Bundesverwaltungsgericht
17.07.2023
I416 2273509-1
I416 2273509-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Alexander BERTIGNOL als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Marokko, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West (EASt-West) vom 23.05.2023, Zl. römisch 40 , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass das in Spruchpunkt römisch VII. gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 2, FGP verhängte Einreiseverbot ersatzlos behoben wird.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein marokkanischer Staatsangehöriger, reiste erstmalig am 23.06.2022 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte an diesem Tag einen ersten Antrag auf internationalen Schutz, welchen er ausschließlich mit wirtschaftlichen Motiven begründete. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 25.07.2022, Zl. römisch 40 , hinsichtlich Paragraph 3 und 8 Absatz eins, AsylG 2005 negativ entschieden und eine Rückkehrentscheidung gegen den BF erlassen. Dieser Bescheid erwuchs am 22.08.2022 unangefochten in Rechtskraft.
2. Am 29.03.2023 stellte der BF einen weiteren, den gegenständlichen, Antrag auf internationalen Schutz.
3. Dazu wurde er am selben Tag von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Dabei gab er an, Österreich nach der ersten Entscheidung verlassen zu haben und sich in Italien, Belgien, den Niederlanden und Deutschland aufgehalten zu haben. Er berufe sich auf die Asylgründe in seinem ersten Verfahren.
4. Am 24.04.2023 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA/belangte Behörde) einvernommen. Dabei führte er an, noch weitere Fluchtgründe zu haben. Er habe in Marokko Probleme mit den Behörden gehabt. Er habe auf einem Bazar gearbeitet. Immer wieder sei das Ordnungsamt gekommen und habe seine Waren mitgenommen. Einmal sei es zu einer Streiterei gekommen, dann habe er Platzverbot bekommen.
5. Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid vom 23.05.2023, Zl. römisch 40 , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt römisch II.) wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein „Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) sowie festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Marokko zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Es wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise erlassen (Spruchpunkt römisch VI.). Gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 2, FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VII.).
6. Der BF wurde am 03.06.2023 aufgrund unbekannten Aufenthalts von der Grundversorgung abgemeldet. Seit 05.06.2023 scheint er nicht mehr im Zentralen Melderegister auf.
7. Mit Schriftsatz vom 06.06.2023 erhob der BF durch seine Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
8. Mit Schriftsatz der belangten Behörde vom 07.06.2023 (eingelangt am 14.06.2023) wurde die Beschwerde samt den Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der unter Punkt römisch eins. beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF ist Staatsbürger von Marokko, ledig, kinderlos, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Seine Identität steht nicht fest.
Der BF reiste erstmals am 23.06.2022 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte insgesamt zwei Anträge auf internationalen Schutz.
Der BF verfügte zu keinem Zeitpunkt über einen regulären österreichischen Aufenthaltstitel und war nur während der Dauer seiner Asylverfahren zum Aufenthalt in Österreich berechtigt. Seit 22.08.2022 besteht gegen den BF eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung.
Nach negativem Abschluss seines ersten Asylverfahrens reiste der BF nach Italien, Belgien, in die Niederlande und nach Deutschland. Im März 2023 reiste er erneut nach Österreich und stellte den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig.
Der BF stammt aus römisch 40 , hat in Marokko 9 Jahre lang die Schule besucht und seinen Lebensunterhalt bis zu seiner Ausreise als Elektriker bestritten.
Der BF verfügt weder in Österreich noch in einem sonstigen Mitgliedstaat der Europäischen Union über familiäre Anknüpfungspunkte. Seine Eltern und Brüder leben in Marokko.
Der BF erhielt während seines ersten Asylverfahrens und seit seiner zweiten Antragstellung bis 03.06.2023 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Er war von 07.07.2022 bis 11.07.2022, 23.03.2023 bis 04.04.2023 und 04.04.2023 bis 05.06.2023 im Zentralen Melderegister mit Hauptwohnsitzen erfasst.
Einer legalen Beschäftigung ist der BF in Österreich nicht nachgegangen und verfügt er auch sonst über keinerlei Anbindungen in privater, familiärer oder integrativer Hinsicht an Österreich.
Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtmotiven des BF und zur Rückkehrgefährdung:
Zwischen rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens mit Bescheid vom 25.07.2022 (rechtskräftig seit 22.08.2022) und der Zurückweisung des gegenständlichen Folgeantrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache mit Bescheid vom 23.05.2023 ist keine wesentliche Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten.
Der BF brachte in seinem ersten Asylverfahren lediglich wirtschaftliche Gründe für das Verlassen seines Heimatstaats vor.
Der BF brachte im gegenständlichen Asylverfahren keine entscheidungsrelevanten neuen Fluchtgründe vor, denen zumindest ein glaubhafter Kern innewohnt.
Der BF brachte auch keine neuen Beweismittel mit wesentlicher Bedeutung betreffend seiner Ausreisegründe aus dem Herkunftsstaat in das gegenständliche Verfahren ein.
In Bezug auf das Fluchtvorbringen des BF in seinem nunmehrigen Folgeverfahren und aufgrund der allgemeinen Lage im Land wird festgestellt, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Marokko mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten privaten Verfolgung oder sonstigen existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein wird.
1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Marokko:
Bei Marokko handelt es sich um einen sicheren Herkunftsstaat nach Paragraph eins, Ziffer 9, der Herkunftsstaaten-Verordnung.
Die aktuelle Situation im Herkunftsstaat (Stand 03.10.2022) des BF stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:
1.3.1. Sicherheitslage
Marokko kann grundsätzlich als stabiles Land betrachtet werden (EDA 7.9.2022). Das französische Außenministerium rät bis auf einige Regionen zu normaler Aufmerksamkeit im Land, dem einzigen in Nordafrika, das auf diese Weise bewertet wird. In den Grenzregionen zu Algerien wird zu erhöhter Aufmerksamkeit geraten (FD 6.9.2022), bzw. wird deutschen Staatsbürgern von Reisen abgeraten. Die Grenze zu Algerien ist seit 1994 geschlossen (AA 6.9.2022; vergleiche BMEIA 6.9.2022). Für die Grenzregionen zu Mauretanien in der Westsahara besteht eine Reisewarnung (AA 6.9.2022; vergleiche FD 6.9.2022, BMEIA 6.9.2022). Die Grenzregion zu Mauretanien ist zum Großteil vermint. Weder die marokkanischen noch mauretanischen Behörden verfügen dort über Exekutivrechte. Aufgrund der Aktivitäten durch die Terrororganisation Al Qaida in der benachbarten Sahelregion und in Westafrika besteht auch in Marokko ein gewisses Risiko (BMEIA 6.9.2022).
In der Region Tanger-Tetouan-Al Hoceima – vor allem im Rif-Gebirge – herrscht aufgrund sozialer Konflikte eine angespanntere Situation als im Rest des Landes. Die Kriminalitätsrate ist infolge des Rauschgifthandels sehr hoch. Es besteht ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (BMEIA 6.9.2022; vergleiche AA 6.9.2022).
Marokko kann als sicheres Land angesehen werden, nicht nur in Bezug auf Terrorismus. Eine Ausnahme bildet nur die Westsahara, wo es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen marokkanischen Truppen und der POLISARIO (Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro - Volksfront zur Befreiung von Saguía el Hamra und Río de Oro) kommt. Der letzte größere Terroranschlag fand im Jahr 2011 statt. 2018 gab es bei Morden mit mutmaßlich terroristischem Hintergrund zwei, im Jänner 2022 ein weiteres Todesopfer und einen Verletzten. Die Exekutive arbeitet effizient im Bereich der Terrorismusbekämpfung. Die Behörden, hier vor allem das Bureau central d‘investigation judiciaire (BCIJ) sind effektiv beim Erkennen und Verhindern potenzieller terroristischer Bedrohungen durch rechtzeitiges Ausheben von Terrorzellen. Es kommt zu zahlreichen Verhaftungen von Terrorverdächtigen (STDOK 17.3.2022).
Demonstrationen und Protestaktionen sind jederzeit im ganzen Land möglich. Vereinzelte gewalttätige Auseinandersetzungen können dabei nicht ausgeschlossen werden (EDA 7.9.2022; vergleiche BMEIA 6.9.2022). In den größeren Städten ist fallweise mit Demonstrationen und Ausschreitungen zu rechnen (BMEIA 6.9.2022; vergleiche AA 6.9.2022). Zuletzt kam es in verschiedenen Städten Marokkos zu nicht genehmigten Protesten und vereinzelt auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften (AA 6.9.2022). Es kann zu Taschendiebstählen und Raubüberfällen kommen (BMEIA 6.9.2022). Eigentumsdelikte kommen, vor allem in Großstädten, häufig vor. Dabei werden zum Teil auch Hieb- und Stichwaffen gegen Touristen eingesetzt (AA 6.9.2022).
Partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für Reisen in das Landesinnere des völkerrechtlich umstrittenen Territoriums der Westsahara und in entlegene Saharazonen Südmarokkos. Insbesondere vor der unmittelbaren Grenzregion zu Algerien, wird gewarnt (BMEIA 6.9.2022; vergleiche AA 6.9.2022). Das völkerrechtlich umstrittene Gebiet der Westsahara erstreckt sich südlich der marokkanischen Stadt Tarfaya bis zur mauretanischen Grenze. Es wird sowohl von Marokko als auch von der Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario beansprucht. Die United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara MINURSO überwacht den Waffenstillstand zwischen den beiden Parteien. Auf beiden Seiten der Demarkationslinie (Sandwall) sind diverse Minenfelder vorhanden. Seit November 2020 haben die Spannungen in der Westsahara zugenommen. In El Guerguerat an der Grenze zu Mauretanien und entlang der Demarkationslinie ist es wiederholt zu Scharmützeln zwischen marokkanischen Truppen und Einheiten der Frente Polisario gekommen (EDA 7.9.2022).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (6.9.2022): Marokko: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/marokko-node/marokkosicherheit/224080, Zugriff 6.9.2022
● BMEIA - Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten [Österreich] (6.9.2022): Reiseinformation Marokko, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/marokko/, Zugriff 6.9.2022
● EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (7.9.2022): Reisehinweise für Marokko, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/marokko/reisehinweise-fuermarokko.html, Zugriff 7.9.2022
● FD - France Diplomatie [Frankreich] (6.9.2022): Conseils aux Voyageurs - Maroc – Dernière minute, https://www.diplomatie.gouv.fr/fr/conseils-aux-voyageurs/conseils-par-pays-destination/maroc/, Zugriff 6.9.2022
● STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Österreich] (17.3.2022): Themenbericht intern: Nordafrika - Terrorismus in Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien, Quelle liegt bei der Staatendokumentation auf.
1.3.2. Rechtsschutz / Justizwesen
Die Justiz ist laut Verfassung unabhängig (USDOS 12.4.2022). In der Praxis unterliegt die Justiz jedoch weiterhin dem Einfluss der Exekutive und ist an die Interessen der Monarchie gebunden (BS 23.2.2022; vergleiche FH 28.2.2022); zudem wird diese Unabhängigkeit jedoch durch Korruption (USDOS 12.4.2022; vergleiche AA 24.11.2021, FH 28.2.2022) und außergerichtliche Einflüsse unterlaufen (USDOS 12.4.2022; vergleiche FH 28.2.2022). Das Gerichtssystem ist nicht unabhängig vom Monarchen, der dem Obersten Justizrat vorsitzt (FH 2.2022; vergleiche BS 2022). Marokko bekennt sich zu rechtsstaatlichen Grundsätzen, allerdings weist das Justizsystem Schwächen (mangelnde Unabhängigkeit der Richter, ausstehende Modernisierung der Justizverwaltung, bedenkliche Korruptionsanfälligkeit) auf. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze wird von staatlichen und nicht staatlichen Einrichtungen überwacht bzw. kritisch beobachtet (AA 24.11.2021).
Durch die Zusammenarbeit mit internationalen Partnerorganisationen (EU, Europarat, EU-Mitgliedstaaten) soll die Justiz effizienter, unabhängiger und weniger korruptionsanfällig gemacht werden. Noch liegt sie allerdings in ihrer Unabhängigkeit und Bindung an Recht und Gesetz hinter den in der Verfassung normierten Ansprüchen (Artikel 107 f, f,) zurück. Mit dem in der Verfassung vorgesehenen und im April 2017 eingesetzten Conseil supérieur du pouvoir judiciaire (Oberster Rat der Rechtssprechenden Gewalt - Oberster Justizrat) wurden Richter- und Staatsanwaltschaft aus dem Verantwortungsbereich des Justizministeriums herausgelöst und verwalten sich nun selbst. Der Rat agiert als unabhängige Behörde. Mit der Herauslösung der Staatsanwaltschaft wurde formal die Unabhängigkeit der Ermittlungsbehörden von der Politik gestärkt. Es gibt jedoch Stimmen, die eine direkte Einflussnahme des Palastes befürchten, da sich Richterschaft und Staatsanwaltschaft nunmehr jeder demokratisch legitimierten Kontrolle entziehen (AA 24.11.2021).
Die Verfassung sieht darüber hinaus eine Reihe von Räten und Kommissionen vor, denen konsultative und überwachende Funktionen zukommt (der erwähnte Oberste Justizrat, Gleichstellungsrat, Hohe Rundfunk-Behörde, Wettbewerbsrat, Nationalstelle für korrekte Verwaltung und Korruptionsbekämpfung, Familien- und Jugendbeirat). Diese Gremien stehen aber teilweise noch vor oder am Beginn der Tätigkeit bzw. muss ihr rechtlicher Unterbau erst geschaffen werden, sodass noch schwer absehbar ist, inwieweit sie für Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und Achtung der Grundrechte in der Praxis Bedeutung gewinnen (ÖB 8.2021).
Formal besteht Gleichheit vor dem Gesetz. Das extreme Gefälle in Bildung und Einkommen, die materielle Unterentwicklung ländlicher Gebiete und der allgegenwärtige gesellschaftliche Klientelismus behindern allerdings die Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes (AA 24.11.2021). Gesetzlich gilt die Unschuldsvermutung. Der Rechtsweg ist formal sichergestellt. Angeklagte haben das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, auf rechtzeitigen Zugang zu ihrem Anwalt und das Recht, Berufung einzulegen. Das marokkanische Recht sieht Pflichtverteidiger für mittellose Angeklagte vor. Der Zugang zu juristischem Beistand ist in der Praxis noch immer unzulänglich (USDOS 12.4.2022; vergleiche AA 24.11.2021). NGOs kritisieren, dass die Beschuldigten zu Geständnissen gedrängt werden (BS 23.2.2022; vergleiche AA 24.11.2021). Das Strafprozessrecht erlaubt der Polizei, einen Verdächtigen bis zu 48 Stunden in Gewahrsam (garde à vue) zu nehmen. Der Staatsanwalt kann diese Frist zweimal verlängern. Der Entwurf für ein neues Strafprozessgesetz sieht verbesserten Zugang zu Anwälten bereits im Gewahrsam vor. Das Gesetz ist noch nicht verabschiedet (AA 24.11.2021).
Berichten zufolge werden Untersuchungshäftlinge in der Praxis länger als ein Jahr festgehalten, und das Gesetz enthält keine Bestimmungen, die es Untersuchungshäftlingen erlauben, ihre Inhaftierung vor Gericht anzufechten. Einige Verdächtige, insbesondere diejenigen, die des Terrorismus beschuldigt werden, werden tage- oder wochenlang in geheimer Haft gehalten, bevor eine formelle Anklage erhoben wird (AA 24.11.2021). Zudem wird Angeklagten nach ihrer Verhaftung der sofortige Zugang zu Anwälten verwehrt, und Verteidiger stoßen beim Zugang bei der Vorlage von Prozessbeweisen auf Hindernisse (BS 23.2.2022). Nach der Strafprozessordnung hat ein Angeklagter das Recht, nach 24 Stunden Polizeigewahrsam einen Anwalt zu kontaktieren, was auf 36 Stunden verlängert werden kann. Häftlinge haben jedoch nicht das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen, wenn die Polizei sie verhört oder ihnen ihre Aussagen zur Unterschrift vorlegt. In den letzten Jahren haben Polizeibeamte Häftlinge oft gezwungen oder dazu gebracht, selbstbelastende Aussagen zu unterschreiben, auf die sich Richter später stützten, um sie zu verurteilen, selbst wenn die Angeklagten diese Aussagen vor Gericht widerriefen (HRW 13.1.2022).
Im Bereich der Strafzumessung wird häufig kritisiert, dass bestehende Möglichkeiten zur Vermeidung von Haft bei minder schweren Delikten (z. B. Geldstrafen, Sozialstunden) nicht genutzt werden. Auch die Möglichkeit der Entlassung auf Bewährung (libération conditionnelle) wird kaum genutzt (AA 24.11.2021).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdf, Zugriff 30.9.2022
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Country Report 2022 – Morocco, Güterloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069692/country_report_2022_MAR.pdf, Zugriff 30.9.2022
● FH - Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022, Morocco, https://freedomhouse.org/country/morocco/freedom-world/2022, Zugriff 30.9.2022
● HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Morocco and Western Sahara, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066500.html, Zugriff 30.9.2022
● ÖB - Österreichische Botschaft Rabat [Österreich] (8.2021): Asylländerbericht Marokko, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060711/MARO_%C3%96B_Bericht_2021_08.pdf, Zugriff 30.9.2022
● USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Morocco, https://www.ecoi.net/en/document/2071176.html, Zugriff 30.9.2022
1.3.3. Sicherheitsbehörden
Der Sicherheitsapparat verfügt über einige Polizei- und paramilitärische Organisationen, deren Zuständigkeitsbereiche sich teilweise überlappen. Die DGSN „Direction Générale de la Sûreté Nationale“ (Nationalpolizei) ist für die Umsetzung der Gesetze zuständig und untersteht dem Innenministerium. Bei den Forces Auxiliaires handelt es sich um paramilitärische Hilfskräfte, die dem Innenministerium unterstellt sind und die Arbeit der regulären Sicherheitskräfte unterstützen. Die Gendarmerie Royale ist zuständig für die Sicherheit in ländlichen Gegenden und patrouilliert auf Nationalstraßen. Sie untersteht dem Verteidigungsministerium (USDOS 12.4.2022; vergleiche AA 24.11.2021, ÖB 8.2021). Es gibt zwei Nachrichtendienste: den Auslandsdienst DGED (Direction Générale des Etudes et de Documentation) und den Inlandsdienst DGST (Direction Générale de la Surveillance du Territoire). Im April 2015 wurde zusätzlich das Bureau Central d’Investigations Judiciaires (BCIJ) geschaffen. Es untersteht dem Inlandsdienst DGST (AA 24.11.2021; vergleiche ÖB 8.2021).
Das BCIJ hat originäre Zuständigkeiten und Ermittlungskompetenzen im Bereich von Staatsschutzdelikten sowie Rauschgift- und Finanzdelikten im Rahmen von Verfahren der Organisierten Kriminalität (AA 24.11.2021; vergleiche ÖB 8.2021) sowie Entführungen. Damit wurde die Schlagkraft des Polizeiapparats gestärkt, diese spezialisierte Polizeitruppe ist besser ausgebildet und besser ausgerüstet. Seit der Gründung des BCIJ im Jahr 2015 wurden 84 Terrorzellen ausgehoben (ÖB 8.2021).
Auch wenn Angehörige der Sicherheitskräfte einige Übergriffe begingen, ist die zivile Kontrolle über die Sicherheitskräfte gemäß USDOS wirksam (USDOS 12.4.2022), gemäß Auswärtigem Amt hingegen sind die Sicherheitskräfte weitgehend der zivilen Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit entzogen (AA 24.11.2021). [Anm.: Das Auswärtige Amt bezieht sich hier wohl auf die weitgehende Kontrolle der Sicherheitskräfte durch den König und sein Umfeld.] Typisch für das marokkanische politische System ist, dass die Weisungskette der Polizeidienste an der Regierung vorbei unmittelbar zur Staatsspitze führt (ÖB 8.2021).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdf, Zugriff 30.9.2022
● ÖB - Österreichische Botschaft Rabat [Österreich] (8.2021): Asylländerbericht Marokko, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060711/MARO_%C3%96B_Bericht_2021_08.pdf, Zugriff 30.9.2022
● USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Morocco, https://www.ecoi.net/en/document/2071176.html, Zugriff 30.9.2022
1.3.4. Folter und unmenschliche Behandlung
Die als Reaktion auf den sogenannten Arabischen Frühling reformierte Verfassung von 2011 enthält einen umfangreichen Katalog an Grund- und Menschenrechten (AA 24.11.2021) und verbietet Folter und unmenschliche Behandlung oder Bestrafung. Folter ist gemäß Verfassung unter Strafe gestellt (USDOS 12.4.2022; vergleiche BS 23.2.2022, AA 24.11.2021). Marokko ist Vertragsstaat der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen und hat auch das Zusatzprotokoll unterzeichnet (AA 24.11.2021). Der CNDH (Conseil National des Droits de l’Homme / Nationaler Menschenrechtsrat) soll künftig die Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus gegen Folter einnehmen (CNDH o.D.). Die Präsidentin des CNDH (A. Bouayash) hat nach ihrem Amtsantritt im Sommer 2019 Foltervorwürfe gegen politische Gefangene zurückgewiesen. Ein Einsatz von systematischer, staatlich angeordneter Folter wird auch von NGOs nicht bestätigt, Fehlverhalten einzelner Personen und mangelnde Ahndung in Fällen von nicht gesetzeskonformer Gewaltanwendung gegenüber Inhaftierten durch Sicherheitskräfte werden indes sehr wohl – dies auch regelmäßig in den Medien – thematisiert (AA 24.11.2021). Die Regierung bestreitet, dass sie die Anwendung von Folter erlaubt (USDOS 12.4.2022). Sie lehnt den Einsatz von Folter ab und bemüht sich um aktive Prävention (AA 24.11.2021).
Wenn auch eine systematische Anwendung von Folter und anderen erniedrigenden Behandlungsweisen nicht anzunehmen ist (ÖB 8.2021; vergleiche AA 24.11.2021), werden Folter und folterähnliche Methoden punktuell praktiziert (ÖB 8.2021). Es gibt Berichte, dass Folter oder exzessive Polizeigewalt vorkommen, einschließlich langer und unbestimmter Einzelhaft (AI 29.3.2022; vergleiche FH 28.2.2022). Für die Unabhängigkeit der Westsahara eintretende NGOs werfen den Behörden unverhältnismäßigen Gewalteinsatz, Folter und auch willkürliche Verhaftungen und Hausdurchsuchungen vor (AA 24.11.2021). Im Jahr 2021 verletzten marokkanischen Behörden die Rechte von Aktivisten, die für die Unabhängigkeit der Sahara eintreten. Es kam zu Misshandlungen, Verhaftungen und Schikanen (AI 29.3.2022). Inhaftierte Islamisten werfen dem Sicherheitsapparat und insbesondere dem Inlandsgeheimdienst DGST vor, Methoden anzuwenden, die rechtsstaatlichen Maßstäben nicht immer genügen (z. B. lange U-Haft unter schlechten Bedingungen, kein Anwaltszugang, Folter). Betroffen sind laut Bericht des UN-Menschenrechtsausschusses vom Oktober 2016 vor allem Terrorverdächtige und Personen, die Straftaten verdächtig sind, welche die Sicherheit oder die territoriale Integrität des Staats gefährden. Die marokkanische Menschenrechtsorganisation AMDH (Association Marocaine des Droits Humains) geht vom Fehlverhalten einzelner Personen aus (AA 24.11.2021).
Diese Umstände werden von Menschenrechts-NGOs und von unabhängigen Beobachtern wiederholt angeprangert, wie insbesondere von der CNDH, vom UN-Sonderbeauftragten für Folter Juan Mendez, von der Arbeitsgruppe über willkürliche Verhaftungen, und von der früheren UNHCHR Navi Pillay. Der seinerzeitige Justizminister Ramid hat die Staatsanwälte aufgerufen, Hinweisen und Anzeigen auf Folter rigoros nachzugehen, gleichzeitig aber auch auf den Verleumdungstatbestand hingewiesen, falls sich Anschuldigungen als haltlos erweisen (ÖB 8.2021).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdf, Zugriff 30.9.2022
● AI - Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; The State of the World’s Human Rights; Morocco and Western Sahara 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070307.html, Zugriff am 30.9.2022
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Country Report 2022 – Morocco, Güterloh: Bertelsmann Stiftung, https://BS-project.org/de/reports/country-report/MAR#pos5, Zugriff 30.9.2022
● CNDH - Conseil National des Droits de l’Homme [Marokko] (o.D.): CNDH mandate for the protection of human rights, https://www.cndh.org.ma/an/presentation/cndhs-mandate-area-human-rights-protection, Zugriff 30.9.2022
● FH - Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022, Morocco, https://freedomhouse.org/country/morocco/freedom-world/2022, Zugriff 30.9.2022
● ÖB - Österreichische Botschaft Rabat [Österreich] (8.2021): Asylländerbericht Marokko, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060711/MARO_%C3%96B_Bericht_2021_08.pdf, Zugriff 30.9.2022
● USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Morocco, https://www.ecoi.net/en/document/2071176.html, Zugriff 30.9.2022
1.3.5. Allgemeine Menschenrechtslage
Der Grundrechtskatalog (Kapitel römisch eins und römisch II) der Verfassung ist substanziell; wenn man noch die durch internationale Verpflichtungen übernommenen Grundrechte hinzuzählt, kann man von einem recht umfassenden Grundrechtsrechtsbestand ausgehen. Als eines der Kerngrundrechte fehlt die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die Verfassung selbst stellt allerdings den Rechtsbestand unter den Vorbehalt der traditionellen „roten Linien“ - Monarchie, islamischer Charakter von Staat und Gesellschaft, territoriale Integrität (i. e. Annexion der Westsahara) - quasi als „Baugesetze“ des Rechtsgebäudes. Der vorhandene Rechtsbestand, der mit der neuen Verfassungslage v.a. in Bereichen wie Familien- und Erbrecht, Medienrecht und Strafrecht teilweise nicht mehr konform ist, gilt weiterhin (ÖB 8.2021). In den Artikeln 19 bis 35 garantiert die Verfassung die universellen Menschenrechte. Im Mai 2017 stellte sich Marokko dem Universellen Staatenüberprüfungsverfahren (UPR) des UN-Menschenrechtsrats. Marokko akzeptierte 191 der 244 Empfehlungen. Die nächste Überprüfung im Rahmen der Universellen Staatenüberprüfung (UPR) soll im Jahr 2022 erfolgen (AA 24.11.2021).
Staatliche Repressionsmaßnahmen gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sind nicht festzustellen. Gewichtige Ausnahme: wer die Vorrangstellung der Religion des Islam infrage stellt, die Person des Königs antastet oder die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko anzweifelt (AA 24.11.2021).
Gesetzlich sind Meinungs- und Pressefreiheit garantiert, einige Gesetze schränken jedoch die Meinungsfreiheit im Bereich der Presse und in den sozialen Medien ein (USDOS 12.4.2022; vergleiche AA 24.11.2021).
Marokko belegte im Weltindex der Pressefreiheit 2020 Platz 133 (BS 23.2.2022). Selbstzensur ist die Regel; aber auch offene Repression bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung journalistisch oder politisch aktiver Personen konnte im Berichtsjahr beobachtet werden (AA 24.11.2021). 2021 wurde Marokko auf Platz 136 runtergestuft. Kritik am König ist in Marokko verboten und wird als „Angriff auf die heiligen Werte der Nation“ mit Gefängnis bestraft. Tabuthemen sind auch politische Proteste, die Westsahara-Politik, Korruption hochrangiger Politiker und inzwischen die Massenmigration nach Europa. Immer wieder werden Journalisten wegen unliebsamer Berichte vor Gericht gebracht und zu Haftstrafen verurteilt oder Korrespondenten ausländischer Medien abgeschoben. Zum Einschüchterungsrepertoire des Staats gehören auch Anzeigenboykotte, Drohungen, untergeschobene Drogendelikte, Rufmord, Überfälle, Einbrüche und seit neuestem Anklagen wegen angeblicher Sexualdelikte. Manche Gerichtsprozesse gegen Medienschaffende werden über Jahre hinweg verschleppt (ROG 2022). Es kommt auch zu Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, v.a. gegen Blogger, Aktivisten und Studenten (BS 23.2.2022).
Ausländische Satellitensender und das Internet sind frei zugänglich (AA 24.11.2021). Gelegentlich unterbrechen die Behörden Webseiten und Internetplattformen (FH 2.2022). Die unabhängige Presse wurde in der Covid-19-Krise ruhiggestellt (Stopp von Printmedien, Online-Berichterstattung weitgehend über offizielle Kommuniqués, Gesetzentwurf gegen Nutzung sozialer Medien) (AA 24.11.2021). Die staatliche Überwachung von Online-Aktivitäten und persönlicher Kommunikation ist ein ernstes Problem. Der Einsatz von Spionageprogrammen und Überwachungstechnologien durch die Regierung ist weit verbreitet (FH 2.2022). Die – auch im öffentlichen Raum kaum kaschierten – Überwachungsmaßnahmen erstrecken sich auch auf die Überwachung des Internets und elektronischer Kommunikation, wobei Aktivisten, die für eine unabhängige Westsahara eintreten – vor allem im Gebiet der Westsahara selbst – besonders exponiert sind (ÖB 8.2021).
Es kommt vereinzelt zur Strafverfolgung von Journalisten. Staatliche Zensur existiert nicht, von staatlicher Einflussnahme auf quasi die gesamte Medienlandschaft ist jedoch auszugehen (AA 24.11.2022), bzw. ist diese eng mit den Machtzentren verbunden (BS 23.2.2022), und wird durch die Selbstzensur der Medien im Bereich der oben genannten drei Tabuthemen ersetzt (AA 24.11.2021). Gesetzlich unter Strafe gestellt und aktiv verfolgt sind und werden kritische Äußerungen betreffend den Islam, die Institution der Monarchie und die offizielle Position der Regierung zur territorialen Integrität bzw. den Anspruch auf das Gebiet der Westsahara (USDOS 12.4.2022; vergleiche HRW 13.1.2022, AA 24.11.2021, FH 2.2022, ÖB 8.2021). Dies gilt auch für Kritik an Staatsinstitutionen oder das Gutheißen von Terrorismus (ÖB 8.2021; vergleiche HRW 13.1.2022). Zu den wichtigsten Fernseh- und Radioeigentümern gehören die Königsfamilie und andere politisch einflussreiche Unternehmer (ROG 2022).
Internationale NGOs werfen dem marokkanischen Staat vor, allgemeine Straftatbestände (Sexualstrafrecht, Steuerrecht, Verleumdung) zu nutzen, um kritische journalistische Stimmen und oppositionelle Meinungen zu unterdrücken. Aktivisten, die wegen ihres Engagements für Umweltschutz oder soziale Fragen vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen verurteilt wurden. 2021 sind vermehrt Verfolgungen verschiedener Personengruppen aufgefallen, die in ihren Foren offen z. B. wirtschaftliche Missstände angeprangert und dabei den König angegriffen haben (AA 24.11.2021). In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben HRW und andere Menschenrechtsorganisationen dokumentiert, wie marokkanische Gerichte Dutzende von Journalisten und Aktivisten verurteilt und behördenkritische Medien geschlossen, mit hohen Geldstrafen belegt oder anderweitig mit Sanktionen belegt haben, und zwar wegen Verleumdung, Veröffentlichung falscher Nachrichten, Beleidigung oder Verleumdung lokaler Beamter, staatlicher Stellen oder ausländischer Staatsoberhäupter sowie Untergrabung der Staatssicherheit oder Anfechtung der Monarchie. Gemäß HRW hat die marokkanischen Behörden ein ganzes Arsenal von Taktiken entwickelt und verfeinert, um abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen. Dabei verletzten die Behörden eine lange Liste von Rechten, darunter das Recht auf Privatsphäre, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Eigentum und das Recht auf ein faires Verfahren, während sie gleichzeitig schwere Straftaten wie Vergewaltigung, Unterschlagung oder Spionage ins Lächerliche ziehen (HRW 28.7.2022).
Für Kritik in diesen Bereich können weiterhin Haftstrafen verhängt werden. Es wurden auch 2021, Journalisten und Menschen, wegen ihrer kritischen, gewaltfreien Äußerungen in sozialen Medien, nach dem Strafgesetzbuch strafrechtlich verfolgt und inhaftiert (HRW 13.1.2022; vergleiche BS 23.2.2022). Sie wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, unter anderem wegen mangelnden Respekts vor dem König, Diffamierung staatlicher Institutionen und Beleidigung von Amtsträgern (HRW 13.1.2022). Aktuell [2022], befinden sich 3 Journalisten, 4 Medienmitarbeiter und 4 Blogger bzw. Bürgerjournalisten in Haft (ROG 2022). Eine Reihe von Journalisten und Aktivisten, die über die Hirak-Bewegung berichtet haben, wurden wegen Straftaten verurteilt. Der König hat auch das Vorrecht der Begnadigung (Artikel 58), und begnadigte am 30.7.2020 mehrere Mitglieder der Hirak-Bewegung. Ferner wurden Berichten zufolge Hirak-Aktivisten während ihrer Verhöre gefoltert und misshandelt (BS 23.2.2022). Am 21.9.2022 wurde die Menschenrechtsaktivistin Saida El Alami in zweiter Instanz zu drei Jahren Haft verurteilt. Sie war wegen Beleidigung eines Verfassungsorgans, Beleidigung von Amtsträgern in Ausübung ihrer Pflicht, Angriff auf die Justiz und Verbreitung falscher Behauptungen angeklagt worden. Die 48-Jährige postete regelmäßig kritische Berichte über Behörden, soziale Themen betreffend (BAMF 26.9.2022).
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind in der Verfassung von 2011 verfassungsrechtlich geschützt, werden aber durch die „roten Linien“ Glaube, König, Heimatland eingeschränkt (AA 24.11.2021). Versammlungen von mehr als drei Personen sind genehmigungspflichtig (USDOS 12.4.2022). Die Behörden gehen meist nicht gegen öffentliche Ansammlungen und die häufigen politischen Demonstrationen vor, selbst wenn diese nicht angemeldet sind (AA 24.11.2021; vergleiche USDOS 12.4.2022). In Einzelfällen kommt es jedoch zur gewaltsamen Auflösung von Demonstrationen (AA 24.11.2021; vergleiche FH 2.2022, USDOS 12.4.2022, HRW 13.1.2022). Ein großer Rückschlag für die Meinungsfreiheit und die bürgerlichen Freiheiten war auch die Verhaftung von Journalisten, Künstlern und Menschenrechtsaktivisten aufgrund verschiedener Anschuldigungen, die ein Zeichen dafür sind, dass das Justizsystem weiterhin gegen Kritiker und unabhängige Akteure eingesetzt wird (BS 23.2.2022).
Obwohl verfassungsmäßig Vereinigungsfreiheit gewährleistet ist, schränkt die Regierung dieses Recht manchmal ein (USDOS 12.4.2022). Organisationen wird die offizielle Registrierung verweigert (HRW 13.1.2022). Politischen Oppositionsgruppen und Organisationen, die den Islam als Staatsreligion, die Monarchie, oder die territoriale Integrität Marokkos infrage stellen, wird kein NGO-Status zuerkannt (USDOS 12.4.2022).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdf, Zugriff 30.9.2022
● BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (26.9.2022): Marokko, Drei Jahre Haft für Menschenrechtsaktivistin Saida El Alami, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683355/1094994/1094995/1095013/13446325/23477053/23954340/-/Deutschland._Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_Briefing_Notes%2C_KW39%2C_26.09.2022_%28deutsch%29.pdf?nodeid=23953998&vernum=-2, Zugriff 27.9.2022
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Country Report 2022 – Morocco, Güterloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069692/country_report_2022_MAR.pdf, Zugriff 30.9.2022
● FH - Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022, Morocco, https://freedomhouse.org/country/morocco/freedom-world/2022, Zugriff 30.9.2022
● HRW - Human Rights Watch (28.7.2022): They’ll Get You No Matter What; Morocco’s Playboo to Crush Dissent, https://www.ecoi.net/en/file/local/2076394/morocco0722_web.pdf, Zugriff 28.9.2022
● HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Morocco and Western Sahara, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066500.html, Zugriff 30.9.2022
● ÖB - Österreichische Botschaft Rabat [Österreich] (8.2021): Asylländerbericht Marokko, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060711/MARO_%C3%96B_Bericht_2021_08.pdf, Zugriff 30.9.2022
● ROG - Reporter ohne Grenzen (2022): Rangliste der Pressefreiheit, Marokko, https://www.reporter-ohne-grenzen.de/marokko, Zugriff 30.9.2022
● USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Morocco, https://www.ecoi.net/en/document/2071176.html, Zugriff 30.9.2022
1.3.6. Religionsfreiheit
Mehr als 99 % der Bevölkerung sind sunnitische Muslime. Die restlichen religiösen Gruppen (Christen, Juden, schiitische Moslems und Baha’i) machen weniger als 1 % der Bevölkerung aus (AA 24.11.2021; vergleiche BS 23.2.2022, USDOS 2.6.2022).
Der sunnitische Islam malikitischer Rechtsschule ist Staatsreligion. Die verfassungsmäßige Stellung des Königs als Führer der Gläubigen und Vorsitzender des Ulema-Rats (Möglichkeit des Erlassens religiös verbindlicher Fatwas) ist weithin akzeptiert. Das Religionsministerium kontrolliert strikt alle religiösen Einrichtungen und Aktivitäten und gibt das wöchentliche Freitagsgebet vor (AA 24.11.2021; vergleiche USDOS 2.6.2022). Marokko hat sich bemüht, den religiösen Bereich zu reformieren, um der Zunahme radikaler religiöser Rhetorik entgegenzuwirken (BS 23.2.2022). Zur Prävention von Radikalisierung überwachen die Sicherheitsorgane islamistische Aktivitäten in Moscheen und Schulen (AA 24.11.2021).
Artikel 3, der Verfassung garantiert Religionsfreiheit (AA 24.11.2021; vergleiche USDOS 2.6.2022). Der Artikel zielt auf die Ausübung der Staatsreligion ab, schützt aber auch die Ausübung anderer anerkannter traditioneller Schriftreligionen wie Judentum und Christentum. Neuere Religionsgemeinschaften - wie etwa die Baha’i - werden ebenso wenig staatlich anerkannt, wie abweichende islamische Konfessionen wie zum Beispiel die Schiiten. Fälle staatlicher Verfolgung aufgrund der Ausübung einer anderen als den anerkannten Religionen sind nicht bekannt (AA 24.11.2021).
Missionierung ist in Marokko nur Muslimen (de facto ausschließlich den Sunniten der malikitischen Rechtsschule) erlaubt. Mit Strafe bedroht ist es, Gottesdienste jeder Art zu behindern, den Glauben eines (sunnitischen) Muslim „zu erschüttern“ und zu missionieren (Artikel 220, Absatz 2, des marokkanischen Strafgesetzbuches). Dies schließt das Verteilen nicht-islamischer religiöser Schriften ein. Bibeln sind frei verkäuflich, werden jedoch bei Verdacht auf Missionarstätigkeit beschlagnahmt. Ausländische Missionare können unverzüglich des Landes verwiesen werden, wovon die marokkanischen Behörden in Einzelfällen Gebrauch machen (AA 24.11.2021).
Laizismus und Säkularismus sind gesellschaftlich negativ besetzt, der Abfall vom Islam (Apostasie) gilt als eine Art Todsünde, ist aber nicht strafbewehrt (AA 24.11.2021; vergleiche BS 23.2.2022). Beleidigung des Islam wird allerdings kriminalisiert und kann mit einer Haftstrafe geahndet werden (BS 23.2.2022; vergleiche HRW 13.1.2022). Es gibt einen starken sozialen Druck, die islamischen Glaubensregeln zumindest im öffentlichen Raum zu befolgen. Grundsätzlich ist der freiwillige Religionswechsel Marokkanern nicht verboten, wird aber in allen Gesellschaftsschichten stark geächtet. Staatliche Stellen behandeln Konvertiten insbesondere familienrechtlich weiter als Muslime (AA 24.11.2021). Nicht-Muslime müssten zum Islam konvertieren, um die Pflegschaft für ein muslimisches Kind übernehmen zu können. Ein muslimischer Mann darf nach marokkanischem muslimischem Recht eine nicht-muslimische Frau heiraten, eine muslimische Frau kann dagegen in keinem Fall einen nicht-muslimischen Mann heiraten (AA 24.11.2021; vergleiche USDOS 2.6.2022).
Die Behörden verweigern weiterhin christlichen Gruppen die Freiheit, in Kirchen ihren Glauben auszuüben, das Recht auf christliche Heirat sowie Begräbnis und das Recht, Kirchen zu errichten (USDOS 2.6.2022).
Einem Bericht der marokkanischen NGO Association of Human Rights (AMDH) für die Jahre 2020-2021 zufolge wurden Schiitischen und der schiitische Islam in der Presse und in Freitagspredigten weiterhin gesellschaftlich schikaniert. Infolgedessen wurden Gottesdienste im Verborgenen abgehalten und Mitglieder vermieden es, ihre Religionszugehörigkeit offenzulegen. Vertreter religiöser Minderheiten bestätigten, dass die Angst vor gesellschaftlicher Schikane, einschließlich der Ächtung durch die Familien der Konvertiten, vor sozialem Spott, Diskriminierung am Arbeitsplatz und potenzieller Gewalt, die Hauptgründe dafür seien den Glauben diskret zu praktizieren. Jüdische Bürger gaben weiterhin an, dass sie in Sicherheit leben und den Gottesdienst in der Synagoge besuchen, regelmäßig religiöse Stätten besuchen und jährliche Gedenkfeiern abhalten (USDOS 2.6.2022).
Marokkanische Christen und andere Religionsgemeinschaften üben ihren Glauben in der Regel nur im privaten Bereich aus. Marokkaner werden von staatlichen Organen gehindert, Gottesdienste in „ausländischen“ Kirchen zu besuchen, und riskieren bei jeder öffentlichen Glaubenspraxis den Vorwurf des Missionierens (AA 24.11.2021).
Medien, Aktivisten, Gemeindeleiter und christliche Konvertiten berichten, dass christliche Bürger von nicht christlichen Familienangehörigen und Freunden unter Druck gesetzt werden, zum Islam zu konvertieren oder ihrem christlichen Glauben abzuschwören. Einige junge christliche Konvertiten, die noch bei ihren muslimischen Familien leben, geben Berichten zufolge ihren Glauben nicht preis, weil sie glaubten, sie könnten von zu Hause vertrieben werden, wenn sie sich nicht vom Christentum lossagen (USDOS 2.6.2022).
Angehörige der Bahai-Religion geben an, dass sie mit Familie, Freunden und Nachbarn offen über ihren Glauben sprechen (USDOS 2.6.2022).
Kinder und Jugendliche muslimischer Bürger besuchen weiterhin private christliche und jüdische Grund- und Oberschulen, da diese Schulen den Ruf haben, eine qualitativ hochwertige Bildung zu bieten (USDOS 2.6.2022).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdfZugriff 30.92022
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Country Report 2022 – Morocco, Güterloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069692/country_report_2022_MAR.pdf, Zugriff 30.9.2022
● HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Morocco and Western Sahara, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066500.html, Zugriff 30.9.2022
● USDOS - US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Morocco, 2 June 2022, https://www.ecoi.net/en/document/2074006.html, Zugriff 5.9.2022
1.3.7. Ethische Minderheiten
Marokko erkennt ausdrücklich in seiner Verfassung die Diversität der Nation an. Staatliche Diskriminierung gegenüber ethnischen Minderheiten ist nicht vorhanden (AA 24.11.2021). Die Verfassung enthält auch die Anerkennung der berberischen Wurzeln, Traditionen und Sprache gleichberechtigt neben dem arabischen und jüdischen Kulturerbe (ÖB 8.2021).
Wer sich den Berbern, die eine recht heterogene, auf drei Hauptstämme aufgegliederte Bevölkerungsgruppe darstellen, zugehörig fühlt, hängt vom familiären, geografischen und soziokulturellen Hintergrund ab. Im Allgemeinen verweisen Berberstämmige mit Stolz auf ihre Abkunft, insbesondere wenn sie zu den alteingesessenen Familien oder Clans der historischen Städte im Berbergebiet (Fes, Marrakesch, Ouarzazate usw.) gehören. Der „Minderheitencharakter“ der Berber ist bei ca. 40 % der Bevölkerung mit berberischen Wurzeln relativ zu sehen. Aussagen über den Anteil von Berbern in bestimmten Bereichen (öffentlicher Dienst, Militär, freie Berufe, Wirtschaftstreibende) sind nicht greifbar. Nach Einschätzung der Botschaft mag eine Diskriminierung aufgrund der berberischen Herkunft im Einzelfall vorkommen, ein generelles diskriminierendes Verhaltensmuster ist nicht erkennbar (ÖB 8.2021).
Etwa die Hälfte der Bevölkerung macht eine berberische Abstammung geltend und spricht eine der drei in Marokko vertretenen Berbersprachen. Dies ist wichtiger Teil ihrer Identität. Die meisten Berber in Marokko sehen sich jedoch nicht als ethnische Minderheit. Marokko fördert Sprache und Kultur der Berber inzwischen aktiv (AA 24.11.2021). Die Amazigh-Bevölkerung macht schätzungsweise 40 % der marokkanischen Bevölkerung aus (BS 23.2.2022). In Artikel 5 der Verfassung wurde Amazigh, neben Arabisch, als offizielle Sprache anerkannt (BS 23.2.2022), vorerst bestehen aber nur vereinzelt Ansätze, dies in die Praxis umzusetzen (z. B. Straßenschilder) (ÖB 8.2021). Amazigh ist Mitte 2019 per Gesetz als Unterrichtssprache aufgewertet worden (AA 24.11.2021). Der berberische Sprachunterricht im Schulsystem ist nur wenig dicht und führt über die 6. Schulstufe nicht hinaus. Folglich ist eine höhere Bildung in berberischer Sprache nicht möglich (ÖB 8.2021).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdf, Zugriff 30.9.2022
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Country Report 2022 – Morocco, Güterloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069692/country_report_2022_MAR.pdf, Zugriff 30.9.2022
● ÖB - Österreichische Botschaft Rabat [Österreich] (8.2021): Asylländerbericht Marokko, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060711/MARO_%C3%96B_Bericht_2021_08.pdf, Zugriff 30.9.2022
1.3.8. Bewegungsfreiheit
Gesetzlich sind innerhalb des Landes Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung gewährleistet. Die Behörden respektieren diese Rechte üblicherweise (USDOS 12.4.2022). Auch Sahrawis/Sahraouis genießen innerhalb Marokkos uneingeschränkte Bewegungsfreiheit (AA 24.11.2021). Die Regierung stellt Sahrawis üblicherweise weiterhin Reisedokumente zur Verfügung. Es wird allerdings von Fällen berichtet, wo die Behörden Sahrawis daran hinderten, Reisen anzutreten (USDOS 12.4.2022).
Wer nicht per Haftbefehl gesucht wird, kann unter Beachtung der jeweiligen Visavorschriften in der Regel problemlos das Land verlassen. Dies gilt auch für bekannte Oppositionelle oder Menschenrechtsaktivisten (AA 24.11.2021).
Es gibt einige Berichte wonach Regierungsbehörden lokalen und internationalen Organisationen sowie der Presse den Zugang zum Rif und der östlichen Region verweigern. Die Regierung bestreitet dies (USDOS 12.4.2022).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdf, Zugriff 30.9.2022
● USDOS - United States Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Morocco, https://www.ecoi.net/en/document/2071176.html, Zugriff 30.9.2022
1.3.9. Grundversorgung und Wirtschaft
Die Grundversorgung der Bevölkerung ist gewährleistet, Brot, Zucker und Gas werden subventioniert (AA 24.11.2021). Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, Wasser, Strom und Abwasserentsorgung verbessert sich allmählich, aber es bestehen nach wie vor große infrastrukturelle Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten sowie innerhalb marginalisierter städtischer Viertel, in denen es immer noch an grundlegenden Dienstleistungen mangelt. Insgesamt sind 77 % der Haushalte an Abwassersysteme und 85 % an verbesserte Wasserquellen angeschlossen. Einigen Gemeinden fehlen noch immer die technischen und finanziellen Mittel für die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen, einschließlich öffentlicher Verkehrsmittel (BS 23.2.2022). Staatliche soziale Unterstützung ist kaum vorhanden, vielfach sind religiös-karitative Organisationen tätig. Die entscheidende Rolle bei der Betreuung Bedürftiger spielt nach wie vor die Familie (AA 24.11.2021).
Marokko hat die pandemiebedingte Ausnahmesituation der vergangenen zwei Jahre gut überstanden. Das Land konnte sich dynamisch an die Herausforderungen der Covid-Ausnahmesituation anpassen und damit verbundene Chancen nützen. Die weltweit gestiegenen Energiepreise (Öl, Gas und Kohle), die Unterbrechung der Gaspipeline aus Algerien und ein sehr trockener Winter, der die Preise für Getreide und Gemüse bereits sehr angeheizt hatte, gaben dem aufkeimenden wirtschaftlichen Optimismus im Land jedoch einen ordentlichen Dämpfer. Dazu kam die Ukrainekrise mit den weltweiten Auswirkungen. Die marokkanische Zentralbank kündigte Anfang April 2022 ein erwartetes Wirtschaftswachstum von 0,7 % und eine Inflation von 4,7 % für 2022 an, die Weltbank geht von einem Wachstum von 1,1 % für 2022 und +4,3 für 2023 aus (WKO 22.6.2022).
Abgesehen von den Einbußen durch die Corona-Krise kann man, sofern die globale Situation halbwegs stabil bleibt, insgesamt wieder von einem vorsichtig positiven Ausblick sprechen. Die, trotz Regierungswechsel, stabilen politischen Verhältnisse und die zahlreichen Investitionspläne mit dem Ziel der Diversifizierung und Stärkung der marokkanischen Wirtschaft und einer Umstellung auf erneuerbare Energie ziehen mittelfristig gute Geschäftschancen in den unterschiedlichsten Bereichen nach sich: Prozessoptimierung und Modernisierung der Industrie steht ganz oben auf der Agenda der marokkanischen Industrie. Hier ergeben sich für Automobilzulieferer, Industrieausstatter, Anlagenlieferanten und Dienstleister gute Marktchancen (WKO 22.6.2022).
Marokko ist ein agrarisch geprägtes Land: Die Landwirtschaft erwirtschaftet in Marokko ca. 20 % des BIP und ist damit der bedeutendste Wirtschaftszweig des Landes. Ca. zwei Drittel der Landesfläche wird landwirtschaftlich genutzt, davon 18 % als Ackerland. Da davon nur rund 15 % systematisch bewässert werden, ist die Wetterabhängigkeit sehr hoch. Der Sektor schafft 40 % der Arbeitsplätze und ist Einkommensquelle für drei Viertel der Landbevölkerung. Von den 1,5 Mio. landwirtschaftlichen Betrieben sind mehr als zwei Drittel Kleinstbetriebe, die über weniger als drei Hektar Land verfügen, mit geringer Mechanisierung arbeiten und nur zu 4 % am Export beteiligt sind. Die modernen Landwirtschaftsbetriebe decken erst rund ein Achtel der kultivierbaren Gesamtfläche ab (WKO 14.6.2022).
Unsichere Arbeitsplätze und fehlende Möglichkeiten betreffen Arbeitnehmer im informellen Sektor, aber auch Facharbeiter und junge Hochschulabsolventen. Obwohl der Wert des Landes auf dem Index der menschlichen Entwicklung (HDI) von 0,608 im Jahr 2009 auf 0,686 im Jahr 2019 gestiegen ist, liegt Marokko auf Platz 121 von 189 Ländern und Gebieten und befindet sich damit in der mittleren Entwicklungskategorie (BS 23.2.2022). Es wird davon ausgegangen, dass COVID-19 enorme soziale und wirtschaftliche Auswirkungen haben wird, vor allem auf gefährdete und unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen. Die Höhere Planungskommission Marokkos erwartet einen Anstieg der Armutsquote von 17,1 % (2019) auf 19,87 % (2020). Am stärksten ist die Pandemie im informellen Sektor und unter gering qualifizierten Arbeitnehmern sowie unter Migranten und Flüchtlingen zu spüren. Informell Beschäftigte sind anfälliger für Verarmung und Gesundheitsprobleme, da es ihnen an Unterstützungsmechanismen und Zugang zu sozialen Sicherheitsnetzen fehlt, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können (BS 23.2.2022).
Kurz gesagt, COVID-19 wird die Kluft zwischen den sozialen Schichten in Marokko vertiefen, zumal die Pandemie die Ungleichheiten beim Zugang zu Bildung verschärft hat, was es den Unterprivilegierten erschwert, ihre Lebensbedingungen zu verbessern (BS 23.2.2022).
Die Arbeitslosenquote liegt 2022 bei 12,1 % [Prognose] (WKO 22.6.2022). Die Arbeitslosenquote der Erwerbstätigen zwischen 15-64 lag 2021 bei 11,5 %, die Jugendarbeitslosenquote (15- 24 Jahre) lag bei 27,2 % (WKO 6.2022). Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher - vor allem unter der Jugend. Der informelle Bereich der Wirtschaft wird statistisch nicht erfasst, entfaltet aber erhebliche Absorptionskraft für den Arbeitsmarkt. Fremdsprachenkenntnisse - wie sie z. B. Heimkehrer aufweisen - sind insbesondere in der Tourismusbranche und deren Umfeld nützlich. Arbeitssuchenden steht die Internet-Plattform des nationalen Arbeitsmarktservices ANAPEC zur Verfügung (www.anapec.org), die neben aktueller Beschäftigungssuche auch Zugang zu Fortbildungsmöglichkeiten vermittelt. Unter 30-Jährige, die bestimmte Bildungsebenen erreicht haben, können mithilfe des OFPPT (www.ofppt.ma/) eine weiterführende Berufsausbildung einschlagen (ÖB 8.2021).
Armut ist weit verbreitet, und für einen großen Teil der Bevölkerung gibt es kaum wirtschaftliche Möglichkeiten (FH 28.2.2022). Die marokkanische Regierung führt Programme der Armutsbekämpfung (INDH) und des sozialen Wohnbaus. Eine staatlich garantierte Grundversorgung/arbeitsloses Basiseinkommen existiert allerdings nicht. Der Mindestlohn (SMIG) liegt bei 2.828 Dirham (ca. EUR 270). Ein Monatslohn von etwa dem Doppelten dieses Betrags gilt als durchaus bürgerliches Einkommen. Statistisch beträgt der durchschnittliche Monatslohn eines Gehaltsempfängers 4.060 Dirham, wobei allerdings die Hälfte der - zur Sozialversicherung angemeldeten - Lohnempfänger nur den Mindestlohn empfängt. Ein ungelernter Hilfsarbeiter erhält für einen Arbeitstag (10 Std.) ca. 100 Dirham, Illegale aus der Subsahara erhalten weniger (ÖB 8.2021).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdf, Zugriff 30.9.2022
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Country Report 2022 - Morocco, Güterloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069692/country_report_2022_MAR.pdf, Zugriff 30.9.2022
● FH - Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022, Morocco, https://freedomhouse.org/country/morocco/freedom-world/2022, Zugriff 30.9.2022
● ÖB - Österreichische Botschaft in Rabat [Österreich] (8.2021): Asylländerbericht Marokko, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060711/MARO_%C3%96B_Bericht_2021_08.pdf, Zugriff 30.9.2022
● WKO - Wirtschaftskammer Österreich (22.6.2022) : Aussenwirtschaft, Wirtschaftsbericht Marokko, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/marokko-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 30.9.2022
● WKO - Wirtschaftskammer Österreich (14.6.2022): Die marokkanische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-marokkanische-wirtschaft.html, Zugriff 30.9.2022
● WKO - Wirtschaftskammer Österreich (6.2022) : Länderprofil Marokko, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-marokko.pdf, Zugriff 30.9.2022
1.3.10. Medizinische Versorgung
Die medizinische Grundversorgung ist vor allem im städtischen Raum weitgehend gesichert (AA 24.11.2021). Die medizinische Versorgung durch Ärzte und Krankenhäuser in Marokko ist im Vergleich zur Weltbevölkerung unterdurchschnittlich. Pro 1000 Einwohner stehen im Land 1,0 Krankenhausbetten zur Verfügung. Der weltweite Mittelwert liegt hier bei 2,9 Betten. Innerhalb der EU stehen 4,6 Betten für jeweils 1000 Einwohner zur Verfügung (LI o.D.). Es gibt einen großen qualitativen Unterschied zwischen öffentlicher und (teurer) privater Krankenversorgung. Selbst modern und gut ausgestattete medizinische Einrichtungen garantieren keine europäischen Standards (AA 24.11.2021). Der öffentliche Gesundheitssektor ist in seiner Ausstattung und Qualität sowie bei der Hygiene überwiegend nicht mit europäischen Standards zu vergleichen. Lange Wartezeiten und Mangel an medizinischen Versorgungsgütern und Arzneien sind zu beobachten (ÖB 8.2021). Insbesondere das Hilfspersonal ist oft unzureichend ausgebildet, Krankenwagen sind in der Regel ungenügend ausgestattet. Die Notfallversorgung ist wegen Überlastung der Notaufnahmen in den Städten nicht immer gewährleistet, auf dem Land ist sie insbesondere in den abgelegenen Bergregionen unzureichend (AA 24.11.2021). Mit rund 27.200 ausgebildeten Ärzten in Marokko stehen pro 1000 Einwohner rund 0,73 Ärzte zur Verfügung (LI o.D.). Es kommt zu einem ungleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung in den verschiedenen Regionen. Etwa 52 % der Ärzte befinden sich in den beiden Regionen Rabat-Salé-Kénitra und Casablanca-Settat, obwohl dort nur 34 % der Bevölkerung leben (Gesundheitsministerium, 2016). So hat nur 30 % der Landbevölkerung Zugang zu Gesundheitseinrichtungen (BS 23.2.2022). Im Mai 2021 streikten die Ärzte im öffentlichen Dienst 48-Stunden lang, um gegen die Untätigkeit der Behörden zu protestieren, und forderten eine bessere Ausstattung der öffentlichen Krankenhäuser, wie auch bessere Gehalts- und Arbeitsbedingungen (AI 29.3.2022).
Private Spitäler, Ambulanzen und Ordinationen bieten medizinische Leistungen in ähnlicher Qualität wie in Europa an, wenn auch nicht in allen fachmedizinischen Bereichen gleich und örtlich auf die Städte beschränkt (Casablanca, Rabat, Tanger und andere größere Städte). Diese Dienstleistungen sind freilich mit entsprechenden Honoraren verbunden. Eine Konsultation beim Wahlarzt (Allgemeinmedizin) kostet ab 150 Dirham (13 €), beim Facharzt ab 200 (17 €) Dirham bis 500 (45 €) Dirham und mehr bei Spezialisten (zum Vergleich der Mindestlohn: 2.570 Dirham/234 €) (ÖB 8.2021).
Chronische und psychiatrische Krankheiten oder auch AIDS-Dauerbehandlungen lassen sich in Marokko vorzugsweise in privaten Krankenhäusern behandeln. Bei teuren Spezialmedikamenten soll es in der öffentlichen Gesundheitsversorgung bisweilen zu Engpässen kommen. Bei entsprechender Finanzkraft ist allerdings fast jedes lokal produzierte oder importierte Medikament erhältlich (AA 24.11.2021). Allerdings kann durch die medizinische Versorgung in Marokko die Sterblichkeit wesentlicher, bekannter Krankheiten weitestgehend reduziert werden. So sterben nach aktuellem Stand nur etwa 24 Prozent aller Menschen, die an Krebs, Diabetes, Herzkreislauferkrankungen oder der Chylomikronen-Retentions-Krankheit (CRD) leiden (LI o.D.).
Auf 1.775 Einwohner entfällt ein Arzt. 152 öffentliche Krankenhäuser führen etwas mehr als 25.440 Betten (ein Spitalsbett auf ca. 1.381 Einwohner); daneben bestehen 2.408 Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung. Inhaber der Carte RAMED können bei diesen Einrichtungen medizinische Leistungen kostenfrei erhalten. Wer weder unter das RAMED-System fällt, noch aus einem Anstellungsverhältnis pflichtversichert ist, muss für medizinische Leistungen aus eigenem aufkommen (ÖB 8.2021). Nach anderen Angaben sind medizinische Dienste kostenpflichtig und werden bei bestehender gesetzlicher Krankenversicherung von dieser erstattet. Es gibt ein an die Beschäftigung geknüpftes Kranken- und Rentenversicherungssystem (CNSS). Seit 2015 können sich unter bestimmten Umständen auch Studierende und sich legal im Land aufhaltende Ausländer versichern lassen. Mittellose Personen können auf Antrag bei der Präfektur eine Carte RAMED zur kostenfreien Behandlung erhalten (AA 24.11.2021).
Die Pandemie hat auch die Anfälligkeit der Gesundheitsinfrastrukturen deutlich gemacht. Marokko verdoppelte seine Kapazität an Krankenhausbetten, es wurden Testzentren eingerichtet und im Jänner 2021 startete landesweit eine massive Impfkampagne (BS 23.2.2022). Bis Ende des Jahres 2021 hatte Marokko rund 67 % der Bevölkerung vollständig gegen Covid-19 geimpft (AI 29.3.2022). Ende Jänner 2021 wurden 2,4 Infektionen pro 100.000 Menschen gemeldet, mit einer Sterblichkeitsrate von 1,8 %. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums starben mehr als 8.000 Menschen (BS 23.2.2022).
Im Bereich der Basis-Gesundheitsversorgung wurde 2012 das Programm RAMED eingeführt und erstreckt sich auf 8,5 Mio. Einwohner der untersten Einkommensschichten bzw. auf vulnerable Personen, die bisher keinen Krankenversicherungsschutz genossen. Im Oktober 2012 waren bereits 1,2 Mio. Personen im RAMED erfasst (knapp 3% der Haushalte). RAMED wird vom Sozialversicherungsträger ANAM administriert, der auch die Pflichtkrankenversicherung AMO der unselbständig Beschäftigten verwaltet. Zugang haben Haushaltsvorstände und deren Haushaltsangehörige, die keiner anderen Pflicht-Krankenversicherung unterliegen. Die Teilnahme an RAMED ist gratis (Carte RAMED), lediglich vulnerable Personen zahlen einen geringen Beitrag (11 € pro Jahr pro Person). Ansprechbar sind die Leistungen im staatlichen Gesundheitssystem (Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung und Vorsorge sowie Krankenhäuser) im Bereich der Allgemein- und Fachmedizin, stationärer Behandlung, Röntgendiagnostik etc. Die Dichte und Bestückung der medizinischen Versorgung ist auf einer Website des Gesundheitsministeriums einsehbar (ÖB 8.2021)
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdf, Zugriff 30.9.2022
● AI - Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; The State of the World’s Human Rights; Morocco and Western Sahara 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070307.html, Zugriff am 30.9.2022
● BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Country Report 2022 – Morocco, Güterloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069692/country_report_2022_MAR.pdf, Zugriff 30.9.2022
● LI - Länder.info (o.D.): Gesundheitswesen in Marokko, https://www.laenderdaten.info/Afrika/Marokko/gesundheit.php, Zugriff 27.9.2022
● ÖB - Österreichische Botschaft in Rabat [Österreich] (8.2021): Asylländerbericht Marokko, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060711/MARO_%C3%96B_Bericht_2021_08.pdf, Zugriff 30.9.2022
1.3.11. Rückkehr
Das Stellen eines Asylantrags im Ausland ist nicht strafbar und wird nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts von den Behörden nicht als Ausdruck oppositioneller Gesinnung gewertet (AA 24.11.2021). Staatliche und sonstige Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer gibt es nicht (AA 24.11.2021).
Auf institutioneller Basis wird Rückkehrhilfe von IOM organisiert, sofern der abschiebende Staat mit IOM eine diesbezügliche Vereinbarung (mit Kostenkomponente) eingeht; Österreich hat eine solche Abmachung getroffen. Freiwillige Rückkehrer werden bei der Ausreise und auch bei der Einreise nach Marokko unterstützt. Freiwillige Rückkehrer aus Österreich nach Marokko haben zudem die Möglichkeit, nach Bestätigung der Projektaufnahme durch das BFA und Erfüllung der Teilnahmekriterien, am Reintegrationsprojekt ERRIN, welches vom BMI in Österreich noch bis 30.6.2022 umgesetzt wird, teilzunehmen. Zudem kann es Unterstützungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene über den EU Trust Fund (EU-IOM Joint Initiative for Migrant Protection and Reintegration in North Africa) geben, diese wären aber gesondert nochmals nach Aktualität und Verfügbarkeit für Rückkehrer aus Österreich abzufragen (IOM 25.4.2022).
Quellen:
● AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.11.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2064695/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2021%29%2C_24.11.2021.pdf, Zugriff 30.9.2022
● IOM - International Organisation for Migration (25.4.2022): Informationen zur freiwilligen Rückkehr nach Marokko, Auskunft von IOM via E-Mail, Quelle liegt in der Staatendokumentation auf
2. Beweiswürdigung:
Der erkennende Einzelrichter des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:
2.1. Zum Sachverhalt:
Der oben unter Punkt römisch eins. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten der belangten Behörde und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.
Die belangte Behörde hat ein mängelfreies, ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammengefasst. Das Bundesverwaltungsgericht verweist daher zunächst auf diese schlüssigen und nachvollziehbaren beweiswürdigenden Ausführungen der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid.
2.2 Zur Person des BF:
Die Identität des BF steht in Ermangelung geeigneter, identitätsbezeugender Dokumente nicht fest.
Die Feststellungen zu seiner Staatsangehörigkeit, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinem Familienstand, seiner Herkunft, seiner Schulbildung und Arbeitserfahrung und zu seinen familiären Anknüpfungspunkten in der Heimat ergeben sich aus seinen entsprechenden Äußerungen gegenüber der belangten Behörde und dem rechtskräftigen Bescheid vom 25.07.2022. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person des BF aufkommen lässt. Die entsprechenden Feststellungen im gegenständlich angefochtenen Bescheid blieben unwidersprochen.
Die Feststellung zu seiner erstmaligen Einreise ins Bundesgebiet am 23.06.2022, zu seinem vorangegangenen Asylverfahren und der Missachtung der daraus entstandenen Ausreiseverpflichtung ergibt sich aus den Verwaltungsakten.
Dass er nach negativem Ausgang seines ersten Asylverfahren das Bundesgebiet verließ und sich in anderen europäischen Ländern aufhielt, beruht auf den Angaben des BF vor der belangten Behörde in Zusammenschau mit den im Zentralen Melderegister erfassten Daten. Seine Wiedereinreise im März 2023 ergibt sich aus dem Datum seiner zweiten Asylantragstellung.
Der BF gab am 24.04.2023 vor der belangten Behörde an, gesund zu sein (AS 39). Da sich auch aus dem Akteninhalt nichts Gegenteiliges ergab, konnte die entsprechende Feststellung getroffen werden. Aufgrund dessen und in Anbetracht des jungen Alters des BF konnte auf dessen Arbeitsfähigkeit geschlossen werden.
Die Feststellung, dass der BF bis 03.06.2023 Leistungen über die staatliche Grundversorgung bezog, ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage der Applikation Betreuungsinformation (Grundversorgung). Daraus ergibt sich, dass der BF aufgrund unbekannten Aufenthalts von der Grundversorgung abgemeldet wurde.
Dass er weder in Österreich noch einem sonstigen Mitgliedsstaat der Europäischen Union über Familienangehörige verfügt, gab er vor der belangten Behörde an (AS 41).
Die Zeiträume, in welchen er im Zentralen Melderegister erfasst war, ergeben sich aus einer aktuellen ZMR-Abfrage.
Die Feststellung, wonach der BF keiner legalen Beschäftigung in Österreich nachgegangen ist, beruht auf dem eingeholten Sozialversicherungsauszug. Dass er auch sonst über keinerlei Anbindungen an Österreich verfügt, geht aus seinen Angaben im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme am 24.04.2023 zweifelsfrei hervor. Auch im Beschwerdeschriftsatz wurde kein gegenteiliges Vorbringen erstattet.
Seine strafgerichtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage im Strafregister der Republik Österreich.
2.3. Zu den Fluchtmotiven des BF und zur Rückkehrgefährdung:
Die Feststellungen zu dem rechtskräftig abgeschlossenen vorangegangenen Asylverfahren und zum gegenständlichen Asylverfahren resultieren aus den vorliegenden Verwaltungs- und Gerichtsakten.
Der BF hatte im Verfahren zu seinem ersten Antrag auf internationalen Schutz vom 23.06.2022 lediglich wirtschaftliche Gründe für seine Ausreise aus Marokko genannt. Das BFA kam mit Bescheid vom 25.07.2022 zu dem Schluss, dass der BF damit keine Fluchtgründe iSd Genfer Flüchtlingskonvention geltend gemacht hat.
Gegen diesen Bescheid wurde kein Rechtsmittel erhoben, sodass er am 22.08.2022 in Rechtskraft erwuchs.
Am 29.03.2023 stellte der BF einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit verfahrensgegenständlichem Bescheid des BFA vom 23.05.2023 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurde.
In der Erstbefragung hinsichtlich seines Folgeantrags am 29.03.2023 gab der BF erneut lediglich wirtschaftliche Gründe für das Verlassen seines Herkunftsstaats an.
In der Einvernahme vor der belangten Behörde am 24.04.2023 gab der BF zudem an, er habe 2017 oder 2018 Probleme mit den Behörden in Marokko gehabt. Er habe auf einem Bazar gearbeitet. Immer wieder sei das Ordnungsamt gekommen und habe seine Waren mitgenommen. Einmal sei es zu einer Streiterei gekommen, dann habe er Platzverbot bekommen.
Vom Bundesverwaltungsgericht ist im gegenständlichen Verfahren zu prüfen, ob zwischen der Rechtskraft des vorangegangenen Bescheides des BFA und der Zurückweisung des gegenständlichen Antrages wegen entschiedener Sache mit Bescheid vom 23.05.2023 eine wesentliche Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten ist.
Dabei konnte festgestellt werden, dass keine neuen entscheidungsrelevanten Fluchtgründe vorgebracht wurden, denen zumindest ein glaubhafter Kern innewohnt.
Bezüglich der weiterhin als Fluchtgrund aufrecht erhaltenen wirtschaftlichen Gründe aus dem Vorverfahren ist anzumerken, dass sich in dieser Hinsicht seit Rechtskraft der erstinstanzlichen Entscheidung keine Änderung ergeben hat und deshalb kein neu entstandener Sachverhalt erkannt werden konnte. Wirtschaftliche Gründe stellen keine Fluchtgründe iSd Genfer Flüchtlingskonvention dar.
Der BF hat auch kein substantiiertes neues Vorbringen erstattet. Das Vorbringen im gegenständlichen Verfahren, 2017 oder 2018 Probleme mit den Behörden gehabt zu haben, ist – unabhängig von der mangelnden Glaubhaftigkeit bzw. mangelnden Asylrelevanz – auf Tatsachen bezogen, die bereits zur Zeit des ersten Asylverfahrens bestanden haben. Von der belangten Behörde befragt, warum er diese Gründe nicht im ersten Asylverfahren geltend gemacht habe, gab der BF an, er habe bis zu seiner Einvernahme warten wollen. Warum er dann untergetaucht sei, wisse er nicht (AS 43).
Der BF macht auch mit seinem nunmehrigen Vorbringen, Probleme mit dem Ordnungsamt gehabt zu haben und ein Platzverbot erhalten zu haben, keinen Fluchtgrund iSd Genfer Flüchtlingskonvention geltend. Sofern der BF damit eine (nicht näher begründete) Verfolgung von Seiten der marokkanischen Behörden indiziert, ist eine solche schon deshalb nicht glaubhaft, weil der BF erst 2021, somit drei oder vier Jahre nach den Streitereien am Markt ausgereist ist und bis dahin offensichtlich unbescholten in römisch 40 leben konnte. Auch ist nicht nachvollziehbar, warum er eine solche Verfolgung nicht schon bei der Erstbefragung hinsichtlich seines Folgeantrags erwähnt hat. Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte er jedoch ausschließlich wirtschaftliche Gründe vor. Darauf vor der belangten Behörde angesprochen, meinte er, er sei nicht dazu gefragt worden. Auf Vorhalt der im Protokoll der Erstbefragung festgehaltenen Frage „Warum haben Sie Ihr Land verlassen?“, gab der BF sodann an, er habe „denen“ nichts sagen wolle, er habe es „hier“ sagen wollen (AS 43).
Es wurde daher im gegenständlichen Verfahren kein substantiiertes, und – da die geltend gemachten Gründe zudem bereits vor Abschluss des vorigen Asylverfahrens vorgelegen hätten – auch kein neues Vorbringen erstattet.
Da keine neuen Fluchtgründe festgestellt werden konnten, liegt nahe, dass der BF mit dem Folgenantrag den Versuch unternommen hat, seinen Aufenthalt im Bundesgebiet zu verlängern.
Es ist sohin den Ausführungen der belangten Behörde beizutreten, dass der BF keinen neuen entscheidungserheblichen Sachverhalt hinsichtlich seiner Fluchtgründe vorgebracht hat.
Der BF bestreitet den von der belangten Behörde festgestellten Sachverhalt nicht substantiiert und erstattete in der Beschwerde auch kein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen, sondern beschränkte sich auf allgemeine Rechtsausführungen, sodass das Bundesverwaltungsgericht den maßgeblichen Sachverhalt als ausreichend ermittelt ansieht und sich der von der belangten Behörde vorgenommenen, nachvollziehbaren Beweiswürdigung vollumfänglich anschließt.
Bei Folgeanträgen sind die Asylbehörden auch dafür zuständig, mögliche Sachverhaltsänderungen in Bezug auf den subsidiären Schutzstatus des Antragstellers einer Prüfung zu unterziehen vergleiche VwGH 15.05.2012, 2012/18/0041).
Mit Bescheid des BFA vom 25.07.2022 wurde der Antrag des BF auch hinsichtlich der Gewährung von subsidiärem Schutz abgewiesen, da keine Verfolgung im Herkunftsland festgestellt werden konnte und es dem BF zumutbar und möglich sei, als gesundem Mann im arbeitsfähigen Alter in seinem Heimatland existentiell wieder Fuß zu fassen. Zudem verfüge der BF über familiären Rückhalt.
Auch in Bezug auf eine etwaige Rückkehrgefährdung im Sinne einer realen Gefahr einer Verletzung der in Artikel 2 und 3 EMRK verankerten Rechte des BF ist keine Änderung des Sachverhaltes erkenntlich.
Es ist zu betonen, dass der BF volljährig und erwerbsfähig ist, zudem ledig und ohne Sorgepflichten. Er hat in Marokko die Schule besucht, als Elektriker gearbeitet und spricht nach wie vor die Landessprache. Es sind keinerlei Gründe ersichtlich, weshalb er nicht in der Lage sein sollte, sich in seinem Herkunftsstaat durch die Aufnahme einer Tätigkeit, selbst wenn es sich dabei um eine Hilfstätigkeit handelt, eine Lebensgrundlage zu schaffen.
Somit ist auch in Bezug auf eine etwaige Rückkehrgefährdung im Sinne einer realen Gefahr einer Verletzung der in Artikel 2 und 3 EMRK verankerten Rechte des BF keine Änderung des Sachverhaltes erkenntlich.
Bei Marokko handelt es sich nach wie vor um einen sicheren Herkunftsstaat.
Es ist nicht bekannt, dass in Marokko gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefahr im Sinn der Artikel 2, oder 3 EMRK ausgesetzt ist, und es besteht auch nicht auf dem gesamten Staatsgebiet von Marokko ein innerstaatlicher oder internationaler Konflikt, durch den mit einem Aufenthalt in Marokko für eine Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt verbunden wäre.
2.4. Zum Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Marokko vom 03.10.2022 samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen. Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von internationalen Organisationen sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Der BF trat diesen Quellen und deren Kernaussagen zur Situation im Herkunftsland nicht substantiiert entgegen.
Aufgrund der Kürze der verstrichenen Zeit zwischen der Erlassung des bekämpften Bescheides und der vorliegenden Entscheidung ergeben sich keine Änderungen zu den im bekämpften Bescheid getroffenen Länderfeststellungen und wird Marokko wie schon zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung weiterhin als sicherer Herkunftsstaat gemäß Paragraph eins, Ziffer 9, HStV geführt. Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich daher diesen Feststellungen vollinhaltlich an.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde
3.1. Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten wegen entschiedener Sache (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheids):
Da die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid den Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen hat, ist Prozessgegenstand der vorliegenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes nur die Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Zurückweisung, nicht aber der zurückgewiesene Antrag selbst.
Entschiedene Sache liegt vor, wenn sich gegenüber dem früheren Bescheid weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert haben (VwGH 21. 3. 1985, 83/06/0023, u.a.). Aus Paragraph 68, AVG ergibt sich, dass Bescheide mit Eintritt ihrer Unanfechtbarkeit auch prinzipiell unwiderrufbar werden, sofern nichts anderes ausdrücklich normiert ist. Über die mit einem rechtswirksamen Bescheid erledigte Sache darf nicht neuerlich entschieden werden. Nur eine wesentliche Änderung des Sachverhaltes – nicht bloß von Nebenumständen – kann zu einer neuerlichen Entscheidung führen vergleiche z.B. VwGH 27. 9. 2000, 98/12/0057; siehe weiters die bei Walter/Thienel, Die Österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze, Bd. römisch eins, 2. Aufl. 1998, E 80 zu Paragraph 68, AVG wiedergegebene Judikatur).
Es ist Sache der Partei, die in einer rechtskräftig entschiedenen Angelegenheit eine neuerliche Sachentscheidung begehrt, dieses Begehren zu begründen (VwGH 8. 9. 1977, 2609/76).
Nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu dieser Bestimmung liegen verschiedene "Sachen" im Sinne des Paragraph 68, Absatz eins, AVG dann vor, wenn in der für den Vorbescheid maßgeblichen Rechtslage oder in den für die Beurteilung des Parteibegehrens im Vorbescheid als maßgeblich erachteten tatsächlichen Umständen eine Änderung eingetreten ist oder wenn das neue Parteibegehren von dem früheren abweicht. Eine Modifizierung, die nur für die rechtliche Beurteilung der Hauptsache unerhebliche Nebenumstände betrifft, kann an der Identität der Sache nichts ändern vergleiche VwGH 24. 2. 2005, 2004/20/0010 bis 0013; VwGH 4. 11. 2004, 2002/20/0391; VwGH 20. 3. 2003, 99/20/0480; VwGH 21. 11. 2002, 2002/20/0315).
Bei der Prüfung der Identität der Sache ist von dem rechtskräftigen Vorbescheid auszugehen, ohne die sachliche Richtigkeit desselben (nochmals) zu überprüfen; die Rechtskraftwirkung besteht gerade darin, dass die von der Behörde einmal untersuchte und entschiedene Sache nicht neuerlich untersucht und entschieden werden darf vergleiche VwGH 19.09.2013, 2011/01/0187; VwGH 25.04.2002, 2000/07/0235; VwGH 15.10.1999, 96/21/0097). Nur eine solche Änderung des Sachverhaltes kann zu einer neuen Sachentscheidung führen, die für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die Abweisung des Parteibegehrens gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann vergleiche VwGH 9. 9. 1999, 97/21/0913; und die bei Walter/Thienel, Die österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze, Bd. römisch eins, 2. Aufl. 1998, E 90 zu Paragraph 68, AVG wiedergegebene Judikatur).
Ist davon auszugehen, dass ein/eine Asylwerber/Asylwerberin einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz auf behauptete Tatsachen stützt, die bereits zum Zeitpunkt des ersten Asylverfahrens bestanden haben, die dieser/diese jedoch nicht bereits im ersten Verfahren vorgebracht hat, liegt schon aus diesem Grund keine Sachverhaltsänderung vor und ist der weitere Antrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen vergleiche VwGH 4. 11. 2004, 2002/20/0391; VwGH 24. 8. 2004; 2003/01/0431; VwGH 21. 11. 2002, 2002/20/0315; VwGH 24. 2. 2000, 99/20/0173; VwGH 21. 10. 1999, 98/20/0467).
Ist Sache der Entscheidung der Rechtsmittelbehörde nur die Frage der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung, darf sie demnach nur über die Frage entscheiden, ob die Zurückweisung durch die Vorinstanz zu Recht erfolgt ist oder nicht, und hat dementsprechend - bei einer Zurückweisung wegen entschiedener Sache - entweder (im Falle des Vorliegens entschiedener Sache) das Rechtsmittel abzuweisen oder (im Falle der Unrichtigkeit dieser Auffassung) den bekämpften Bescheid ersatzlos mit der Konsequenz zu beheben, dass die erstinstanzliche Behörde in Bindung an die Auffassung der Rechtsmittelbehörde den Antrag jedenfalls nicht neuerlich wegen entschiedener Sache zurückweisen darf. Es ist der Rechtsmittelbehörde aber verwehrt, über den Antrag selbst meritorisch zu entscheiden vergleiche VwGH 30. 5. 1995, 93/08/0207).
Für das Bundesverwaltungsgericht ist daher Sache des gegenständlichen Verfahrens die Frage, ob das BFA den neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz des BF zu Recht gemäß Paragraph 68, Absatz eins, AVG zurückgewiesen hat.
Die Anwendbarkeit des Paragraph 68, AVG setzt gemäß Absatz eins, das Vorliegen eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides, d. h. eines Bescheides, der mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht (mehr) bekämpft werden kann, voraus. Diese Voraussetzung ist hier gegeben, der Bescheid des BFA vom 25.07.2022 ist am 22.08.2022 unangefochten in Rechtskraft erwachsen.
Im Hinblick auf wiederholte Anträge auf internationalen Schutz entspricht es der ständigen Judikatur des VwGH, dass nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung - nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen - berechtigen und verpflichten kann, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufweisen, dem Relevanz zukommt vergleiche VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0252 mit Verweis auf VwGH 23.9.2020, Ra 2020/14/0175). Könnten die behaupteten neuen Tatsachen zu einem anderen Verfahrensergebnis führen, bedarf es einer die gesamten bisherigen Ermittlungsergebnisse einbeziehenden Auseinandersetzung mit ihrer Glaubhaftigkeit vergleiche VwGH 19.07.2021, Ra 2021/18/0088 mit Verweis auf VwGH 22.11.2005, 2005/01/0626; VwGH 22.12.2005, 2005/20/0556; VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0025; VwGH 05.06.2019, Ra 2018/18/0507; VwGH 7.2.2020, Ra 2019/18/0487).
Das BFA hat - wie in der Beweiswürdigung zusammengefasst - völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass entschiedene Sache vorliegt. Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich der Auffassung der belangten Behörde an, dass die Angaben des BF im gegenständlichen Verfahren nicht geeignet sind, eine neue inhaltliche Entscheidung zu bewirken und dass darin kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt festgestellt werden kann. Der BF brachte im gegenständlichen Asylverfahren keine entscheidungsrelevanten neuen Fluchtgründe vor, denen zumindest ein glaubhafter Kern innewohnt.
Dahingehend ist auch auf die aktuelle Judikatur des VwGH zu verweisen, wonach eine Zurückweisung wegen entschiedener Sache auch nach dem Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH zur Zl. C-18/20 weiterhin statthaft ist, wenn zwar neue Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, die Änderungen aber lediglich Umstände betreffen, die von vornherein zu keiner anderen Entscheidung in Bezug auf die Frage der Zuerkennung eines Schutzstatus führen können vergleiche VwGH 19.10.2021, Ro 2019/14/0006-13, Rz 76).
Da weder in der maßgeblichen Sachlage, und zwar im Hinblick auf jenen Sachverhalt, der in der Sphäre des BF gelegen ist, noch auf jenen, welcher von Amts wegen aufzugreifen ist, noch in den anzuwendenden Rechtsnormen eine Änderung eingetreten ist, welche eine andere rechtliche Beurteilung des Anliegens nicht von vornherein als ausgeschlossen scheinen ließe, liegt entschiedene Sache vor, über welche nicht neuerlich meritorisch entschieden werden kann. Der angefochtene Spruchpunkt römisch eins. war sohin vollinhaltlich zu bestätigen.
3.2. Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache (Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheids):
Bei Folgeanträgen sind die Asylbehörden auch dafür zuständig, mögliche Sachverhaltsänderungen in Bezug auf den subsidiären Schutzstatus des Antragstellers einer Prüfung zu unterziehen vergleiche VwGH 15.05.2012, 2012/18/0041).
Zu überprüfen ist auch, ob sich der Sachverhalt bzw. die Rechtslage in Bezug auf den Status eines subsidiär Schutzberechtigten verändert hat.
Eine Änderung der Lage in Marokko ist nicht erfolgt. Risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf den BF wurden im Verfahren nicht vorgebracht und wurde nicht dargelegt, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation in Marokko und den hiermit verbundenen Umständen spezifisch von willkürlicher Gewalt betroffen wäre. Solche Umstände sind im Verfahren auch nicht hervorgekommen. Es gibt auch keine Hinweise auf eine allgemeine existenzbedrohende Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse). Es kann auf Basis der Länderfeststellungen nicht davon ausgegangen werden, dass generell jeder im Falle einer Rückkehr nach Marokko mit existentiellen Nöten konfrontiert ist.
Zu prüfen sind aber auch etwaige Änderungen in der Person des BF, welche eine neue Refoulement-Prüfung notwendig machen könnten. Das BFA hatte im Bescheid vom 25.07.2022 festgestellt, dass der BF gesund sei und keine Umstände vorliegen würden, die einer Rückkehr nach Marokko entgegenstehen würden.
Auch in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA im gegenständlichen Verfahren gab der BF an, gesund zu sein.
Es wurden im gegenständlichen Verfahren unter Berücksichtigung der individuellen Situation des BF keine exzeptionellen Umstände aufgezeigt, wonach im Falle seiner Rückkehr nach Marokko die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz im konkreten Fall nicht gedeckt werden könnten vergleiche Punkt römisch II.2.3.).
Es ist daher auch in Bezug auf die Frage des Status der subsidiär Schutzberechtigten keine Änderung des Sachverhalts gegenüber der rechtskräftigen Vorentscheidung eingetreten.
Die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache war daher rechtmäßig, weshalb die Beschwerde auch hinsichtlich Spruchpunkt römisch II. abzuweisen war.
3.3. Zur Nichtgewährung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides):
Im Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheids sprach das BFA aus, dass dem BF ein Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ gemäß „§ 57 AsylG“ nicht erteilt werde. Damit war nach der Begründung zweifelsfrei das in Paragraph 57, AsylG 2005 beschriebene Rechtsinstitut „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemeint.
Gemäß Paragraph 58, Absatz eins, Ziffer 5, AsylG 2005 hat das BFA die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.
Der BF hat einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz gestellt, aufgrund dessen er sich gegenwärtig in Österreich aufhält. Er fällt somit nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG. Er hält sich seit 22.08.2022 nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Die belangte Behörde hat somit zu Recht die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 geprüft.
Nach Paragraph 57, Absatz eins, AsylG 2005 ist eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz in drei Fallkonstellationen zu erteilen, nämlich (jeweils unter weiteren Voraussetzungen) nach mindestens einem Jahr der Duldung (Ziffer eins,), zur Sicherung der Strafverfolgung gerichtlich strafbarer Handlungen und zur Geltendmachung oder Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche im Zusammenhang mit solchen Handlungen (Ziffer 2,) sowie bei Gewaltopfern, die glaubhaft machen, dass die Erteilung dieser Aufenthaltsberechtigung zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Ziffer 3,).
Der Aufenthalt des BF ist weder zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig, noch ist der BF Opfer von Gewalt im Sinne des Paragraph 57, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG.
Die belangte Behörde hat daher zu Recht festgestellt, dass beim BF insgesamt die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG nicht vorliegen.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes römisch III. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG abzuweisen war.
3.4. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides):
3.4.1. Rechtslage
Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Diese Bestimmungen sind auch bei der Zurückweisung eines Folgeantrags nach Paragraph 68, Absatz eins, AVG anzuwenden, da weiterhin eine rechtskräftige abweisende Entscheidung gemäß Paragraphen 3 und 8 AsylG 2005 vorliegt vergleiche VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0082). Dies gilt nur, sofern keine mit einem Einreiseverbot verbundene aufrechte Rückkehrentscheidung vorliegt oder neue Tatsachen im Hinblick auf ein Einreiseverbot hervorkommen oder entstehen vergleiche Paragraph 59, Absatz 5, FPG).
Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, nicht erteilt wird.
Gemäß Artikel 8, Absatz eins, EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Gemäß Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Interessensabwägung sind – wie in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen.
3.4.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall
Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Punktes 3.3. ergaben sich keine Indizien dafür, dass der BF einen Sachverhalt verwirklicht hat, bei dem ihm ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG (Aufenthaltstitel besonderer Schutz) zu erteilen wäre.
Zu prüfen ist daher, ob eine Rückkehrentscheidung mit Artikel 8, EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach Paragraph 55, AsylG überhaupt in Betracht käme.
Der bisherige Aufenthalt des BF fußt auf zwei unbegründeten Asylanträgen, die der BF lediglich aufgrund seiner illegalen Einreise bzw. seiner illegalen Wiedereinreise ins Bundesgebiet stellen konnte. Zudem hat der BF der rechtkräftigen Rückkehrentscheidungen vom 22.08.2022 keine Folge geleistet. Er hat zwar das Bundesgebiet verlassen, hielt sich jedoch bis zu seiner erneuten Einreise in Österreich im März 2023 in anderen europäischen Ländern auf.
Der BF hält sich somit aktuell erst wenige Monate in Österreich auf. Der Aufenthalt des BF beruht auf einer vorläufigen, nicht endgültig gesicherten rechtlichen Grundlage, weshalb dieser während der gesamten Daher des Aufenthaltes in Österreich nicht darauf vertrauen durfte, dass er sich in Österreich auf rechtlich gesicherte Weise bleibend verfestigen kann.
Das Gewicht seiner (allenfalls vorhandenen) privaten Interessen wird daher dadurch gemindert, dass sie in einem Zeitpunkt entstanden, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war vergleiche VwGH 19.02.2009, 2008/18/0721; 30.04.2009, 2009/21/0086; VfSlg. 18.382/2008 mHa EGMR 24.11.1998, 40.447/98, Mitchell; EGMR 11.04.2006, 61.292/00, Useinov). Der BF verfügt über kein Familienleben in Österreich und hat ein solches auch nicht behauptet. Es fehlen alle Sachverhaltselemente, aus denen sich die Existenz gewisser – unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens relevanter – Bindungen allenfalls hätte ergeben können (wie etwa Teilnahme am Erwerbsleben und am sozialen Leben in Österreich, Selbsterhaltungsfähigkeit, Erwerb von nachweisbaren Sprachkenntnissen). Solche Bindungen lassen sich naturgemäß bei einem mehrmonatigen Aufenthalt nicht in der geforderten Intensität aufbauen. Gleichzeitig hat der BF in seinem Herkunftsstaat, in dem er aufgewachsen ist und sein bisheriges Leben verbracht hat, sprachliche und kulturelle Verbindungen und auch familiäre Anknüpfungspunkte.
Dem allenfalls bestehenden Interesse des BF an einem Verbleib in Österreich (bzw. Europa) steht das öffentliche Interesse daran gegenüber, dass das geltende Migrationsrecht auch vollzogen wird, indem Personen, die ohne Aufenthaltstitel aufhältig sind – gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz – auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden. Bei einer Gesamtbetrachtung wiegt unter diesen Umständen das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Durchsetzung der geltenden Bedingungen des Einwanderungsrechts und an der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, denen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung – und damit eines von Artikel 8, Absatz 2, EMRK erfassten Interesses – ein hoher Stellenwert zukommt vergleiche z. B. VwGH 30.04.2009, 2009/21/0086), schwerer als die schwach ausgebildeten privaten Interessen des BF am Verbleib in Österreich.
Ebenso wenig vermag die strafgerichtliche Unbescholtenheit seine persönlichen Interessen entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.2010, 2010/18/0029).
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung kann daher nicht im Sinne von Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG als unzulässig angesehen werden, weshalb auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Paragraph 55, AsylG nicht in Betracht kommt.
Die sonstigen Voraussetzungen einer Rückkehrentscheidung nach Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG und Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG sind erfüllt. Sie ist auch sonst nicht (z. B. vorübergehend nach Artikel 8, EMRK, vergleiche Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG und VwGH 28.04.2015, Ra 2014/18/0146) unzulässig. Der BF verfügt auch über kein sonstiges Aufenthaltsrecht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes römisch IV. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG in Verbindung mit Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG und Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG abzuweisen war.
3.5. Zum Ausspruch, dass die Abschiebung nach Marokko zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheids):
3.5.1. Rechtslage
Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist. Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß Paragraph 50, Absatz eins, FPG unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 EMRK oder deren 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Gemäß Paragraph 50, Absatz 2, FPG ist die Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG ist die Abschiebung unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.5.2. Anwendung der Rechtslage auf den vorliegenden Fall
Im vorliegenden Fall liegen keine Gründe vor, wonach die Abschiebung in den Herkunftsstaat gemäß Paragraph 50, Absatz eins, FPG unzulässig wäre.
Ein inhaltliches Auseinanderfallen der Entscheidungen nach Paragraph 8, Absatz eins, AsylG (zur Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz) und nach Paragraph 52, Absatz 9, FPG (zur Frage der Zulässigkeit der Abschiebung) ist ausgeschlossen. Damit ist es unmöglich, die Frage der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Rahmen der von Amts wegen zu treffenden Feststellung nach Paragraph 52, Absatz 9, FPG neu aufzurollen und entgegen der getroffenen Entscheidung über die Versagung von Asyl und subsidiärem Schutz anders zu beurteilen vergleiche dazu etwa VwGH, 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 und auch die Beschlüsse VwGH 19.02.2015, Ra 2015/21/0005 und 30.06.2015, Ra 2015/21/0059 – 0062).
Die Abschiebung ist auch nicht unzulässig im Sinne des Paragraph 50, Absatz 2, FPG, da dem BF keine Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Weiters steht keine Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der Abschiebung entgegen.
Die im angefochtenen Bescheid getroffene Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Marokko erfolgte daher zu Recht.
Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie hinsichtlich des Spruchpunktes römisch fünf. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG in Verbindung mit Paragraph 52, Absatz 9, FPG abzuweisen war.
3.6. Zur Nichtgewährung der Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt römisch VI. des angefochtenen Bescheids):
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins a, FPG besteht u. a. eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß Paragraph 68, AVG.
Zu Recht hat daher die belangte Behörde Paragraph 55, Absatz eins a, FPG zur Anwendung gebracht. Die Beschwerde erweist sich daher insoweit als unbegründet, dass sie auch hinsichtlich des Spruchpunktes römisch VII. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG abzuweisen war.
3.7. Zur Stattgabe der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch VII. des angefochtenen Bescheides (Erlassung eines Einreiseverbots):
3.7.1. Rechtslage:
Der mit „Einreiseverbot“ betitelte Paragraph 53, FPG in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 56 aus 2018, lautete:
„§ 53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
Anmerkung, Absatz eins a, aufgehoben durch Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2013,)
(2) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist, vorbehaltlich des Absatz 3,, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige
1. wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß Paragraph 20, Absatz 2, der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, in Verbindung mit Paragraph 26, Absatz 3, des Führerscheingesetzes (FSG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 120 aus 1997,, gemäß Paragraph 99, Absatz eins,, 1 a, 1 b oder 2 StVO, gemäß Paragraph 37, Absatz 3, oder 4 FSG, gemäß Paragraph 366, Absatz eins, Ziffer eins, der Gewerbeordnung 1994 (GewO), Bundesgesetzblatt Nr. 194, in Bezug auf ein bewilligungspflichtiges, gebundenes Gewerbe, gemäß den Paragraphen 81, oder 82 des SPG, gemäß den Paragraphen 9, oder 14 in Verbindung mit Paragraph 19, des Versammlungsgesetzes 1953, Bundesgesetzblatt Nr. 98, oder wegen einer Übertretung des Grenzkontrollgesetzes, des Meldegesetzes, des Gefahrengutbeförderungsgesetzes oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist;
2. wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1 000 Euro oder primären Freiheitsstrafe rechtskräftig bestraft wurde;
3. wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist, sofern es sich dabei nicht um eine in Absatz 3, genannte Übertretung handelt;
4. wegen vorsätzlich begangener Finanzvergehen oder wegen vorsätzlich begangener Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden ist;
5. wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften, mit denen die Prostitution geregelt ist, rechtskräftig bestraft worden ist;
6. den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag;
[…]“
Die Ziffer 6, des Paragraph 53, Absatz 2, FPG in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 56 aus 2018, wurde mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 06.12.2022, G 264/2022-7, im Bundesgesetzblatt kundgemacht am 27.12.2022, als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Aufzählung des Paragraph 53, FPG ist demonstrativ, was auch eindeutig aus dem Gesetzestext hervorgeht, nachdem klar festgestellt wird, dass eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit insbesondere gegeben ist, wenn einer der aufgezählten Tatbestände des Paragraph 53, Absatz 2, FPG vorliegt. Es sind daher weitere Verhaltensweisen, welche die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden, ebenso geeignet, ein Einreiseverbot zu rechtfertigen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 15. Dezember 2011, 2011/21/0237, zur Rechtslage nach dem FrÄG 2011 ausgeführt, dass unter Beachtung der Gesetzesmaterialien zu dieser Novelle (ErlRV 1078 BlgNR 24. Gesetzgebungsperiode 29 ff) bei der Bemessung eines Einreiseverbotes nach Paragraph 53, FPG eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, bei der die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen hat, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchem zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Ziffer eins bis 9 des Paragraph 53, Absatz 2, FPG anzunehmen. In den Fällen des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FPG ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinn der Ziffer 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht vergleiche zum Erfordernis einer Einzelfallprüfung aus der ständigen Rechtsprechung auch etwa VwGH 10.4.2014, 2013/22/0310, 30.7.2014, 2013/22/0281; VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009).
Bei der Erstellung der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in Paragraph 53, Absatz 2, FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist. Bei dieser Beurteilung kommt es demnach nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf das diesem zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild an vergleiche etwa VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0116, mwN).
3.7.2. Anwendung der Rechtslage auf den Beschwerdefall:
Die belangte Behörde hat das gegenständliche Einreiseverbot zum einen auf die Stellung eines unbegründeten und missbräuchlichen Asylantrags durch den BF und zum anderen auf den Tatbestand des Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer 6, FPG gestützt. Letzteres wurde mit dem Umstand begründet, dass der Aufenthalt des BF eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, zumal dieser die ihm zur Verfügung stehenden Mittel für die Bestreitung seines Lebensunterhaltes nicht benennen bzw. nachweisen habe können und demnach von einer Mittellosigkeit auszugehen sei.
Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 06.12.2022, G 264/2022-7, im Bundesgesetzblatt kundgemacht am 27.12.2022, wurde Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer 6, FPG als verfassungswidrig aufgehoben, da diese einen Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot des Art. römisch eins Absatz eins, Bundesverfassungsgesetz Bundesgesetzblatt 390 aus 1973, darstellt. So ist es sachlich nicht gerechtfertigt, dass Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer 6, FPG im Anschluss an eine ohnedies verhängte Rückkehrentscheidung und die damit bereits beendete allfällige finanzielle Belastung der Gebietskörperschaften die Verhängung eines bis zu fünfjährigen Einreiseverbotes anordnet, nur weil der Drittstaatsangehörige im Zeitpunkt der Erlassung der Rückkehrentscheidung den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag.
Da der Verfassungsgerichtshof auch ausgesprochen hat, dass die aufgehobene Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist, ist gemäß Artikel 140, Absatz 7, B-VG die aufgehobene Gesetzesbestimmung nicht nur im Anlassfall, sondern ausnahmslos in allen Fällen und folglich auch im vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden (VfSlg. 15.401/1999, 19.419/2011).
Soweit die belangte Behörde die Erlassung eines Einreiseverbotes damit begründet, dass der BF seiner auferlegten Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei, ist zu sagen, dass ein unrechtmäßiger Aufenthalt per se noch nicht die Verhängung eines Einreiseverbotes zusätzlich zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigt; liegt aber nicht bloß ein unrechtmäßiger Aufenthalt, sondern eine qualifizierte Verletzung der Ausreiseverpflichtung vor, so kann daraus eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit abzuleiten sein, die die Verhängung eines Einreiseverbots erforderlich macht vergleiche in diesem Sinn VwGH, 27.04.2020, Ra 2019/21/0277).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf das Ausschöpfen der vorgesehenen Höchstfristen nicht regelmäßig schon dann erfolgen, wenn einer der Fälle des Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer eins bis 9 bzw. des Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FPG vorliegt vergleiche etwa VwGH 24.05.2016, Ra 2015/21/0187). Die Verhängung kurzfristiger Einreiseverbote (insbesondere solcher in einer Dauer von weniger als 18 Monaten) – oder überhaupt das Unterbleiben eines Einreiseverbotes – hat regelmäßig nur dann stattzufinden, wenn von dem betreffenden Drittstaatsangehörigen keine gravierende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausgeht. Das wird verschiedentlich dann der Fall sein, wenn der Drittstaatsangehörige bloß einen der Tatbestände des Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer eins bis 9 leg. cit. erfüllt vergleiche VwGH 24.05.2018, Ra 2018/19/0125).
Im gegenständlichen Fall verletzte der BF zwar seine Rückkehrverpflichtung, dennoch kann im Fall des BF keine schwerwiegende Gefahr in seiner Person erkannt werden, die die Erlassung eines Einreiseverbots zusätzlich zur bestehenden Rückkehrentscheidung erforderlich macht. So hat sich der – strafrechtlich unbescholtene – BF kein sonstiges verwaltungsrechtliches Fehlverhalten zu Schulden kommen lassen und konnte ihm von der belangten Behörde auch kein weiterer in Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer eins bis 9 bzw. Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FPG geregelter Tatbestand angelastet werden.
Eine negative Gefährdungsprognose kann aufgrund des Gesamtverhaltens des BF nicht gestellt werden.
Vor diesem Hintergrund war Spruchpunkt römisch VII. des angefochtenen Bescheids in teilweiser Stattgebung der Beschwerde gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG ersatzlos aufzuheben.
4. Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung
Gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.
Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungsrelevante Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Ferner muss die Verwaltungsbehörde die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung in seiner Entscheidung teilen. Auch darf im Rahmen der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht zu bleiben hat, wie ein Vorbringen, das gegen das in Paragraph 20, BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (VwGH 28.05.2014, 2014/20/0017). Eine mündliche Verhandlung ist bei konkretem sachverhaltsbezogenem Vorbringen des Revisionswerbers vor dem VwG durchzuführen (VwGH 30.06.2015, Ra 2015/06/0050, mwN). Eine mündliche Verhandlung ist ebenfalls durchzuführen zur mündlichen Erörterung von nach der Aktenlage strittigen Rechtsfragen zwischen den Parteien und dem Gericht (VwGH 30.09.2015, Ra 2015/06/0007, mwN) sowie auch vor einer ergänzenden Beweiswürdigung durch das VwG (VwGH 16.02.2017, Ra 2016/05/0038). Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG 2014 erlaubt andererseits das Unterbleiben einer Verhandlung, wenn – wie im vorliegenden Fall – deren Durchführung in der Beschwerde ausdrücklich beantragt wurde, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/04/0085; 22.01.2015, Ra 2014/21/0052 ua). Diese Regelung steht im Einklang mit Artikel 47, Absatz 2, GRC (VwGH 25.02.2016, Ra 2016/21/0022).
Gegenständlich ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren vorausgegangen. Für die in der Beschwerde behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens ergeben sich keine Anhaltspunkte. Vielmehr wurde der Sachverhalt nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung der belangten Behörde festgestellt und es wurde in der Beschwerde auch kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt in konkreter und substantiierter Weise behauptet.
Das vom BF in der Beschwerdeschrift erstattete Vorbringen war, wie in der Beweiswürdigung ausgeführt, völlig unsubstantiiert und somit nicht geeignet, erheblich erscheinende neue Tatsachen oder Beweise darzustellen und eine Verhandlungspflicht auszulösen. Da der angefochtene Bescheid vor ca. zwei Monaten ergangen ist, weist er überdies die von der Rechtsprechung geforderte Aktualität auf.
In der Beschwerde wurden ebenso keine Integrationsaspekte dargetan, sodass auch insofern keine Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung bestand. Hinsichtlich des gegen den BF verhängten Einreiseverbotes ist auf Paragraph 24, Absatz 2, Ziffer eins, VwGVG zu verweisen, demzufolge eine Verhandlung dann entfallen kann, wenn bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid in der Fassung hinsichtlich Spruchpunkt römisch VII.) aufzuheben ist.
Der Sachverhalt ist in gegenständlichem Beschwerdefall aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt, weshalb gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG eine mündliche Verhandlung unterbleiben konnte.
Zu B) Zur Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.
ECLI:AT:BVWG:2023:I416.2273509.1.00