäten folgen, wie zum Beispiel Missionierung oder das Unterrichten von anderen Personen im Glauben, dann kann dies zu einem Problem werden. Wenn ein Konvertit nicht missioniert oder eine Hauskirche bewirbt, werden die Behörden in der Regel nicht über ihn Bescheid wissen (DIS 23.2.2018). Die Aussage, dass Pastoren, Missionare oder Organisatoren von Hauskirchen besonders im Fokus der Sicherheitsdienste befinden, bedeutet allerdings nicht, dass sich das Risiko für normale, nicht in entsprechende Aktivitäten involvierte Gemeindemitglieder automatisch auf null reduzieren würde. So berichtete Landinfo über die Verhaftung eines Mannes im Jahr 2016, der kein auffälliges Profil aufwies, das Rückschluss auf eine wie auch immer geartete Exponiertheit erlauben würde (BAMF 5.2022).
Die von der Regierung ausgeübte Kontrolle ist in städtischen Gegenden am höchsten. Ländliche Gebiete werden weniger stark überwacht. In der Anonymität der Städte haben Christen jedoch mehr Freiheiten, Treffen und Aktivitäten zu organisieren als in ländlichen Gebieten, in denen die soziale Kontrolle stärker ist (OpD 20.2.2023).
Die Rückkehr von Konvertiten nach Iran führt nicht zwingend zu einer Festnahme oder Inhaftierung (BAMF 3.2019). Wenn ein Konvertit den Behörden auch zuvor nicht bekannt war, dann ist eine Rückkehr weitgehend problemlos. Auch konvertierte Rückkehrer, die keine Aktivitäten in Bezug auf das Christentum setzen, sind für die Behörden nicht von Interesse. Wenn ein Konvertit schon vor seiner Ausreise den Behörden bekannt war, kann sich die Situation anders darstellen. Auch Konvertiten, die ihre Konversion öffentlich machen, können sich womöglich Problemen gegenübersehen. Wenn ein zurückgekehrter Konvertit sehr freimütig über seine Konversion in den Social Media-Kanälen berichtet, besteht die Möglichkeit, dass die Behörden auf ihn aufmerksam werden und ihn bei der Rückkehr verhaften und befragen. Der weitere Vorgang hängt davon ab, was der Konvertit den Behörden erzählt. Wenn der Konvertit kein ’high-profile’-Fall ist und nicht missionarisch tätig ist bzw. keine anderen Aktivitäten setzt, die als Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen werden, ist eine harsche Strafe eher unwahrscheinlich. Eine Bekanntgabe der Konversion auf Facebook allein führt zumeist nicht zu einer Verfolgung, aber dies kann durchaus dazu führen, dass man beobachtet wird. Ein gepostetes Foto im Internet kann von den Behörden ausgewertet werden, gemeinsam mit einem Profil und den Aktivitäten der konvertierten Person. Wenn die Person vor dem Verlassen des Landes keine Verbindung mit dem Christentum hatte, wird diese aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht verfolgt werden. Wenn eine konvertierte Person die Religion in politischer Weise heranzieht, um zum Beispiel Nachteile des Islam mit Vorteilen des Christentums auf sozialen Netzwerken zu vergleichen, kann das aber zu Problemen führen (DIS 23.2.2018). Die iranischen Behörden fokussieren bei der Überwachung von Konvertiten zuletzt zunehmend auf Online-Aktivitäten (Landinfo 20.6.2022). Dies fällt unter den Kompetenzbereich des Cyber Defense Commands der Revolutionsgarden sowie des Centre to Investigate Organized Crimes (CIOC), da dies als Angelegenheit der nationalen Sicherheit wahrgenommen wird (Landinfo/et al. 12.2021).
Einige Geistliche, die in der Vergangenheit in Iran verfolgt oder ermordet wurden, waren im Ausland zum Christentum konvertiert. Die Tragweite der Konsequenzen für jene Christen, die im Ausland konvertiert sind und nach Iran zurückkehren, hängt von der religiösen und konservativen Einstellung ihres Umfeldes ab. Jedoch wird von familiärer Ausgrenzung berichtet, sowie von Problemen, sich in der islamischen Struktur des Staates zurechtzufinden (z.B. Eheschließung, soziales Leben) (ÖB Teheran 11.2021). Informanten in westlichen Ländern berichten dem iranischen Geheimdienst über Aktivitäten iranischer Christen im Ausland (OpD 20.2.2023).
Ob eine Taufe für die iranischen Behörden Bedeutung hat, kann nicht zweifelsfrei gesagt werden. Während Amnesty International und eine anonyme Quelle vor Ort aussagen, dass eine Taufe keine Bedeutung hat, ist sich ein Ausländer mit Kontakt zu Christen in Iran darüber unsicher; Middle East Concern, eine Organisation, die sich um die Bedürfnisse von Christen im Mittleren Osten und Nordafrika kümmert, ist der Meinung, dass eine dokumentierte Taufe die Behörden alarmieren und problematisch sein kann (DIS 23.2.2018). Open Doors gibt im Weltverfolgungsindex 2023 an, dass die Taufe als öffentliches Zeichen der Abwendung vom Islam gesehen wird und deshalb verboten ist (OpD 20.2.2023).
Christlichen NGOs zufolge werden die staatlichen Beschränkungen für die Veröffentlichung von religiösem Material fortgesetzt, einschließlich der Beschlagnahmung von zuvor erhältlichen Büchern über das Christentum, obwohl staatlich genehmigte Bibelübersetzungen Berichten zufolge weiterhin erhältlich sind. Regierungsbeamte beschlagnahmen häufig Bibeln und ähnliche nicht schiitische religiöse Literatur und üben Druck auf Verlage aus, die nicht genehmigte nichtmuslimische religiöse Materialien drucken, um ihre Tätigkeit einzustellen (USDOS 2.6.2022). Der Besitz christlicher Literatur in Farsi, besonders in größeren Stückzahlen, legt den Verdacht nahe, dass sie zur Weitergabe an muslimische Iraner gedacht ist (OpD 20.2.2023). Gleichzeitig ist bekannt, dass ein Projekt seitens des Erschad-Ministeriums zur Übersetzung der ’Katholischen Jerusalem Bibel’ ins Farsi genehmigt und durchgeführt wurde. Auch die Universität für Religion und Bekenntnis in Qom, die Religionsstudien betreibt, übersetzte noch im Jahr 2015 den ’Katechismus der Katholischen Kirche’ ins Farsi. Beide Produkte waren mit Stand 2019 ohne Probleme in Büchergeschäften erhältlich (BAMF 3.2019).
Es liegen keine Daten bzw. Details zu Rechtsprechung und Behördenpraxis im Zusammenhang mit Konversion vom Schiitentum zum Sunnitentum vor. Diese Konversion ist auch nicht als Apostasie zu werten; bislang wurde noch kein solcher Fall als Apostasie angesehen. Aufgrund von Diskriminierung von Sunniten im Iran könnten öffentlich ’konvertierte’ Sunniten jedoch Nachteile in Beruf und Privatleben erfahren. Keine besonderen Bestimmungen gibt es zur Konversion von einer nicht-islamischen zu einer anderen nicht-islamischen Religion, da diese nicht als Apostasie gilt (ÖB Teheran 11.2021).
Quellen
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ARTICLE18 - ARTICLE18 (25.11.2021): Iran’s Supreme Court rules converts did not act against national security, https://articleeighteen.com/news/9836/, Zugriff 17.3.2023;
ARTICLE18 - ARTICLE18 (o.D.): Persian-speaking Iranian Christians have no place where they can worship collectively, https://articleeighteen.com/place2worship/#, Zugriff 17.3.2023;
ARTICLE19 - ARTICLE19 (6.7.2022): Iran: New Penal Code provisions as tools for further attacks on the rights to freedom of expression, religion, and belief, https://www.ecoi.net/en/file/local/20753 55/Iran-Legal-analysis-Iran-New-Penal-Code-provisions-as-tools-for-further-attacks-on-the-right s-to-freedom-of-expression-religion-and-belief-06.07.22-1.pdf, Zugriff 17.3.2023;
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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (5.2022): Länderreport 52 Iran: Konversion und Evangelikalismus aus der Sicht der staatlichen Verfolger, https://www.ecoi.net/en/ file/local/2079128/Deutschland._Bundesamt_f%C3%BCr_Migration_und_Fl%C3%BCchtlinge%
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ET - Evangelical Times (24.9.2022): Iran: Christians jailed after losing ‘house church’ appeal, https://www.evangelical-times.org/iran-christians-jailed-after-losing-house-church-appeal/, Zugriff 17.3.2023;
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ÖB Teheran - Österreichische Botschaft Teheran [Österreich] (11.2021): Asylländerbericht – Islamische Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064921/IRAN_%C3%96B-Bericht_2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 [Login erforderlich];
OMCT - World Organisation Against Torture (22.9.2022): Iran: Death sentence against two women for speaking out in support of LGBTQI+ rights , https://www.omct.org/en/resources/statements /iran-death-sentence-against-two-women-for-speaking-out-in-support-of-lgbtqi-rights, Zugriff 16.3.2023;
OpD - Open Doors (20.2.2023): Religionsfreiheit: Iran unter internationalem Druck, https://www.op endoors.at/news/religionsfreiheit-iran-unter-internationalem-druck/, Zugriff 17.3.2023;
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RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (5.5.2022): No Place For Converts: Iran’s Persecuted
Christians Struggle To Keep The Faith , https://www.rferl.org/a/iran-christian-converts-persecuted/ 31836143.html, Zugriff 17.3.2023;
USDOS - United States Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2073955.html, Zugriff 16.3.2023;
Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung: 13.04.2023
Nur etwa jeder zweite Iraner hat Persisch als Muttersprache; die Bezeichnungen Iraner und Perser sind keineswegs identisch und Iran ist seit drei Jahrtausenden ein Vielvölkerstaat (BPB 13.1.2020). Angehörige ethnischer Minderheiten machen insgesamt ca. die Hälfte der iranischen Bevölkerung aus, darunter Azeris, Kurden, Gilaki und Mazandarani, Araber, Turkmenen, Luren, Belutschen, Zaza, Armenier,Assyrer und Georgier (AA 30.11.2022). Nach anderen Angaben gehören schätzungsweise 30 bis 35 von insgesamt rund 80 Millionen Iranern und Iranerinnen einer ethnischen Minderheit an. Der Staat veröffentlicht dazu keine Zahlen – aus Furcht vor Missbrauch durch außenpolitische Gegner, aber auch um bei den Minoritäten selbst keine Forderungen zu ermutigen (BPB 13.1.2020).
Berechnungen zufolge stellen Azeris etwa 20 % der Bevölkerung, Kurden 10 %, Luren 6 %, Araber und Belutschen je 2 %, Turkmenen 1 %. Ferner wohnen mehrere Millionen Afghanen dauerhaft in Iran, viele bereits in der zweiten Generation (BPB 13.1.2020). Die Minderheiten leben keineswegs nur in jenen Regionen, die ihren jeweiligen Namen tragen, wie etwa Kurdistan oder Aserbaidschan. Irans Ethnien- und Sprachenkarte ähnelt einem bunt gemusterten Teppich [Anm.: vergleiche Karte unten] (BPB 13.1.2020; vergleiche Izady/Gulf 2000 o.D.), wobei die meisten dieser Minderheiten in den Grenzprovinzen leben und Verbindungen zu Ethnien in Nachbarstaaten wie Irak, Aserbaidschan, Pakistan (FP 19.10.2022) und Afghanistan haben (MRG 6.2018).

Quelle: Izady/Gulf 2000 o.D.
Die ethnischen Minderheiten leben somit überwiegend in ökonomisch benachteiligten Randgebieten (DW 6.2.2021), die seit Jahrzehnten bei staatlichen Investitionen, der Entwicklung der Infrastruktur und Beschäftigungsmöglichkeiten vernachlässigt werden (AGSIW 14.10.2022; vergleiche AA 30.11.2022). Im Vergleich zum persisch dominierten Zentrum sind sie mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, darunter Armut, schlechter Zugang zu staatlichen Dienstleistungen, Umweltzerstörung und Wasserknappheit (FP 19.10.2022).
Die Verfassung gewährt allen ethnischen Minderheiten gleiche Rechte und erlaubt die Verwendung von Minderheitensprachen in den Medien. Das Gesetz gewährt den Bürgern das Recht, ihre eigenen Sprachen und Dialekte zu lernen, zu verwenden und zu unterrichten. Trotzdem diskriminiert die Regierung Minderheiten (USDOS 20.3.2023). Angehörigen der Minderheiten wird der Zugang zur höheren Bildung, zum Arbeitsmarkt, zu angemessenem Wohnraum und zu politischen Ämtern erschwert (AA 30.11.2022). Vertreter nicht-persischer ethnischer Minderheiten und insbesondere nicht-schiitischer religiöser Minderheiten erhalten nur selten höhere Regierungsposten, und ihre politische Vertretung ist nach wie vor schwach (FH 10.3.2023). Persisch ist die vorherrschende Sprache im Land, und das Sprechen anderer Sprachen ist in Schulen, Medien und im öffentlichen Leben verboten oder stark eingeschränkt, auch wenn es Bemühungen gab, um die sprachliche und kulturelle Diversität in Iran beispielsweise durch die Einführung einiger Kurse für Minderheitensprachen an Schulen und Universitäten zu fördern (TGP 21.2.2023). Auch ist der Anteil der Inhaftierungen (FP 19.10.2022) und Hinrichtungen in Regionen mit hohem Bevölkerungsanteil an ethnischen Minderheiten deutlich höher (AA 30.11.2022; vergleiche UNHRC 7.2.2023). Die Behörden richten Angehörige ethnischer Minderheiten dabei mitunter heimlich hin, und weigern sich, deren Hinterbliebenen die Leichname zu übergeben (AI 29.3.2022b). Grenzüberschreitende Schmuggler, die in Kurdistan als Kolbars und in Belutschistan als Sookhtbars bekannt sind, werden seit Jahrzehnten außergerichtlich hingerichtet, während sie einige der wenigen Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ausüben (NLM 8.11.2022).
Diese Ungleichheiten haben zu einer tiefgreifenden Unzufriedenheit und Verbitterung beigetragen, die sich in der Verhaftung Tausender friedlicher Demonstranten in diesen Regionen widerspiegelt. Laut Datenerhebungen zu Gefangenen in Iran sind mindestens drei Viertel aller politischen Gefangenen im Land Angehörige einer ethnischen Minderheit (MRG 24.11.2022).
Sowohl vor als auch nach der Revolution rechtfertigten iranische Regierungen die „Politik der eisernen Faust“ in den Randgebieten des Landes als Mittel zur Wahrung der territorialen Integrität des Iran (Stimson 27.2.2023; vergleiche BPB 13.1.2020). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante, separatistische Gruppierungen. Jedoch werden auch Personen, die sich für den Erhalt der sprachlichen oder kulturellen Identität einsetzen, oft als Separatisten verfolgt und teils zu langen Haftstrafen verurteilt (AA 30.11.2022). Einer Minderheit angehörende Aktivisten werden regelmäßig verhaftet und aufgrund willkürlicher Anschuldigungen zur Wahrung der nationalen Sicherheit in Prozessen verfolgt, die in keiner Weise internationalen Standards entsprechen (HRW 12.1.2023).
Jüngste Proteste
Nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini in Polizeigewahrsam (GD 31.10.2022) kam es ab Mitte September 2022 in Iran zu den größten Protesten seit Jahren (EN 1.2.2023). Sie brachen im ganzen Land aus, von der westlichen Provinz Kurdistan über Zentraliran bis in die Provinzen Sistan und Belutschistan im Süden (AN 18.10.2022). Ein wichtiger Aspekt des Aufstands ist die zentrale Rolle, welche die ethnischen Minderheiten dabei einnehmen (FP 19.10.2022) und eine weitverbreitete feministische Parole der Proteste lautet „Frau, Leben, Freiheit“ (in kurdischer Sprache: „Jin, Jîyan, Azadî“) (NatGeo 17.10.2022), ein Ausdruck, der seine Wurzeln im kurdischen Befreiungskampf hat (EN 1.2.2023).
Während regimetreue Medienkanäle auf die Proteste reagierten, indem sie alle Forderungen nicht-persischer ethnischer Gruppen als Separatismus darstellten, und als Beweis unter anderem die Teilnahme von Minderheitengruppen an einer Kundgebung in Berlin anführten, urteilte ein Experte für den Nahen Osten (NLM 8.11.2022), dass die jüngsten Proteste zu einer noch nie dagewesenen Solidarität zwischen den verschiedenen persischen und nicht-persischen Gemeinschaften des Landes geführt haben (NLM 8.11.2022; vergleiche Stimson 27.2.2023).
Angehörige von ethnischen Minderheiten waren überproportional stark von den staatlichen Repressionen gegen die Proteste betroffen (UNHRC 7.2.2023; vergleiche VOA 16.11.2022), auch wenn alle Protestteilnehmer unabhängig von ihrem Hintergrund eine Verhaftung, Folter und Gefängnisstrafen riskierten. Während Mitglieder der Basij-Miliz in Teheran Demonstranten verprügelten, haben die iranischen Sicherheitsbehörden in Kurdistan, Belutschistan undAhwaz beispielsweise schwere Maschinengewehre, gepanzerte Fahrzeuge, schwere Artillerie und sogar Kampfhubschrauber zur Bekämpfung der Proteste in Stellung gebracht (TWI 14.10.2022). Mehr als die Hälfte der im Zuge der Proteste getöteten Personen stammten mit Stand 31.12.2022 aus den von Belutschen und Kurden bewohnten Gebieten (UNHRC 7.2.2023).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (30.11.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 18. November 2022), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2083021/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_a syl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_18.11.2
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Kurden
Letzte Änderung: 13.04.2023
Kurden machen etwa 10% der iranischen Bevölkerung aus. Sie sind vor allem an den Grenzen zum Irak und zur Türkei beheimatet. Eine weitere große Gemeinschaft von Kurden lebt im Nordosten, entlang der Grenze zu Turkmenistan. Kurden stammen aus verschiedenen Völkern mit unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Hintergründen. Der kurdische Dialekt Kurmanji (selten: Kirmanji) wird beispielsweise im Nordiran und in weiten Teilen des türkischen Kurdistans gesprochen, Sorani dagegen in den meisten Teilen des iranischen und irakischen Kurdistans. Im südlichen Iran wird Gurani (auch: Gorani), eine eigenständige Sprache, gesprochen, während die Kurden um Kirmanshah [westl. Iran, Anm.] einen Dialekt sprechen, der dem Persischen näher steht (MRG 12.2017a). Unter Kurden gibt es Sunniten wie Schiiten; wegen der Konfession wird wenig Aufhebens gemacht, die Identität als Kurde und Kurdin ist wichtiger. Bei den kurdischen Sunniten dominieren sufistische Strömungen, die auch Frauen ekstatische Praktiken erlauben. Kurdische Tracht war in Iran anders als in der Türkei nie verboten und ist deshalb kein Symbol kulturellen Widerstands (BPB 13.1.2020).
Kurden (überwiegend sunnitischen Glaubens) sind hinsichtlich ihrer kulturellen Eigenständigkeit staatlicher Diskriminierung ausgesetzt. Dennoch werden sie in hohe Ämter der Provinzverwaltungen und auch in die Ministerialbürokratie berufen [Anm.: Ihnen stehen jedoch nicht alle Posten offen, siehe Überkapitel]. Der iranische Staatsrundfunk sendet stundenweise kurdischsprachige Sendungen auf dem Regionalsender IRIB Kurdistan. In der Verfassung vorgesehener Schulunterricht sowie Studiengänge in kurdischer Sprache sind seit einem Erlass von Rohani im Jahr 2016 rechtlich möglich. Es ist jedoch nicht nachprüfbar, in welchem Umfang Unterricht an Schulen und Universitäten tatsächlich angeboten wird, da er nicht aktiv vom iranischen Staat gefördert wird (AA 5.2.2021). An der Universität von Sanandadsch (der Hauptstadt der Provinz Kurdistan) darf neuerdings kurdische Sprache und Literatur als Studienfach gelehrt werden (BPB 13.1.2020). In der Grund- und Sekundarschule bleibt Persisch die einzige Unterrichtssprache (AI 29.3.2022b).
Die Regierung schränkt kulturelle und politische Aktivitäten der Kurden ein (HRW 12.1.2023). Sie greift weiterhin auf Gesetze zurück, um Kurden zu verhaften und strafrechtlich zu verfolgen, wenn diese von ihrem Recht auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit Gebrauch machen. Berichten zufolge verbietet die Regierung kurdischsprachige Zeitungen, Zeitschriften und Bücher und hat Verleger, Journalisten und Schriftsteller bestraft, die sich der Regierungspolitik widersetzen und diese kritisieren. Die Behörden verbieten allerdings nicht die Nutzung der kurdischen Sprache im Allgemeinen (USDOS 20.3.2023).
Die iranische Regierung sieht jede Art von politischem oder zivilem Aktivismus als potenzielle Bedrohung an; daher sind politische und zivilgesellschaftliche Aktivisten von Verfolgung bedroht (DIS 7.2.2020). Die iranische Regierung beschuldigt kurdische (und andere) bewaffnete Gruppen des Separatismus, des Terrorismus und der „Beziehungen zu Ausländern“. Diese Gruppen beschuldigen ihrerseits die Islamische Republik, die Rechte der Kurden im Iran zu verletzen, und behaupten, selbst die Rechte der Kurden zu verteidigen (BS 23.2.2022). Verhaftungen erfolgen aus vielen verschiedenen Gründen, unter anderem wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Mitgliedschaft in oder Unterstützung für die kurdischen Oppositionsparteien (DIS 7.2.2020). Kurdischen Aktivisten werden in vielen Fällen von der Zentralregierung separatistische Tendenzen vorgeworfen und diese entsprechend geahndet (AA 5.2.2021; vergleiche NLM 8.11.2022). Auffallend sind die häufigen Verurteilungen im Zusammenhang mit Terrorvorwürfen – insbesondere die Unterstützung der als Terrororganisation geltenden Partiya Jiyana Azad a Kurdistane [Partei für ein freies Leben in Kurdistan] (PJAK), der kommunistischen Komala-Partei, oder der KDP-Iran – und das oftmals unverhältnismäßig hohe Strafausmaß (ÖB Teheran 11.2021). Laut einem kurdischen Menschenrechtsnetzwerk wurde am 17.3.2023 im Zentralgefängnis von Orumiyeh (Provinz West-Aserbaidschan) ein Gefangener hingerichtet, der unter anderem aufgrund der Mitgliedschaft in der kurdischen Oppositionspartei DPKI (Demokratische Partei Kurdistan Iran) im Jahr 2018 des Hochverrats beschuldigt und zum Tode verurteilt worden war (BAMF 20.3.2023).
Darüber hinaus sind Kurden in Iran auch Diskriminierungen ausgesetzt, da sie mehrheitlich Sunniten sind (taz 24.10.2022). Auch häufen sich Berichte über Repressalien gegen Kurden aufgrund suspekter Aktivitäten ihrer Verwandten im Irak, mit denen die Verwandten zum Aufgeben oder zur Einreise in den Iran bewegt werden sollen (ÖB Teheran 11.2021). Grenzüberschreitende Schmuggler, die in Kurdistan als Kolbars bekannt sind, werden seit Jahrzehnten außergerichtlich hingerichtet, während sie einige der wenigen Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ausüben (NLM 8.11.2022).
Mehr als 200 Kurden, darunter Dissidenten und Aktivisten der Zivilgesellschaft, wurden im Jänner sowie im Juli-August 2021 von zwei Wellen willkürlicher Verhaftungen erfasst. Die meisten von ihnen wurden freigelassen, nachdem sie wochen- oder monatelang gewaltsam verschwunden waren oder in Isolationshaft gehalten wurden, während mehrere in Haft blieben oder zu Haftstrafen verurteilt wurden (AI 29.3.2022b). Vier kurdische Aktivisten blieben beispielsweise auch Anfang 2023 „verschwunden“, nachdem sie im Juli 2022 von Mitarbeitern des Geheimdienstministeriums verhaftet worden waren. Laut staatlichen iranischen Medien werden sie der „Spionage“ für Israel und der Planung „terroristischer“ Handlungen in Iran beschuldigt (AI 21.2.2023).
Die kurdische Region Irans ist militarisiert, und die iranische Regierung überwacht die kurdische Bevölkerung mit regelmäßigen Checkpoints ebenso wie durch die Nutzung von Telekommunikation und sozialen Medien. Einige Mitglieder der lokalen Bevölkerung arbeiten als Informanten für die Behörden (DIS 7.2.2020). Die militärische und geheimdienstliche Präsenz ist nicht immer sichtbar. Die Überwachung in diesem Gebiet ist nicht systematisch, aber strukturiert und auch nicht zufällig, sondern gezielt (DIS/DRC 23.2.2018).
Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Insbesondere in der Region Kurdistan-Irak im Nordirak gab es immer wieder Anschläge auf diesen Personenkreis und Beschuss von Zentren kurdischer Exiloppositioneller mit Raketen und Drohnen durch Kräfte der iranischen Revolutionsgarden (AA 30.11.2022; vergleiche BS 23.2.2022). Iranische Geheimdienstmitarbeiter haben Kurden auch im westlichen Ausland verfolgt. Unter anderem kam es zur Ermordung kurdischer Dissidenten (AN 18.10.2022).
Jüngste Proteste
Die kurdische Bevölkerung spielte bei den Protesten im Jahr 2022, die durch den Tod der Kurdin Mahsa Amini ausgelöst wurden eine wichtige Rolle, und das staatliche Vorgehen war in den kurdischen Gebieten besonders hart [s. auch übergeordnetes Kapitel, Anm.] (FH 10.3.2023; vergleiche USDOS 20.3.2023). Laut einer Zählung der kurdischen NGO Kurdistan Human Rights Network (KHRN) vom Jänner 2023 waren 121 der 481 von den iranischen Sicherheitsbehörden bei den Protesten getötet Personen kurdischer Herkunft (KHRN 11.1.2023; vergleiche UNHRC 7.2.2023). Die Protestbewegung begann in der Provinz Kurdistan und breitete sich erst später auf alle Teile des Landes aus. Nach Angaben eines Vertreters der Komala-Partei war das „Cooperation Center of Iranian Kurdistan’s Political Parties“ - eine Koalition zwischen der Komala-Partei und der DPKI - von Anfang an an der Bewegung beteiligt und hat zu Streiks und Demonstrationen aufgerufen [Anm.: Die Protestbewegung ist im Allgemeinen jedoch überparteilich und sehr dezentral organisiert]. Dass die Demonstranten auch heute noch den kurdischen Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“ als ihr Markenzeichen verwenden, unterstreicht die Bedeutung der Kurden innerhalb der Bewegung (TWI 13.12.2022).
Quellen
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Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Letzte Änderung: 13.04.2023
Generell genießt die Familie in Iran, ebenso wie in den meisten anderen islamischen Gesellschaften, einen hohen Stellenwert. Der Unterschied zwischen Stadt und Land macht sich aber auch hier bemerkbar in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau sowie hinsichtlich der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Auf dem Land hat das traditionelle islamische Rollenmodell weitgehende Gültigkeit, der Tschador, der Ganzkörperschleier, dominiert hier das Straßenbild. In den großen Städten hat sich dieses Rollenverständnis inzwischen verschoben, wenn auch nicht in allen Stadtteilen. Während des Iran-Irak-Krieges war, allen eventuellen ideologischen Bedenken zum Trotz, die Arbeitskraft der Frauen unabdingbar. Nach dem Krieg waren Frauen aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken oder gar zu entfernen. Die unterschiedliche und sich verändernde Stellung der Frau zeigt sich auch an den Kinderzahlen: Während in vielen ländlichen - v. a. in den abgelegeneren - Gebieten fünf Kinder der Normalfall sind, sind es in Teheran und Isfahan im Durchschnitt unter zwei. Insbesondere junge Frauen begehren heute gegen die nominell sehr strikten Regeln auf, besonders anhand der Kleidungsvorschriften für Frauen wird heute der Kampf zwischen einer eher säkular orientierten Jugend der Städte und dem System in der Öffentlichkeit ausgefochten (GIZ 12.2020b).
Frauen und Mädchen spielen eine zentrale Rolle bei den landesweiten Protesten (AI 27.3.2023) seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Jina (ihr kurdischer Vorname) Amini am 16.9.2022 (USDOS 20.3.2023). Amini war kurz vor ihrem Tod von der Sittenpolizei wegen angeblicher Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften für Frauen verhaftet und laut Augenzeugenberichten geschlagen worden (BBC 16.9.2022). Den Protesten unter der weitverbreiteten Parole: „Frau, Leben, Freiheit“ (in kurdischer Sprache: „Jin, Jîyan, Azadî“) (NatGeo 17.10.2022), die im Wesentlichen von Frauen gestartet wurden (EN 1.2.2023), schlossen sich Iraner und Iranerinnen aller Altersgruppen und Ethnien an, wobei sie vor allem von den jüngeren Generationen auf die Straße getragen wurden (NatGeo 17.10.2022). Viele Gegnerinnen der Regierung drücken ihren Protest derzeit auch durch zivilen Ungehorsam aus, etwa indem sie den Kopftuchzwang ignorieren (Spiegel 19.1.2023; vergleiche HRW 7.3.2023). Nach dem Beginn der Massenproteste Ende September 2022 verhafteten die Behörden Tausende von Menschen, darunter Prominente, Menschenrechtsaktivisten und andere, die ihre Unterstützung für die Bewegung durch Beiträge in den sozialen Medien oder durch die öffentliche Missachtung der Hijab-Pflicht, die zu Mahsa Aminis Verhaftung und Tod geführt hatte, zum Ausdruck gebracht hatten (FH 10.3.2023).
Verschiedene gesetzliche Verbote machen es Frauen unmöglich, im gleichen Maße wie Männer am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (strenge Kleiderordnung, Verbot des Zugangs zu Sportveranstaltungen, Genehmigungsvorbehalt des Ehemannes oder Vaters bezüglich Arbeitsaufnahme oder Reisen). In rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht sind iranische Frauen also vielfältigen Diskriminierungen unterworfen, die jedoch zum Teil relativ offen diskutiert werden (AA 30.11.2022). Iran hat die „Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ (CEDAW) als einer von wenigen Staaten weltweit nicht unterzeichnet (FNS 8.12.2022; vergleiche UNHRC o.D.). Im Global Gender Gap Report 2022 des World Economic Forum liegt Iran auf Platz 143 von 146 (WEF 13.7.2022; vergleiche AA 30.11.2022).
Frauen haben das aktive Wahlrecht (USDOS 20.3.2023), sind jedoch von einigen staatlichen Funktionen (u.a. Richteramt, Staatspräsident) gesetzlich oder aufgrund entsprechender Ernennungspraxis ausgeschlossen (AA 30.11.2022; vergleiche USDOS 20.3.2023). Während es Frauen seit 1979 gesetzlich verboten ist, als Richterinnen zu arbeiten, können entsprechend qualifizierte Frauen das Amt der „beratenden Richterin“ an Zivil- oder Familiengerichten bekleiden (IrWire 20.1.2023). Urteile werden dort jedoch von männlichen Richtern gesprochen, welche die Ratschläge der „beratenden Richterinnen“ annehmen oder ablehnen können (IrWire 20.1.2023; vergleiche BAMF 7.2020). Nur eine Frau gehört dem Kabinett von Staatspräsident Raisi an, die Vizepräsidentin für Frauen- und Familienangelegenheiten Ensieh Khazali. Die ultrakonservative Politikerin gilt als Befürworterin der frühen Heirat von Mädchen (AA 30.11.2022).
Kleidungsvorschriften und kulturelle Teilhabe
Dem Gesetz nach müssen alle Frauen in Iran ab einem Alter von neun Jahren die islamischen Bekleidungsvorschriften in der Öffentlichkeit einhalten (BAMF 7.2020). Frauen, die in der Öffentlichkeit ohne „angemessene Kleidung“, wie z. B. einen Stoffschal über dem Kopf (Hijab) und einem Mantel, oder einen Tschador [bodenlanger Umhang, der nur das Gesicht freilässt] auftreten, können zu Auspeitschung oder einem Bußgeld verurteilt werden. In Ermangelung einer klaren gesetzlichen Definition von „angemessener Kleidung“, oder der damit verbundenen Bestrafung, sind Frauen dem Ermessen der Disziplinar- und Sicherheitskräfte ausgesetzt (USDOS 20.3.2023). Bei Verstößen gegen gesetzliche Verbote müssen Frauen mit Strafen rechnen. So kann etwa eine Frau, die ihre Haare oder die Konturen ihres Körpers nicht verhüllt, mit einer Freiheitsstrafe (zehn Tage bis zu zwei Monaten) und/oder einer Geldbuße bestraft werden. Grundsätzlich ist auch die Verhängung von bis zu 74 Peitschenhieben wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral möglich. Dazu kommt es in der Regel nicht, da die Familien von der Möglichkeit des Freikaufs überwiegend Gebrauch machen. Auch wenn es in der Regel nur zu Verwarnungen kommt, ist die sogenannte Sittenpolizei „Gasht-e Ershad“ in Iran gefürchtet. Bei Kontrollen soll sie regelmäßig Gewalt anwenden (AA 30.11.2022). Laut offiziellen Statistiken sind aktuell 70 % der iranischen Bevölkerung gegen den verpflichtenden Hijab (BAMF 1.2023).
Nach dem Amtsantritt von Präsident Raisi hat die Zahl der Patrouilleneinheiten zur Einhaltung der Kleidervorschriften zugenommen, sodass es bereits am 12.7.2022, dem iranischen nationalen „Hijab- und Keuschheitstag“, zu weitverbreiteten Protesten von Frauen im Land gekommen ist. Viele Frauen gingen ohne Kopfbedeckung auf die Straße, was zu einer Reihe von Festnahmen und Inhaftierungen führte. Insgesamt will die Regierung mit den neuen Regeln vor allem öffentliche und private Angestellte dazu bringen, Frauen, die gegen die Kleidungsvorschriften verstoßen, zu melden. Erfüllen Angestellte ihre Meldepflichten nicht, so haben sie selbst mit Strafen oder Bußgeldern zu rechnen. Diese Regelungen sollen ab August 2022 nach und nach in allen Regierungsbehörden, Banken, Gewerbe- und Dienstleistungseinrichtungen, Bildungseinrichtungen, auf öffentlichen Straßen und Plätzen, in öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln, in virtuellen Räumen wie dem Internet, in Nachbarschaften und dem eigenen Haus und in der eigenen Familie umgesetzt werden (BAMF 1.2023). Auch nach den landesweiten Protesten seit September 2022 bekräftigten iranische Regierungsvertreter ihre Entschlossenheit, die Hijabpflicht für Frauen weiter durchzusetzen (BBC 1.4.2023). Ein im März 2023 vorgestellter Gesetzesvorschlag sieht eine „intelligente“ Überwachung der Hijabpflicht anstelle physischer Konfrontationen vor (NCRI 27.3.2023). Die Behörden werden die Hijabpflicht somit laut Ankündigungen zukünftig auch mittels automatischer Gesichtserkennung kontrollieren (Wired 10.1.2023; vergleiche FH 10.3.2023). Die mit der Durchsetzung der Kleidungsvorschriften beauftragten Sicherheitsbehörden sollen dabei Fahrzeuginsassinnen und Verkehrswege, öffentliche Plätze und Restaurants, Behörden- und Regierungsgebäude, Ausbildungsstätten, Flughäfen, den virtuellen Raum und berühmte Persönlichkeiten überwachen. Frauen, die gegen die Hijabpflicht verstoßen, sollen mit hohen Geldstrafen sowie einer Annullierung ihres Reisepasses und Führerscheins bestraft werden. Inhaberinnen von Websites oder reichweitenstarker Auftritte in den sozialen Medien sollen außerdem mit einem Internetverbot belegt werden können (NCRI 27.3.2023).
Zahlreiche Beschränkungen zielen auf Frauen in Sport und Kultur ab (Verbot des Singens außer im Chor, Verbot des Tanzens, Verbot des Zugangs zu Fußballstadien, etc.). Die Regierung Raisi hat bereits angekündigt, das Verbot für Frauen, Rad und Motorrad zu fahren, streng durchzusetzen (ÖB Teheran 11.2021). Seit 1979 wird Frauen der Zutritt zu großen Fußballstadien verwehrt. Auf Druck der FIFA und anderer Organisationen durften Frauen in den letzten Jahren bei einer Handvoll nationaler Spiele anwesend sein. Im August 2022 durften sie zum ersten Mal ein Ligaspiel besuchen (AJ 25.8.2022). Im März 2022 verweigerten Polizeikräfte den rund 2.000 weiblichen Fußballfans mit Eintrittstickets dagegen den Zugang zu einem WM-Qualifikationsspiel, anschließende Proteste der Fans beantworteten sie mit Pfefferspray (RFE/RL 9.9.2022).
Wirtschaftliche Teilhabe
Anmerkung, s. Kap. Kinder für Informationen zur Teilhabe von Mädchen und jungen Frauen am Bildungswesen.
Mehr als die Hälfte der Universitätsabsolventen sind Frauen, die Arbeitslosenrate von Frauen ist jedoch doppelt so hoch, wie jene der Männer (FA 2.2.2023). Nur etwa 15 % aller Frauen über 15 Jahren sind in Iran laut den aktuellsten Daten (2021) berufstätig (WB 21.2.2023a), während es unter den Männern rund 68 % sind (Daten von 2020) (WB 21.2.2023b). Laut offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosenrate bei Frauen bei knapp 18 %, unter Frauen mit höherer Bildung liegt sie noch deutlich höher (AA 30.11.2022). Die verstärkte Rezession, die auf den Ausbruch der COVID-19-Pandemie folgte, vergrößerte die Kluft zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt noch weiter (BS 23.2.2022). Gründe für die stärkere Betroffenheit von Frauen von Arbeitslosigkeit sind neben der COVID-19-Pandemie auch die US-Sanktionen und die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage. Die Stärkung der Schattenwirtschaft, und damit von religiösen Stiftungen und Unternehmen im Besitz der Revolutionsgarden, in denen konservative Männer dominieren, hat die Arbeitsmöglichkeiten von Frauen besonders eingeschränkt (ÖB Teheran 11.2021). Die ultrakonservative Regierung wird die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt nicht vorantreiben, weil sie die traditionelle Rolle der Frau in der islamischen Familie stärken und die Geburtenrate erhöhen will (AA 30.11.2022). Der Zugang zum Arbeitsmarkt und die beruflichen Möglichkeiten für Frauen sind durch soziale und rechtliche Regelungen eingeschränkt, mit dem Ziel der Beschränkung von Frauen auf deren Rolle als Mutter und Ehefrau. Oftmals wird von Frauen das Einverständnis des Ehemannes oder Vaters verlangt, um eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können. Gesetzlich kann ein Ehemann seiner Ehefrau jederzeit verbieten, arbeiten zu gehen. Stellenausschreibungen werden oft geschlechtsspezifisch nur für Männer ausgeschrieben. Regelmäßig werden Frauen nach Rückkehr aus der neunmonatigen Karenz gekündigt. Die gravierenden Einschränkungen der Versammlungsfreiheit verhindern den gewerkschaftlichen Zusammenschluss erwerbstätiger Frauen. Konservative Politiker haben in der Vergangenheit mehrmals versucht, die Erwerbstätigkeit von Frauen weiter einzuschränken oder in manchen Sektoren zu verbieten (ÖB Teheran 11.2021).
Rechtliche Rahmenbedingungen
Die iranische Verfassung schreibt eine „Gleichberechtigung aller vor dem Gesetz“ vor, allerdings steht diese zugleich unter dem Vorbehalt der Ziele der Islamischen Republik, die nur unter „Beachtung der islamischen Normen“ erreicht werden können (BAMF 1.2023; vergleiche USDOS 20.3.2023). Da alle einfachgesetzlichen Normen mit der Scharia vereinbar sein müssen und in Iran einer traditionellen Rechtsauslegung der Scharia gefolgt wird, kommt es vor allem in den Bereichen zum Ehe- und Scheidungsrecht, dem Sorgerecht und bei Erbschaftsangelegenheiten zu erheblichen Benachteiligungen für Frauen (BAMF 1.2023). Prägend ist dabei die Rolle der (Ehe-)Frau als dem (Ehe-)Mann untergeordnet, wie sich sowohl in Fragen der Selbstbestimmung, des Sorgerechtes, der Ehescheidung als auch des Erbrechts erkennen lässt (AA 30.11.2022; vergleiche AI 27.3.2023, HRW 12.1.2023, BAMF 1.2023).
Beispielsweise darf eine verheiratete Frau ohne die schriftliche Genehmigung ihres Mannes (oder Vaters) keinen Reisepass erhalten oder ins Ausland reisen (HRW 12.1.2023; vergleiche BAMF 1.2023). Ehefrauen können allerdings Ehevertragsklauseln mit ihrem Ehemann vereinbaren, um eine generelle Ausreisegenehmigung zu erhalten (BAMF 1.2023; vergleiche IrWire 2.11.2019). Kinder unter 18 Jahren benötigen für die Ausstellung des Reisepasses die schriftliche Erlaubnis ihres Vaters. Wenn der Ehemann oder Vater nicht anwesend ist, hat die Frau sich bei einem Wunsch zur Ausreise an die zuständige Behörde des Außenministeriums zu wenden, sofern keine schriftliche Erlaubnis vorliegt (BAMF 7.2020). Unverheiratete und geschiedene Frauen sowie Witwen benötigen keine Erlaubnis ihres Vaters oder eines männlichen Vormunds, um zu reisen (CGRS-CEDOCA 30.3.2020; vgl.TehVak 22.2.2023, Ettelaat 1.2.2017). Unverheiratete Frauen benötigen jedoch zur Beantragung ihres Reisepasses die Zustimmung ihrer Eltern (BAMF 7.2020; vergleiche Ettelaat 1.2.2017). Nach dem Gesetzbuch für Zivilrecht hat ein Ehemann das Recht, den Wohnort zu wählen, und kann seine Frau daran hindern, bestimmte Berufe auszuüben (HRW 12.1.2023). Im Straf- bzw. Strafprozessrecht sind Mädchen bereits mit neun Jahren vollumfänglich strafmündig (Buben mit 15 Jahren) (AA 30.11.2022; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Zeugenaussagen von Frauen werden nur zur Hälfte gewichtet (AA 30.11.2022; vergleiche FH 10.3.2023), und die finanzielle Entschädigung, die der Familie eines weiblichen Opfers nach ihrem Tod gewährt wird, ist nur halb so hoch wie die Entschädigung für ein männliches Opfer (FH 10.3.2023; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Selbst KFZ-Versicherungen zahlen bei Personenschäden von Frauen nur die Hälfte. Auch erben Frauen nur die Hälfte von Männern (ÖB Teheran 11.2021).
Heirat, Scheidung, Obsorge und Vormundschaft für Kinder
Anmerkung, Die drei in der iranischen Verfassung anerkannten Buchreligionen (Judentum, Christentum, Zoroastrismus) genießen in Fragen des Ehe- und Familienrechts verfassungsrechtlich Autonomie (AA 30.11.2022) und dürfen somit ihr eigenes Personenstandsrecht anwenden, das allerdings der iranischen Gesetzgebung zur öffentlichen Ordnung entsprechen muss (McGlinn 2001). Bezüglich dieser Rechtsbereiche wird nachstehend vor allem auf die Situation von Frauen der schiitischen Mehrheitsgesellschaft - rd. 90 % der Bevölkerung (STDOK 3.5.2018) - sowie der nicht anerkannten Religionsgruppen (denen das Recht auf ein eigenes Ehe- und Familienrecht nicht zugesprochen wird) eingegangen. Für Informationen zur Heirat von unter-18-Jährigen, für weitergehende Informationen zur Behandlung von unehelichen Kindern, sowie zur Weitergabe der Staatsbürgerschaft durch Mütter, s. Kap. Kinder.
Das Gesetz erkennt Ehen zwischen muslimischen Frauen und nicht-muslimischen Männern nicht an (USDOS 20.3.2023; vergleiche IrWire 13.2.2014). Muslimische Männer dürfen nicht-muslimische Frauen aus den drei anerkannten Buchreligionen dagegen auf jeden Fall in Zeitehen [auch: Sigheh, Mut’a-Ehe] heiraten, während die Meinungen bezüglich permanenter Ehen auseinandergehen. Manche Rechtsgelehrte gehen von ihrer Zulässigkeit aus, andere nicht (IrWire 13.2.2014). Es ist Männern gesetzlich erlaubt, bis zu vier Ehefrauen und eine unbegrenzte Anzahl von „Ehefrauen auf Zeit“ zu haben, basierend auf einem schiitischen Brauch, der zivile und religiöse Verträge mit begrenzter Dauer zulässt. Das Gesetz gewährt Frauen kein Recht auf mehrere Ehemänner (USDOS 20.3.2023).
Eine Frau kann sich nur unter bestimmten Voraussetzungen scheiden lassen (USDOS 20.3.2023: vergleiche BAMF 7.2020), wie z. B. wenn ihr Ehemann einen Vertrag unterzeichnet, der ihr dieses Recht einräumt, wenn er seine Familie nicht versorgen kann, wenn er gegen die Bestimmungen des Ehevertrags verstößt, oder wenn er drogenabhängig, geisteskrank oder impotent ist. Ein Mann kann sich ohne Angabe von Gründen von seiner Frau scheiden lassen (USDOS 20.3.2023). Das Gesetz erkennt das Recht einer geschiedenen Frau auf einen Teil des gemeinsamen Vermögens und auf Unterhalt an (USDOS 20.3.2023; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Dies wird nicht immer durchgesetzt (USDOS 20.3.2023). Fehlt alleinstehenden Frauen der Rückhalt ihres Partners bzw. ihrer eigenen Familie, so befinden sie sich schnell am Rande der Gesellschaft und sind gezwungen, sich zum Wohle ihres Kindes mit der Gesellschaft zu arrangieren. Zwar sind die leiblichen Eltern unehelicher Kinder verpflichtet, ihren elterlichen Pflichten in Hinblick auf die Personensorge nachzukommen, und der leibliche Vater bzw. auch der biologische Großvater väterlicherseits sind auch einem unehelichen Kind gegenüber unterhaltspflichtig. Im Fall, dass beide unbekannt sind bzw. sich beide ihrer Verantwortung entziehen, muss die Mutter ihr Kind allerdings finanziell allein versorgen (BAMF 1.2023). Angaben über mögliche (finanzielle) Unterstützung vom Staat für alleinerziehende bzw. alleinstehende Frauen sind nicht eruierbar ÖB Teheran 11.2021).
Die Vormundschaft für Minderjährige liegt laut den gesetzlichen Bestimmungen beim Vater oder Großvater väterlicherseits. Wenn diese nicht in der Lage sind, die Verantwortung zu übernehmen, kann vom Gericht ein Ersatz bestellt werden. In Abwesenheit eines Vaters bzw. Großvaters gibt es eine Möglichkeit für die Mutter, die Vormundschaft für ihr Kind zu übernehmen, so ein Gericht zustimmt. Laut einem von Landinfo befragten Experten ist es unter islamischen Rechtsgelehrten jedoch sehr umstritten, ob Mütter tatsächlich die Vormundschaft übernehmen können (Landinfo 5.8.2022). Das Gesetz sieht dagegen vor, dass geschiedenen Frauen vorzugsweise das Obsorgerecht für ihre Kinder bis zu deren siebentem Lebensjahr gegeben werden soll. Danach soll das Obsorgerecht dem Vater übertragen werden, außer dieser ist dazu nicht imstande. Heiraten geschiedene Frauen erneut, verlieren sie das Obsorgerecht für Kinder aus einer früheren Ehe (ÖB Teheran 11.2021).
Aufgrund der Schwierigkeit für Frauen, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist der familiäre Rückhalt für alleinstehende Frauen umso bedeutender. Jedoch erhalten manche Frauen, die außerhalb der gesellschaftlichen Norm leben (wie zum Beispiel lesbische Frauen oder Prostituierte), keine Unterstützung durch die Familie und können Opfer von häuslicher Gewalt und Zwangsheirat werden. Alleinstehende Frauen haben oft Schwierigkeiten, eine Wohnung oder Arbeit zu finden, da sie für Prostituierte gehalten werden (ÖB Teheran 11.2021).
Schutz vor Gewalt
Anmerkung, s. Kap. Kinder für Informationen zu weiblicher Genitalverstümmelung (FGM).
Der Staat ist verpflichtet, Frauen vor sexueller Gewalt zu schützen. Frauen, die ehelicher oder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, können nicht uneingeschränkt darauf vertrauen, dass effektiver staatlicher Schutz gewährt wird. Gesetze zur Verhinderung und Bestrafung geschlechtsspezifischer Gewalt existieren nicht. Ein geplantes Gesetz „gegen Gewalt gegen Frauen“ ist noch immer nicht verabschiedet worden (AA 30.11.2022). Vergewaltigung ist illegal und unterliegt strengen Strafen, einschließlich der Todesstrafe. Das Gesetz betrachtet Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe per Definition als einvernehmlich und behandelt daher keine Vergewaltigung in der Ehe, auch nicht in Fällen von Zwangsheirat. Die meisten Vergewaltigungsopfer melden Verbrechen nicht, weil sie staatliche Vergeltungsmaßnahmen oder Strafen für Vergewaltigungen befürchten, wie zum Beispiel Anklagen wegen Unanständigkeit, unmoralischem Verhalten oder Ehebruch. Ehebruch wiederum ist ebenfalls mit der Todesstrafe bedroht. Auch gesellschaftliche Repressalien oder Ausgrenzung werden von Vergewaltigungsopfern befürchtet (USDOS 20.3.2023). Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz und in der Familie sind weit verbreitet, für die Männer herrscht gänzliche Straflosigkeit. Ein iranischer ’Me-Too’-Moment im Sommer 2020, als eine junge Frau Interviews mit Überlebenden sexueller Gewalt veröffentlichte, zeigte das Ausmaß des ansonsten totgeschwiegenen Problems auf. Krisenzentren und Frauenhäuser nach europäischem Modell existieren in Iran nicht. Die schwierige Beweislast für sexuellen Missbrauch und das Verbot außerehelicher Beziehungen hat zur Folge, dass Frauen Missbrauch nicht anzeigen, da sie ansonsten regelmäßig selbst Beschuldigte wären. Ein Gesetzesentwurf der Regierung Rohani zu Gewaltschutz wurde vom erzkonservativen Parlament solange boykottiert, bis der jetzige Präsident Raisi an die Macht kam, unter dem das Gesetz keine Aussicht auf Umsetzung hat (ÖB Teheran 11.2021).
Ehrenmorde
Unter Ehrenmord (qatl-e namusi) wird ein Mord verstanden, der innerhalb einer Familie, von einem Vater, einem Ehemann oder einem sonstigen männlichen Verwandten begangen wird, um ein Familienmitglied (in der Regel Frauen und Mädchen) zu bestrafen, das den Ruf und die Ehre der Familie beschädigt hat. Typische Ursachen für die Beschädigung der Familienehre sind vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung, Widerstand gegen eine Zwangsverheiratung und die Weigerung, eine arrangierte Ehe einzugehen. Ehrenmorde, die von einem Vater, Großvater oder einem männlichen Verwandten begangen werden, gehören nach Artikel 301, des Iranischen Strafgesetzbuchs (IStGB) 2013 nicht zu den Qisas-Strafen (Vergeltungsstrafrecht) [Anm.: s. Kap. Rechtsschutz/Justizwesen für Begriffserklärungen zu Hadd, Qisas, Ta’zir und Diyah]. Stattdessen sind hier die Zahlung eines Blutgelds [Diyah] sowie Ta’zirbzw. Ermessensstrafen vorgesehen. Nur wenn nach Artikel 612, IStGB 1996 der Ehrenmord eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Gesellschaft darstellt, wird der Täter zu einer Freiheitsstrafe von drei bis zu zehn Jahren verurteilt. Nach Artikel 630, IStGB 1996 wird ein Ehemann nicht nach dem Vergeltungsstrafrecht (Qisas) bestraft, wenn er seine Ehefrau beim Ehebruch mit einem anderen Mann erwischt und tötet bzw. sich sicher ist, dass es sich um keine Vergewaltigung handelt. Auch entfällt in diesem Fall die Zahlung eines Blutgeldes (Diyah). Wird die Ehefrau von einem anderen Mann vergewaltigt (Ehebruch gegen den Willen der Ehefrau), kann der Ehemann nur den Täter straffrei töten (BAMF 1.2023).
Ehrenmorde sind vor allem in den ländlichen Gebieten verbreitet und richten sich meistens gegen Frauen und Mädchen. Größtenteils werden sie in den folgenden Provinzen verzeichnet: West-Aserbaidschan, Kurdistan, Kermanshah, Ilam, Lurestan und Khuzestan. Hier leben vor allem arabische, kurdische und lurische Bevölkerungsgruppen (BAMF 1.2023). Da viele Suizide auch als Ehrenmorde einzustufen sind und Ehrenmorde häufig nicht als solche öffentlich werden, liegen keine offiziellen Statistiken hierzu vor. Es wird vermutet, dass Jahr für Jahr mutmaßlich 400 bis 500 Frauen in Iran bei sogenannten Ehrenmorden getötet werden (BAMF 1.2023; vergleiche MEI 26.8.2021).
Familienplanung und Abtreibung
Nach dem Ende des iranisch-irakischen Krieges (1980-1988), in dem die Familien ermutigt wurden, mehr Kinder zu bekommen, befürchtete die iranische Führung, dass das Bevölkerungswachstum des Landes die Ressourcen übersteigen könnte. Daher begann sie mit der Umsetzung landesweiter Familienplanungsprogramme. Unter der Leitung des damaligen Obersten Führers Ruhollah Khomeini ermutigte die Regierung Familien, nur ein oder zwei Kinder zu haben, riet von Schwangerschaften bei Minderjährigen ab, stellte kostenlos Kondome zur Verfügung und subventionierte Vasektomien, neben anderen Initiativen. Selbst in ländlichen Gebieten hatten Frauen und Schwangere im Allgemeinen verlässlichen Zugang zu Gesundheitsuntersuchungen in Kliniken und anderen Diensten zur Familienplanung. In einer Zeit des Bevölkerungsrückgangs scheint sich das Kalkül verschoben zu haben (WP 1.12.2021).
Am 1.11.2021 wurde ein neues Gesetz zur „Verjüngung der Gesellschaft und zum Schutz der Familie“ verabschiedet, das von neun UN-Sonderberichterstattern und Menschenrechtsmechanismen als menschenrechtswidrig bezeichnet worden ist (ÖB Teheran 11.2021). Das Gesetz schränkt den Zugang von Frauen zu reproduktiven Rechten stark ein (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche AA 30.11.2022) und enthält eine vage formulierte Bestimmung, die besagt, dass Abtreibung, wenn sie in großem Umfang durchgeführt wird, unter den Straftatbestand der „Korruption auf Erden“ fällt und mit der Todesstrafe geahndet wird. Das neue Gesetz schränkt die bereits begrenzten Ausnahmen vom Abtreibungsverbot des Strafgesetzbuches weiter ein. Die endgültige Entscheidung über einen medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch - bei Gefahr für das Leben der Schwangeren oder bei Anomalien des Fötus - liegt nun in den Händen eines Gremiums, das sich aus einem Richter, einem Arzt und einem Gerichtsmediziner zusammensetzt, und nicht bei der Schwangeren. Das Gesetz verbietet auch die [bislang] kostenlose Verteilung von Verhütungsmitteln sowie freiwillige Sterilisationen für Männer und Frauen, abgesehen von Ausnahmefällen (UNHRC 16.11.2021). Auch wird eine Datenbank von Frauen, die gynäkologische Hilfe suchen, erstellt (ÖB Teheran 11.2021). LautAussagen eines iranischen Behördenvertreters werden rund 95% aller Abtreibungen in Iran illegal durchgeführt (IRINTL 8.9.2022). Offiziellen Angaben zufolge werden im Iran jährlich schätzungsweise 300.000 bis 600.000 illegale Abtreibungen vorgenommen. Unsichere Abtreibungen sind nach internationalem Recht als eine Form der geschlechtsspezifischen Gewalt anerkannt worden (UNHRC 16.11.2021).
Quellen
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STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich]
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Rückkehr
Die freiwillige Rückkehr registrierter afghanischer Flüchtlinge sank bis Ende August 2022 mit 246 Personen erneut deutlich (2021: 800 Personen) (AA 30.11.2022), insgesamt kehrten im Jahr 2022 376 Afghanen mit Unterstützung von UNHCR freiwillig von Iran nach Afghanistan zurück (UNHCR 31.12.2022). Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2021 sind laut IOM (Stand August 2022) mit 982.680 Personen weniger nicht-registrierte Afghanen aus Iran nach Afghanistan zurückgekehrt als zuvor. Trotz Stellungnahme von UNHCR zur Einhaltung des völkerrechtlichen Prinzips des non-refoulement führt Iran nach Angaben von UNHCR weiter Abschiebungen durch. UNHCR schätzt, dass 65 % der neu ankommenden afghanischen Flüchtlinge abgeschoben werden (AA 30.11.2022). Die iranischen Behörden haben bereits vor dem Fall Afghanistans an die Taliban jährlich hunderttausende Afghanen nach Afghanistan zurückgeschickt. Die vom IOM verzeichneten Rückreisen nach Afghanistan waren seit Jahren ansteigend. Viele kehrten dabei auch freiwillig zurück – oft, um später wieder nach Iran einzureisen (zirkuläre Migration). Iran hat in den Grenzregionen verschiedene Transitzentren eingerichtet, von wo aus die afghanischen Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgeschickt werden. UNHCR zeigt solche Zentren auf einer Karte von März 2022 in den Provinzen Razavi Khorasan, in Süd-Khorasan und in Sistan und Belutschistan. Die Einrichtungen werden als überfüllt und schmutzig beschrieben, mit mangelnder Ernährung und medizinischer Versorgung. Sicherheitskräfte haben demnach die Flüchtlinge – besonders diejenigen, die kein Geld für den Rücktransport vorweisen konnten – wiederholt geschlagen und angegriffen sowie ihres Geldes oder des Mobiltelefons beraubt. Internationale Organisationen, inkl. UNHCR, haben nur beschränkten Zugang zu diesen Lagern bzw. zur Grenzregion insgesamt (SEM 30.3.2022).
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Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 13.04.2023
Die Grundversorgung ist gesichert, wozu neben staatlichen Hilfen auch ein enger Familienzusammenhalt sowie das islamische Spendensystem beitragen (AA 30.11.2022). Die iranische Regierung hat angekündigt, den monatlichen Mindestlohn ab März 2023 auf ca. 56 Millionen Rial festzulegen [mit Stand 12.4.2023 umgerechnet 100 Euro - aufgrund von Inflation und Wechselkursveränderung stark schwankend] (IRINTL 1.2.2023). Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines städtischen Haushalts lag 2019 (letzte offiziell verfügbare Zahlen) bei rund 747 Millionen Rial (AA 30.11.2022). Nach Angaben des iranischen Ministeriums für Kooperativen, Arbeit und Wohlfahrt benötigt eine Familie mit vier Personen in Teheran schätzungsweise mindestens 147 Millionen Rial [am 12.4.2023 ca. 260 Euro] monatlich, um nicht unter die Armutsgrenze zu rutschen, im Landesdurchschnitt sind es ca. 77 Millionen Rial [am 12.4.2023 ca. 140 Euro] (IRINTL 1.2.2023).
Angesichts der immer schärferen US-Sanktionen und des dramatischen Währungsverfalls hat sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche BS 23.2.2022). Iran befindet sich weiterhin in einer ökonomisch hochproblematischen Lage. Die Trends der vergangenen Jahre setzen sich weiter fort (BAMF 13.2.2023). Im Februar 2023 erreichte der Rial mit ca. 1:580.000 zum US-Dollar seinen bisherigen Tiefststand, wobei die Währung in den vergangenen zehn Jahren 94% ihres Werts verloren hat (IRINTL 30.3.2023). Dies verteuert vor allem Importe auf breiter Front (BAMF 13.2.2023) und brachte im Februar 2023 viele Unternehmen fast zum Stillstand (IRINTL 26.2.2023). Gründe sind die US-Sanktionen und deren extraterritoriale Anwendung und damit Zurückhaltung europäischer Unternehmen vor Geschäften mit Iran, aber auch die Folgen der COVID-19-Pandemie. Viele Privatunternehmen mussten aufgrund fehlender Devisen und Importmöglichkeiten von Rohstoffen, Bestandteilen oder Ausrüstung die Produktion drosseln oder schließen (ÖB Teheran 11.2021).
Neben der Abwertung des Rial sieht sich das Land auch mit einer ungezähmten Inflation konfrontiert, die laut einem Bericht des Statistischen Zentrums Irans am 19.2.2023 bei mehr als 53% lag (AJ 2.3.2023) und in den vergangenen vier Jahren durchgehend über 40 % betrug, was sich negativ auf die Kaufkraft der Haushalte auswirkt (WB 20.10.2022). Lebensmittel waren davon zuletzt besonders stark betroffen (AJ 2.3.2023; vergleiche BAMF 13.2.2023).
Gleichzeitig reichte die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht aus, um die große Zahl junger und gebildeter Berufsanfänger zu absorbieren (WB 20.10.2022). Neben Arbeitslosigkeit spielt auch Unterbeschäftigung eine Rolle. Ausgebildete Arbeitskräfte (Facharbeiter, Uni-Absolventen) finden oft keine ihrer Ausbildung entsprechenden Jobs. Daraus folgen soziale Spannungen, aber auch ein beträchtlicher „Braindrain“, der die Gesellschaft und Wirtschaft beeinträchtigt. Angesichts der Kaufkrafteinbußen können viele Menschen ihre Lebenshaltungskosten nur sehr knapp abdecken, jede Verschlechterung führt zu Verzweiflung. So kam es zu lokal begrenzten kurzzeitigen Protesten und Streiks, etwa wegen Gehaltsrückständen und schlechter Arbeitsbedingungen oder aufgrund des Preisdrucks in der Produktion (ÖB Teheran 11.2021) oder aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten (IRINTL 26.2.2023).
Inoffizielle Schätzungen zur Armutsrate gehen von mindestens 15-20 Millionen Iranerinnen und Iranern aus (bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 83 Millionen), die in absoluter Armut leben, wobei die COVID-19-Pandemie und ihre Folgen das Armutsrisiko weiter erhöht haben (BS 23.2.2022). Laut einem Bericht des iranischen Ministeriums für Kooperativen, Arbeit und Wohlfahrt lebt rund ein Drittel der iranischen Bevölkerung in extremer Armut. Ihre Anzahl hat sich von 2020 auf 2021 verdoppelt. Rund zwei Drittel der Bevölkerung leben laut offiziellen Zahlen des Innenministeriums in relativer Armut (IRINTL 1.2.2023). Laut dem Human Development Index (HDI) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) befindet sich Iran mit einem Indexwert von 0,774 für das Jahr 2021 (letztverfügbare Daten) unter den Ländern mit einem hohen Entwicklungsstand. Der HDI misst den Entwicklungsstand von Staaten anhand der Faktoren „langes und gesundes Leben“, „Zugang zu Bildung“ und „menschenwürdige Lebensstandards für die Bevölkerung“. Während die errechneten Indexwerte für Iran im Zeitraum 1990-2017 gestiegen sind, nehmen sie seit 2018 wieder ab (UNDP 8.9.2022).
Die Wirtschaft zeichnet sich durch ihren Kohlenwasserstoff-, Landwirtschafts- und Dienstleistungssektor sowie eine bemerkenswerte staatliche Präsenz in der verarbeitenden Industrie und den Finanzdienstleistungen aus. Iran steht weltweit an zweiter Stelle, was die Größe der Erdgasreserven betrifft, und bei den nachgewiesenen Rohölreserven an vierter Stelle (WB 20.10.2022). Obwohl die iranische Wirtschaft für ein erdölexportierendes Land relativ diversifiziert ist (WB 20.10.2022; vergleiche BPB 15.5.2020) und über ein Reservoir gut ausgebildeter Arbeitskräfte verfügt (BPB 15.5.2020), hängen die Wirtschaftstätigkeit und die Staatseinnahmen von den Öleinnahmen ab und sind daher volatil (WB 20.10.2022; vergleiche BPB 15.5.2020). Die unter US-Präsident Trump verhängten Sanktionen schränken die Fähigkeit Irans, Absatzmärkte für Öl zu finden, empfindlich ein. Außerdem bekam Iran nur unzureichend Zugang zu Hochtechnologien, was dazu beiträgt, dass die Erdölanlagen nur mangelhaft instandgehalten und das Potenzial der enormen Vorkommen an Naturgas nicht annähernd ausgeschöpft wird. Dies verschärft die Depression, in die das Land bereits 2018 geschlittert ist, noch weiter (BPB 31.1.2020b).
Der staatliche Sektor (staatliche und halbstaatliche Unternehmen) macht etwa 80 % der iranischen Wirtschaftstätigkeit aus, während der private und kooperative Sektor nur einen Anteil von rund 20 % hat. Viele Staatsbetriebe gehören nicht der Regierung, sondern wirtschaftlich starken religiösen, revolutionären und militärischen Stiftungen („Bonyads“). Diese werden direkt oder indirekt vom Obersten Führer kontrolliert und genießen viele Privilegien, wie Steuerbefreiungen und exklusiven Zugang zu lukrativen Regierungsaufträgen (BS 23.2.2022). Das exakte Ausmaß der Vermögenswerte und Aktivitäten der Bonyads ist nicht bekannt, sie spielen in der iranischen Wirtschaft jedoch eine bedeutsame Rolle (MEI 7.6.2022). Die Bonyads beanspruchen für sich, eine Vielzahl vonAktivitäten im Zusammenhang mit Sozialarbeit, Beratungs-, Sozial- und Rehabilitationsdiensten durchzuführen (MEI 29.1.2009). Sie sind eine wichtige Säule im Machtapparat des Regimes (LMD 2020b). Die größten Organisationen sind die Imam-Reza-Stiftung (LMD 2020b) oder Astân Quds Razavi, eine Stiftung, die den Schrein von Imam Reza in Mashhad verwaltet und mit sechs großen Holdinggesellschaften und insgesamt 351 Firmen als größter Landbesitzer im Nahen Osten gilt; die Märtyrer-Stiftung (Bonyâd Shahid), die mehr als 250 Unternehmen kontrolliert (MEI 7.6.2022); die Stiftung für die Unterdrückten (Bonyâd Mostazâfan) (MEI 7.6.2022; vergleiche LMD 2020b), die mehr als 400 Unternehmen und Tochtergesellschaften in fast allen Sektoren der Industrie beaufsichtigt; die Imam Khomeini Relief Foundation (Comité Emdâd Emâm Khomeini), ein weiterer führender Akteur mit ihren vier Beteiligungen (MEI 7.6.2022); und das Stabszentrum zur Ausführung des Imam-Dekrets (Setâd Ejrâ-ye Farmân Emâm) (LMD 2020b; vergleiche MEI 7.6.2022), das in den meisten Industrie- und Unternehmenssektoren tätig ist (MEI 7.6.2022). Die Revolutionsgarden sind mit einigen der Bonyads eng verbunden (MEI 3.5.2022). Sie sind wirtschaftlich ebenso aktiv und haben ihre eigenen finanziellen, wirtschaftlichen, industriellen und landwirtschaftlichen Zweige. Das Wirtschaftskonglomerat Khatam al-Anbiyam, das sich im Besitz der Revolutionsgarden befindet, hat es geschafft, ein Monopol auf große Infrastrukturprojekte in Iran aufzubauen (MEI 7.6.2022). Die Vermengung der politischen mit der wirtschaftlichen Sphäre hat eine staatliche Verteilungs- und Klientelpolitik gefördert, die mit hoher Korruption einhergeht (BPB 31.1.2020b; vergleiche MEI 7.6.2022).
Die iranische Wirtschaft ist in vielen Bereichen zentralisiert und steht zu großen Teilen unter staatlicher Kontrolle. So haben viele iranische Unternehmen neben wirtschaftlichen auch politische Ziele zu erfüllen. Durch regelmäßige staatliche Eingriffe über Preisregulierungen und Subventionen, die in aller Regel politische Ursachen haben, konnte sich bisher eine eigenständige Wirtschaft nur bedingt entwickeln. Eine etablierte Privatwirtschaft gibt es vor allem auf dem Basar, in der Landwirtschaft und im Dienstleistungsgewerbe (GIZ 12.2020a). Der Staat hat einen erheblichen Einfluss auf die Preisgestaltung, die Festsetzung des [offiziellen] Wechselkurses und des Zollsatzes, die Kontrolle von Handel und Investitionen und die Verwaltung der Kernindustrien, insbesondere des Öl- und Petrochemiesektors. Das Ministerium für Arbeit und Soziales regelt die Lohnhöhe, berechnet die Inflation und analysiert die Wirtschaftslage (BS 23.2.2022).
Als die Behörden im November 2019 den Treibstoffpreis um 300 % erhöhten, kam es zu den bis zu diesem Zeitpunkt größten Protesten der Islamischen Republik (IrFocus 6.2.2023). Im Februar 2023 kündigte die Regierung einen Privatisierungsplan an, der in den nächsten zwei Jahren umgesetzt werden und das staatliche Budget aufbessern soll (IRINTL 4.2.2023). Ökonomen befürchten allerdings, dass von den Privatisierungen vor allem einflussreiche, gut vernetzte Unternehmer profitieren werden (Fanack 6.3.2023; vergleiche IRINTL 4.2.2023). Von 2001 bis 2013 fanden mehrere Privatisierungsrunden statt, bei denen größtenteils staatsnahe Akteure, wie die Basij, die Revolutionsgarden, Stiftungen, Geistliche und andere mit dem Regime verbundene Geschäftsleute Staatsbesitz erwarben. Als die Behörden in Reaktion auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie 2020 weitreichende Privatisierungen durchführten, von denen auch wieder v. a. Angehörige und Verbündete von hohen Regierungsvertretern profitierten, hat dies Proteste ausgelöst. Darüber hinaus führten die Privatisierungen in den meisten iranischen Städten zu groß angelegten Streiks, da neue Investoren die Kosten senkten, indem sie einen großen Anteil an Bergleuten während der Pandemie entlassen haben (Fanack 6.3.2023).
Iranische Banken sind seit der Wiedereinführung der Sanktionen im Jahr 2018 vom SWIFTSystem ausgeschlossen (MEE 30.1.2023).
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ÖB Teheran - Österreichische Botschaft Teheran [Österreich] (11.2021): Asylländerbericht – Islamische Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064921/IRAN_%C3%96B-Bericht_2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 [Login erforderlich];
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Sozialbeihilfen
Letzte Änderung: 13.04.2023
Dem Arbeitsministerium ist die Verantwortung für Sozialhilfe und Versicherungswesen übertragen. Es gibt verschiedene Versicherungsträger, welche alle dem im Sozialministerium angesiedelten „Hohen Versicherungsrat“ (HIC) unterstehen, der die Versicherungspolitik plant, koordiniert, durchführt und überwacht. Der Hauptversicherer ist die „Organisation für Sozialversicherung“ (SSIO). Alle Arbeitgeber und -nehmer zahlen in das System ein und erhalten dafür gewisse Unterstützungsleistungen. Viele Kliniken und Spitäler dieser Organisation befinden sich in städtischen Gegenden (ÖB Teheran 11.2021).Alle angestellten Arbeitnehmer unterliegen einer Sozialversicherungspflicht, die die Bereiche Rente, Unfall und Krankheit umfasst. Der Rentenanspruch entsteht in voller Höhe nach 30 Beitragsjahren (AA 30.11.2022).
Iranischen Bürgern stehen unterschiedliche Arten von Versicherungsschutz zur Verfügung. Bei der obligatorischen Versicherung werden Arbeitnehmer von den Arbeitgebern versichert. 7 % der Prämie werden von den Arbeitnehmern und 23 % von den Arbeitgebern bezahlt. Weiters steht den Eigentümern der Unternehmen eine freiwillige Abdeckung zur Verfügung. Es gibt drei Prämiensätze von 12 %, 14 % und 18 %, die zulasten der Versicherten gehen. Das System deckt alle Angestellten und Freiberuflichen ab, wobei Letztere zwischen verschiedenen Stufen wählen können. Ein freiwilliger Versicherungsschutz ist für zuvor versicherte Personen zwischen 18 und 50 Jahren verfügbar. Dieser ist vollständig von der versicherten Person zu bezahlen. Spezielle Systeme gibt es darüber hinaus für Staatsangestellte und Militärangehörige. Generell ist für Angestellte die Mitgliedschaft im Sozialversicherungssystem verpflichtend. Die Sozialversicherung schützt im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Berufsunfällen und auch bei altersbedingtem Ausscheiden. Seit 2003 wurden die zuständigen Institutionen zusammengelegt, um Ineffektivität und Redundanzen zu vermeiden. Zuschüsse und Leistungen werden auf Basis des Gehalts (insbesondere der letzten zwei Jahre) der zu versichernden Person berechnet, sowie auf Basis der monatlichen Zahlungen bei privat versicherten Personen. Solange Rückkehrer für eine iranische Organisation/Firma arbeiten, übernehmen die Arbeitgeber den Großteil der Beiträge. Ansonsten muss (je nach gewähltem Angebot) selbst eingezahlt werden. Angestellte müssen 7 % des monatlichen Gehalts abgeben, während Selbstständige und Private einen individuell abgestimmten Beitrag bezahlen (IOM 2021).
Die Mittel für die Altersrente werden durch gemeinsame Beiträge der versicherten Person, des Arbeitgebers und der Regierung gedeckt und variieren je nach Beitragsjahren. Die Altersrente wird über die Pensionskasse für Beamte, über die Organisation für soziale Sicherheit sowie über 16 weitere Pensionsfonds in Iran bereitgestellt. Die Hinterbliebenenrente wird an Angehörige einer versicherten verstorbenen Person gezahlt. Zu den Angehörigen zählen Witwe oder Witwer, Kinder (das heißt Söhne bis zum Alter von 20 Jahren und Töchter bis zur Heirat) und Eltern. Die Rente des Ehepartners beträgt 50 % der Alters- oder Invalidenrente der versicherten Person, während sie für Waisen 25 % und für Eltern 20 % beträgt. Die kombinierte Hinterbliebenenrente darf nicht unter dem gesetzlichen Mindestlohn oder über der Rente des Verstorbenen liegen. Rund 25% der Beschäftigten, vor allem im informellen Sektor und unter Saisonarbeitern, haben keine Pensionsversicherung (Landinfo 12.8.2020).
In Iran gibt es einen gesetzlichen monatlichen Mindestlohn für ungelernte Arbeitnehmer, der unter Berücksichtigung der Inflation jährlich neu berechnet wird. Darüber hinaus zahlt der Staat (praktisch) jeder Familie eine Wohnungs- und Lebensmittelzulage in Form von monatlichen Geldtransfers (yaraneh-ye naqdi) (Landinfo 12.8.2020). Diese Subventionszahlung zur Sicherung der Grundversorgung beträgt monatlich rund 500.000 Rial [Stand Februar 2023: ca. 80 Cent] (AA 30.11.2022).
Nachdem in die Sozialversicherungskasse zwei Jahre eingezahlt wurde, entsteht für Angestellte ein monatlicher Kindergeldanspruch in der Höhe von ca. 4,2 Millionen Rial pro Kind [Stand Februar 2023: ca. 7 Euro] (AA 30.11.2022). Die Familienbeihilfe wird gezahlt, bis das Kind 18 Jahre alt ist, oder - wenn es studiert - bis das Studium abgeschlossen ist. Die Familienbeihilfe wird monatlich gezahlt und als das Dreifache des gesetzlichen täglichen Mindestlohns eines ungelernten Arbeitnehmers für jedes Kind berechnet. Die Leistungen werden jährlich angepasst (Landinfo 12.8.2020). Ebenfalls besteht ab diesem Zeitpunkt ein Anspruch auf Arbeitslosengeld in der Höhe von 70-80 % des Gehaltes, das für mindestens ein Jahr gezahlt wird (AA30.11.2022). Selbstständige und Beamte sind nicht Teil der Arbeitslosenversicherung, da angenommen wird, dass ihre Arbeitsverträge nicht gekündigt werden können (Landinfo 12.8.2020).
Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer und ihre Familien sind nicht bekannt. Im Übrigen gibt es soziale Absicherungsmechanismen, wie z. B. Armenstiftungen, Kinder-, Alten-, Frauen- und Behindertenheime. Hilfe an Bedürftige wird durch den Staat, Moscheen, religiöse Stiftungen, Armenstiftungen und oft auch durch NGOs oder privat organisiert (z. B. Frauengruppen) (AA 30.11.2022). Als Teil des Sozialwesens haben alle Bürger das Recht auf kostenfreie Bildung und Gesundheitsversorgung. Alle Bürger können über die WohlfahrtsorganisationTAMIN EJTEMAEI eine Sozialversicherung beantragen. Darüber hinaus können Leistungen von Arbeitgebern oder privaten Anbietern und Organisationen angeboten werden (IOM 2021).
Der Kampf gegen die Armut wird vor allem unter religiösen Vorzeichen geführt. Die großen religiösen Stiftungen haben hier theoretisch ihren Hauptaufgabenbereich. Außerdem liegt die Versorgung der Armen in der Verantwortung der Gesellschaft, das Almosengeben ist eine der Säulen des Islam. Die blauen Spendenbehälter, vom Staat aufgestellt, um die ’sadeqe’, die Almosen, zu sammeln, finden sich in jeder Straße (GIZ 12.2020a). Die staatliche Wohlfahrtsorganisation betreibt Selbsthilfegruppen für Familien in schwierigen Situationen, die in Familienzentren organisiert sind. Einige erhalten Unterstützung bei der Arbeitssuche. Ein Projekt mit einem Mikrofinanzierungsansatz umfasst 50.000 Menschen - nicht nur Frauen, sondern auch Landbevölkerung und andere. Ziel ist es, die Armut zu verringern. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf weiblichen Ernährern. Es gibt ca. drei Millionen Familien, die von Frauen geführt werden. 180.000 von ihnen werden von der staatlichen Wohlfahrtsorganisation betreut. Das Budget ist begrenzt und nicht alle Bedürftigen erhalten Hilfe. Die Leistungen gehen nicht unbedingt an die Frauen, sondern können beispielsweise Bildungskosten für die Kinder abdecken (Landinfo 12.8.2020).
Quellen
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GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2020): Iran: Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/iran/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 31.3.2023;
IOM - International Organization for Migration (2021): Islamische Republik Iran: Länderinformationsblatt 2021, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/772190/
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Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (12.8.2020): Iran: The Iranian Welfare System, https://www.ecoi.net/en/file/local/2036035/Report-Iran-Welfare -system-12082020.pdf, Zugriff 15.3.2023;
ÖB Teheran - Österreichische Botschaft Teheran [Österreich] (11.2021): Asylländerbericht – Islamische Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064921/IRAN_%C3%96B-Bericht_2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 [Login erforderlich];
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 13.04.2023
Grundsätzlich entspricht die medizinische Versorgung, insbesondere in ländlichen Gebieten, nicht (west-)europäischen Standards. Das Land hat in den Jahrzehnten seit der Revolution 1979 allerdings viel in das nationale Gesundheitssystem investiert (AA 30.11.2022). Seit damals hat sich das Gesundheitssystem konstant stark verbessert. Die iranische Verfassung sichert allen Bürgern das Recht zu, den jeweiligen höchst erreichbaren Gesundheitszustand zu genießen. Die Verwirklichung dieses Zieles obliegt dem Ministerium für Gesundheit und medizinische Ausbildung (ÖB Teheran 11.2021).
Jede Provinz beheimatet mindestens eine medizinische Universität, deren Rektor die Verantwortung für das Gesundheitswesen in der betroffenen Provinz trägt (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche IOM 2021). Neben dem zuständigen Ministerium und den Universitäten gibt es auch Gesundheitsdienstleister des privaten Sektors und NGOs (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche Landinfo 12.8.2020). Diese bedienen jedoch eher die sekundäre und tertiäre Versorgung, während die Primär-/Grundversorgung (z. B. Impfungen, Schwangerschaftsvorsorge) staatlich getragen wird (ÖB Teheran 11.2021). Neben den medizinischen Universitäten wird ein Teil der Dienstleistungen von Versicherungsunternehmen und den Provinz- und Bezirkseinheiten erbracht. Die dezentralen Einrichtungen (Gesundheitshäuser, ländliche Gesundheitszentren) bieten in den Räumlichkeiten der medizinischen Universitäten kostenlose Dienstleistungen an. An anderer Stelle bezahlt die erkrankte Person einen kleinen Betrag, um eine medizinische Behandlung zu erhalten (IOM 2021). Weitere staatliche Institutionen wie die Iranian National Oil Corporation, die Justiz und Revolutionsgarden betreiben ihre eigenen Krankenhäuser (Landinfo 12.8.2020).
Es gibt im ganzen Land viele NGOs und Wohltätigkeitsorganisationen, die Gesundheitseinrichtungen betreiben, deren Zugang auf einer Bedarfsanalyse basiert, ohne dass auf einen vorherigen Versicherungsschutz Bezug genommen wird. Die Mahak-Gesellschaft zur Unterstützung krebskranker Kinder ist beispielsweise ein bekanntes gemeinnütziges Forschungs-, Krankenhaus- und Rehabilitationszentrum für Kinder mit Krebs. Die Patienten werden von Ärzten im ganzen Land an Mahak überwiesen. Laut einem Vertreter von Mahak wird jedes Kind, bei dem Krebs diagnostiziert wird, entweder im Mahak-Krankenhaus oder in anderen Krankenhäusern behandelt. Mahak deckt auch die Behandlung von Patienten in anderen Krankenhäusern in Iran ab. Die Behandlung ist kostenlos und die Patienten müssen nicht versichert sein, um eine Behandlung zu erhalten. Verwandte können bei der Begleitung ihrer kranken Kinder eine Finanzierung für die Unterkunft erhalten. Mahak empfängt Krebspatienten auch aus mehreren Nachbarländern (Landinfo 12.8.2020).
Notfallhilfe bei Natur- oder menschlich verursachten Katastrophen wird durch den gut ausgestatteten und flächendeckend organisierten iranischen Roten Halbmond besorgt (ÖB Teheran 11.2021). In jedem Bezirk gibt es Ärzte, die dazu verpflichtet sind, Notfälle zu jeder Zeit aufzunehmen. In weniger dringenden Fällen sollte der Patient zunächst sein Gesundheitszentrum kontaktieren und einen Termin vereinbaren (IOM 2021). Ein zuverlässig funktionierendes Rettungswesen besteht auch in den Städten nicht überall (AA 8.2.2023).
Im Gesundheitswesen zeigt sich ein Stadt-Land-Gefälle. Es ist zwar fast flächendeckend – laut WHO haben 98 % aller Iraner Zugang zu ärztlicher Versorgung - die Qualität schwankt jedoch (GIZ 12.2020b). Selbst in ländlichen Gebieten haben 85 % der Bevölkerung Zugang zur primären Gesundheitsversorgung, 90 % werden mit sauberem Trinkwasser versorgt, 80 % sind an entsprechende Sanitäranlagen angeschlossen. Dennoch haben bei weitem nicht alle Zugang zu komplexen, spezialisierten und damit auch teureren Diensten (AA 30.11.2022). Die spezialisierte, medizinische Versorgung, gerade bei Notfällen oder Unfällen, ist in weiten Landesteilen medizinisch, hygienisch, technisch und organisatorisch nicht auf der Höhe der Hauptstadt und nicht vergleichbar mit europäischem Standard. In Teheran ist die medizinische Versorgung in allen Fachdisziplinen meist auf einem recht hohen Niveau möglich (AA 8.2.2023).Auch wenn der Zugang zu gesundheitlicher Erstversorgung größtenteils gewährleistet ist, gibt es dennoch gravierende Qualitätsunterschiede zwischen den Regionen. Folgende Provinzen weisen eine niedrigere Qualität als Teheran auf: Gilan, Hamadan, Kermanschah, Khuzestan, Tschahar Mahal und Bachtiyari, Süd-Khorasan sowie Sistan und Belutschistan. Es ist davon auszugehen, dass sich eine Vielzahl an Haushalten keine ausreichende Gesundheitsversorgung leisten kann. Gesundheitsdienste sind geografisch nicht nach Häufigkeit von Bedürfnissen, sondern eher nach Wohlstand verteilt (ÖB Teheran 11.2021).
Die medizinische Grundversorgung basiert auf ca. 19.000 ländlichen Gesundheitshäusern, die von jeweils einem männlichen und einer weiblichen „Behvarz“ (Gesundheitspersonal, das nach der regulären elfjährigen Schulbildung zwei Jahre praktisch und theoretisch ausgebildet wird) geleitet werden. Jedes dieser Gesundheitshäuser ist für Gesundheitsvorsorge (u. a. Impfungen, Betreuung von Schwangerschaften) zuständig, wobei die Qualität der Versorgung als zufriedenstellend beurteilt wird. In Städten übernehmen sogenannte „Gesundheitsposten“ in den Bezirken die Aufgabe der ländlichen Gesundheitshäuser. Auf der nächsten Ebene sind die ländlichen Gesundheitszentren zu finden, die jeweils von einem Allgemeinmediziner geleitet werden. Sie überwachen und beraten die Gesundheitshäuser, übernehmen ambulante Behandlungen und übergeben schwierigere Fälle an städtische, öffentliche Krankenhäuser, die in jeder größeren Stadt zu finden sind (ÖB Teheran 11.2021). Die medizinische Belegschaft in Iran umfasst insgesamt mehr als 51.000 Allgemeinärzte, 32.000 Fachärzte, 115.000 Krankenschwestern, 33.000 Hebammen und 35.000 örtliche Gesundheitshelfer (Behvarz) (Landinfo 12.8.2020). Das Überweisungssystem bei Hausärzten dazu beigetragen, dass Servicepakete für Prävention, Pflege und Behandlung auch in ländlichen Gebieten angeboten werden (IOM 2021).
Obwohl primäre Gesundheitsdienstleistungen kostenlos sind, und die Staatsausgaben für das Gesundheitswesen erheblich zugenommen haben, müssen noch immer Selbstbehalte von den versicherten Personen geleistet werden (ÖB Teheran 11.2021).Allerdings ist derAnteil derartiger Zahlungen durch die Patienten in den letzten Jahren erheblich zurückgegangen. Vor dem Health Transformation Plan im Jahr 2014 waren Selbstbehalte die Hauptfinanzierungsquelle und betrugen über 50 % der Kosten. Bis 2016 gingen sie auf 35,5 % zurück. Dies ist jedoch noch von dem erklärten Ziel entfernt, die Selbstbehalte auf unter 30 % zu senken. Dies bedeutet, dass das Zahlungssystem nach wie vor weitgehend auf Servicegebühren sowohl im öffentlichen als auch im privaten Gesundheitswesen basiert (Landinfo 12.8.2020). Die Kosten für Krankenhäuser werden unter anderem dadurch gesenkt, dass die Versorgung des Kranken mit Gütern des täglichen Bedarfs, etwa Essen, immer noch weitestgehend seiner Familie zufällt (GIZ 12.2020b). Iran verwendet interne Referenzpreise für Arzneimittel, was bedeutet, dass Arzneimittel zum Preis des Referenz-Arzneimittels erstattet werden und die Patienten die Möglichkeit haben, teurere Arzneimittel zu kaufen und die zusätzlichen Kosten zu bezahlen. Der Erstattungspreis wird von der Regierung festgelegt, während Hersteller, Händler oder Einzelhändler ihren eigenen Arzneimittelpreis festlegen können (Landinfo 12.8.2020).
Alle iranischen Staatsbürger, inklusive Rückkehrende haben Anspruch auf grundlegende Gesundheitsleistungen (PHC) sowie weitere Angebote. Es gibt zwei verschiedene Arten von Krankenversicherungen, jene über den Arbeitsplatz oder eine private Versicherung. Beide gehören zur staatlichen iranischen Krankenversicherung TAMIN EJTEMAEI www.tamin.ir/. Kinder sind zumeist durch die Krankenversicherung der Eltern abgedeckt. Um eine Versicherung zu erhalten, sind eine Kopie der iranischen Geburtsurkunde, ein Passfoto und eine komplette medizinische Untersuchung notwendig. Zusätzliche Dokumente können später gegebenenfalls angefordert werden (IOM 2021).
Allen iranischen Bürgern stehen mehrere Arten eines primären Krankenversicherungsschutzes zur Verfügung, darunter Tamin-Ejtemaei, Salamat, Khadamat-Darmani und Nirouhaye - Mosalah. Der Krankenversicherungsschutz umfasst medizinische Behandlungen und die Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen. Im Allgemeinen ist der primäre Krankenversicherungsschutz begrenzt. Für weitere medizinische Dienstleistungen kann zusätzlich eine private Krankenversicherung abgeschlossen werden (IOM 2021). Die „Organisation für die Versicherung medizinischer Dienste“ (MSIO) wurde 1994 gegründet, um Beamte und alle Personen, die nicht von anderen Versicherungsorganisationen berücksichtigt wurden, zu versichern. Daneben kümmern sich Wohltätigkeitsorganisationen, u. a. die „Imam Khomeini Stiftung“, um nicht versicherte Personen - etwa mittellose Personen oder nicht anerkannte Flüchtlinge. Registrierte afghanische Flüchtlinge können sich in der staatlichen Krankenversicherung registrieren (ÖB Teheran 11.2021).
Da es keine allgemein akzeptierte Definition für schutzbedürftige Personen gibt, ist es schwierig, diese Gruppe zu spezifizieren. Dennoch gibt es einige NGOs, die sich auf einen bestimmten Kreis Betroffener spezialisieren. Allgemein gibt es zwei Arten von Zentren, die Unterstützung für schutzbedürftige Gruppen in Iran leisten, nämlich öffentliche und private. Die öffentlichen Einrichtungen sind in der Regel überlaufen und es gibt lange Wartezeiten, weshalb Personen, die über die nötigen Mittel verfügen, sich oft an kleinere, spezialisierte private Zentren wenden. Die populärste Organisation ist BEHZISTI, die Projekte zu Gender, alten Menschen, Menschen mit Behinderung (inklusive psychischer Probleme), ethnische und religiöse Minderheiten, etc. anbietet. Außerdem werden Drogensüchtige, alleinerziehende Mütter, Personen mit Einschränkungen etc. unterstützt. Zu den Dienstleistungen zählen unter anderem sozio-psychologische Betreuung, Beratungsgespräche, Unterkünfte, Rehabilitationsleistungen, Suchtbehandlung etc.
Die Imam Khomeini Relief Foundation bietet Dienstleistungen für Frauenhaushalte, Waisen, Familien von Häftlingen usw. an, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Der Zugang zu öffentlichen Angeboten ist für alle Bürger gleich. Dennoch gibt es zusätzliche Unterstützung für schutzbedürftige Gruppen, die von den Gemeinden/Organisationen abgedeckt werden (IOM 2021).
Im Zuge der aktuellen Sanktionen gegen Iran ist es zu gelegentlichen Engpässen beim Import von speziellen Medikamentengruppen gekommen (IOM 2021; vergleiche OHCHR 14.2.2023) und auch die Verfügbarkeit von medizinischen Geräten ist von den Sanktionen negativ betroffen (Akbarialiabad/et al. 2021). Obwohl auf dem Papier Medikamente und Lebensmittel von den Sanktionen nicht betroffen sind, ist es seit 2020 u. a. wegen fehlender Zahlungskanäle zu mehr Engpässen bei bestimmten Medikamenten wie z. B. Insulin gekommen. Das Gesundheitsministerium ist sehr bemüht, den Bedarf an Medikamenten zu decken. Aufgrund der mangelnden Devisen steigen aber die Preise der Medikamente, die aus dem Ausland eingeführt werden, sodass schwache Gesellschaftsschichten sich diese nicht mehr leisten können. Viele Medikamente werden in Iran selbst produziert, jedoch oftmals nicht in entsprechender Qualität (ÖB Teheran 11.2021). In den sozialen Netzwerken klagen Nutzer immer wieder über fehlende Spezialmedikamente, hohe Preise und eine „geringere Wirkung“ iranischer Arzneimittel im Vergleich zu ausländischen Produkten (IRJ 15.6.2022). Der Rote Halbmond ist die zentrale Stelle für den Import von speziellen Medikamenten, die für Patienten in speziellen Apotheken erhältlich sind. Im Generellen gibt es keine ernsten Mängel an Medizin, Fachärzten oder Equipment im öffentlichen Gesundheitssystem. Pharmazeutika werden zumeist unter Führung des Gesundheitsministeriums aus dem Ausland importiert. Zusätzlich gibt es für Bürger Privatkrankenhäuser mit Spezialleistungen in größeren Ballungsräumen. Die öffentlichen Einrichtungen bieten zwar grundsätzlich fast alle Leistungen zu sehr niedrigen Preisen an, aber aufgrund langer Wartezeiten und überfüllter Zentren, entscheiden sich einige für die kostenintensivere Behandlung bei privaten Gesundheitsträgern (IOM 2021).
Der Iran wurde von sechs COVID-19-Infektionswellen heimgesucht, seit der Ausbruch von COVID-19 im März 2020 von den Behörden bekannt gegeben worden ist. Die beispiellose und unbekannte Art der Krankheit führte allmählich zu einer starken Belastung des Gesundheitspersonals, insbesondere bei denjenigen, die direkt an der Behandlung von Patienten mit COVID-19 beteiligt waren. Der Iran erlebte einen bemerkenswerten Anstieg der Auswanderungsrate von Krankenpflegern und Ärztinnen in Länder mit hohem Einkommen wie Deutschland, Italien und Kanada (Doshmangir/et al. 7.9.2022).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (30.11.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 18. November 2022), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2083021/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_a syl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_18.11.2
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IRJ - Iran Journal (15.6.2022): Warnung vor Medikamentenknappheit, https://iranjournal.org/news /%E2%80%8Cwarnung-vor-medikamentenknappheit, Zugriff 3.4.2023;
Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (12.8.2020): Iran: The Iranian Welfare System, https://www.ecoi.net/en/file/local/2036035/Report-Iran-Welfare -system-12082020.pdf, Zugriff 15.3.2023;
ÖB Teheran - Österreichische Botschaft Teheran [Österreich] (11.2021): Asylländerbericht – Islamische Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064921/IRAN_%C3%96B-Bericht_2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 [Login erforderlich];
OHCHR - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (14.2.2023): Iran: Over-compliance with unilateral sanctions affects thalassemia patients say UN experts, https: //www.ohchr.org/en/press-releases/2023/02/iran-over-compliance-unilateral-sanctions-affects-t halassemia-patients-say, Zugriff 15.3.2023;
Rückkehr
Letzte Änderung: 13.04.2023
Das Ansuchen um Asyl im Ausland ist an sich nicht strafbar und auch kein Grund, die iranische Staatsbürgerschaft zu verlieren (MBZ 31.5.2022). Allein der Umstand, dass eine Person einen Asylantrag gestellt hat, löst bei einer Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert wurden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht (AA 30.11.2022).
Es gibt leicht unterschiedliche Ansichten darüber, was das Interesse der Behörden an einem abgelehnten Asylwerber wecken könnte. Allgemein herrscht der Eindruck vor, dass diejenigen, die vor ihrer Ausreise aus Iran Gegenstand negativer behördlicher Aufmerksamkeit waren, bei ihrer Rückkehr mit Reaktionen rechnen müssen. Als weiterer Faktor wird die Art der Informationen genannt, welche Behörden über die Aktivitäten einer Person im Ausland erhalten haben, und ob diese Aktivitäten dem Regime schaden - oder ihm möglicherweise nützen - könnten (Landinfo 21.1.2021). Einer Quelle zufolge spielt der ethnische oder religiöse Hintergrund oder die sexuelle Orientierung eines Rückkehrers für sich genommen keine Rolle. Einer anderen Quelle zufolge können diese Faktoren eine kumulierende Wirkung haben (MBZ 31.5.2022). Gemäß Berichten vom Jänner 2022 wurde eine Frau beispielsweise nach ihrer Rückkehr aus der Autonomen Region Kurdistan im Irak (KRI) nach Iran verhaftet und später zum Tode verurteilt. Sie war nach einem Interview für den persischsprachigen Sender der BBC über die Lage sexueller Minderheiten in Iran in den Fokus der Behörden geraten (BAMF 1.1.2023).
Insbesondere in Fällen, in denen Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Im Rahmen der Befragung wird der Reisepass regelmäßig einbehalten und eine Ausreisesperre ausgesprochen (AA 30.11.2022). Es kann einen Unterschied machen, ob jemand mit seinem eigenen Reisepass oder mit einem Ersatzreisedokument zurückkehrt. Wenn jemand mit einem Ersatzreisedokument zurückkehrt, kann dies zu weiteren Ermittlungen führen, da es auf eine illegale Ausreise hindeuten könnte (MBZ 31.5.2022).
Es hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, ob jemand nach der Rückkehr befragt wird. Oft wird erst im Laufe der Zeit klar, ob eine echte Bedrohung vorliegt. Politische Aktivisten und andere, die als Bedrohung angesehen werden, werden beobachtet und haben das Gefühl, sich nicht frei bewegen zu können (MBZ 31.5.2022). Eine Befragung von aus dem Ausland zurückkehrenden Iranerinnen und Iranern kann bei der Ankunft am Flughafen durch Geheimdienstmitarbeiter erfolgen (IRINTL 7.1.2022; vgl.MBZ 31.5.2022), oder zu einem späteren Zeitpunkt, in der Wohnung des Befragten und durch die lokalen Behörden (MBZ 31.5.2022).
Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutiger Niederschlagung auf mögliche Rückkehrer und Rückkehrerinnen lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrer verstärkt von den Sicherheitsdiensten überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich zum Beispiel der Kenntnis des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland entzieht. Bisher ist kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind (AA 30.11.2022). Eine andere Quelle geht dagegen davon aus, dass aus Europa zurückkehrende Asylwerber gefährdet sind, von den iranischen Behörden befragt, verhaftet und in manchen Fällen auch gefoltert und getötet zu werden, wenn die Behörden sie mit politischem Aktivismus in Verbindung bringen (DIS 7.2.2020).
Zum Thema Rückkehrer gibt es nach wie vor kein systematisches Monitoring, das allgemeine Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulassen würde. In Einzelfällen konnte im Falle von Rückkehrern aus Deutschland festgestellt werden, dass diese bei niederschwelligem Verhalten und beim Abstandnehmen von politischen Aktivitäten, mit Ausnahme von Einvernahmen durch die iranischen Behörden unmittelbar nach der Einreise, keine Repressalien zu gewärtigen hatten.Allerdings ist davon auszugehen, dass Rückkehrer keinen aktiven Botschaftskontakt pflegen, der ein seriöses Monitoring ihrer Situation zulassen würde. Auch IOM Iran, die in Iran Unterstützungsleistungen für freiwillige Rückkehrer im Rahmen des ERIN-Programms anbietet, unternimmt ein Monitoring nur hinsichtlich der wirtschaftlichen Wiedereingliederung der Rückkehrer, nicht jedoch im Hinblick auf die ursprünglich vorgebrachten Fluchtgründe und die Erfahrungen mit Behörden nach ihrer Rückkehr (ÖB Teheran 11.2021).
Das iranische Außenministerium hat im Dezember 2021 ein Webportal eingerichtet, auf dem Iraner, die sich im Ausland aufhalten und eine Rückkehr nach Iran erwägen, ihre Daten hochladen können, woraufhin ihnen mitgeteilt wird, ob sie sicher und ungehindert ein- und ausreisen können oder ob es offene Fälle gegen sie gibt. Allerdings ist nicht jeder in der iranischen Diaspora davon überzeugt, dass dieses System funktioniert und dass er oder sie ohne Bedenken nach Iran reisen kann. Ein Grund dafür ist, dass nicht alle iranischen Nachrichtendienste koordiniert zusammenarbeiten und daher immer die Möglichkeit besteht, dass Rückkehrer dennoch aufgegriffen werden (IRINTL 7.1.2022; vgl.MBZ 31.5.2022).
Nach derzeitigem Kenntnisstand können Asylantragsteller bzw. anerkannte Flüchtlinge Kontakt mit iranischen Auslandsvertretungen aufnehmen, um beispielsweise einen neuen iranischen Pass zu beantragen. Fälle von daraus folgenden Repressalien gegen die Antragsteller oder ggf. gegen deren Familien in Iran sind bislang nicht bekannt (AA 30.11.2022). Im April 2022 kündigte das Amt für Personenstandswesen an, hinkünftig „smarte“ Identitätsnachweise an im Ausland lebende Iraner auszustellen. Antragsteller können sich unter anderem im iranischen Konsulat in Wien registrieren lassen, um den Identitätsnachweis zu erhalten (TEHT 10.4.2022).
Das Verbot der Doppelbestrafung gilt nur stark eingeschränkt. Iraner oder Ausländer, die bestimmte Straftaten im Ausland begangen haben und in Iran festgenommen werden, werden nach dem iranischen Strafgesetzbuch (IStGB) bestraft. Auf die Verhängung von islamischen Strafen haben bereits ergangene ausländische Gerichtsurteile keinen Einfluss; die Gerichte erlassen eigene Urteile. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen drohen drastische Strafen. In jüngster Vergangenheit sind jedoch keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden (AA 30.11.2022).
Iran erkennt Doppelstaatsbürgerschaften nicht an (RFE/RL 2.3.2023; vergleiche BBC 7.6.2022) und ist dafür bekannt, Doppelstaatsbürger als Geiseln zu nehmen und sie in seinen Verhandlungen mit anderen Ländern als Verhandlungsmasse einzusetzen (IRINTL 7.1.2022). Eine Reihe von Doppelstaatsbürgern, die nach Iran zurückkehrten, werden so im Land festgehalten (CHRI 22.1.2022; vergleiche BBC 7.6.2022). Auch sind Fälle bekannt, in denen iranische Staatsangehörige, insbesondere, wenn diese als Journalisten oder Blogger eine große Reichweite haben und sich kritisch zu politischen Themen in Iran äußern (Menschrechtsverletzungen, Korruption und Bereicherung von Amtsträgern, Frauenrechte, interne Machtkämpfe) in Drittländern entführt wurden, um sie nach Iran zu verbringen, wo sie in (Schau-)Prozessen verurteilt wurden (AA 30.11.2022).
Zwar gibt es keine klaren Kriterien dafür, gegen wen ermittelt wird und wer bestraft wird, doch laufen enge Familienmitglieder von politischen Aktivistinnen und Aktivisten gemäß einer Quelle Gefahr, von den Behörden ins Visier genommen zu werden, nicht jedoch die Großfamilie. Eine andere Quelle widerspricht dem und geht - allerdings ohne Beispiele zu nennen - davon aus, dass die Behörden die Familienangehörigen politischer Aktivisten gut behandeln, um der Welt zu zeigen, dass es in Iran Freiheit gibt und dass den Rückkehrern kein Leid zugefügt wird (DIS 7.2.2020).
Rückkehr aus der Kurdistan Regionim Irak (KRI)
Eine vom Danish Immigration Service (DIS) befragte Quelle merkte an, dass eine Person, die aus Europa nach Iran zurückkehrt, von den Behörden stärker verdächtigt wird als jemand, der aus der Kurdistan Region im Irak (KRI) zurückkehrt. Einige Rückkehrer werden verhaftet und andere nicht. Nach Angaben der iranischen Behörden sollten iranische Kurden, die einen Sicherheitsbrief (aman-nameh) erhalten haben, bei einer Rückkehr nach Iran keine Schwierigkeiten haben. Die Sicherheitsbriefe können von der zurückkehrenden Person sowie Familienangehörigen bei den iranischen Sicherheitsbehörden beantragt werden. Es gab jedoch Beispiele, bei denen die Sicherheitsbriefe in der Praxis nicht eingehalten wurden, insbesondere in Fällen, in denen die betroffene Person des politischen Aktivismus beschuldigt wurde oder Mitglied einer kurdischen Partei war. In einigen Fällen wurden zurückgekehrte Personen von den Sicherheitsbehörden vorgeladen, und in anderen Fällen wurden die Rückkehrer verhaftet und über einen längeren Zeitraum inhaftiert (DIS 7.2.2020).
Eine ähnliche Ungewissheit gilt für Rückkehrer aus dem Flüchtlingslager at-Tash, denen eine Zusammenarbeit mit den kurdischen Oppositionsparteien nachgesagt wird. Das Lager entstand während des Krieges zwischen Iran und Irak in den 1980er-Jahren, als eine große Gruppe an Kurden aus der Grenzregion in den Irak geflohen ist (DIS 7.2.2020). Aufgrund der volatilen Sicherheitslage im Irak wurde das Lager nach 2003 geschlossen und seine Bewohner in die KRI umgesiedelt (EPC 21.10.2022).
Quellen
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (30.11.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 18. November 2022), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2083021/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_a syl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_18.11.2
022%29%2C_30.11.2022.pdf, Zugriff 2.2.2023 [Login erforderlich];
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (1.1.2023): Briefing Notes Zusammenfassung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2087097/Deutschland._Bundesamt_f%C3%BCr_M igration_und_Fl%C3%BCchtlinge%2C_Briefing_Notes_Zusammenfassung_-_Iran%2C_Juli_bis _Dezember_2022._01.01.2023.pdf, Zugriff 14.3.2023;
BBC - British Broadcasting Corporation (7.6.2022): Who are the dual nationals jailed in Iran?, https://www.bbc.com/news/uk-41974185, Zugriff 13.3.2023;
CHRI - Center for Human Rights in Iran (22.1.2022): New Interrogations at Iran’s Airports, Jailing of Dual Citizens Challenge Officials’ Calls for Expatriates to Return , https://iranhumanrights.org/ 2022/01/new-interrogations-at-irans-airports-jailing-of-dual-citizens-challenge-officials-calls-for-e xpatriates-to-return/, Zugriff 13.3.2023;
DIS - Danish Immigration Service [Denmark] (7.2.2020): Iranian Kurds, https://www.ecoi.net/en/fi le/local/2024578/Report+on+Iranian+Kurds+Feb+2020.pdf, Zugriff 13.3.2023;
EPC - Emirates Policy Center (21.10.2022): Iran and the Conundrum of the Kurdish Opposition Groups in Northern Iraq, https://epc.ae/en/details/featured/iran-and-the-conundrum-of-the-kurdi sh-opposition-groups-in-northern-iraq, Zugriff 13.3.2023;
IRINTL - Iran International (7.1.2022): Intelligence Officers Interrogate Iranian Expats Arriving In
Tehran, https://www.iranintl.com/en/202201077358, Zugriff 13.3.2023;
Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (21.1.2021): Iran Mottagelse og behandling av returnerte asylsøkere, https://www.ecoi.net/en/file/local/20444
98/Iran-temanotat-Mottagelse-og-behandling-av-returnerte-asylsokere-.pdf, Zugriff 13.3.2023;
MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.5.2022): Algemeen ambtsbericht Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2073802/Algemeen+ambtsbericht+Iran+2022-05.pdf, Zugriff
13.3.2023;
ÖB Teheran - Österreichische Botschaft Teheran [Österreich] (11.2021): Asylländerbericht – Islamische Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064921/IRAN_%C3%96B-Bericht_2021.pdf, Zugriff 7.2.2023 [Login erforderlich];
RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (2.3.2023): Family Says Iranian-German Held In Tehran Not Covered By Amnesty, https://www.rferl.org/a/iranian-german-prisoner-tehran-amnesty/32296 274.html, Zugriff 13.3.2023;
TEHT - Tehran Times, The (10.4.2022): Home Society Economy Politics Sports Culture International Multimedia Tourism Identity cards to be issued for Iranian expats, https://www.tehrantimes.com/ne ws/471524/Identity-cards-to-be-issued-for-Iranian-expats, Zugriff 13.3.2023;
Beweis wurde erhoben durch Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion römisch 40 am 06.05.2022, durch niederschriftliche Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien am 11.08.2022 sowie durch Befragung im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.07.2023, im Zuge derer auch der Ehemann der Beschwerdeführerin Mohammad Zandashagi zeugenschaftlich befragt wurde, weiters durch Vorlage eines iranischen Reisepasses, einer (dänischen) Heiratsurkunde, von Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen, eines Mitgliedsausweises des Pensionistenverbandes der Sicherheitskräfte der islamischen Republik Iran des Vaters der Beschwerdeführerin, eines E-Mailverkehrs mit diversen Standesämtern, ein Teilnahmezertifikat an einem B2 Deutschkurs, eines Empfehlungsschreibens des römisch 40 und der römisch 40 durch die Beschwerdeführerin bzw. ihre Vertretung, durch Vorhalt des aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Iran sowie Einsichtnahme in den der Beschwerdeführerin betreffenden Strafregisterauszug.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zur Lage im Iran beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 6 vom 13.04.2023, indem diese, die nicht nur für die Länderinformation des BFA, sondern auch des Bundesverwaltungsgerichtes zuständig ist, zahlreiche aktuelle staatliche und nicht staatliche Quellen gesammelt und wissenschaftlich aufgearbeitet hat. Die ausgewiesene Vertreterin der Beschwerdeführerin hat im Zuge des Parteiengehörs diesen Länderfeststellungen nicht widersprochen, sondern dem Beschwerdestandpunkt dienliche Passagen hervorgestrichen und eigene Quellen zitiert. Das Bundesverwaltungsgericht geht daher von dem obigen Länderfeststellungen aus.
Wie auch aus zahlreichen topaktuellen Meldungen im Internet (z.B. orf.at) ersichtlich ist, hat sich die Situation der Frauen im Iran zwischenzeitig noch verschlechtert und verschärft die Religionspolizei den Kurs gegen Frauen und wurde ein umstrittenes Kopftuchgesetz erlassen.
Das Vorbringen der Beschwerdeführerin wird wie folgt gewürdigt:
Das Vorbringen eines Asylwerbers ist dann glaubhaft, wenn es vier Grunderfordernisse erfüllt (diesbezüglich ist auf die Materialien zum Asylgesetz 1991 [RV 270 BlgNR 18. GP; Ausschussbericht 328 BlgNR 18. GP] zu verweisen, die wiederum der VwGH-Judikatur entnommen wurden).
1. Das Vorbringen des Asylwerbers ist genügend substantiiert. Dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen.
2. Das Vorbringen muss, um als glaubhaft zu gelten, in sich schlüssig sein. Der Asylwerber darf sich nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
3. Das Vorbringen muss plausibel sein, d.h. mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen. Diese Voraussetzung ist u.a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen und
4. Der Asylwerber muss persönlich glaubwürdig sein. Das wird dann nicht der Fall sein, wenn sein Vorbringen auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt ist, aber auch dann, wenn er wichtige Tatsachen verheimlicht oder bewusst falsch darstellt, im Laufe des Verfahrens das Vorbringen auswechselt oder unbegründet einsilbig und verspätet erstattet oder mangelndes Interesse am Verfahrensablauf zeigt und die nötige Mitwirkung verweigert.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in zahlreichen Erkenntnissen betont, wie wichtig der persönliche Eindruck, den das zur Entscheidung berufene Mitglied der Berufungsbehörde im Rahmen der Berufungsverhandlung von dem Berufungswerber gewinnt, ist (siehe z.B. VwGH vom 24.06.1999, 98/20/0435, VwGH vom 20.05.1999, 98/20/0505, uvam.).
Vorausgeschickt wird, dass im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers als zentrales Entscheidungskriterium herangezogen werden muss (so schon VwGH 16.01.1987, 87/01/0230, VwGH 15.03.1989, 88/01/0339, UBAS 12.05.1998, 203.037 0/IV/29/98 uvam.).
Die Identität der Beschwerdeführerin steht aufgrund des unbedenklichen iranischen Reisepasses fest.
Die Beschwerdeführerin konnte ihren persönlichen Werdegang, ihre religiöse und politische Weltanschauung, ihre Beziehung mit ihrem nunmehrigen Ehemann und insbesondere die Reaktion ihres Vaters darauf sowie ihre gegenwärtige Lebensstellung und ihre exilpolitische Betätigung klar, konkret und nachvollziehbar schildern. Es ergibt sich eine gute Übereinstimmung mit dem als Zeugen unter Wahrheitspflicht in der Beschwerdeverhandlung befragten Ehemann, insbesondere was die Reaktion des Vaters der Beschwerdeführerin auf ihre Beziehung betrifft.
Es sind auch keine besonderen Widersprüche zu Tage getreten.
Das Vorbringen der Beschwerdeführerin steht auch nicht im Widerspruch zu den obigen Länderfeststellungen und kann auch nicht als unplausibel oder mit den allgemeinen Verhältnissen im Herkunftsland unvereinbar qualifiziert werden.
Es ist nichts hervorgekommen, dass die Beschwerdeführerin gefälschte oder verfälschte Beweismittel verwendet hat, wichtige Tatsachen verheimlicht oder bewusst falsch dargestellt hat oder unbegründet einsilbig oder verspätet erstattet hat oder sonst ein mangelndes Interesse am Verfahrensablauf gezeigt hat.
Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin gesund ist, ergibt sich aus ihrem eigenen Vorbringen und der Nichtvorlage gegenteiliger medizinischer Befunde, die Unbescholtenheit aus dem eingeholten aktuellen Strafregisterauszug.
Als Person machte die Beschwerdeführerin den Eindruck, dass sie ihre als Frau zustehenden Rechte wahrnimmt und ein selbstbestimmtes Leben in Österreich führt, wozu auch die Wahl ihres Ehemannes (gegen den vehementen Widerstand ihrer Familien) zählt.
Die Beschwerdeführerin hat ihre „westliche Gesinnung“ auch durch entsprechende Kleidung und Auftreten in der Verhandlung demonstriert.
Schließlich konnte die Beschwerdeführerin auch ihre Integration, insbesondere den Erwerb fortgeschrittener Sprachdiplome (in Relation ihres relativ kurzen Aufenthaltes in Österreich) durch entsprechende Urkunden und Empfehlungsschreiben untermauern.
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, das Bundesverwaltungsgericht dem Vorbringen der Beschwerdeführerin Glaubwürdigkeit zubilligt.
3. Rechtliche Beurteilung
Zu A)
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. 2004 Nr. L 304/12 [Statusrichtlinie] verweist). Damit will der Gesetzgeber an die Gesamtheit der aufeinander bezogenen Elemente des Flüchtlingsbegriffs der GFK anknüpfen (VwGH 24.03.2011, 2008/23/1443). Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG 2005) gesetzt hat.
Flüchtling iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK in der Fassung des Artikel eins, Absatz 2, des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge Bundesgesetzblatt 78 aus 1974,) – deren Bestimmungen gemäß Paragraph 74, AsylG 2005 unberührt bleiben – ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“ vergleiche VfSlg. 19.086/2010; VfGH 12.6.2010, U 613/10)
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist vergleiche zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011; 17.03.2009, 2007/19/0459; 28.05.2009, 2008/19/1031). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde vergleiche VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771; 17.03.2009, 2007/19/0459; 28.05.2009, 2008/19/1031; 06.11.2009, 2008/19/0012). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011; 28.05.2009, 2008/19/1031). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 27.06.1995, 94/20/0836; 23.07.1999, 99/20/0208; 21.09.2000, 99/20/0373; 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 12.09.2002, 99/20/0505; 17.09.2003, 2001/20/0177; 28.10.2009, 2006/01/0793; 23.02.2011, 2011/23/0064) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203; 23.02.2011, 2011/23/0064; 24.03.2011, 2008/23/1101). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht – unter dem Fehlen einer solchen ist nicht „zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht“ (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) –, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat vergleiche VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law2 [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 20.09.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203; 23.02.2011, 2011/23/0064; 24.3.2011, 2008/23/1101). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat „nicht gewillt oder nicht in der Lage“ sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen vergleiche VwGH 22.3.2000, 99/01/0256; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203; 23.2.2011, 2011/23/0064; 24.3.2011, 2008/23/1101).
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl vergleiche zB. VwGH 24.03.1999, 98/01/0352 mwN; 15.03.2001, 99/20/0036). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwSlg. 16.482 A/2004). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „internen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwSlg. 16.482 A/2004) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, 29.03.2001, 2000/20/0539; 17.03.2009, 2007/19/0459).
Bei der Beschwerdeführerin kommen mehrere Gründe für eine aktuelle asylrelevante Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Iran zusammen, eine Anspruchnahme ihrer als Frau zustehenden Rechte, ein Abfall vom Glauben und eine (exil)politische Betätigung:
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren vergleiche VwGH vom 22.03.2017, Ra 2016/18/0388, mwN).
Der VwGH führte zuletzt in dem Erkenntnis vom 26.02.2020, Ra 2019/18/0459-0464-9 grundsätzlich aus:
„Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch westlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Es sind daher konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ist ihr diesbezügliches Vorbringen einer Prüfung zu unterziehen vergleiche VwGH 1.2.2019, Ra 2018/18/0544 bis 0547, mwN).
Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste vergleiche etwa VwGH 1.2.2019, Ra 2018/18/0544, mwN).“
Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalt sin Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aber dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem westlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte vergleiche VwGH 1.2.2019, Ra 2018/18/0544, mwN).
Diese für Afghanistan entwickelte Rechtsprechung ist nunmehr nach der jüngsten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes auch auf Frauen aus dem Iran übertragbar (VfGH vom 12.06.2023, E-583/2023-11).
Dazu ist für den im vorigen Fall festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin ihre Grundrechte in Anspruch nimmt und eine diesbezügliche verfestigte Änderung ihrer Lebensführung aufweist. Dies beginnt insbesondere damit, dass sich die Beschwerdeführerin als Ausfluss ihrer sexuellen Selbstbestimmung einen Mann ausgesucht hat, mit dem ihre Familie nicht einverstnaden ist und die Eheschließung auch gegen vehemente Widerstände ihrer Eltern vorgenommen hat. Sie setzt sich damit der Gefahr einer Verfolgung durch ihre Familie, die auch realistische Todesdrohungen umfasst, aus, wobei nach den Länderfeststellungen in diesem Fall wohl kaum ein entsprechender staatlicher Schutz gewährt wird, wo noch dazu der Vater der Beschwerdeführerin als ehemaliger Militärbediensteter offenbar politisch gut vernetzt ist.
Der VwGH hat im Zusammenhang mit dem Gesichtspunkt einer Verfolgung aus „Gründen der Religion“ zusammengefasst bereits ausgesprochen, dass die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Menschenrechtspakte das Recht auf Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit verkünden. Dies beinhaltet die Freiheit des Menschen seine Religion zu wechseln und die Freiheit, ihr öffentlich oder privat Ausdruck zu verleihen. Nach Kälin betrifft religiöse Verfolgung Maßnahmen, welche eine Organisation gegen ihre Gegner bei Konflikten über die richtige Anschauung in Fragen des Verhältnisses des Menschen zu (einem) Gott ergreift. Im Gemeinsamen Standpunkt des Rates der Europäischen Union vom 04.03.1996 betreffend die harmonisierte Anwendung der Definition des Begriffs Flüchtling in Artikel eins, der GFK ist der Begriff der „Religion“ in einem weiten Sinn aufzufassen und umfasst theistische, nichttheistische oder atheistische Glaubensüberzeugungen. Eine Verfolgung aus religiösen Gründen kann danach auch dann vorliegen, wenn maßgebliche Eingriffe eine Person betreffen, die keinerlei religiöse Überzeugung hat, sich keiner bestimmten Religion anschließt oder sich weigert, sich den mit einer Religion verbundenen Riten und Gebräuchen ganz oder teilweise zu unterwerfen. In diesem Sinn gilt auch nach der Rechtsprechung als religiöse Verfolgung das Vorgehen des Staates gegen Atheisten, Ungläubige etc., um sie für ihre Ungläubigkeit zu bestrafen oder zu einem bestimmten Glauben zu zwingen vergleiche VwGH 21.09.2000, 98/20/0557 mwN).
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 05.09.2012, C-71/11 und C-99/11, BRD gg Y Z, ua ausgeführt:
„62 Um konkret festzustellen, welche Handlungen als Verfolgung im Sinne von Artikel 9, Absatz eins, Buchst. a der Richtlinie gelten können, ist es nicht angebracht, zwischen Handlungen, die in einen ‚Kernbereich‘ (‚forum internum‘) des Grundrechts auf Religionsfreiheit eingreifen sollen, der nicht die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit (‚forum externum‘) erfassen soll, und solchen, die diesen ‚Kernbereich‘ nicht berühren sollen, zu unterscheiden.
63 Diese Unterscheidung ist nicht vereinbar mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Artikel 10, Absatz eins, Buchst. b der Richtlinie, die alle Komponenten dieses Begriffs, ob öffentlich oder privat, kollektiv oder individuell, einbezieht. Zu den Handlungen, die eine 'schwerwiegende Verletzung' im Sinne von Artikel 9, Absatz eins, Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Kreis zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben.
[...]
65 Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist, und deren Folgen, wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat.
[...]
67 Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Artikel 9, Absatz eins, Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Artikel 6, der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
[...]
69 Da der in Artikel 10, Absatz eins, Buchst. b der Richtlinie definierte Religionsbegriff auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, umfasst, kann das Verbot einer solchen Teilnahme eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Artikel 9, Absatz eins, Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen, wenn sie in dem betreffenden Herkunftsland für den Antragsteller u.a. die tatsächliche Gefahr heraufbeschwört, durch einen der in Artikel 6, der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
[...]
79 Sobald feststeht, dass sich der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise religiös betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird, müsste ihm daher nach Artikel 13, der Richtlinie die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden. Dass er die Gefahr durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen vermeiden könnte, ist grundsätzlich irrelevant.“
Der Konventionsgrund der Religion umfasst daher auch die Verfolgung wegen einer nichtreligiösen Weltanschauung, wegen atheistischer oder agnostischer Überzeugungen. Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft. Für die Qualifikation der Verfolgung hinsichtlich der in der GFK genannten Verfolgungsmotive kommt im Fall des Beschwerdeführers einerseits seiner Ablehnung der im Iran vorherrschenden sozio-kulturellen und religiös geprägten Wertvorstellungen entscheidungswesentliche Bedeutung zu, da nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Verfolgung aus religiösen Gründen auch dann vorliegen kann, wenn die Eingriffe deshalb erfolgen, weil die verfolgte Person sich weigert, sich den mit der Religion verbundenen Riten und Gebräuchen ganz oder teilweise zu unterwerfen vergleiche VwGH 05.10.2020, 2020/19/0308 bis 0309/7; zB VwGH 25.01.2011, 98/20/0555; siehe ferner Putzer, Asylrecht² 45 mwN).
Nach den Guidelines on International Protection Religion-Based Refugee Claims under Article 1A(2) of the 1951 Convention and/or the 1967 Protocol relating to the Status of Refugees" des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vom 28.4.2004 (Ziffer 12,) liegt Verfolgung aus religiösen Gründen ua. vor, wenn in Gemeinschaften, in denen eine Religion vorherrscht oder ein enger Zusammenhang zwischen dem Staat und religiösen Institutionen besteht, jemand verfolgt wird, weil er nicht der vorherrschenden Religion angehört oder ihre Praktiken nicht ausübt ("Equally, in communities in which a dominant religion exists or where there is a close correlation between the State and religious institutions, discrimination on account of one's failure to adopt the dominant religion or to adhere to its practices, could amount to persecution in a particular case."). Nach Ziffer 5 und 6 dieser "Guidelines" umfasst der Konventionsgrund der "Religion" Religion als Glauben (einschließlich des Unglaubens), Religion als Identität und Religion als Lebensweise. "Glaube" soll in diesem Zusammenhang so ausgelegt werden, dass er theistische, nicht-theistische und atheistische Glaubensvorstellungen umfasst ("5. Claims based on 'religion' may involve one or more of the following elements: a) religion as belief (including non-belief); b) religion as identity; c) religion as a way of life. 6. 'Belief', in this context, should be interpreted so as to include theistic, nontheistic and atheistic beliefs. [...]").
Der Verwaltungsgerichtshof hat im Zusammenhang mit diesem Konventionsgrund ua. ausgesprochen: "Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Menschenrechtspakte verkünden das Recht auf Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit; dieses Recht schreibt die Freiheit des Menschen, seine Religion zu wechseln, und die Freiheit, ihr öffentlich oder privat Ausdruck zu verleihen, mit ein. [...] Nach Kälin [...] betrifft religiöse Verfolgung Maßnahmen, welche eine Organisation gegen ihre Gegner bei Konflikten über die richtige Anschauung in Fragen des Verhältnisses des Menschen zu (einem) Gott ergreift. Im Gemeinsamen Standpunkt des Rates der Europäischen Union vom 4. März 1996 betreffend die harmonisierte Anwendung der Definition des Begriffs Flüchtling in Artikel eins, der FlKonv sei der Begriff der Religion in einem weiten Sinn aufzufassen und umfasse theistische, nichttheistische oder atheistische Glaubensüberzeugungen. Eine Verfolgung aus religiösen Gründen könne danach auch dann vorliegen, wenn maßgebliche Eingriffe eine Person betreffen, die keinerlei religiöse Überzeugung hat, sich keiner bestimmten Religion anschließe oder sich weigere, sich den mit einer Religion verbundenen Riten und Gebräuchen ganz oder teilweise zu unterwerfen." (VwGH 21.9.2000, 98/20/0557).
Der Konventionsgrund der Religion umfasst daher auch die Verfolgung wegen einer nicht-religiösen Weltanschauung oder wegen atheistischer Überzeugungen (siehe auch BVwG vom 20.10.2014, W138 1417522-1/10E und BVwG vom 30.04.2015, W194 1430097-1/11E, BVwG vom 18.03.2016, W159 2101538).
Wenn die Beschwerdeführerin auch nicht völlig die Existenz jeglichen göttlichen Wesens ablehnt, so hat sie sich – wie sie glaubhaft angegeben hat – völlig vom Islam losgelöst und wird daher als eine vom Glauben Abgefallene vom iranischen Regimes angesehen.
Aus den Länderfeststellungen geht hervor, dass Apostasie im Iran zwar nicht im Strafgesetzbuch, aber aufgrund der verfassungsrechtlich verankerten islamischen Jurisprudenz verboten und mit langen Haftstrafen (bis hin zur Todesstrafe) bedroht ist.
Schließlich hat die Beschwerdeführerin ihrer vehementen Ablehnung des iranischen Regimes auch durch zahlreiche Demonstrationsteilnahmen, die teilweise auch gefilmt und ins Internet gestellt wurden, zum Ausdruck gebracht und stellt diese politische Einstellung – wie die Beschwerdeführerin in der Beschwerdeverhandlung angeben konnte – eine Fortsetzung einer bereits Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung dar.
Die Verfolgung ist auch nicht etwa auf einem bestimmten Landesteil beschränkt, da wegen des Abfalls vom Glauben und der politischen Betätigung, aber auch der westlichen Gesinnung die Beschwerdeführerin im gesamten Iran mit einem Verfolgungsszenario konfrontiert ist. Mag die Verfolgung durch ihren Vater wohl grundsätzlich eine Privatverfolgung darstellen, so ist, wie bereits ausgeführt – festzuhalten, dass diesbezüglich keine entsprechende staatliche Schutzgewährung, und zwar durchaus aus Gründen, die der GFK entsprechen, zu erwarten ist und diese Situation im gesamten Herkunftsstaat besteht. Es kann daher keineswegs von einer inländischen Fluchtalternative ausgegangen werden.
Es sind auch im Zuge des Verfahrens keine Hinweise hervorgekommen, wonach einer der in Artikel eins, Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlusstatbestände eingetreten sein könnte.
Die Beschwerdeführerin konnte somit glaubhaft machen, dass ihr im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Z2 GFK droht.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder aufgrund eines Antrages auf internationalem Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Die gegenständliche Entscheidung stützt sich vielmehr ausdrücklich auf die aktuelle Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (und des Verfassungsgerichtshofes und auch des EGMR und des EuGH).
Im Übrigen liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der im vorliegenden Fall zu lösenden Rechtsfragen vor.
ECLI:AT:BVWG:2023:W159.2262313.1.00