Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

09.08.2023

Geschäftszahl

W250 2252778-1

Spruch


W250 2252778-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde des römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Syrien, vertreten durch RA Mag. Hubert WAGNER, LL.M, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.01.2022, Zl. römisch 40 , zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Syriens, stellte am 25.05.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am 26.05.2021 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass 2014 der IS in Deir ez-Zor eingestürmt sei. Die Al-Nusra Partei habe vom Beschwerdeführer verlangt, dass er mit ihr kooperiere um ihr illegal ÖL zu liefern, da er in den Erdölfeldern gearbeitet habe. Bis zum heutigen Tag würden die Felder von den IS gestürmt. Der Beschwerdeführer sei auch wegen des Krieges geflohen und weil es keine Sicherheit gebe. Bei einer Rückkehr habe er Angst, weil man von ihm verlange, dass er seine Arbeit in dieser unsicheren Gegend wiederaufnehme (AS 31).

3. Am 31.08.2021 fand eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren bezeichnet als BFA bzw. belangte Behörde) statt. Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er habe in Syrien bei einer Ölquelle gearbeitet und sei von dem IS aufgefordert worden, mit diesem zusammenzuarbeiten, weshalb er 2015 in den Libanon geflohen sei. Es gebe in der Wüste bei der Ölquelle noch immer Konflikte zwischen der Regierung und dem IS. Bei einer Rückkehr befürchte er, dort wieder eingesetzt zu werden und sein Leben zu verlieren, oder durch das syrische Regime bestraft zu werden, weil er seine Arbeit nicht fortgeführt habe. Zudem befürchte er, bei einer Rückkehr zum Reservedienst rekrutiert zu werden. Er sei gemeinsam mit seinem Bruder illegal ausgereist (AS 195 f.).

Der Beschwerdeführer legte seine syrische ID Karte im Original, sowie seine Heiratsurkunde in Kopie vor (AS 202 und 227 bis AS 231).

4. Nach Ersuchen des BFA an die zuständige Landespolizeidirektion (LPD) um Überprüfung der Echtheit der vom Beschwerdeführer vorgelegten syrischen ID Karte am 01.09.2021, ergaben sich, entsprechend des Untersuchungsberichtes vom 13.09.2021, auf der ID Karte keine Hinweise auf das Vorliegen einer Verfälschung (AS 229 bis 241).

5. Der Beschwerdeführer legte am 26.11.2021 seinen syrischen Reisepass im Original (AS 261) sowie sein syrisches Militärbuch im Original vor vergleiche AS 314). Am 27.12.2021 veranlasste das BFA eine Dokumentenüberprüfung des vom Beschwerdeführer im Verfahren vorgelegten Reisepasses (AS 257 sowie 267 bis 277), sowie eine Übersetzung. Entsprechend des Untersuchungsberichtes der zuständigen LPD vom 08.01.2022 wurden am syrischen Reisepass des Beschwerdeführers keine Hinweise auf das Vorliegen einer Verfälschung festgestellt (AS 263 f.). Der Reisepass wurde am römisch 40 in römisch 40 für den Beschwerdeführer ausgestellt und war gültig bis römisch 40 (AS 263).

6. Mit Schreiben vom 03.01.2022 brachte der Beschwerdeführer vor, es hätten sich weitere tödliche Angriffe des IS in den Ölfeldern, in denen der Beschwerdeführer gearbeitet habe, zuletzt am 20.11.2021, ereignet. Elf Personen, die meisten davon Kollegen des Beschwerdeführers, die er auch persönlich gekannt habe, seien dabei ermordet worden. Der Beschwerdeführer legte mit dem Schreiben vier Facebook Links zu Berichten über die Attacken vor (AS 261).

7. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid des BFA vom 21.01.2022, zugestellt am 28.01.2022, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 25.05.2021 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, Asylgesetz 2005 – AsylG ab (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Syrien zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.).

Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung die Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien, Stand 01.10.2021, zugrunde und führte begründend im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe keine tatsächlich bestehende und konkret und individuell gegen ihn gerichtete Verfolgung aus einem der GFK Gründe vorgebracht vergleiche Seite 28, AS 316). Das BFA stellte fest, der Beschwerdeführer werde nicht vom IS verfolgt. Er habe Syrien aufgrund der Bürgerkriegssituation und der dort herrschenden schlechten Sicherheitslage verlassen. Er sei weder von der syrischen Armee noch von einer anderen Kriegspartei zum Ableisten des Militärdienstes als Reservist aufgefordert worden. Eine Rückkehr sei ihm aufgrund der allgemeinen volatilen und instabilen Sicherheitslage und der schlechten Versorgungslage nicht zumutbar, weshalb ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werde vergleiche Seite 28 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 316 f.).

8. Mit Schreiben vom 15.02.2022, eingelangt am selben Tag, erhob der Beschwerdeführer durch seinen rechtsfreundlichen Vertreter fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des obengenannten Bescheides. Darin beantragte er, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt römisch eins. zu beheben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu den Bescheid zu beheben und an das BFA zurückzuverweisen.

In der Beschwerde brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, er befürchte eine Zwangsrekrutierung als Reservist sowie eine Verfolgung und Bedrohung durch das syrische Regime aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung. Auch wegen seiner illegalen Ausreise müsse er bei einer Rückkehr mit Verfolgungshandlungen als Deserteur rechnen. Der Beschwerdeführer stamme aus Deir ez-Zor, einem stark umkämpften Gebiet, in dem immer wieder die Opposition herrsche und in dem der IS aktiv sei. Er befürchte auch von Seiten der oppositionellen Einheiten eine Zwangsrekrutierung. Er sei vor der Verfolgung und Bedrohung der bewaffneten Milizen geflüchtet, bei einer Rückkehr drohe ihm Folter, Haft und der Tod (AS 422 f.; Seite 2 f. der Beschwerde).

9. Am 11.03.2022 langte die Beschwerdevorlage beim Bundesverwaltungsgericht ein.

10. Mit der Beschwerdevorlage vom 11.03.2022 gab das BFA eine Stellungnahme zum Verfahren ab, und brachte im Wesentlichen vor, es seien betreffend den Beschwerdeführer keine zum Zeitpunkt seiner Ausreise konkret und individuell bestehenden Verfolgungshandlungen gegen ihn festgestellt worden. Der Beschwerdeführer sei zu seinem Fluchtvorbringen ausführlich befragt worden, weshalb es nicht nachvollziehbar sei, dass in der Beschwerde behauptet werde, die Behörde habe es unterlassen entscheidende Fragen zum Ausreisegrund zu stellen. Die Behörde habe den Beschwerdeführer ausführlich zu seinem Ausreisegrund im Jahr 2015 und dem Vorbringen der Rekrutierung als Reservist befragt (OZ/1).

11. Mit Schreiben vom 03.01.2023 legte der Beschwerdeführer einen Facebook Link vor, auf welchem ein Beitrag mit einem verbrannten Auto und einer Beschreibung in Arabischer Sprache zu sehen ist (OZ/2).

12. Am 17.05.2023 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch sowie der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers statt. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung fern.

Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer insbesondere ausführlich zu seiner Identität, seiner Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen Familienverhältnissen und seinem Leben in Syrien, seinen Fluchtgründen sowie seinem Leben in Österreich befragt. Das erkennende Gericht brachte neben dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 8 vom 29.12.2022, weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein (OZ/4).

Der Beschwerdeführer legte weitere Beweismittel vor:

●             Beschlüsse vom römisch 40 , römisch 40 und vom römisch 40 über die Anstellung des Beschwerdeführers beim syrischen Unternehmen für Erdöl, samt Übersetzung ins Deutsche (Beilage./A)

●             Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs vom 29.04.2022 (Beilage./B).

●             Kursbesuchsbestätigung Deutsch B1 vom 12.04.2023 über den Kurszeitraum von 11.04.2023 bis 14.09.2023 (Beilage./C).

●             Vollmacht vom 17.05.2023

13. Mit Schreiben vom 19.05.2023 legte der Beschwerdeführer den Bescheid des BFA vom 04.01.2022 vor, mit welchem dem Asylantrag des Bruders des Beschwerdeführers römisch 40 vom 25.05.2021, stattgegeben und dem Bruder des Beschwerdeführers der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde (OZ/5).

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zum Beschwerdeführer:

1.1.1. Zu seiner Person:

Der Beschwerdeführer führt den Namen römisch 40 und das Geburtsdatum römisch 40 . Er ist syrischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Araber an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Der Beschwerdeführer spricht Arabisch als Muttersprache und Englisch (AS 21 f., AS 195 f., AS 203 syrische ID Karte im Original AS 231 f., OZ/4 Seite 2, 5, 6 = Verhandlungsprotokoll vom 17.05.2023).

Der Beschwerdeführer ist seit 2015 verheiratet mit römisch 40 , geboren am römisch 40 und hat mit ihr zwei Kinder vergleiche AS 202, Heiratsurkunde in Kopie AS 227, OZ/4 Seite 5, 6). Der Beschwerdeführer hat einen Sohn namens römisch 40 , geboren römisch 40 und eine Tochter namens römisch 40 , geboren römisch 40 (AS 203, 205).

Die Ehefrau und Kinder sowie die Eltern des Beschwerdeführers leben derzeit in Syrien in Deir ez-Zor (AS 205, OZ/4 Seite 6).

Der Beschwerdeführer hat fünf Brüder und sechs Schwestern. Alle fünf Brüder des Beschwerdeführers haben Syrien verlassen. Drei Brüder leben in der Türkei. Der Beschwerdeführer hat in Österreich einen Bruder der über den Asylstatus verfügt. Nur noch eine Schwester des Beschwerdeführers lebt in Syrien (AS 25, 206, OZ/4 Seite 6).

Der Beschwerdeführer besuchte in Syrien die Grundschule und eine Hochschule für Petrochemie. Er hat die Matura absolviert und danch ein College besucht an dem er Energie studiert hat. Der Beschwerdeführer machte eine Berufsausbildung im Bereich von Bohrungen für Öl. Danach war er in der syrischen Firma für Energie beschäftigt (AS 208, OZ/4 Seite 7).

Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt römisch 40 , in der Provinz römisch 40 in Syrien geboren (AS 201, OZ/4 Seite 5). Er lebte von 1987 bis 2014 in Deir ez-Zor in Syrien. Das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers ist die Stadt Deir ez-Zor.

Der Beschwerdeführer hielt sich von Anfang 2015 bis Ende August 2020 im Libanon auf. 2016 hielt er sich für drei Wochen in Damaskus auf, weil seine Ehe eingetragen wurde. Danach reiste er gemeinsam mit seiner Frau wieder zurück in den Libanon. Ab 2016 hielt sich auch die Ehefrau des Beschwerdeführers mit ihm im Libanon auf. Ende August 2020 verließ der Beschwerdeführer den Libanon, reiste über Syrien in die Türkei ein, wo er sich drei Monate aufhielt und dann weiter nach Österreich reiste. Im September 2020 kehrten die Ehefrau und die Kinder des Beschwerdeführers nach Syrien zurück (AS 204, 207, 210, OZ/4 Seite 6, 7).

Der Beschwerdeführer ist gesund. Er nimmt keine Medikamente ein (AS 197, OZ/4 Seite 6).

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer bezieht seinen Lebensunterhalt aus der Grundversorgung.

1.1.2. Zu den vorgebrachten Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers ist Deir Ez-Zor in Syrien, das sich aktuell unter Kontrolle des syrischen Regimes befindet und direkt an den von kurdischen Streitkräften kontrollierten Nord-Osten des Landes grenzt. Die Provinz ist durch den Fluss Euphrat unterteilt. Das Gebiet nordöstlich des Flusses ist unter kurdischer Kontrolle, das Gebiet südwestlich des Euphrat steht unter der Kontrolle der syrischen Regierung.

Die Herkunftsregion des Beschwerdeführers wurde ab Sommer 2014 vom IS erobert, der ab Jänner 2015 die Kontrolle über das Gebiet hatte. Im Herbst 2017 erkämpfte sich die syrische Regierung große Teile der Provinz zurück und teilt sich seit Jänner 2018 gemeinsam mit den Kurden die Kontrolle in der Provinz Deir ez-Zor.

Der Beschwerdeführer verließ Syrien im September 2020 illegal und stellte am 25.05.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich (AS 214).

Der Beschwerdeführer arbeitete in Syrien bei der syrischen Firma für Energie welche dem Energieministerium unterstellt ist. Die Leitung befindet sich in Damaskus und kontrolliert mehrere in Syrien verteilte Ölfelder.

Er wurde mit Beschlüssen der Generaldirektion des syrischen Unternehmens für Erdöl vom römisch 40 , römisch 40 und vom römisch 40 zur Arbeit an den Ölfeldern bestellt und arbeitete ab dem römisch 40 für dieses Unternehmen.

Der Beschwerdeführer arbeitete als Produktionssupervisor der syrischen Ölgesellschaft in Nordsyrien und war für Ölfelder in Hassakka bei Deir ez-Zor zuständig.

Dem Beschwerdeführer droht, bei einer Rückkehr erneut durch das syrische Regime für die Tätigkeit in den Ölfeldern eingesetzt zu werden. Bei dieser Tätigkeit in den Ölfeldern droht ihm Verfolgung. Es ergibt sich aus den Länderinformationen, dass dem Beschwerdeführer als Mitarbeiter bei einem Ölfeld in Syrien konkrete Gefahr durch verschiedene Kriegsparteien und den IS droht. Es finden regelmäßig Angriffe auf Ölfelder in Syrien durch verschiedene Kriegsparteien statt. Hierbei werden die Mitarbeiter an den Ölfeldern gezielt ermordet.

1.1.2.1. Zur Verfolgung durch den IS:

Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2015 von Anhängern des IS aufgefordert, er solle mit ihnen in seiner Position als Produktionssupervisor in den Ölfeldern in Deir ez-Zor zusammenarbeiten.

Der Beschwerdeführer wurde hierzu persönlich von Mitgliedern des IS mehrmals angesprochen.

Er verweigerte die Zusammenarbeit mit dem IS und floh 2015 in den Libanon.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch Mitglieder des IS, aufgrund seiner Weigerung mit diesen zusammenzuarbeiten.

1.1.2.2. Zur Verfolgung durch das syrische Regime:

Bei einer Rückkehr droht dem Beschwerdeführer Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund unterstellter oppositionellen Gesinnung.

1.1.2.2.1. Zur Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund der Weigerung des Beschwerdeführers für dieses weiterzuarbeiten:

Der Beschwerdeführer weigerte sich nach der Rückeroberung der Region Deir ez-Zor im Jahr 2017 durch das syrische Regime, wieder für dieses, in seiner vorherigen Position als Produktionssupervisor in den Ölfeldern, zu arbeiten. Er blieb im Libanon aus Angst bei seiner Tätigkeit umzukommen. Kollegen des Beschwerdeführers sind bei der Arbeit in den Ölfeldern durch Angriffe gestorben.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch das syrische Regime aufgrund seiner Weigerung weiterhin für dieses zu arbeiten.

Aufgrund der besonderen Situation in Syrien ist die Schwelle dafür, von Seiten des syrischen Regimes als „oppositionell“ betrachtet zu werden, relativ niedrig. Der Beschwerdeführer läuft Gefahr, aufgrund seiner Ausreise und der Weigerung, nach der Rückeroberung durch das syrische Regime 2018 seine Tätigkeit in den Ölfeldern wiederaufzunehmen, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird vergleiche römisch II.1.2.2., 1.2.3. und 1.2.5.).

1.1.2.2.2. Zur Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund seiner Familienangehörigkeit zu mehreren Deserteuren:

Der Beschwerdeführer ist Familienangehöriger mehrerer Deserteure, die Syrien aufgrund drohender Zwangsrekrutierung im wehrfähigen Alter verlassen haben.

Nur die zwei älteren Brüder des Beschwerdeführers leisteten den Militärdienst in Syrien ab. Die drei jüngeren Brüder des Beschwerdeführers und sein Cousin leisteten den Militärdienst nicht ab. Sie verließen das Land, weil ihre Wehrdienstzeit genau zur Zeit des Krieges gewesen wäre. Drei Brüder flüchteten 2012 Richtung Libanon, ein weiterer Bruder gemeinsam mit dem Beschwerdeführer 2015 vergleiche OZ/4 Seite 8). Der Beschwerdeführer verließ Syrien endgültig im September 2020 illegal und stellte am 25.05.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich (AS 215). Der Beschwerdeführer verließ Syrien gemeinsam mit seinem 25 Jahre alten Bruder römisch 40 , geboren römisch 40 und seinem 16-jährigen Cousin römisch 40 (AS 25, AS 206).

Der Beschwerdeführer verließ Syrien illegal mit zwei Familienangehörigen im wehrfähigen Alter. Zudem flüchteten zwei weitere Brüder des Beschwerdeführers als Deserteure aus Syrien aufgrund einer drohenden Zwangsrekrutierung. Sie befanden sich im wehrpflichtigen Alter.

Mit Bescheid vom 04.01.2022 des BFA wurde dem Asylantrag des Bruders des Beschwerdeführers römisch 40 vom 25.05.2021 stattgegeben und dem Bruder des Beschwerdeführers der Status des Asylberechtigten zuerkannt (OZ/5).

Dem Beschwerdeführer droht Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund seiner Familienangehörigkeit zu seinen Brüdern und seinem Cousin, die Syrien als Deserteure aufgrund des Krieges verlassen haben. Es ist mit entsprechend hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Familienmitglieder des Beschwerdeführers in Syrien als Deserteure angesehen werden und bereits in den Fokus der syrischen Behörden geraten sind. Dem Beschwerdeführer droht aufgrund seiner Familienzugehörigkeit Verfolgung.

1.1.2.2.3. Zur vorgebrachten Befürchtung der Zwangsrekrutierung als Reservist:

Der Beschwerdeführer ist in Syrien nicht wehrpflichtig, er leistete seinen Militärdienst bereits von 2002 bis 2005 ab. Er war als Buchhalter in der Verwaltung des Militärs als Rechnungsführer in einer Benzinstation in Damaskus tätig. Der Beschwerdeführer ist mittlerweile römisch 40 Jahre alt und somit nicht mehr im wehrpflichtigen Alter. Der Beschwerdeführer ist als Reservist der syrischen Streitkräfte registriert. Seit der Ableistung seines Wehrdienstes hat der Beschwerdeführer keinen Einberufungsbefehl erhalten (AS 210 f.).

In Syrien besteht ein verpflichtender Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Syrische männliche Staatsangehörige können bis zum Alter von 42 Jahren, und in Einzelfällen bei vorhandenem militärischen Spezialwissen bis zum Alter von über 50 Jahren zum Reservedienst eingezogen werden.

Hinsichtlich des Beschwerdeführers besteht keine maßgebliche Gefahr als Reservist zur syrischen Armee eingezogen zu werden. Er verfügt über keinerlei militärisches Spezialwissen und hat die Altersgrenze von 42 Jahren bereits überschritten.

1.1.2.3. Zur vorgebrachten Bedrohung bei einer Rückkehr:

Aufgrund der Summe der vorgebrachten glaubhaften Fluchtgründe ist im Falle des Beschwerdeführers die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihm bei einer Rückkehr Verfolgung durch das syrische Regime oder den IS droht.

Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime oder den IS ausgesetzt zu sein.

Aktuell befindet sich die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers unter Kontrolle des syrischen Regimes.

Im Falle einer Rückkehr besteht für den Beschwerdeführer die Gefahr, in seinem Herkunftsort oder bei einer Reise dorthin am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen seiner eigenen Ausreise, der Weigerung seiner Tätigkeit in den Ölfeldern wieder nachzugehen und seiner Familienzugehörigkeit verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Festgestellt wird daher, dass dem Beschwerdeführer in Syrien bei einer Rückkehr die reale Gefahr droht, von der syrischen Regierung verfolgt zu werden vergleiche römisch II.1.2.2., 1.2.3. und 1.2.5.).

Eine hinsichtlich des Reiseweges zumutbare und legale Rückkehr nach Syrien ist im Grunde genommen nur über Gebiete oder Flughäfen möglich, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, sodass der Beschwerdeführer bei einer erneuten Einreise Gefahr läuft, festgenommen zu werden. Damit besteht die reale Gefahr, dass er wegen seiner Ausreise, der Weigerung an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren und seiner Familienzugehörigkeit verhaftet und misshandelt werden könnte. Die Bedrohung wegen unterstellter oppositioneller Gesinnung geht vom syrischen Regime, somit vom Staat selbst, aus.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr außerdem Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch Mitglieder des IS. Dies weil der Beschwerdeführer 2015 nicht mit ihnen kooperiert hat sondern in den Libanon geflüchtet ist.

Die Befürchtung des Beschwerdeführers von dem IS bedroht zu werden, entspricht den Länderinformationen. Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten, Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen vergleiche römisch II.1.2.3.).

Betreffend der von dem IS ausgehenden Gefahr einer Verfolgung wegen unterstellter oppositioneller Gesinnung ist der syrische Staat nicht gewillt den Beschwerdeführer zu schützen.

Die Bedrohung des Beschwerdeführers ist aktuell.

Dem Beschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:

Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:

●             Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, aus dem Country of Origin - Content Management System (COI-CMS) - Syrien, Version 8 vom 29.12.2022

●             Die EUAA Country Guidance (ehemals EASO Leitlinien) zu Syrien vom Februar 2023

●             Die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen 6. aktualisierte Fassung, März 2021

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Version 8 vom 29.12.2022, wiedergegeben:

1.2.1. Politische Lage

„Letzte Änderung: 29.12.2022

(…) Nordost-Syrien

2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten, gekommen sein. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine "zweite Front" in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, 'Ain al-'Arab (Kobane) und die Jazira von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017). Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen "Rojava" bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte (SWP 7.2018; vergleiche KAS 4.12.2018). 2018 übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrin mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022). - Anmerkung: Siehe dazu auch die Karten zum aktuellen Frontverlauf in den Unterkapiteln "Nordwest-Syrien" sowie "Sicherheitslage" im Kapitel Sicherheitslage.

Der militärische Arm der PYD, die YPG, ist die dominierende Kraft innerhalb des Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet "belohnt" zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 4.12.2018a). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 12.4.2022). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung (Syrian Democratic Council; politischer Arm der SDF) und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren. Die Zusammenarbeit auf technischer Ebene resp. der Güteraustausch (Raffinierung/Kauf von Erdöl; Aufkauf von Weizen) hat sich auch verkompliziert (ÖB 1.10.2021). Im Juni 2022 erklärte Präsident Erdoğan, dass eine neue türkische Militäroperation geplant sei, die sich gegen Gebiete an der syrisch-türkischen Grenze wie Kobane ('Ayn al-'Arab), Tal Rifa'at und Manbij richten würde, die von den kurdisch SDF kontrolliert werden (AJ 18.11.2022). - Anmerkung: Siehe hierzu auch das Unterkapitel "Türkische Militäroffensive in Nordsyrien" im Kapitel "Sicherheitslage"

Das syrische Regime, die HTS und andere bewaffnete Gruppen in Idlib sowie die PYD in ihren Regionen haben autoritäre Systeme beibehalten oder aufgebaut. Dabei setzt das Regime am meisten und die PYD am wenigsten auf gewaltsame Unterdrückung zur Machterhaltung. Doch selbst im günstigsten Fall sind die Möglichkeiten der Bürger, ihren Interessen Gehör zu verschaffen, stark eingeschränkt (BS 23.2.2022). Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das von basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie und Inklusion von Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrisch-kurdische Gesellschaftsprojekt als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es als realitätsfremd und autoritär (KAS 4.12.2018). Die kurdischen Führungskräfte der YPG erklären, ihr Ziel sei die regionale Autonomie innerhalb eines dezentralisierten Syriens, nicht die Unabhängigkeit (Reuters 14.11.2022). Die PYD ist weniger gewalttätig in ihrer Repression, übt aber eine strikte Kontrolle in ihrem Einflussbereich aus. Während die kurdische Verfassung demokratisch ist, trägt die Herrschaft der PYD starke autoritäre Züge; der politische Wettbewerb ist nicht offen, sondern wird sorgfältig kontrolliert (BS 23.2.2022). Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP Anmerkung, Kurdistan Democratic Party - Irak) nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der Democratic Union Party (PYD), welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 1.10.2021). Die Türkei betrachtet die YPG als syrischen Ableger der PKK. Obwohl die USA und die EU die PKK als Terrororganisation betrachten, betrachten sie die YPG als eine eigenständige Organisation und führen sie nicht auf ihren Terrorlisten (SWP 30.5.2022). […]“

1.2.2. Sicherheitslage

„Letzte Änderung: 29.12.2022

Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Es ist zu beachten, dass die durch die türkischen Offensiven im Nordosten ausgelöste Dynamik verlässliche grundsätzliche Aussagen und Trendeinschätzungen schwierig macht. Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB 1.10.2021).

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018b). Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der "wichtigsten" Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt (Reuters 13.4.2016). Militärisch kontrolliert das syrische Regime den Großteil des Landes mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die andauernde und massive militärische Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans bzw. durch von Iran unterstützte Milizen einschließlich Hizbollah, der bewaffnete oppositionelle Kräfte wenig entgegensetzen können. Die Streitkräfte des Regimes selbst sind mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.11.2021). Das Wiederaufflammen der Kämpfe und die Rückkehr der Gewalt geben laut UNHRC (UN Human Rights Council) Anlass zur Sorge. Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen hat am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat vor den besorgniserregenden und gefährlichen Entwicklungen in Syrien gewarnt. Dabei wies er insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022).

Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die Arabische Republik Syrien stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien, die sie als "Operation Claw-Sword" bezeichnet und die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielt, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße getroffen hat (HRW 7.12.2022). Die Türkei hat seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien gestartet (France24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022).

Im Nordwesten Syriens führte das Vordringen der Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen. Russland verstärkte seine Luftangriffe in Idlib, und die Türkei griff kurdische und Regimekräfte an. Russland setzte die Bombardierungen in der Provinz Idlib am 7., 11. und 17.10.2022 fort und belastete damit den Waffenstillstand vom März 2020 (ICG 10.2022).

Mittlerweile leben 66 % der Bevölkerung wieder in den von der Regierung kontrollierten Territorien (ÖB 1.10.2021). Mehr als zwei Drittel der im Land verbliebenen Bevölkerung leben in Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes. Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte HTS sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und ihr nahestehender bewaffneter Gruppierungen in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten SDF und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes. Auch in formal vom Regime kontrollierten Gebieten sind die Machtverhältnisse mitunter komplex, die tatsächliche Kontrolle liegt häufig bei lokalen bewaffneten Akteuren (AA 29.11.2021).

Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022). Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).

In weiten Teilen des Landes besteht eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. Laut der COI gab es in Afrin und Ra's al-'Ayn zwischen Juli 2020 und Juni 2021 zahlreiche Sicherheitsvorfälle durch Sprengkörper und Sprengfallen (u.a. IEDs), die häufig an belebten Orten detonierten und bei denen mindestens 243 Zivilisten ums Leben kamen. Laut dem UN Humanitarian Needs Overview von 2020 sind in Syrien 11,5 Mio. Menschen der Gefahr durch Minen und Fundmunition ausgesetzt. 43 % der besiedelten Gebiete Syriens gelten als kontaminiert. Ca. 25 % der dokumentierten Opfer durch Minenexplosionen waren Kinder. UNMAS (United Nations Mine Action Service) hat insgesamt bislang mehr als 12.000 Opfer erfasst. Die Großstädte Aleppo, Raqqa, Homs, Dara‘a und Deir ez-Zor sowie zahlreiche Vororte von Damaskus sind hiervon nach wie vor besonders stark betroffen. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Trotz eines "Memorandum of Understanding" zwischen der zuständigen UNMAS und Syrien behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und -Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.11.2021).

Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vergleiche DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vergleiche CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022; vergleiche WP 30.11.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vergleiche BAMF 6.12.2022). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle, und Attentate (DIS 29.6.2020). Generell nimmt die Präsenz des IS in Syrien wieder zu, auch in Landesteilen unter Regimekontrolle. IS-Anschläge blieben im Jahr 2021 auf konstant hohem Niveau. Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt weiterhin im Nordosten des Landes. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun. Es sind zudem Berichte über zunehmende Anschläge in Regimegebieten, insbesondere der zentralsyrischen Wüsten- und Bergregion, in Hama und Homs, bekannt geworden. Mehrere Tausend IS-Kämpfer sowie deren Angehörige befinden sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF. Der IS verfügt weiter über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien, bleibt damit als asymmetrischer Akteur präsent, baut Untergrundstrukturen aus und erreicht damit sogar erneut temporäre und punktuelle Gebietskontrolle (AA 29.11.2021). Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich 10 bis 15 Angriffe auf die Streitkräfte der Regierung von Syrien pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-­Terror­-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Der UN-Sicherheitsrat schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022).

Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).

Zum IS-Angriff vom 20.1.2022 in al-Hassakah siehe das Unterkapitel "Nordost-Syrien" im Kapitel "Sicherheitslage".

Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche sowohl Zivilisten als auch Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von "Massakern", bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vergleiche SNHR 1.1.2021).

SNHR berichtet von 64 getöteten Zivilisten im November 2022, darunter 14 Kinder, zwei Frauen und sechs Personen, die an den Folgen von Folterungen starben. Dabei wurde festgestellt, dass das syrische Regime erneut Streumunition gegen Lager für Binnenvertriebene eingesetzt hat, was ein Kriegsverbrechen darstellt (SNHR 1.12.2022). Die folgende Grafik zeigt die von SNHR dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2021 getötet wurden, wobei SNHR insgesamt 1.271 getötete Zivilisten zählte, davon 299 Kinder und 134 Frauen (SNHR 1.1.2022). (…) […]“

1.2.2.1. Nordost-Syrien

„Letzte Änderung: 29.12.2022

Mit Stand Dezember 2022 befinden sich die Gouvernorate al-Hassakah und Ar-Raqqa sowie Teile von Deir Ez-Zor nördlich des Flusses Euphrat und Teile des Gouvernements Aleppo um Manbij und Kobanê sowie das Gebiet um Tal Rifa'at unter der Kontrolle der kurdisch geführten SDF [Anm.: Syrian Democratic Forces - Syrische Demokratischen Kräfte der selbsternannten Selbstverwaltungsregion, auch Autonomous Administration of North and East Syria - AANES] (Liveuamap Stand 2.12.2022). […]

Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen [Anm.: siehe hierzu Unterkapitel "Türkischen Militäroperationen in Nordsyrien" im Kapitel "Sicherheitslage"] (CMEC 2.10.2020). Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch präsent (ÖB 1.10.2021; vergleiche AA 29.11.2021; JsF 9.9.2022). Am 4.9.2022 errichteten die US-Truppen einen neuen Militärstützpunkt im Dorf Naqara im Nordosten Syriens, der zu den drei Standorten der US-geführten internationalen Koalition in der Region Qamishli gehört. Der neue Militärstützpunkt kann dazu beitragen, die verstärkten Aktivitäten Russlands und Irans in der Region zu überwachen; insbesondere überblickt er direkt den von den russischen Streitkräften betriebenen Luftwaffenstützpunkt am Flughafen Qamishli. Er ist nur wenige Kilometer von den iranischen Militärstandorten südlich der Stadt entfernt (JsF 9.9.2022). Die kurdischen, sogenannten "Selbstverteidigungseinheiten" (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien vorgehen. Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der YPG als auch der Democratic Union Party (PYD) Nähe zur von der EU als Terrororganisation gelisteten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und bezeichnet diese daher ebenfalls als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.11.2021).

Anmerkung: Siehe dazu auch die Karte von Februar 2022 von Zenith mit den militärischen Akteuren im Kapitel "Sicherheitslage".

Nach wie vor kommt es trotz der am 22.10.2019 in Sotschi zwischen Russland und der Türkei vereinbarten Waffenruhe immer wieder zu lokalen Auseinandersetzungen und Kampfhandlungen am Rande der türkisch kontrollierten Zone zwischen pro-türkischen Milizen und Einheiten der SDF, insbesondere an den Rändern der türkisch kontrollierten Zone im Raum um Tal Tamar rund 30 km südlich von Ra's al-'Ayn sowie südlich von Tal Abyad (AA 29.11.2021; vergleiche USDOD 4.11.2021). Die "Deeskalationszone", die sich von den nordöstlichen Bergen von Latakia bis zu den nordwestlichen Vororten von Aleppo erstreckt und sowohl durch Hama als auch durch Idlib verläuft, wurde nach einem Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan am 5.3.2020 mit einer Waffenruhe belegt. In der Region ist es jedoch zu einer spürbaren Eskalation der Militäroperationen durch russische und regimetreue Kräfte und den ihnen nahestehenden Milizen gekommen, einschließlich des täglichen Bombardements mit Dutzenden von Raketen und Artilleriegranaten und russischen Luftangriffen, die alle zu erheblichen menschlichen Verlusten und Sachschäden geführt haben (SOHR 2.12.2022).

Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der "Syrian National Army" (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB 1.10.2021). Seit Mai 2022 droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit einer zusätzlichen militärischen Bodenoperation im Nordosten Syriens, welche die Städte Tel Rifa'at und Manbij im Gouvernement Aleppo zum Ziel hat (HRW 17.8.2022; vergleiche CC 3.11.2022). Dieser geplante Einmarsch wäre ein weiterer in einer Serie seit 2016 [Anm.: siehe hierzu Unterkapitel "Türkischen Militäroperationen in Nordsyrien" im Kapitel "Sicherheitslage"] (HRW 17.8.2022). Die von Präsident Erdoğan ankündigte Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien gegen das Selbstverwaltungsgebiet (auch Rojava) ist laut Einschätzung des IFK (Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement) "weiterhin möglich": "Im Gegensatz zu früheren Operationen (z.B. Afrin 2018) dürfte dieses Mal aber die Existenz „Rojavas“ auf dem Spiel stehen" (IFK 8.2022). Auch das Risiko terroristischer Anschläge, insbesondere, aber nicht ausschließlich durch Untergrundgruppen des IS bleibt in Nordostsyrien sehr hoch (AA 29.11.2021).

ACLED registrierte im dritten Quartal 2022 270 Konfliktfälle zwischen verschiedenen kurdischen bewaffneten Gruppen und türkischen Streitkräften oder von der Türkei unterstützten Oppositionsgruppen. Dies ist ein Rückgang um 30 % im Vergleich zum letzten Quartal. Der Rückgang erfolgte trotz der Rhetorik und der Besorgnis über einen neuen türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Die Zahl der türkischen Drohnenangriffe ist weitgehend gleich geblieben (28 Ereignisse im zweiten Quartal und 29 im dritten Quartal). Die Angriffe beschränkten sich jedoch nicht mehr auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfinden; im Juli und August 2022 schlugen türkische Drohnen auf Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobani, Tell Abyad, Ar-Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und al-Hassakah (CC 3.11.2022).

SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad-Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022). Ar-Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS gewesen (PBS 22.2.2022), und die Region gilt als "Hauptschauplatz für den Aufstand des IS" (ICG 11.10.2019; vergleiche EUAA 9.2022). Die Entwicklungen im Nordosten haben bis dato noch nicht zu dem befürchteten, großflächigen Wiedererstarken des IS geführt (ÖB 1.10.2021), allerdings führt der IS weiterhin militärische Operationen und Gegenangriffe durch und IS-Zellen sind nach wie vor in der Lage, ein Sicherheitsvakuum zu nutzen und Attentate zu verüben (SOHR 29.11.2022).

Die SDF leiteten mit Unterstützung der internationalen Koalition gegen den IS regelmäßige Sicherheitskampagnen ein (SOHR 29.11.2022; vergleiche UNHRC 14.9.2022), die sich gegen IS-Zellen und Personen richteten, die beschuldigt wurden, mit diesen Zellen zu verkehren (SOHR 26.12.2021; vergleiche USDOD 4.11.2021). Im Nordosten, aber auch in anderen Teilen des Landes, verlegt sich der IS verstärkt auf Methoden der asymmetrischen Kriegsführung. Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021; vergleiche ICG 18.11.2021, COAR 28.5.2021) und Einrichtungen der Selbstverwaltung (COAR 28.5.2021). Es wurde auch von Angriffen auf Mitarbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zor berichtet (AM 29.12.2021). SOHR hat seit Anfang 2022 181 Operationen des IS, darunter bewaffnete Angriffe und Explosionen, in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung dokumentiert. Laut Statistiken des SOHR wurden bei diesen Operationen 135 Menschen getötet, darunter 52 Zivilisten und 82 Angehörige der SDF, der Inneren Sicherheitskräfte und anderer militärischer Formationen, die in Gebieten unter der Kontrolle der Autonomieverwaltung operierten. Bei diesen Angriffen wurde der Angriff auf das Sina'a-Gefängnis in al-Hassakah nicht berücksichtigt, bei dem es zu schweren Verlusten kam (SOHR 29.11.2022).

(…)

Die kurdischen Sicherheitskräfte kontrollieren weiterhin knapp 30 Lager mit 11.000 internierten IS-Kämpfern (davon 500 aus Europa) sowie die Lager mit Familienangehörigen; der Großteil davon in al-Hol (ÖB 1.10.2021). Nach einigen Rückführungen und Repatriierungen beläuft sich die Gesamtzahl der Menschen in al-Hol nun auf etwa 53.000, von denen etwa 11.000 ausländische Staatsangehörige sind (MSF 7.11.2022), auch aus Österreich (ÖB 1.10.2021). Das Ziel des IS ist es, diese zu befreien, aber auch seinen Anhängern zu zeigen, dass man dazu in der Lage ist, diese Personen herauszuholen (Zenith 11.2.2022). Das Lager war einst dazu gedacht, Zivilisten, die durch den Konflikt in Syrien und Irak vertrieben wurden, eine sichere, vorübergehende Unterkunft und humanitäre Dienstleistungen zu bieten. Der Zweck von al-Hol hat sich jedoch längst gewandelt und es ist zunehmend zu einem unsicheren und unhygienischen Freiluftgefängnis geworden, nachdem die Menschen im Dezember 2018 aus den vom IS kontrollierten Gebieten dorthin gebracht wurden. 64 % der Bewohner von al-Hol sind Kinder (MSF 7.11.2022), die täglicher Gewalt und Kriminalität ausgesetzt sind (STC 5.5.2022; vergleiche MSF 11.2022). Im Jahr 2021 war die häufigste Todesursache in al-Hol, mit 38 % aller Todesfälle im Lager, der Tod im Zusammenhang mit Straftaten. Laut Ärzte ohne Grenzen wurden zusätzlich zu den 85 kriminalitätsbedingten Todesfällen in dem Lager auch 30 Mordversuche gemeldet (MSF 11.2022). Das Camp ist zusätzlich zu einem Refugium für den IS geworden, um Mitglieder zu rekrutieren (NBC News 6.10.2022). Am 22.11.2022 schlugen türkische Raketen in der Nähe des Flüchtlingslagers al-Hol ein. Das Chaos, das zu den schwierigen humanitären Bedingungen im Lager hinzukommt, hat zu einem Klima geführt, das die Indoktrination des IS und andere Aktivitäten begünstigt. Die SDF sahen sich gezwungen, ihre Kräfte zur Bewachung der IS-Gefangenenlager in Nordsyrien abzuziehen, um auf die türkische Bedrohung zu reagieren (AO 3.12.2022).

Türkische Angriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens (Zenith 11.2.2022). Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich heute in einer zunehmend prekären politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (TWI 15.3.2022). Angesichts der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Nordosten Syriens haben die SDF zunehmend drakonische Maßnahmen ergriffen, um gegen abweichende Meinungen im Land vorzugehen und Proteste zum Schweigen zu bringen, da ihre Autorität von allen Seiten bedroht wird (ES 30.6.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem wurde gegen den niedrigen Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.8.2021) sowie steigende Treibstoffpreise protestiert (AM 30.5.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im Gouvernement al-Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem Asayish [Anm: Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion] in die Proteste eingriffen (al-Sharq 27.8.2021; vergleiche AM 30.5.2021). Die Türkei verschärft die wirtschaftliche Lage in AANES absichtlich, indem sie den Wasserfluss nach Syrien einschränkt (KF 5.2022). Die Gefahr eines türkischen Angriffs droht ständig an der Grenze, und obwohl es keine weitverbreiteten Rufe nach einer Rückkehr des Assad-Regimes gibt, verlieren einige Einwohner das Vertrauen, dass die kurdisch geführte AANES für Sicherheit und Stabilität sorgen kann (TWI 15.3.2022).“

1.2.2.2. Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien

„Letzte Änderung: 29.12.2022

Nach elf Jahren Krieg hat das Assad-Regime, unterstützt von Russland und Iran, mittlerweile unterschiedlichen Quellen zu Folge zwischen 60 % (INSS 24.4.2022; vergleiche GIS 23.5.2022) und 70 % des syrischen Territoriums wieder unter seine Kontrolle gebracht (USCIRF 11.2022; EUAA 9.2022). Im November 2022 kontrolliert die Regierung die meisten größeren Städte des Landes, darunter die Großstädte Damaskus, Aleppo, Homs und Hama (CRS 8.11.2022; vergleiche EUAA 9.2022). Ausländische Akteure und regierungstreue Milizen üben erheblichen Einfluss auf Teile des Gebiets aus, das nominell unter der Kontrolle der Regierung steht (AM 23.2.2021; vergleiche SWP 3.2020, FP 15.3.2021, EUI 13.3.2020). Die zivilen Behörden haben nur begrenzten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Organisationen, die in Syrien operieren, darunter russische Streitkräfte, die libanesische Hizbollah, die iranischen Revolutionswächter (IRGC) und regierungsnahe Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defence Forces - NDF), deren Mitglieder zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen haben (USDOS 12.4.2022). Auch in formal vom Regime kontrollierten Gebieten sind die Machtverhältnisse mitunter komplex. Die tatsächliche Kontrolle liegt häufig bei lokalen bewaffneten Akteuren. Für alle Gebiete gilt weiter, dass eine pauschale Lagebeurteilung nicht möglich ist. Auch innerhalb einzelner Regionen unterscheidet sich die Lage von Ort zu Ort und von Betroffenen zu Betroffenen (AA 29.11.2021).

Die Sicherheitslage zwischen militärischer Situation und Menschenrechtslage

Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren derzeit rund 20 % der Grenzen des Landes. Obwohl die syrischen Zollbehörden offiziell für die Grenzübergänge zum Irak (Abu Kamal), zu Jordanien (Nasib) und zum Libanon (al-Arida, Jdeidat, al-Jousiyah und al-Dabousiyah) zuständig sind, liegt die tatsächliche Kontrolle woanders. Die libanesische Grenze ist von der Hizbollah besetzt, die auf der syrischen Seite Stützpunkte eingerichtet hat (Zabadani, al-Qusayr), von denen aus sie die Bergregion Qalamoun beherrscht. Auch die irakischen Schiitenmilizen verwalten beide Seiten ihrer Grenze von Abu Kamal bis at-Tanf (WI 10.2.2021). Vor allem Aleppo, die größte Stadt Syriens und ihr ehemaliger wirtschaftlicher Motor, bietet einen Einblick in die derzeitige Realität des Nachkriegssyriens. Die Truppen des Regimes haben die primäre, aber nicht die ausschließliche Kontrolle über die Stadt, da die Milizen, auch wenn sie nominell mit dem Regime verbündet sind, sich sporadische Zusammenstöße mit Soldaten und untereinander liefern und die Einwohner schikanieren. Die Rebellen sind vertrieben, kein ausländischer Akteur hat ein Interesse an einer erneuten Intervention, um das Regime herauszufordern, und die Bevölkerung ist durch den jahrelangen Krieg zu erschöpft und verarmt und zu sehr damit beschäftigt, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, um einen weiteren Aufstand zu führen. Außerdem konnten die meisten Einwohner der Stadt, die in von der Opposition gehaltene Gebiete oder ins Ausland vertrieben wurden, nicht zurückkehren, vor allem weil sie entweder die Einberufung oder Repressalien wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Aufstand fürchten (ICG 9.5.2022). Gebiete in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, werden nun auch verstärkt durch die Geheimdienste überwacht (Üngör 15.12.2021). Unabhängig von militärischen Entwicklungen kommt es laut Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen, insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.11.2021). Die UN-Untersuchungskommission für Syrien hält es für wahrscheinlich, dass das Regime, seine russischen Verbündeten und andere regimetreue Kräfte Angriffe begangen haben, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet sind und möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen. Dem Regime nahestehende paramilitärische Gruppen haben Berichten zufolge häufig Verstöße und Misshandlungen begangen, darunter Massaker, wahllose Tötungen, Entführungen von Zivilisten, extreme körperliche Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, und rechtswidrige Festnahmen (USDOS 12.4.2022; vergleiche HRW 13.1.2022).

Die syrische Regierung und andere Konfliktparteien setzen weiterhin Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategie zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein (GlobalR2P 1.12.2022; vergleiche CC 3.11.2022). In Zentral-, West- und Südsyrien kommt es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen (GlobalR2P 1.12.2022; vergleiche FH 24.2.2022). Im Oktober 2022 kam es in den vom Regime kontrollierten Gebieten zu einer alarmierenden Eskalation der Gewalt. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) dokumentierte den Tod von 161 Menschen in den vom syrischen Regime und den mit ihm verbundenen Milizen kontrollierten Gebieten (SOHR 6.11.2022). In Gebieten wie Daraʿa, der Stadt Deir ez-Zor und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihre Macht missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des IS, mit schweren Zerstörungen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren konfrontiert (ICG 13.2.2020). Aus den Gouvernements Dara'a, Quneitra und Sweida wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 gezielte Tötungen, Sprengstoffanschläge, Schusswechsel, Zusammenstöße und Entführungen gemeldet, an denen Kräfte der syrischen Regierung und regierungsfreundliche Milizen, ehemalige Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, IS-Kämpfer und andere nicht identifizierte Akteure beteiligt waren (EUAA 9.2022).

Der IS verfügt über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun (AA 29.11.2021; Anmerkung, siehe dazu auch Abschnitt "Provinz Deir ez-Zour / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet"). Der IS ist unter anderem im Osten der Provinz Homs aktiv; es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021; vergleiche DIS 5.2022). Die Lage im westlichen Teil des Provinz Homs hat sich im vergangenen Jahr im Großen und Ganzen verbessert, insbesondere in städtischen Gebieten wie Homs-Stadt, wo die Sicherheitsvorfälle zurückgegangen sind. Im nördlichen Teil der Provinz wurden Spannungen und Angriffe ehemaliger Rebellengruppen auf syrische Regierungstruppen gemeldet (DIS 5.2022). Der Westen des Landes, insbesondere Tartus und Lattakia, war im Verlauf des Konflikts vergleichsweise weniger von aktiven Kampfhandlungen betroffen (AA 29.11.2021; vergleiche ÖB 1.10.2021). Im Hinterland von Lattakia kommt es immer wieder zu einem Übergreifen des Konflikts von Idlib aus (ÖB 1.10.2021; vergleiche AA 29.11.2021). Die Streitkräfte des Regimes sind mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben. Trotz des absoluten Rückgangs der Anzahl von Kampfhandlungen in Folge der Rückeroberung weiter Landesteile ist nicht von einer nachhaltigen Befriedung des Landes auszugehen (AA 29.11.2021).

Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versucht der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen "Hort der Ruhe" in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 1.7.2022; vergleiche EUAA 9.2022). Allerdings kommt es seit Anfang 2020 zu wiederholten Anschlägen in Damaskus und Damaskus-Umland bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen wurden (TSO 10.3.2020; vergleiche COAR 25.10.2021). Darunter war z.B. die Bombenexplosion eines Militärbusses am 20.10.2021 in einem dicht besiedelten Gebiet von Damaskus, bei welcher 14 Personen getötet wurden (HRW 13.1.2022). Im Zeitraum April 2022 bis Juli 2022 wurden sechzehn Anschläge in und um Damaskus gemeldet (AN 1.7.2022).

Die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine haben begonnen, sich spürbar auf Russlands militärische und diplomatische Haltung in Syrien auszuwirken (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Russland ist seit 2015 eine dominante militärische Kraft in Syrien und trägt dazu bei, das syrische Regime an der Macht zu halten (NYT 19.10.2022). Allerdings versucht Russland nun auch, seine Position in Europa zu stärken, indem es im Stillen seine Präsenz und sein Engagement in Syrien reduziert. In den Monaten seit Beginn der Invasion der Ukraine haben die russischen Streitkräfte einen erheblichen Schwund an Personal und Material hinnehmen müssen. Informationen gesammelt durch Open Source Intelligence verwiesen im August 2022 auf den Abzug einer S-300-Luftabwehrbatterie nach Russland, während die ukrainischen Streitkräfte im September 2022 erklärten, dass sie davon ausgingen, dass ein zuvor in Syrien stationiertes russisches Fallschirmjägerregiment ebenfalls nach Russland zurückverlegt wurde. Da Russland seine Kampftruppen abgezogen hat, hat es Berichten zufolge diese Soldaten teilweise durch russische Militärpolizisten ersetzt (CC 3.11.2022; vergleiche NYT 19.10.2022). Die Bemühungen Russlands, seine Präsenz in Syrien zu verringern, haben auch diplomatische Manöver mit Iran und der Türkei ausgelöst. Iran hat das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in Ostsyrien auszubauen. Einigen Berichten zufolge könnten sich das iranische Korps der Revolutionsgarden (IRGC) und seine Verbündeten von der Hizbollah in frei gewordenen russischen Stützpunkten niedergelassen haben. Der iranische Aufbau von Streitkräften und Infrastruktur könnte seinen Einfluss in Syrien am Vorabend einer möglichen türkisch-syrischen Annäherung, die von Russland kultiviert wird, verstärken (CC 3.11.2022).

Israel führt immer wieder Luftangriffe auf Militärstützpunkte, die (auch) von den iranischen Revolutionsgarden und verbündeten Milizen genutzt werden, durch (ÖB 1.10.2021; vergleiche AA 29.11.2021, UNHCR 14.8.2020). Um die Präsenz Irans zu bekämpfen und die Weitergabe von Waffen an die Hizbollah zu verhindern, hat Israel häufig Luftangriffe gegen die syrische Regierung und die vom Iran unterstützten Milizen in ganz Syrien durchgeführt. Im Jahr 2021 hat sich das Ausmaß der israelischen Luftangriffe erhöht, wobei im Jahr 2021 mindestens 56 Konfliktfälle verzeichnet wurden (CC 3.11.2022). Im November 2021 wurde von zwei israelischen Angriffen auf Ziele in der Umgebung von Damaskus berichtet (NPA 3.11.2021). Im Dezember 2021 führte Israel zwei Luftschläge auf den Hafen von Lattakia durch, welche mutmaßlich Warenlager von Iran-nahen Milizen zum Ziel hatten und erhebliche Sachschäden verursachten (Times of Israel 28.12.2021; vergleiche MEE 7.12.2021). Der Hafen von Latakia ist der wichtigste Hafen der syrischen Regierung (MEE 7.12.2021). Über ihn wird ein Großteil der syrischen Importe in das vom Krieg zerrüttete Land gebracht (Times of Israel 28.12.2021). Im Jahr 2022 fanden 31 israelische Luftangriffe statt, davon 19 im dritten Quartal 2022 (CC 3.11.2022). Seit Beginn 2022 kam es zudem zu israelischen Angriffen u.a. auf den Flughafen von Damaskus, wo sowohl zivile wie militärische Landebahnen getroffen wurden (JP 11.6.2022). Auch gab es am 5.7.2022 nahe der Stadt Tartous einen israelischen Angriff auf Luftabwehrsysteme (JP 5.7.2022). Israel hat bisher hunderte Luftschläge zugegeben, welche u.a. das Ziel haben, eine Verfestigung der iranischen Militärpräsenz in Syrien zu verhindern (JP 11.6.2022). […]“

1.2.3. Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung

„Letzte Änderung: 29.12.2022

Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für Täter vorsieht. Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichteten jedoch von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung vermeintlicher Oppositioneller einsetzten, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und sogar schon vor 2011 dokumentiert wurde. Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022). Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet (HRW 13.1.2021; vergleiche AI 7.4.2021, USDOS 12.4.2022, AA 4.12.2020).

In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen (SHRC 24.1.2019).

Das Auswärtige Amt fasst die Haftbedingungen in Syrien als "unverändert grausam und menschenverachtend" zusammen. Dies ist allgemein der Fall, gilt jedoch besonders für diejenigen Haftanstalten, in denen DissidentInnen und sonstige politische Gefangene festgehalten werden (AA 29.11.2021). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände danach aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.11.2021). NGOs berichten, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlungen, Bestrafungen und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten verüben (USDOS 12.4.2022; vergleiche TWP 23.12.2018). Gefängnispersonal und Nachrichtendienstoffiziere sowie weitere Regimetruppen und regierungstreue Kräfte begingen sexuellen Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern (USDOS 12.4.2022). Unter den von der UN Commission of Inquiry (COI) dokumentierten Fällen waren die jüngsten betroffenen Buben und Mädchen elf Jahre alt (HRW 13.1.2022). Die Regierung nimmt hierbei auch Personen ins Visier, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden (USDOS 30.3.2021). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben. (AA 29.11.2021; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021).

Systematische Folter, Hinrichtungen und die Haftbedingungen führen zu einer hohen Sterblichkeitsrate von Gefangenen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung (USDOS 12.4.2022). Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 12.4.2022; vergleiche SHRC 24.1.2019). Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 12.4.2022). SNHR schätzt die Gesamtzahl der verschwunden gelassenen Personen auf mindestens 100.000, hinter fast 85% dieser steckt das Regime (HRW 13.1.2022). Zehntausende Menschen sind weiterhin in willkürlicher Haft, darunter humanitäre Helfer, Anwälte, Journalisten und friedliche Aktivisten (AI 7.4.2021).

In Gebieten, die unter der Kontrolle der Opposition standen und von der Regierung zurückerobert wurden, darunter Ost-Ghouta, Dara'a und das südliche Damaskus, verhafteten die syrischen Sicherheitskräfte Hunderte von Aktivisten, ehemalige Oppositionsführer und ihre Familienangehörigen, obwohl sie alle Versöhnungsabkommen mit den Behörden unterzeichnet hatten, in denen garantiert wurde, dass sie nicht verhaftet würden (HRW 14.1.2020; vergleiche ÖB 1.10.2021).

Zwischen März 2011 und Juni 2021 dokumentierte das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) den Tod von mindestens 14.565 Personen, darunter 181 Kinder und 93 (erwachsene) Frauen, durch Folter durch die Konfliktparteien und die kontrollierenden Kräfte in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,6 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 14.6.2021). Im gesamten Jahr 2021 zählte SNHR insgesamt 104 Todesopfer aufgrund von Folter (SNHR 1.1.2022). Seit 2018 wurden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde, wenn auch unter Angabe unspezifischer Todesursachen (Herzversagen, Schlaganfall etc.). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen. (AA 29.11.2021). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht: Im Jahr 2020 lag die Rate bei etwa 17 Personen pro Monat. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Verwandten zu erfahren (SHRC 9.1.2021). Die syrische Regierung übergibt nicht die sterblichen Überreste der Verstorbenen an die Familien (HRW 14.1.2020).

Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Gefängnissen sind jedoch keine Neuerungen der Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019).

Am 4.11.2020 ließ die syrische Regierung 60 Personen aus Gefängnissen im südlichen Syrien und Damaskus frei (HRW 13.1.2022).

Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dafür dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken (NMFA 7.2019). Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.11.2021).

Syrien hat am 30.3.2022 das Anti-Folter-Gesetz Nr. 16 per Präsidialdekret erlassen, das Folter zu einem Straftatbestand (Verbrechen) macht und harte Strafen für alle Personen (Privatpersonen oder Beamte) vorsieht, die Folter anwenden. Nichtsdestotrotz hat SNHR seit dem Inkrafttreten des Dekrets von Ende März bis Juni 2022 elf Todesfälle durch Folter in syrischen Haftanstalten dokumentiert und kritisiert unter anderem, dass das Dekret keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022, vergleiche STJ 12.7.2022).

Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten, Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Berichte dazu betreffen u.a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), IS (Islamischer Staat), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 12.4.2022).“

1.2.4. Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

„Letzte Änderung: 29.12.2022

Anmerkungen: In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.

Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.“

1.2.4.1. Die syrischen Streitkräfte – Wehr- und Reservedienst

„Letzte Änderung: 29.12.2022

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.9.2020). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.11.2021).

Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB 1.10.2021).

Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB 1.10.2021; vergleiche EASO 4.2021).

Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020). Die im März 2020 und Mai 2021 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetzbuch, darunter Fahnenflucht; die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB 1.10.2021).

Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.11.2021).

Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palästinensischen Befreiungsarmee (Palestinian Liberation Army - PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vergleiche FIS 14.12.2018, ACCORD 21.9.2022).

Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten (CIA 17.8.2021; vergleiche FIS 14.12.2018).

Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 2.12.2022).

Die Umsetzung

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).

Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet, besonders auch aus wiedereroberten Gebieten (EASO 11.2021). Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020).

Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018; vergleiche ICG 9.5.2022). In Homs führt die Militärpolizei beispielsweise stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 3.6.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vergleiche EB 3.6.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht. Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) in der Lage ist, zu rekrutieren, jedoch nicht in allen Gebieten der AANES, in denen die kurdischen Gruppierungen vor Ort die Oberhand haben. Die syrische Regierung ist nach wie vor in einigen von der AANES kontrollierten Gebieten präsent und kann dort rekrutieren, wo sie im Sicherheitsdistrikt oder muraba'a amni im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie in Qamishli oder in Deir ez-Zor. In einigen Gebieten wie Afrin hat die syrische Regierung jedoch keine Kontrolle und kann dort keine Personen einberufen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die Syrische Arabische Armee eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022).

Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) operiert hauptsächlich im Gouvernement Idlib und anderen Gebieten im Nordwesten Syriens (Grenzstädte zur Türkei). Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vergleiche Liveuamap 12.12.2022). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen und sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ zu setzen, was ihre Verhaftung zur Rekrutierung erleichtert, wenn sie das Gouvernement Idlib in Gebiete unter der Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich im Gouvernement Aleppo konzentriert, von der Türkei unterstützt wird und aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA) besteht. Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann dort keine Personen für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022).

[…]“

1.2.4.2. Wehrdienstverweigerung/Desertion

„Letzte Änderung: 29.12.2022

Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und relativ wenige werden derzeit deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).

In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.11.2021).

Rückkehrüberlegungen syrischer Männer werden auch durch ihren Militärdienststatus beeinflusst (DIS/DRC 2.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.11.2021).

Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern

In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann (Balanche 13.12.2021).

Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben. Das Wehrersatzgeld ist nach einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu (AA 29.11.2021; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 29.11.2021). Während es laut einer Quelle keine Berichte darüber gibt, dass diejenigen, die die Wehrdienstbefreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlt haben, bei ihrer Rückkehr Probleme hatten (DIS 5.2022), berichten andere Quellen, dass unter anderem auch Rückkehrer bei ihrer Ankunft von den syrischen Behörden verhaftet, inhaftiert und gefoltert wurden, die eine Statusbereinigung vorgenommen hatten. Eine erteilte positive Sicherheitsüberprüfung stellt keinesfalls eine Garantie für eine sichere Rückkehr nach Syrien dar (EASO 6.2021).

Im Dezember 2019 trat eine Bestimmung in Kraft, wonach wehrfähige Männer, welche den Wehrdienst bis zu einem Alter von 42 Jahren nicht abgeleistet haben, eine Befreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlen müssen, um einer Beschlagnahmung ihres Vermögens, bzw. des Vermögens ihrer Ehefrauen oder Kinder, zu entgehen (DIS 5.2020, vergleiche AA 29.11.2021, Rechtsexperte 14.9.2022).

Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel "Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts".

Gesetzliche Lage und aktuelle Handhabung

Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Artikel 98 -, 99, ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.11.2021; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022). Während manche die Ergreifung eines Wehrdienstverweigerers mit garantierter Folter und Todesurteil gleichsetzen (Landinfo 3.1.2018), sagen andere, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vergleiche Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018; vergleiche DIS 5.2020). Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen "terroristische" Bedrohungen zu schützen (STDOK 8.2017).

Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner" und "externer" Desertion. Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z.B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Artikel 102, bei Überlaufen zum Feind und gemäß Artikel 105, bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.11.2021; vergleiche Rechtsexperte 14.9.2022).

Die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen. Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vergleiche DIS 5.2020). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020). In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten zudem viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines "Versöhnungsabkommens" zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen dokumentierte im ersten Halbjahr 2022 die Festnahme, Folter und Misshandlung von neun Männern, die der Wehrpflicht nicht nachgekommen oder übergelaufen waren. Unter anderem betraf dies Überläufer, die nach einer Amnestie zurückkehrten und dann verhaftet wurden (UNHRC 17.8.2022).

Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vergleiche DIS 5.2020). Dazu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).

Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft".

Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch VN oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.11.2021). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht den Regierungseinheiten beitreten (FIS 14.12.2018).

Zu den "Versöhnungsabkommen" siehe auch Abschnitt "Versöhnungsabkommen" im Kapitel "Sicherheitslage".

Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Die Informationslage bezüglich wehrpflichtiger Rückkehrer ist widersprüchlich: Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutze das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar in den Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021). Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber wahnsinnig, als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen. Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Leute mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).“

1.2.5. Allgemeine Menschenrechtslage

„Letzte Änderung: 29.12.2022

Die Menschenrechtslage in Syrien hat sich trotz eines messbaren Rückgangs der gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht verbessert (AA 29.11.2021). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022). Laut UN-Menschenrechtsrat erlaubt die Situation in Syrien unter Einbeziehung der Menschenrechtslage keine nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNHRC 13.8.2021). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 8.2.2022 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht von z.B. Angriffen auf die Zivilbevölkerung über Folter bis hin zur Beschlagnahmung des Eigentums von Vertriebenen (UNHRC 8.2.2022). Human Rights Watch (HRW) bezeichnet einige Angriffe der russisch-syrischen Allianz als Kriegsverbrechen (HRW 13.1.2022).

Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.4.2020).

Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft, das es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, und das Misstrauen der Bürger in den vom Regime kontrollierten Gebieten gestiegen ist (BS 23.2.2022).

Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 waren von Anschuldigen von Wahlbetrug gekennzeichnet. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 12.4.2022).

Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 12.4.2022).

Das Regime bezeichnete Meinungsäußerungen routinemäßig als illegal, und Einzelpersonen konnten das Regime weder öffentlich noch privat kritisieren, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus, aus und verbietet die meiste Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Angelegenheiten, einschließlich der konfessionellen Spannungen und Probleme, mit denen religiösen und ethnischen Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 12.4.2022).

Weiterhin besteht laut Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes ein umfassender und langfristiger Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen und sonstige regimenahe Institutionen. Dies gilt auch für Landesteile insbesondere im äußersten Westen des Landes sowie der Hauptstadt Damaskus, in denen traditionell Bevölkerungsteile leben, die dem Regime näher stehen. Selbst bis dahin als regimenah geltende Personen können aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (AA 29.11.2021; vergleiche 19.5.2020). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB 1.10.2021).

In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und willkürlichen Verhaftungen (SNHR 26.1.2021; vergleiche SHRC 1.2019, HRW 13.1.2022). Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie, auch Personen in zurückeroberten Gebieten, die sogenannte Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben (HRW 13.1.2022; vergleiche AA 29.11.2021, SNHR 26.1.2021). Berichten zufolge zögern die Menschen in kürzlich vom Regime zurückeroberten Gebieten aus Angst vor Repressalien über die dortigen Vorgänge zu reden (USDOS 12.4.2022). Ganze Städte und Dörfer wurden durch erzwungenes Verlassen ("forced deportations") entvölkert (BS 29.4.2020).

Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Auch Kollektivhaft von Angehörigen - auch Kindern - oder Nachbarn ist dokumentiert, fallweise auch wegen als regimefeindlich geltenden Personen im Ausland (AA 29.11.2021). Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (UNHRC 31.1.2019). Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden unterhalten, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.1.2019; vergleiche UNHCR 7.5.2020, SNHR 26.1.2021).

Nach Angaben des Syrian Network for Human Rights (SNHR) sind seit März 2011 fast 15.000 Menschen an den Folgen von Folter gestorben, die meisten von ihnen durch syrische Regierungstruppen (HRW 13.1.2022). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.11.2021).

Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021). Dem SNHR zufolge beläuft sich die Zahl von Inhaftierten und Verschwundenen mit Stand September 2021 auf rund 150.000. Für das erste Halbjahr 2021 dokumentierte SNHR 972 Fälle willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen, darunter mindestens 45 Kinder und 42 Frauen. Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Das Regime macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021).

Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten. Es findet keine zuverlässige und für die Betroffenen verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Laut UNO ist in derartigen Fällen ein zentralisiertes Muster von Verlegungen in den Raum Damaskus erkennbar. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen hiernach verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Oft werden die Familien unter Androhung von Gewalt und Repressionen zu Stillschweigen verpflichtet. Die VN und IKRK haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (UNHRC 11.3.2021).

Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur. Für das Jahr 2021 lagen keine Berichte über den Einsatz der verbotenen Chemiewaffen vor. Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam jedoch zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z.B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017 (USDOS 12.4.2022).

Die Regierung überwacht die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internet- und Telefondienste ein und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z.B. von E-Mails und Sozialen Medien ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein (USDOS 12.4.2022). Des Weiteren wurde im April 2022 ein neues Cybercrime-Gesetz verabschiedet, welches von mehreren NGOs und Menschenrechtsgruppen als problematisch für die Meinungsfreiheit betrachtet wird (Anmerkung: siehe Kapitel: "Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes [Rechtsschutz/Justizwesen]").

Am 28.4.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die im Ausland falsche oder übertriebene Nachrichten verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder andersartig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen einem halben und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das alle Syrer bestraft, die Nachrichten verbreiten, die als Imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.4.2022). Die syrische Regierung hat Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.5.2020).

Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begingen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führten etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töteten oder verletzten (USDOS 12.4.2022).

Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen

In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der COI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlaste. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u.a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Insbesondere im Fall von Free Syrian Army, HTS bzw. Jabhat al-Nusra sowie IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNHRC 11.3.2021).

Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. die mit al-Qaida in Verbindung stehende Gruppe HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, extreme körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten bei Angriffen, die als wahllos beschrieben wurden. Es kommt vor, dass Terrorgruppen wie der HTS gewaltsam Organisationen und Personen angreifen, die Menschenrechtsverletzungen untersuchen oder sich für die Verbesserung der Menschenrechtslage einsetzen (USDOS 12.4.2022).

Trotz der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Jahr 2019 verübt die Gruppe weiterhin Morde, Angriffe und Entführungen, darunter auch manchmal mit Zivilisten als Ziele (USDOS 12.4.2022).

Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren das Rückzugsgebiet für viele moderate, aber auch radikale, teils terroristische Gruppen der bewaffneten Opposition geworden. HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets der Deeskalationszone Idlib dort auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen "Errettungsregierung" aufgebaut. Auch unterhält der HTS ein eigenes Gerichtswesen, welches die Scharia anwendet, sowie eigene Haftanstalten (AA 29.11.2021). In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem der HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB 1.10.2021).

In Idlib verhaftet der HTS Aktivisten, Mitarbeiter humanitärer Organisationen sowie ihm kritisch eingestellte Zivilisten. Im ersten Halbjahr 2021 waren laut dem SNHR mindestens 57 Personen Ziel willkürlicher Verhaftungen durch den HTS. In einigen Fällen verhängte der HTS die Todesstrafe (HRW 13.1.2022). Berichtet werden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der COI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab al-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden (AA 29.11.2021) Der HTS greift in vermehrtem Ausmaß in alle Aspekte des zivilen Lebens ein, z.B. durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen, Vorschreiben von Kleidungsvorschriften und Frisuren sowie durch das wahllose Einheben von Steuern und Geldbußen. Er beschlagnahmt auch viele Häuser und Immobilien von Christen (HRW 13.1.2022).

Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der COI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch Mitglieder der HTS, auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021).

In den von der Türkei besetzten Gebieten verletzen die Türkei und lokale syrische Gruppierungen ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung und schränken ihre Freiheiten ein. Im Zuge der türkischen Militäroperation Friedensquelle im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der SNA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB 1.10.2021). In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut SNHR willkürlich 162 Personen. Mit Dezember 2019 hatten die türkischen Behörden und die mit der ihre verbündete SNA mindestens 63 syrische Staatsbürger verhaftet und illegalerweise in die Türkei verbracht. Dort stehen sie wegen Anklagen vor Gericht, die lebenslange Haftstrafen nach sich ziehen könnten. Fünf der 63 Syrer wurde bereits im Oktober 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt. In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut dem SNHR willkürlich 162 Personen (HRW 13.1.2022). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut COI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021).

Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter willkürliche Inhaftierungen, Folter, Korruption, Rekrutierung von Kindersoldaten und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Die SDF untersuchen weiterhin die gegen sie vorgebrachten Klagen. Es liegen keine Informationen über die gerichtliche Anklage einzelner Mitglieder der SDF vor (USDOS 12.4.2022). Die SDF führen Massenverhaftungen von Zivilisten, darunter Aktivisten, Journalisten und Lehrer, durch. In der ersten Jahreshälfte 2021 belief sich die Zahl der Verhafteten laut dem SNHR auf 369 Personen (HRW 13.1.2022). Das US-Außenministerium berichtet hingegen von "gelegentlichen" Einschränkungen von Menschenrechtsorganisationen und Schikanen gegen Aktivisten vonseiten der SDF und anderen Oppositionsgruppen, darunter "in manchen Fällen" willkürliche Haft (USDOS 12.4.2022). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 4.12.2020).

Nach der territorialen Niederlage des IS im Nordosten Syriens meinen manche NGOs, wie beispielsweise Human Rights Watch (HRW), die Notwendigkeit, dass noch Entschädigungen für zivile Opfer geleistet, dass Unterstützung bei der Ermittlung des Schicksals der vom IS Entführten angeboten und dass sich angemessen mit der Notlage von mehr als 60.000 syrischen und ausländischen Männern, Frauen und Kindern, die auf unbestimmte Zeit als IS-Verdächtige und als deren Familienmitglieder unter schlechten Bedingungen in geschlossenen Lagern und Gefängnissen festgehalten wurde, befasst werden (HRW 13.1.2022).“

1.2.6. Rückkehr

„Letzte Änderung: 29.12.2022

Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: Siehe weiter unten für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen!], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Einem Bericht von Amnesty International zufolge betrachten die syrischen Behörden Personen, welche das Land verlassen haben, als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen (AI 9.2021). Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Offiziell gibt der Staat zwar vor, Syrer zur Rückkehr zu ermutigen, aber insgeheim werden jene, die das Land verlassen haben, als "Verräter" angesehen. Aus Sicht des syrischen Staates ist es besser, wenn diese im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo hat der syrische Staat laut einem befragten Syrien-Experten jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021). Das Regime will Rückkehrer mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021).

Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften gegenüber Rückkehrenden, die sich in verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassten Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).

[…]“

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungs- und Gerichtsakt, durch die Befragung des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und durch Einsichtnahme in die zum Akt genommenen Urkunden.

2.1. Zu den zum Beschwerdeführer getroffenen Feststellungen:

2.1.1. Zu seiner Person:

Die einzelnen Feststellungen beruhen auf den jeweils in der Klammer angeführten Beweismitteln.

Die Feststellungen zu Identität, Staatsangehörigkeit und Geburtsort des Beschwerdeführers stützen sich auf die im Verwaltungsakt erliegende Kopie des vom Beschwerdeführer im Original vorgelegten syrischen Reisepasses. Der Beschwerdeführer legte zudem seine syrische ID Karte im Original, sowie seine Heiratsurkunde in Kopie vor (AS 202 und 227 bis AS 231). Zu beiden Dokumenten ergaben sich entsprechend der Untersuchungsberichte vom 13.09.2021 und 08.01.2022 keine Hinweise auf das Vorliegen einer Verfälschung (AS 229 bis 241, AS 263 f.). Aus den im Verfahren vorgelegten Dokumenten des Beschwerdeführers ergibt sich seine Identität.

Die Feststellungen zur Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit und seinem Familienstand ergeben sich aus seinen nachvollziehbaren Ausführungen vor dem BFA vergleiche Niederschrift vom 31.08.2021, AS 195 f.) und den damit übereinstimmenden Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung am 17.05.2023 (OZ/4). Die Feststellungen zu den Sprachkenntnissen des Beschwerdeführers beruhen auf seinen diesbezüglich glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Erstbefragung, Einvernahme sowie die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht fanden jeweils unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch statt.

Die Feststellungen zur Familie des Beschwerdeführers beruhen auf seinen über das Verfahren hinweg gleichlautenden Angaben (AS 21 f., AS 195 f., OZ/4). Auch die belangte Behörde traf dieselben Feststellungen (AS 289 f.). Aus der vom Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme am 31.08.2021 vorgelegten Heiratsurkunde, ergibt sich die Feststellung, dass der Beschwerdeführer verheiratet ist sowie der Name der Ehefrau des Beschwerdeführers (AS 202 und 227 bis AS 231).

Die Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Syrien beruhen auf seinen detaillierten Ausführungen vor dem BFA vergleiche Niederschrift vom 31.08.2021, AS 195 f.) und den damit übereinstimmenden Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung am 17.05.2023 (OZ/4). Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im Wesentlichen gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln. Auch die belangte Behörde traf dieselben Feststellungen über den Lebenslauf und die familiäre Situation des Beschwerdeführers vergleiche Seite 28 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 316 f.).

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers sind ebenfalls aus seinen Angaben vor dem BFA vergleiche Niederschrift vom 31.08.2021, AS 195 f.) und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht abzuleiten (OZ/4) und stützen sich auf den Umstand, dass keine medizinischen Unterlagen vorgelegt wurden, aus welchen körperliche Beeinträchtigungen, regelmäßige medizinische Behandlungen oder eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit abzuleiten wären. Derartiges wurde vom Beschwerdeführer auch nicht behauptet.

Aus dem Strafregisterauszug vom 04.08.2023 ergibt sich, dass der Beschwerdeführer unbescholten ist.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer Grundversorgung bezieht, ergibt sich aus dem Auszug aus dem Grundversorgungssystem vom 04.08.2023.

2.1.2. Zu den vorgebrachten Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Die Feststellung, wonach das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers, die Stadt Deir ez-Zor in Syrien ist, ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer zwar in der Stadt römisch 40 , in der Provinz römisch 40 in Syrien geboren wurde (AS 201, OZ/4 Seite 5) er aber den überwiegenden Teil seines Lebens, nämlich von 1987 bis 2014 in Deir ez-Zor in Syrien verbrachte (AS 204, 207 OZ/4 Seite 6).

Die Feststellung zur Kontrolle über das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers – die Provinz Deir ez-Zor - ergibt sich aus den aktuellen Länderinformationen sowie einer aktuellen Nachschau unter https://syria.liveuamap.com (Zugriff: 02.08.2023). Die Feststellungen über die Kontrolle des Herkunftsgebietes in der Vergangenheit, ergibt sich aus einer Nachschau unter Exploring Historical Control in Syria (cartercenter.org) (Zugriff 07.08.2023) wo die historische Machtverteilung in einzelnen Gebieten Syriens dargestellt wird.

Der Beschwerdeführer beschrieb bereits in der Einvernahme durch das BFA am 31.08.2021, wer in seiner Herkunftsstadt Deir ez-Zor die Kontrolle hatte. Zuerst war die Regierung an der macht, dann die Freie syrische Armee, danach waren Al Nusra an der Macht, ab 2015 hatte der IS die Kontrolle und seit 2018 die syrische Regierung (AS 207). Die Befürchtung des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in seine Heimatregion deckt sich auch mit den Länderinformationen. Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Deir ez-Zor zu kontrollieren. In Gebieten wie Daraʿa, der Stadt Deir ez-Zor und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihre Macht missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des IS, mit schweren Zerstörungen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren konfrontiert (römisch II.1.2.2.2.).

Aus dem über das Verfahren hinweg gleichbleibenden und glaubhaften Vorbringen ergibt sich die Feststellung zur Tätigkeit des Beschwerdeführers bei dem Ölunternehmen in Syrien und seiner Tätigkeit bei der Ölbohrstelle (AS 219, OZ/4 Seite 9). Der Beschwerdeführer beantwortete glaubhaft und detailreich alle ihm im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit gestellten Fragen vergleiche OZ/4 Seite 9 f.). Der Beschwerdeführer legte in der mündlichen Verhandlung am 17.05.2023 unter anderem drei Beschlüsse der Generaldirektion des syrischen Unternehmens für Erdöl vom römisch 40 , römisch 40 und vom römisch 40 samt Übersetzung ins Deutsche vor (Beilage./A). Daraus ergibt sich die Anstellung des Beschwerdeführers ab dem römisch 40 für dieses. Er wurde zunächst in der Laboranalyse im Labor angestellt, was sich aus dem Beschluss vom römisch 40 ergibt. Aus dem Schreiben vom römisch 40 ergibt sich, dass die Felder römisch 40 zur Direktion der Felder in Hasaka gehören, und der Beschwerdeführer dort angestellt war vergleiche Beilage./A zum Verhandlungsprotokoll vom 17.05.2023, OZ/4). Aus dem Beschluss vom römisch 40 , über seine Anstellung beim syrischen Unternehmen für Erdöl, ergibt sich, dass der Beschwerdeführer mit der Spezialisierung Raffinerien als Techniker für den Arbeitsort Direktion der Felder römisch 40 von der Generaldirektion des syrischen Unternehmens für Erdöl bestellt wurde. Außerdem ergibt sich daraus, dass er über einen Abschluss vom mittleren Institut für Berufe in Zusammenhang mit Erdöl und Mineralien verfügt vergleiche Beilage./A zum Verhandlungsprotokoll vom 17.05.2023, OZ/4).

Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr droht, erneut durch das syrische Regime für die Tätigkeit in den Ölfeldern eingesetzt zu werden, ergibt sich aus seinem glaubhaften Vorbringen und den Länderinformationen. Es ist naheliegend, dass das syrische Regime auf den gut ausgebildeten Beschwerdeführer als Mitarbeiter in den Ölfeldern zurückgreifen würde, wenn sie ihn bei einer Rückkehr nicht inhaftieren, bestrafen oder töten vergleiche dazu unter Punkt römisch II.1.1.2.2.1.).

Die Angaben des Beschwerdeführers über seine Befürchtungen in seiner Herkunftsregion decken sich auch mit den Länderinformationen. Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet. Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle, und Attentate (DIS 29.6.2020). Generell nimmt die Präsenz des IS in Syrien wieder zu, auch in Landesteilen unter Regimekontrolle. IS-Anschläge blieben im Jahr 2021 auf konstant hohem Niveau. Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt weiterhin im Nordosten des Landes. (vgl.II.1.2.2.). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (vgl.II.1.2.2.).

Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass regelmäßig Angriffe auf Ölfelder in Syrien durch verschiedene Kriegsparteien stattfinden. Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze. Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien, die sie als "Operation Claw-Sword" bezeichnet und die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielt, aber auch unter anderem Ölfelder getroffen hat (vgl.II.1.2.2.). Die SDF leiteten mit Unterstützung der internationalen Koalition gegen den IS regelmäßige Sicherheitskampagnen ein, die sich gegen IS-Zellen und Personen richteten, die beschuldigt wurden, mit diesen Zellen zu verkehren. Im Nordosten, aber auch in anderen Teilen des Landes, verlegt sich der IS verstärkt auf Methoden der asymmetrischen Kriegsführung. Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee und Einrichtungen der Selbstverwaltung. Es wurde auch von Angriffen auf Mitarbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zor berichtet (AM 29.12.2021, vergleiche römisch II.1.2.2.1.).

Aus den Länderinformationen ergeben sich somit konkrete Angriffe auf Mitarbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zor durch Mitglieder des IS. Dies ist der belangten Behörde entgegenzuhalten, wenn sie argumentiert, die Ölfelder seien derzeit alle unter der Kontrolle der syrischen Regierung und der kurdischen Miliz, das Vorbringen des Beschwerdeführers, es gebe Angriffe auf diese, sei kein Fluchtgrund, da diese Angriffe die Erlangung der Kontrolle über die Bohranlagen zum Ziel hätten und nicht konkret gegen bestimmte Personen gerichtet seien und die syrische Regierung sei im Stande die Bohranlagen gegen militärische Angriffe zu schützen (Seite 118 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 406).

Es ergibt sich aus den Länderinformationen, dass die Bedrohung durch den IS gegenüber dem Beschwerdeführer aktuell ist. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun. Es sind zudem Berichte über zunehmende Anschläge in Regimegebieten, insbesondere der zentralsyrischen Wüsten- und Bergregion, in Hama und Homs, bekannt geworden. Der IS verfügt weiter über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien, bleibt damit als asymmetrischer Akteur präsent, baut Untergrundstrukturen aus und erreicht damit sogar erneut temporäre und punktuelle Gebietskontrolle (vgl.II.1.2.2.).

Es ergibt sich aus den Länderinformationen, dass dem Beschwerdeführer als Mitarbeiter bei einem Ölfeld in Syrien konkrete Gefahr durch verschiedene Kriegsparteien und den IS droht.

2.1.2.1. Zur Verfolgung durch den IS:

Bereits in der Erstbefragung am 26.05.2021 gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt an, 2014 sei der IS in Deir ez-Zor eingestürmt. Die Al-Nusra Partei habe vom Beschwerdeführer verlangt zu kooperieren um illegal ÖL zu liefern, da er in den Erdölfeldern gearbeitet habe. Bis zum heutigen Tag würden die Felder von den IS gestürmt. Der Beschwerdeführer sei auch wegen des Krieges geflohen und weil es keine Sicherheit gebe. Bei einer Rückkehr habe er Angst, weil man von ihm verlange, dass er seine Arbeit in dieser unsicheren Gegend wiederaufnehme (AS 31).

In der Einvernahme vor dem BFA am 31.08.2021 brachte der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund vor, es gebe eine große Wüste in der Nähe seines Herkunftsgebietes und es habe dort Konflikte zwischen dem IS und dem syrischen Regime gegeben. 2015 sei der Beschwerdeführer von Mitgliedern des IS gefragt worden ob er mit ihnen zusammenarbeite, weil er bei einer Ölquelle gearbeitet habe. Der Beschwerdeführer habe daraufhin, weil er dies nicht gewollt habe, Syrien verlassen und sei in den Libanon ausgereist vergleiche AS 209). Der IS habe den Beschwerdeführer für eine Zusammenarbeit bei einer Bohrstelle in Deir Ez-Zor namens römisch 40 angesprochen (AS 219).

Bereits bei der Einvernahme vor dem BFA beschrieb der Beschwerdeführer genau, wie er von einem IS Mitglied angesprochen worden sei. Der Beschwerdeführer solle durch seine Arbeit bei der Ölquelle am neuen Syrien teilhaben und das Land stark und das Wort Gottes mächtig machen vergleiche AS 209 f.). Er konnte die Worte wiedergeben mit welchen er zunächst freundlich vom IS Mitglied zu einer Zusammenarbeit angesprochen worden sei. Bereits bei der Einvernahme gab der Beschwerdeführer an, die IS Mitglieder seien zu ihm nach Hause gekommen. Es sei ihm angeboten worden gegen gutes Geld und ein Auto für sie zu arbeiten vergleiche AS 209). Diese Nachfrage würde zuerst freundlich stattfinden, würde man die Zusammenarbeit mit dem IS aber verneinen seien sie nicht mehr freundlich, weshalb der Beschwerdeführer nach einem oder zwei Tage in den Libanon geflüchtet sei vergleiche AS 209).

Der Beschwerdeführer schilderte bereits in der Einvernahme durch das BFA die Bedrohung, die ihn bei einer Rückkehr vom IS erwarte, detailreich und glaubhaft. Die Arbeit des Beschwerdeführers bei dem Ölfeld liege in der Wüste wo zwar das syrische Regime die Kontrolle habe, es aber immer noch Konflikte zwischen der Regierung und dem IS gebe. Der IS sei nach wie vor in der Wüste und bei Ölquellen anwesend. Im Jahr 2019 sei eine Ölquelle durch den IS angegriffen worden, Personen als Geisel genommen und weitere Personen angezündet worden vergleiche AS 210).

Mit Schreiben vom 03.01.2022 brachte der Beschwerdeführer vor, es hätten sich weitere tödliche Angriffe des IS in den Ölfeldern in denen er gearbeitet habe, ereignet, zuletzt am 20.11.2021. Elf Personen, die meisten davon Kollegen des Beschwerdeführers die er auch persönlich gekannt habe, seien dabei ermordet worden. Der Beschwerdeführer legte mit dem Schreiben vier Facebook Links zu Berichten über die Attacken vor (AS 261).

Das BFA stellte im angefochtenen Bescheid fest, der Beschwerdeführer werde nicht vom IS verfolgt. Er habe Syrien aufgrund der Bürgerkriegssituation und der dort herrschenden schlechten Sicherheitslage verlassen. Er habe keine Verfolgung im Sinne der GFK vorgebracht vergleiche Seite 28 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 316). In der Beweiswürdigung argumentiert das BFA, dass die Aufforderung zur Zusammenarbeit seitens des IS, der zu diesem Zeitpunkt die Kontrolle über die Region hatte, alleine keine Verfolgung aus einem GFK Grund indiziere. Wie der Beschwerdeführer selbst angegeben habe, sei ihm für die Zusammenarbeit Geld und ein Auto angeboten worden. Er sei weder bedroht worden, noch sei eine individuelle Verfolgung gegen seine Person erfolgt. Die Aufforderung zur Zusammenarbeit habe somit zu keiner Verfolgungssituation geführt. Das BFA argumentiert es sei zwar glaubhaft, dass es zu einer Verfolgungssituation gekommen wäre, hätte der Beschwerdeführer mit der Miliz (IS) nicht zusammengearbeitet, jedoch habe er sich durch seine Ausreise nach Libanon im Jahr 2015 der Gefahr einer solchen Verfolgungssituation entzogen (Seite 117 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 405). Wobei die belangte Behörde ihrerseits wiederum argumentiert, der Beschwerdeführer habe angegeben, er sei in den Libanon ausgereist um dort zu arbeiten. Auch die Angaben bezüglich des Kontaktes durch die Miliz seien widersprüchlich gewesen (Seite 117 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 405). Die Gefahr einer Verfolgung durch den IS bestehe nicht, da dieser keine Kontrolle mehr über die Heimatregion des Beschwerdeführers und die in Zentralsyrien gelegenen Ölfelder ausübe (Seite 118 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 406).

In der mündlichen Verhandlung schilderte der Beschwerdeführer detailliert und glaubhaft, er sei von Mitgliedern des IS angesprochen worden, dass er mit ihnen in Sachen Energie zusammenarbeiten soll: römisch 40 (OZ/4 Seite 8). Zudem beschrieb der Beschwerdeführer glaubhaft, dass nicht nur er sondern auch andere Kollegen zur Zusammenarbeit mit dem IS aufgefordert worden seien vergleiche OZ/4 Seite 11). Der Beschwerdeführer schilderte in der mündlichen Verhandlung detailliert wie versucht wurde, ihn zur Zusammenarbeit mit dem IS zu bewegen vergleiche OZ/4 Seite 10 f.): römisch 40 Hierbei schilderte der Beschwerdeführer glaubhaft und in Übereinstimmung mit seinem bisherigen Vorbringen vor dem BFA, wie er durch Mitglieder des IS angesprochen worden sei. Auch in der mündlichen Verhandlung schilderte er, er habe bereits nach dem zweiten Mal nachdem er von ihnen angesprochen worden sei, den Entschluss getroffen, in den Libanon zu reisen vergleiche OZ/4 Seite 10). Es ist somit insgesamt glaubhaft, dass der Beschwerdeführer vom IS zur Zusammenarbeit aufgefordert worden ist und weil er nicht mit diesen zusammenarbeiten wollte, das Land verlassen hat.

Die Angaben des Beschwerdeführers über seine Befürchtungen betreffend den IS in seiner Herkunftsregion decken sich auch mit den Länderinformationen. Da der Beschwerdeführer, dadurch, dass er die Kooperation mit dem IS 2015 verweigerte, als mit dessen Gegnern, nämlich der syrischen Regierung, kooperierend wahrgenommen wird, droht ihm Verfolgung.

Entsprechend der Länderinformationen ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter vergleiche römisch II.1.2.5.). Das Vorbringen des Beschwerdeführers war insgesamt somit glaubhaft.

2.1.2.2. Zur Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund oppositioneller Gesinnung

2.1.2.2.1. Zur Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund seiner Weigerung für dieses weiterzuarbeiten:

Bereits in der Erstbefragung am 26.05.2021 gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt an, er habe in den Erdölfeldern gearbeitet. Bis zum heutigen Tag würden die Felder von den IS gestürmt und der Beschwerdeführer sei auch wegen des Krieges geflohen und weil es keine Sicherheit gebe. Bei einer Rückkehr habe er Angst, weil man von ihm verlange, dass er seine Arbeit in dieser unsicheren Gegend wiederaufnehme (AS 31).

In der mündlichen Verhandlung schilderte der Beschwerdeführer detailliert und glaubhaft, die syrische Regierung habe 2017 die Kontrolle über Deir ez-Zor erlangt und man habe den Beschwerdeführer und seine Kollegen gebeten, wieder zurückzukommen um die Arbeit wiederaufzunehmen: römisch 40 (OZ/4 Seite 8). Einige Kollegen hätten ein Urteil bekommen, andere Kollegen seien zurückgekehrt um wieder dort zu arbeiten (OZ/4 Seite 8). Der Beschwerdeführer schilderte in der Verhandlung glaubhaft, dass die Ölfelder mitten in der Wüste und nicht gesichert seien und deshalb ständig unter Angriff von iranischen Milizen und vereinzelten Gruppierungen des IS stünden. Erst vor sechs Monaten seien Personen, die er gekannt habe, dort umgekommen vergleiche OZ/4 Seite 8 vergleiche dazu auch bereits die oben zitierten Länderfeststellungen unter Punkt römisch II.2.1.2.).

Bereits in der Einvernahme vor dem BFA am 31.08.2021 brachte der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund vor, er habe Syrien verlassen, weil momentan die Regierung die Kontrolle über sein Herkunftsgebiet habe. Es gebe eine große Wüste und es habe dort Konflikte zwischen dem IS und dem syrischen Regime gegeben. 2015 sei der Beschwerdeführer in den Libanon ausgereist. Auch bei der Rückreise vom Libanon nach Syrien habe er illegal einreisen müssen, damit er keine Probleme bekomme vergleiche AS 209).

Die belangte Behörde stellte fest, der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung im Sinne der GFK vorgebracht vergleiche Seite 28 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 316 f.). Der Beschwerdeführer brachte in der mündlichen Verhandlung am 17.05.2023 glaubhaft vor, dass er Bedrohung durch das syrische Regime befürchte. Dies weil er 2015 ausgereist sei, und als das syrische Regime 2017 Deir ez-Zor wieder unter seine Herrschaft brachte, darunter auch die Ölfelder, nicht wieder zu arbeiten begonnen habe vergleiche OZ/4 Seite 10). Er befürchte eine Verurteilung, weil er seine Arbeit unerlaubterweise nicht weitergeführt habe: römisch 40 (OZ/4 Seite 10). Er habe von Kollegen und dem Kontakt mit Freunden gehört, dass alle die nicht zurückkehrten ein Urteil des Wirtschaftsgerichtes erhielten vergleiche OZ/4 Seite 11). Der Beschwerdeführer befürchtet im Falle einer Rückkehr erwarte ihn entweder ein Gerichtsverfahren oder ein Gerichtsurteil des Wirtschaftsgerichts, wobei die Strafen sowohl finanziell seien, als auch Haft enthalten würden vergleiche OZ/4 Seite 11 und 12).

Das Vorbringen des Beschwerdeführers stellt sich insgesamt, auch in Anbetracht der Länderinformationen als glaubhaft dar vergleiche römisch II.1.2.).

2.1.2.2.2. Zur Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund seiner Familienangehörigkeit zu mehreren Deserteuren:

Der Beschwerdeführer brachte in der Einvernahme vor dem BFA am 31.08.2021 nachgefragt vor, drei seiner fünf Brüder hätten den Militärdienst in Syrien nicht abgeleistet. Alle drei seien aufgrund des drohenden Militärdienstes, und weil sie diesen nicht abgeleistet hätten, aus Syrien geflohen vergleiche AS 211).

Auch in der mündlichen Verhandlung erstattete der Beschwerdeführer glaubhaft gleichlautendes Vorbringen und schilderte, wer von seinen Familienmitgliedern Syrien als Deserteure aufgrund drohender Zwangsrekrutierung verlassen habe vergleiche OZ/4 Seite 9). Der Beschwerdeführer verließ Syrien illegal mit zwei Familienangehörigen im wehrfähigen Alter. Zudem flüchteten zwei weitere Brüder des Beschwerdeführers als Deserteure aus Syrien aufgrund einer drohenden Zwangsrekrutierung. Sie befanden sich im wehrpflichtigen Alter. Die Feststellungen betreffend die Familienangehörigkeit des Beschwerdeführers zu Deserteuren ergibt sich somit aus dem widerspruchsfreien und gleichlautenden und somit glaubhaften Vorbringen des Beschwerdeführers über das Verfahren hinweg (AS 215 und OZ/4 Seite 9).

Mit Schreiben vom 19.05.2023 legte der Beschwerdeführer den Bescheid vom 04.01.2022 des BFA vor, mit welchem dem Asylantrag des Bruders des Beschwerdeführers römisch 40 vom 25.05.2021 stattgegeben und dem Bruder der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde (OZ/5).

Die Bedrohung gegenüber dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Familienzugehörigkeit zu mehreren Deserteuren ergibt sich aus den aktuellen Länderinformationen. Personen, die als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Auch Kollektivhaft von Angehörigen - auch Kindern - oder Nachbarn ist dokumentiert, fallweise auch wegen als regimefeindlich geltenden Personen im Ausland (vgl.II.1.2.5.).

2.1.2.2.3. Zur drohenden Zwangsrekrutierung als Reservist in der syrischen Armee:

In der Beschwerde brachte der Beschwerdeführer vor, er befürchte eine Zwangsrekrutierung als Reservist sowie eine Verfolgung und Bedrohung durch das syrische Regime aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung. Auch wegen seiner illegalen Ausreise müsse er bei einer Rückkehr mit Verfolgungshandlungen als Deserteur rechnen. Der Beschwerdeführer stamme aus Deir ez-Zor, einem stark umkämpften Gebiet, in dem immer wieder die Opposition herrsche und in dem der IS aktiv sei. Er befürchte auch von Seiten der oppositionellen Einheiten eine Zwangsrekrutierung (AS 422 f.; Seite 2 f. der Beschwerde).

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer seinen Militärdienst bereits ableistete, ergibt sich einerseits aus seinen Angaben in der Einvernahme vor dem BFA (AS 195 f.) sowie aus den damit übereinstimmenden Angaben in der mündlichen Verhandlung vergleiche OZ/4 Seite 8). Der Beschwerdeführer brachte in der Einvernahme vor dem BFA am 31.08.2021 vor, es bestehe für ihn die Möglichkeit als Reservist der syrischen Armee zum Militärdienst eingezogen zu werden vergleiche AS 210). Nachgefragt ob er jemals eine Aufforderung zur Ableistung des Militärdienstes als Reservist erhalten habe, gab er in der Einvernahme an, das wisse er nicht vergleiche AS 211). Er sei wegen den Grenzkontrollen illegal nach Syrien wieder eingereist, weil er nicht gewusst habe, ob er wegen dem Militärdienst in Syrien gesucht werde vergleiche AS 212).

Die belangte Behörde würdigte das vom Beschwerdeführer am 26.11.2021 beim BFA im Original vorgelegte syrische Militärbuch (AS 314) und stellte im angefochtenen Bescheid fest, dass der Beschwerdeführer als Reservist der syrischen Streitkräfte registriert sei (AS 315). Die Feststellung basiert auf dem Bescheid, dem diesbezüglich in der Beschwerde nicht entgegengetreten wurde.

Die belangte Behörde stellte fest, der Beschwerdeführer sei weder von der syrischen Armee noch von einer anderen Kriegspartei zum Ableisten des Militärdienstes als Reservist bzw. zum Kämpfen aufgefordert worden vergleiche Seite 28 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 316 f.). Es sei nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer von den syrischen Streitkräften als Reservist rekrutiert werden könne. Er sei aufgrund seines Alters bereits zu alt, da er die Altersgrenze bereits überschritten habe und über keine besondere berufliche oder militärische Qualifikation verfüge (Seite 118 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 406).

In Syrien besteht ein verpflichtender Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Syrische männliche Staatsangehörige können bis zum Alter von 42 Jahren und in Einzelfällen bei vorhandenem militärischen Spezialwissen bis zum Alter von über 50 Jahren zum Wehrdienst eingezogen werden.

Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer keine Einziehung zum Reservedienst droht ergibt sich daraus, dass er bereits über 42 Jahre alt ist und über kein militärisches Spezialwissen verfügt. Er erhielt die normale Soldatenausbildung und dann noch eine Ausbildung zum Rechnungsführer, da er als Rechnungsführer in einer Benzinstation während seines Militärdienstes tätig war vergleiche OZ/4 Seite 8). Ein militärisches Spezialwissen stellt dies nicht dar.

Es ist festzuhalten, dass es für eine Bedrohung oder Verfolgung durch das syrische Regime nicht (unbedingt) darauf ankommt, ob eine Einberufung zum Militärdienst vor der Ausreise bereits erfolgt ist, ob eine behördliche Suche (wegen des Militärdienstes) bereits (vor der Ausreise) stattgefunden hat oder ob die Ausreise legal erfolgen konnte, sondern vielmehr darauf, mit welcher Wahrscheinlichkeit von einem Einsatz beim Militär (im Falle einer nunmehrigen Rückkehr/Wiedereinreise in den Herkunftsstaat) auszugehen ist, was anhand der Situation (hinsichtlich der Einberufung zum Militärdienst) im Herkunftsstaat und anhand des Profils der betroffenen Person zu beurteilen ist. Aus den Länderfeststellungen zu den Voraussetzungen/Kriterien einer Wehrdiensteinberufung in Syrien und dem persönlichen Profil des Beschwerdeführers ergibt sich, dass eine Person, ohne diesen formellen Voraussetzungen, in Syrien trotz des dortigen innerstaatlichen Konfliktes und des Mangels an Soldaten nicht mit erheblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, zum Militärdienst als Reservist eingezogen zu werden.

2.1.2.3. Zur vorgebrachten Bedrohung bei einer Rückkehr:

Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime und/ oder Mitgliedern des IS ausgesetzt zu sein.

In der Verhandlung schilderte der Beschwerdeführer glaubhaft, welche Bedrohung er bei einer Rückkehr befürchtet: römisch 40 (OZ/4 Seite 12).

Dem Argument des BFA, die Frau, Kinder und ein Bruder des Beschwerdeführers würden sich in Syrien aufhalten weshalb nicht von einer Verfolgung des Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr auszugehen sei (Seite 119 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 407) ist entgegen zu halten, dass der Beschwerdeführer mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr an der Grenzkontrolle durch das syrische Regime angehalten und der erläuterten Bedrohung ausgesetzt wäre. Zudem brachte der Beschwerdeführer in der Verhandlung glaubhaft vor, seine Ehefrau und Kinder sowie seine Eltern würden in Syrien leben, aber durch die Regierung werde übelicherweise an jenem Ort nach jemandem gesucht, wo dieser gemeldet sei. Seine Familie befinde sich in Damaskus, gemeldet sei er aber noch in Deir ez-Zor wo er sich die überwiegende Zeit seines Lebens aufgehalten hat und wo sein Herkunftsgebiet ist. In Deir ez-Zor habe er keine Familie mehr, weshalb er nicht wisse ob dort nach ihm oder seinen Brüdern (die Syrien als Deserteure verlassen haben) gesucht wurde vergleiche OZ/4 Seite 12).

Der Beschwerdeführer lehnte die Zusammenarbeit mit den bewaffneten Gruppierungen des IS im Jahr 2014 und seine Weiterarbeit für das syrische Regime im Jahr 2017 ab. Für den Beschwerdeführer besteht daher im Fall seiner Rückkehr eine Verfolgungsgefahr, weil die syrische Regierung seine Flucht sowie seine Asylantragstellung im Ausland als Ausdruck politischen Dissens sieht. Zudem reiste der Beschwerdeführer gemeinsam mit mehreren Deserteuren aus seiner Familie aus und weigerte sich 2017 zurückzukehren um für das syrische Regime in den Ölfeldern weiterzuarbeiten.

Vor dem Hintergrund der vorliegenden Länderberichte besteht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die reale Gefahr, dass der Beschwerdeführer bei einer möglichen Rückkehr in die Heimat in das Blickfeld der syrischen Behörden gerät und ihm in weiterer Folge asylrelevante Verfolgung droht. Festgestellt wurde daher, dass dem Beschwerdeführer in Syrien bei einer Rückkehr die reale Gefahr droht, wegen seiner illegalen Ausreise in Verbindung mit seiner Familienzugehörigkeit und seiner Weigerung weiterhin für die Regierung in den Ölfeldern zu arbeiten, von der syrischen Regierung aufgrund von unterstellter oppositioneller Gesinnung verfolgt zu werden vergleiche römisch II.1.2.2., 1.2.3. und 1.2.5.).

Den Länderfeststellungen ist in diesem Zusammenhang zu entnehmen, dass aufgrund der besonderen Situation in Syrien die Schwelle dafür, von Seiten des syrischen Regimes als „oppositionell“ betrachtet zu werden, relativ niedrig ist und vor allem Personen einer oppositionellen Gesinnung bzw. einer Regimegegnerschaft verdächtigt werden, die während des staatlichen Ausnahmezustandes ihre Heimat verlassen und im Ausland einen Asylantrag gestellt haben. Auch ergibt sich aus den Länderfeststellungen, dass eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts der Umstand ist, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen.

Vor allem ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass es für eine Bedrohung oder Verfolgung durch das syrische Regime nicht (unbedingt) darauf ankommt, ob eine behördliche Suche bereits vor der Ausreise stattgefunden hat oder ob die Ausreise legal erfolgen konnte, sondern vielmehr darauf, mit welcher Wahrscheinlichkeit von einer behördlichen Verfolgung im Falle einer Rückkehr/Wiedereinreise in den Herkunftsstaat auszugehen ist, was anhand der Situation im Herkunftsstaat und anhand des Profils der betroffenen Person zu beurteilen ist vergleiche römisch II.1.2.3. und 1.2.7.).

In Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Länderinformationen vergleiche römisch II.1.2.2., 1.2.3., 1.2.6.) ergibt sich die glaubhafte Bedrohung des Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr durch das syrische Regime.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr außerdem Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch Mitglieder des IS. Diese würden den Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür bestrafen, dass er nach zweimaliger Aufforderung nicht mit ihnen zusammenarbeiten wollte, sondern aus dem Land geflohen ist.

Der Beschwerdeführer weigerte sich 2015 mit dem IS zusammenzuarbeiten und 2017 für die syrische Regierung weiterzuarbeiten und er kommt aus dem umkämpften Gebiet Deir ez-Zor. Zudem hat er mehrere Familienmitglieder die das Land als Deserteure verlassen haben. Aufgrund dessen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr durch das syrische Regime eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und er verhaftet wird. Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass es im syrischen Bürgerkrieg zu - durch staatliche Stellen zu verantwortende - Menschenrechtsverletzungen kommt. Auch eine Bestrafung durch Mitglieder des IS ist sehr wahrscheinlich. Mitglieder aller Konfliktparteien in Syrien haben schwere Verletzungen im Bereich Menschenrechte und humanitäres Recht begangen vergleiche römisch II.1.2.2.). Die Rückkehrbefürchtung des Beschwerdeführers stellt sich vor dem Hintergrund der dem gegenständlichen Verfahren zugrunde gelegten Länderfeststellungen daher insgesamt als glaubhaft dar vergleiche römisch II.1.2.2., 1.2.3. und 1.2.6.).

Dass eine hinsichtlich des Reiseweges zumutbare und legale Rückkehr nach Syrien nur über den Flughafen in Damaskus möglich ist, der sich in der Hand der Regierung befindet, und dass einreisende Personen im Falle einer Abschiebung oder einer Rückkehr ohne Reisedokumente einer intensiven Überprüfung unterzogen werden, ergibt sich aus den Länderberichten vergleiche römisch II.1.2.6.).

Es ergibt sich aus den Länderberichten (LIB vom 29.12.2022), dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr derzeit Gefahr droht, sodass seine begründete Furcht vor Verfolgung auch aktuell ist. Auch dem aktuellen LIB vom 17.07.2023, Version 9, ist eine Bedrohung des Beschwerdeführers unverändert zu entnehmen.

Das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist für den Beschwerdeführer nicht gegeben, da er über Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints in ganz Syrien, vor allem bei einer Einreise, durch das syrische Regime verhaftet werden kann vergleiche dazu die spezifischen Länderfeststellungen zur Situation in Syrien oben Punkt römisch II.1.2. sowie die rechtliche Beurteilung unter römisch II.3.1.2.5.).

Insgesamt entstand bei dem erkennenden Richter sohin nicht der Eindruck, es könnte sich bei den unmittelbar die Flucht auslösenden Ereignissen und der Bedrohung des Beschwerdeführers selbst, um eine einstudierte Fluchtgeschichte handeln. Das Fluchtvorbringen war daher aus den soeben angestellten Erwägungen insgesamt ausreichend substantiiert und schlüssig und hat sich auch vor dem Hintergrund der in den Länderfeststellungen zu Syrien enthaltenen Ausführungen vergleiche römisch II.1.2.) als nachvollziehbar und plausibel erwiesen.

2.2. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen vergleiche oben römisch II.1.2.), insbesondere auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, aus dem Country of Origin - Content Management System (COI-CMS) - Syrien, Version 8 vom 29.12.2022 und auf die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen; 6. aktualisierte Fassung, März 2021. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.

Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums (insbesondere das LIB Version 8 vom 29.12.2022) zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben. Insbesondere zu beachten ist, dass eine aktualisierte Fassung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Syrien vom 17.07.2023, Version 9, vorliegt. Es ergeben sich aus diesen Berichten jedoch keine geänderten Umstände für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation, vor allem lässt sich keine Verbesserung der Sicherheitslage in Syrien erkennen, und auch die Gefahr aufgrund der festgestellten Fluchtgründe des Beschwerdeführers finden in der neuen Version des Länderinformationsblattes ihre Deckung.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zu A) Stattgabe der Beschwerde:

Die vorliegende Beschwerde ist rechtzeitig und zulässig, sie richtet sich gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022 (Nichterteilung des Status der Asylberechtigten).

3.1.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge Bundesgesetzblatt 55 aus 1955, (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge GFK) droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, Statusrichtlinie [RL 2011/95/EU] verweist.).

Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG 2005) gesetzt hat.

Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrages auf internationalen Schutz der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK (in der Fassung des Artikel eins, Absatz 2, des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge Bundesgesetzblatt 78 aus 1974,) – deren Bestimmungen gemäß Paragraph 74, AsylG 2005 unberührt bleiben – ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen, oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt des Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (VwGH 09.03.1999, 98/01/0370; 19.12.2007, 2006/20/0771).

Aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ergibt sich zur Verfolgung (VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182): „Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (Hinweis E vom 24. März 2011, 2008/23/1443, mwN). Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005 umschreibt ‚Verfolgung' als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Artikel 9, Statusrichtlinie, worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15, Absatz 2, MRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Artikel 2, MRK geschützte Recht auf Leben und das in Artikel 3, MRK niedergelegte Verbot der Folter."

Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Für eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; 16.02.2000, 99/01/0097), sondern erfordert eine Prognose. Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können jedoch im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).

Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen vergleiche Artikel 9, Absatz eins, der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen vergleiche VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).

Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht. Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht vergleiche VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).

Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung ist auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden VwG vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom VwG nicht getroffen werden vergleiche VwGH 13.01.2022, Ra 2021/14/0386, mwN).

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. – des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste vergleiche VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).

Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233). Die Verfolgungsgefahr muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (VwGH 27.01.2000, 99/20/0519). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 23.07.1999, 99/20/0208; 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 17.09.2003, 2001/20/0177; 28.10.2009, 2006/01/0793) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Von mangelnder Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht – unter dem Fehlen einer solchen ist nicht „zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht“ (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) –, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law² [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 20.09.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203).

Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat „nicht gewillt oder nicht in der Lage“ sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen vergleiche VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren vergleiche VwGH 10.04.2020, Ra 2019/19/0415, mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof hat auch ausgesprochen, dass die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden grundsätzlich daran zu messen ist, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben vergleiche VwGH 14.04.2021, Ra 2020/18/0126, mwN).

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (zB VwGH 24.03.1999, 98/01/0352 mwN; 15.03.2001, 99/20/0036). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwSlg. 16.482 A/2004). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „internen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwSlg. 16.482 A/2004) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, 29.03.2001, 2000/20/0539; 17.03.2009, 2007/19/0459).

Aufgrund der oben im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellten Erwägungen vergleiche Pkt. römisch II.2.1.2.) ist es dem Beschwerdeführer gelungen, eine ihm drohende Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft zu machen:

3.1.2. Zur vorgebrachten Bedrohung:

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt vor dem Hintergrund der oben festgestellten Berichtslage zur Situation in Syrien, dass der Beschwerdeführer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist. Der im Beschwerdefall festgestellte Sachverhalt lässt erkennen, dass die behauptete Furcht des Beschwerdeführers begründet ist.

Im gegenständlichen Fall handelt es sich bei der gegenüber dem Beschwerdeführer bestehenden Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK um eine solche aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung sowie aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, nämlich jener der Familie.

3.1.2.1. Zur Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch das syrische Regime und den IS:

Es ist zu erwarten, dass der Beschwerdeführer als in Opposition zum syrischen Regime und dem IS stehend angesehen wird bzw. dass ihm eine solche Gesinnung zumindest jeweils unterstellt wird. Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund ist somit jedenfalls gegeben, da der Grund für die Verfolgung des Beschwerdeführers wesentlich in der ihm zugeschriebenen oppositionellen politischen Gesinnung zu sehen ist.

Für das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr ist es im Übrigen nicht maßgeblich, ob der Asylwerber wegen einer von ihm tatsächlich vertretenen oppositionellen Gesinnung verfolgt wird. Es reicht aus, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist, oder dass eine Strafe für ein Delikt so unverhältnismäßig hoch festgelegt wird, dass die Strafe nicht mehr als Maßnahme einzustufen wäre, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dient vergleiche VwGH 06.05.2004, 2002/20/0156). Davon, dass es sich bei den drohenden Repressalien um Maßnahmen zum Schutz legitimer Interessen des Staates handelt, kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden.

Das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers Deir Ez-Zor in Syrien wurde ab Sommer 2014 vom IS erobert, der ab Jänner 2015 die Kontrolle über das Gebiet hatte. Im Herbst 2017 erkämpfte sich die syrische Regierung große Teile der Provinz zurück und teilt sich seit Jänner 2018 gemeinsam mit den Kurden die Kontrolle in der Provinz.

Der Beschwerdeführer arbeitete in Syrien beim staatlichen Unternehmen für Energie, welches dem Energieministerium unterstellt ist. Er arbeitete als Produktionssupervisor der syrischen Ölgesellschaft in Nordsyrien und war für Ölfelder in Deir ez-Zor zuständig.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr erneut durch das syrische Regime für die Tätigkeit in den Ölfeldern eingesetzt zu werden. Bei dieser Tätigkeit in den Ölfeldern droht ihm Verfolgung. Es ergibt sich aus den Länderinformationen, dass dem Beschwerdeführer als Mitarbeiter bei einem Ölfeld in Syrien konkrete Gefahr durch verschiedene Kriegsparteien und den IS droht. Es finden regelmäßig Angriffe auf Ölfelder in Syrien durch verschiedene Kriegsparteien statt. Hierbei werden die Mitarbeiter an den Ölfeldern gezielt ermordet.

3.1.2.1.a. Zur Verfolgung durch den IS:

Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2015 von Anhängern des IS aufgefordert, er solle mit ihnen in seiner Position als Produktionssupervisor in den Ölfeldern in Deir ez-Zor zusammenarbeiten. Der Beschwerdeführer wurde hierzu persönlich von Mitgliedern des IS mehrmals angesprochen. Er verweigerte die Zusammenarbeit mit dem IS und floh 2015 in den Libanon.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch Mitglieder des IS, aufgrund seiner Weigerung mit diesen zusammenzuarbeiten.

3.1.2.1.b. Zur Verfolgung durch das syrische Regime:

Bei einer Rückkehr droht dem Beschwerdeführer Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund unterstellter oppositionellen Gesinnung.

Der Beschwerdeführer weigerte sich nach der Rückeroberung der Region Deir ez-Zor im Jahr 2017 durch das syrische Regime wieder für dieses in seiner vorigen Position als Produktionssupervisor in den Ölfeldern zu arbeiten. Er blieb im Libanon aus Angst bei seiner Tätigkeit umzukommen. Kollegen des Beschwerdeführers sind bei der Arbeit in den Ölfeldern durch Angriffe gestorben.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch das syrische Regime aufgrund seiner Weigerung weiterhin für dieses zu arbeiten.

Wie sich aus den Feststellungen und der Beweiswürdigung ergibt, läuft der Beschwerdeführer Gefahr, von der syrischen Regierung als (vermeintlich) in Opposition zu dieser stehend angesehen und verfolgt zu werden. Da (politische) Gegner vom syrischen Machthaber mit allen Mitteln unterdrückt und bekämpft werden, hat der Beschwerdeführer, da ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkein eine Gegnerschaft dem Regime gegenüber zugeschrieben wird, in Syrien eine unverhältnismäßige „Behandlung“ durch den Machthaber zu befürchten.

Auch eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen - aus Sicht dieses Machthabers - rechtswidriger und/oder illoyaler Verhaltensweisen des Beschwerdeführers stellt im konkreten Fall eine Verfolgung im Sinn der GFK dar, die in Zusammenhang mit der tatsächlichen oder unterstellten politischen Gesinnung des Beschwerdeführers steht. Es liegt daher eine Verfolgung wegen der dem Beschwerdeführer zugeschriebenen oppositionellen Einstellung und damit anknüpfend an den Konventionsgrund der politischen Gesinnung vor. Dass bei den dem Beschwerdeführer drohenden gravierenden Menschenrechtsverletzungen (etwa „Verschwindenlassen“ bis hin zu Folter/Tötung, aber auch Entzug/Vereitelung einer Existenzgrundlage) die Intensität der Verfolgungshandlung zu bejahen ist, bedarf keiner weiteren Erörterung. Die für die Asylanerkennung geforderte „maßgebliche Wahrscheinlichkeit“ der Verfolgung im Sinn der oben angeführten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes liegt vor. Es besteht ein erhebliches Verfolgungsrisiko im Hinblick auf die persönliche Sicherheit und physische Integrität des Beschwerdeführers durch das syrische Regime. Das glaubwürdige Vorbringen des Beschwerdeführers ist angesichts der aktuellen Verhältnisse im Herkunftsstaat zur Darlegung einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung bzw. der Verfolgungsgefahr jedenfalls geeignet, da sich daraus konkrete, überzeugende Hinweise ergeben, dass er mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit aus den dargelegten Gründen von Verfolgungshandlungen im Herkunftsstaat betroffen ist. Die im Entscheidungszeitpunkt zu erstellende Prognose über die Situation des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat ergibt, dass er gegenwärtig mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen erheblicher Intensität in Syrien rechnen muss.

3.1.2.2. Zur Verfolgung wegen der Familienangehörigkeit:

Der Beschwerdeführer ist Familienangehöriger mehrerer Deserteure die Syrien aufgrund drohender Zwangsrekrutierung im wehrfähigen Alter verlassen haben.

Nur die zwei älteren Brüder des Beschwerdeführers leisteten den Militärdienst in Syrien ab. Die drei jüngeren Brüder des Beschwerdeführers und sein Cousin leisteten den Militärdienst nicht ab. Sie verließen das Land, weil ihre Wehrdienstzeit genau zur Zeit des Krieges gewesen wäre. Der Beschwerdeführer verließ Syrien illegal mit zwei Familienangehörigen im wehrfähigen Alter. Zudem flüchteten zwei weitere Brüder des Beschwerdeführers als Deserteure aus Syrien aufgrund einer drohenden Zwangsrekrutierung. Sie befanden sich im wehrpflichtigen Alter.

Dem Beschwerdeführer droht Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund seiner Familienangehörigkeit zu seinen Brüdern und seinem Cousin, die Syrien als Deserteure aufgrund des Krieges verlassen haben. Es ist mit entsprechend hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Familienmitglieder des Beschwerdeführers in Syrien als Deserteure angesehen werden und bereits in den Fokus der syrischen Behörden geraten sind. Dem Beschwerdeführer droht aufgrund seiner Familienzugehörigkeit Verfolgung.

Der Asylgrund kann hierbei in der Angehörigeneigenschaft zu den Brüdern und dem Cousin gesehen werden, die als Deserteure das Land verlassen haben. Der Beschwerdeführer ist somit wegen seiner Familienmitglieder unter dem Blickwinkel des Konventionsgrundes der „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe", nämlich jener der „Familie“, mit asylrelevanter Verfolgung bedroht (zur Familie als soziale Gruppe vergleiche VwGH 14.01.2003, Ziffer 2001 /, 01 /, 0508,). Die drohende Inanspruchnahme des Beschwerdeführers durch das syrische Regime wegen eines Familienangehörigen knüpft an den zuletzt genannten Konventionsgrund an; im Übrigen auch unabhängig davon, ob der Familienangehörige selbst aus Konventionsgründen verfolgt wird.

Bei der Beurteilung, ob wohlbegründete Furcht vor Verfolgung vorliegt, ist die Gesamtsituation des Asylwerbers zu berücksichtigen. Es können hierbei auch Schicksale von Familienangehörigen im Rahmen der Beurteilung der Gesamtsituation des Asylwerbers – je nach Sachlage – nicht unmaßgeblich sein vergleiche VwGH 22.01.2016, Ra 2015/20/0157; zur Asylrelevanz einer Verfolgung wegen der „bloßen“ Angehörigeneigenschaft und zur Anerkennung des Familienverbandes als „soziale Gruppe“ im Sinne der GFK s. VwGH 14.01.2003, 2001/01/0508; vergleiche auch VwGH 16.12.2010, 2007/20/0939).

Dem Umstand, dass der Beschwerdeführer mit mehreren Personen verwandt ist, die ins Ausland geflüchtet sind und sich dadurch der Wehrpflicht entzogen haben, ist dabei besondere Bedeutung beizumessen. Der Beschwerdeführer zählt damit zum Kreis jener Personen, an denen die syrische Regierung besonders interessiert ist. Zudem gilt die Asylantragstellung im Ausland als illoyaler Akt und als Zeichen oppositioneller Gesinnung und gerade Angehörige von Menschen mit tatsächlicher oder unterstellter oppositioneller Einstellung sind der Verfolgung durch das syrische Regime ausgesetzt. Einer Verfolgung kann auch schon dann Asylrelevanz zukommen, wenn ihr Grund in der bloßen Angehörigeneigenschaft eines Asylwerbers, somit in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK, etwa jener der Familie, liegt (VwGH 14.01.2003, 2001/01/0508).

3.1.2.3. Zur vorgebrachten Bedrohung bei einer Rückkehr:

Aufgrund der Summe der vorgebrachten glaubhaften Fluchtgründe ist im Falle des Beschwerdeführers die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihm bei einer Rückkehr Verfolgung durch das syrische Regime oder den IS droht.

Bei einer Rückkehr nach Syrien läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch das syrische Regime oder den IS ausgesetzt zu sein.

Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund ist jedenfalls gegeben, da der Grund für die Verfolgung des Beschwerdeführers wesentlich in der ihm zugeschriebenen oppositionellen politischen Gesinnung zu sehen ist. Zusätzlich kann der Grund in der Angehörigeneigenschaft zu den Brüdern und dem Cousin gesehen werden. Der Beschwerdeführer ist somit auch unter dem Blickwinkel des Konventionsgrundes der „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe", nämlich jener der „Familie“, mit asylrelevanter Verfolgung bedroht (zur Familie als soziale Gruppe vergleiche VwGH 14.01.2003, Ziffer 2001 /, 01 /, 0508,).

3.1.2.4. Zur Aktualität der Verfolgung:

Die Befürchtungen des Beschwerdeführers stellen sich schon aufgrund der, dieser Entscheidung zugrundeliegenden, Länderinformationen vom 29.12.2022 als aktuell dar. Insbesondere zu beachten ist, dass eine aktualisierte Fassung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Syrien vom 17.07.2023, Version 9, vorliegt. Auch aus dieser ergeben sich keine geänderten Umstände für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation, vor allem lässt sich keine Verbesserung der Sicherheitslage in Syrien erkennen, und auch die Gefahr aufgrund der festgestellten Fluchtgründe finden in der neuen Version des LIB ihre Deckung.

Die im Entscheidungszeitpunkt zu erstellende Prognose über die Situation des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat ergibt, dass er gegenwärtig, mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit, mit Verfolgungshandlungen erheblicher Intensität in Syrien rechnen muss. Dem Argument des BFA, die vorgebrachten Gründe, weshalb der Beschwerdeführer im Jahr 2015 aus Syrien ausgereist sei, seien mittlerweile weggefallen, da der IS keine Kontrolle mehr über die Heimatregion des Beschwerdeführers habe, konnte nicht gefolgt werden (Seite 118 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 406). Wie in der Beweiswürdigung erläutert geht auch aktuell noch eine Gefahr vom IS gegenüber dem Beschwerdeführer aus. Zudem stellt diese Bedrohung nur eine von mehreren, bei einer Rückkehr aktuell bestehenden drohenden Gefährdungen dar.

3.1.2.5. Zur mangelnden Schutzfähigkeit des Staates:

Aktuell befindet sich die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers unter Kontrolle des syrischen Regimes. Im Falle einer Rückkehr besteht für den Beschwerdeführer die Gefahr, in seinem Herkunftsort oder bei einer Reise dorthin am Grenzkontrollposten verhaftet und wegen seiner eigenen Ausreise, der Weigerung seiner Tätigkeit in den Ölfeldern wieder nachzugehen und seiner Familienzugehörigkeit, verhaftet zu werden und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre.

Eine hinsichtlich des Reiseweges zumutbare und legale Rückkehr nach Syrien ist im Grunde genommen nur über Gebiete oder Flughäfen möglich, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, sodass der Beschwerdeführer bei einer erneuten Einreise Gefahr läuft, festgenommen zu werden.

Die Bedrohung wegen unterstellter oppositioneller Gesinnung geht vom syrischen Regime, somit vom Staat selbst, aus.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr außerdem Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch Mitglieder des IS. Dies weil der Beschwerdeführer 2015 nicht mit dem IS kooperiert hat, sondern in den Libanon geflüchtet ist.

Betreffend der vom IS ausgehenden Gefahr einer Verfolgung wegen unterstellter oppositioneller Gesinnung ist der syrische Staat nicht gewillt den Beschwerdeführer zu schützen.

3.1.2.6. Zum Nichtbestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative:

Schon die rechtskräftige Gewährung von subsidiärem Schutz durch die belangte Behörde (Seite 122 des angefochtenen Bescheides vom 21.01.2022, AS 410) steht mangels einer diesbezüglichen relevanten Änderung der Rechts- oder Tatsachenlage der Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative entgegen (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054). Da die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Hinblick auf das ihr u.a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül die sichere und legale Erreichbarkeit des ins Auge gefassten Gebietes erfordert (VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063) und eine sichere und legale Rückkehr des Beschwerdeführers nach Syrien nur über den Flughafen von Damaskus oder Grenzübergänge, die in der Hand des Regimes bzw. der kurdischen Kräfte liegen, möglich wäre, kommt eine innerstaatliche Fluchtalternative auch aus diesem Grund nicht in Betracht.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für den Beschwerdeführer somit nicht, da nicht angenommen werden kann, dass er in bestimmten Landesteilen Syriens sicher wäre. Er könnte über Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints in ganz Syrien, vor allem bei einer Einreise, durch das syrische Regime festgenommen und bestraft werden.

3.1.3. Ergebnis:

Im Beschwerdefall ist es somit insgesamt glaubhaft, dass dem Beschwerdeführer aktuell in Syrien Verfolgung im Sinne der GFK droht (Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005). Im gegenständlichen Fall handelt es sich bei der gegenüber dem Beschwerdeführer bestehenden Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK um eine solche aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung sowie aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, nämlich jener der Familie.

Dem Beschwerdeführer droht, bei einer Rückkehr erneut durch das syrische Regime für die Tätigkeit in den Ölfeldern eingesetzt zu werden. Bei dieser Tätigkeit droht ihm als Mitarbeiter bei einem Ölfeld in Syrien konkrete Gefahr durch verschiedene Kriegsparteien und den IS.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr zudem Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch Mitglieder des IS, aufgrund seiner Weigerung mit diesem zusammenzuarbeiten. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr auch Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch das syrische Regime aufgrund seiner Weigerung weiterhin für dieses in den Ölfeldern zu arbeiten.

Dem Beschwerdeführer droht außerdem Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund seiner Familienangehörigkeit zu seinen Brüdern und seinem Cousin, die Syrien als Deserteure aufgrund des Krieges verlassen haben.

Im Beschwerdefall liegen somit substantielle stichhaltige Gründe für das Vorliegen einer individuellen Gefahr der Verfolgung nach Paragraph 3, Absatz eins, AsylG in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK vor. Es handelt sich hierbei nicht um bloß alle Staatsbürger gleichermaßen treffende Unbilligkeiten aufgrund des Bürgerkrieges oder der allgemein schlechten Lage im Herkunftsstaat. Die Furcht des Beschwerdeführers vor einer Verfolgung im Herkunftsstaat ist als „wohlbegründet“ im Sinne der GFK anzusehen. Im Verfahren hat sich gezeigt, dass sich der Beschwerdeführer aus wohlbegründeter Furcht, aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Heimatlandes befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen, da die Bedrohung vom Staat selbst ausgeht bzw. der Staat ihn nicht schützen kann oder will.

Ein Abweisungsgrund gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 liegt im konkreten Fall nicht vor, da dem Beschwerdeführer – wie gezeigt – keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht und er keinen Asylausschlussgrund gesetzt hat.

Der Beschwerde war daher stattzugeben und dem Beschwerdeführer gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Diese Entscheidung war gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Lediglich der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass die Paragraphen 2, Absatz eins, Ziffer 15 und 3 Absatz 4, AsylG 2005 gemäß Paragraph 75, Absatz 24, leg. cit. hier anzuwenden sind, weil der Beschwerdeführer seinen Antrag auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015, nämlich am 25.05.2021, gestellt hat.

3.2. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2023:W250.2252778.1.00