Bundesverwaltungsgericht
16.06.2023
W242 2261508-1
W242 2261508-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HEUMAYR als Einzelrichter über die Beschwerde der römisch 40 , gebXXXX , StA. staatenlose Palästinenserin alias Syrien, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom römisch 40 2022, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am römisch 40 2023 zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang
1. Die Beschwerdeführerin (in weiterer Folge: BF), eine staatenlose Palästinenserin, stellte nach unrechtmäßiger Einreise am römisch 40 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am römisch 40 2021 wurde die BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) unter Beiziehung eines Dolmetschers für die arabische Sprache niederschriftlich betreffend ihren Aufenthalt einvernommen. Während dieser Befragung stellte sie einen Asylantrag. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Arabisch eine niederschriftliche Erstbefragung statt. Dabei gab sie zu ihrem Fluchtgrund befragt an, dass sie ihre Heimat mit ihrer Familie wegen des Krieges verlassen habe. Da ihre Familie seit dem Jahr 2015 nicht mehr in Syrien lebe, habe sie Angst als Mädchen alleine in Syrien zu wohnen.
3. Am römisch 40 2022 wurde die BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) unter Beiziehung eines Dolmetschers für die arabische Sprache niederschriftlich einvernommen. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab sie im Wesentlichen an, in Syrien herrsche Krieg. Sie könne dort als alleinstehende Frau nicht leben. Ihre Familie habe das Land bereits im Familienverfahren verlassen. Als alleinstehende Frau sei es leicht, sie zu belästigen oder zu entführen. Sie sei bereits einmal an einem Checkpoint festgenommen worden. Das sei im Jahr 2013 beim Eingang zum Camp gewesen. Da sei sie im Beisein ihrer Familie aufgehalten worden. Ein Maskierter habe mit dem Zeigefinger auf sie gezeigt und sie sei auf die Seite genommen worden. Sie sei dann zur Al Basheer Moschee, welche sich unmittelbar in der Nähe des Checkpoints befinde, gebracht worden. Dort wären junge und alte Männer und Frauen geschlagen und gefoltert worden. Eine Person von höherem Rang sei dann gekommen, welche gefragt habe, warum sie da sei. Das sei kontrolliert worden und da nichts gefunden worden sei, hätte sie nach vier Stunden wieder gehen können. Weiters sei sie wegen der Kinder aus dem Libanon geflohen. Dort habe es eine Explosion im Hafen gegeben. Ihre Tochter sei deswegen psychisch sehr belastet, habe Schlafstörungen und schreie immer wieder. Nach der Explosion sei die wirtschaftliche Lage immer schlimmer geworden. Am Tag der Explosion sei sie bei ihrem Schwager in der Nähe des Hafens gewesen und sie hätten alles mitbekommen. Ihr Sohn sei zehn Tage alt gewesen und sie hätten zurück nach Sidon im Libanon gewollt. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte sie, dass sie vom Regime entführt oder verhaftet würde. In der Region habe das syrische Regime die militärische Gewalt.
Die BF legte eine Kopie ihres Maturazeugnises, ihren syrischen Reisepass für palästinensische Flüchtlinge im Original, Kopien der Reisepässe ihres Ehemannes und ihrer Tochter, eine libanesische Heiratsurkunde, die libanesischen Geburtsurkunden ihrer zwei Kinder, eine Kopie der UNRWA-Karte ihrer Familie, bestehend aus der BF, ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern, eine Kopie der Flüchtlingskarte ihres Sohnes sowie zwei Befunde betreffend den Gesundheitszustand ihres Ehegatten vor.
4. Mit Bescheid des BFA vom römisch 40 2022 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz 3, Ziffer 2, in Verbindung mit Paragraph 2, [Abs. 1] Ziffer 13 und Paragraph 6, Absatz eins, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch eins.) als auch gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat staatenlos abgewiesen (Spruchpunkt römisch II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG wurde der BF nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.) und gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt römisch IV.). Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß Paragraph 46, FPG nach Libanon zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.) und gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt römisch VI.).
Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, die BF habe eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen können. Hinsichtlich des Vorbringens, dass ihre Familie seit dem Jahr 2015 nicht mehr in Syrien lebe und sie als Mädchen Angst hätte, alleine in Syrien zu wohnen, müsse der Umstand berücksichtigt werden, dass sich die BF seit ihrer Ausreise im Jahr 2015 über einen längeren Zeitraum von zumindest fünf Jahren im Libanon aufgehalten habe. Dort würden ihre Kernfamilie und weitere Angehörige leben. Die BF habe sich anschließend zur Reise über Syrien in die Türkei entschlossen. Es sei ihr nicht gelungen, eine besondere Bedrohung oder Verfolgung ihrer Person darzulegen, welche über die allgemein vorherrschende Lage in Syrien oder dem Libanon hinausgehe und auch jene dort lebenden Personen allgemein treffe bzw. Angehörige der palästinensischen Volksgruppe. Es gebe keine Hinweise, dass sich die Explosion im Hafen von Beirut/Libanon gegen die BF oder ihre Familienangehörigen gerichtet hätte. Die Kernfamilie der BF lebe weiterhin unverändert im Libanon. Die BF hätte auch weiterhin den Schutz samt verschiedenartiger Hilfeleistungen der UNRWA in Anspruch nehmen können. Die BF habe bereits vor ihrer Ausreise ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können und es befänden sich weiterhin die Kernfamilie und weitere Angehörige im Libanon. Es seien keine Gründe hervorgekommen, wonach die BF nach ihrer Rückkehr von einer existenzbedrohenden Notlage betroffen wäre. Im Bundesgebiet verfüge sie über keine nennenswerten sozialen Kontakte, welche über ihre Mutter und einzelne Geschwister hinausgehen würden. Aufgrund des Umstandes, dass sich ihre Kernfamilie im Libanon aufhalte, erschienen die familiären Anknüpfungspunkte, insbesondere zu ihrer Mutter, als nicht maßgebend. Die öffentlichen Interessen an einer Effektuierung des Asyl- und Fremdenrechtes würden die privaten Interessen der BF an einer Aufrechterhaltung ihres Privat- und Familienlebens überwiegen.
5. Gegen diesen Bescheid erhob die BF im Wege ihrer Rechtsvertretung am römisch 40 2022 fristgerecht Beschwerde wegen unrichtiger Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung.
Darin wurde zusammengefasst ausgeführt, die BF sei staatenlose Palästinenserin und stamme aus Syrien. Die Fluchtgründe bestünden einerseits in der Verfolgung aus politischen Gründen, andererseits in der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe aufgrund ihrer Herkunft und der geschlechtsspezifischen Verfolgung als Frau. Weiters darin, dass sie Palästinenserin sei und beim UNRWA registriert gewesen sei, das jedoch keinen Schutz mehr gewähren hätte können. Der Spruch des Bescheides sei völlig widersprüchlich und unverständlich. Die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz erfolge hinsichtlich der subsidiären Schutzberechtigung in Bezug auf den Herkunftsstaat staatenlos und hinsichtlich der Abschiebung nach Libanon. Die BF sei im palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk aufgewachsen und habe nur kurze Zeit auf ihrer Flucht im Libanon gelebt. Mit dem Libanon würde sie nichts verbinden, weshalb der Bescheid bereits deshalb in den zentralen Teilen willkürlich sei. In der gesamten Beweiswürdigung würden die Befürchtungen der BF in keiner Weise beurteilt. Eine korrekte Analyse der Länderberichte hätte zum Ergebnis führen müssen, dass die vorgebrachten Verfolgungsmomente mehr als ausreichend seien, um mit hoher Wahrscheinlichkeit befürchten zu müssen, dass sie inhaftiert, gefoltert und sonstiger menschenrechtswidriger Behandlung bis zum Tod ausgesetzt wäre. Es sei festzustellen, dass die BF als Palästinenserin insbesondere im Fadenkreuz des syrischen Regimes sei und aus diesem Grund wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit Verfolgung zu befürchten habe. Abgesehen davon, dass in Syrien aufhältige palästinensische Flüchtlinge schon vor Ausbruch des Bürgerkrieges in der syrischen Gesellschaft in vielfältiger Weise unterdrückt und diskriminiert worden wären, wären Palästinenser im Zuge des Aufstandes – aufgrund der Unterstützung der syrischen Opposition durch Gruppen wie die Hamas – gezielt verfolgt worden. Die BF sei als Palästinenserin und auch aufgrund der bereits bestehenden Vorwürfe gegen andere Mitglieder ihrer Familie persönlich in Gefahr, Opfer der syrischen Sicherheitskräfte zu werden. Dies insbesondere, da sie aus Yarmouk stamme, einer Ortschaft, die stark mit den Rebellen assoziiert sei. Als junge Frau wäre die BF im Fall einer Rückkehr nach Syrien aufgrund ihrer Vulnerabilität der Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung ausgesetzt. Das wäre vom Bundesamt jedenfalls zu untersuchen gewesen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative würde nicht bestehen. Die syrischen Behörden seien nicht schutzfähig. Eine asylrelevante Verfolgungsgefahr hätte aufgrund des Machtzuwachses der diversen radikal-islamistischen Rebellengruppierungen erkannt werden müssen, insbesondere da die BF schon alleine durch die Flucht ins Ausland von sämtlichen Konfliktparteien als Verräterin angesehen werden würde. Der VfGH habe bereits unmissverständlich klargestellt, dass einer betroffenen Person Asyl zu gewähren sei, wenn das UNRWA Schutz aus "irgendeinem Grund" nicht mehr gewährleiste. Die BF sei als palästinensischer Flüchtling in Syrien unter dem Schutz des UNRWA gestanden. Dieser Schutz hätte ihr jedoch nicht mehr gewährt werden können, da aufgrund des Bürgerkrieges in Syrien angemessene Unterstützung und Schutz nicht mehr für die gesamte Bevölkerung möglich sei und die Situation der BF besonders prekär sei. Es sei davon auszugehen, dass die BF im Falle einer Rückkehr in eine existentielle Notlage geraten würde. Allenfalls wäre der BF aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage in ihrer Heimat, sowie der fehlenden innerstaatlichen Fluchtalternative, und der daraus entstehenden Gefahr einer existenzbedrohenden Lage im Falle einer Rückkehr subsidiärer Schutz zu gewähren. Eine Abschiebung würde jedenfalls eine Verletzung der durch Artikel 2, bzw. 3 EMRK geschützten Rechte der BF bedeuten. Das gelte sowohl für eine Abschiebung nach Syrien als auch in den Libanon. Auch hinsichtlich des Privat- und Familienlebens der BF sei eine nur unzureichende Auseinandersetzung mit ihrem Vorbringen erfolgt. Eine Ausweisung stehe im Widerspruch zu Artikel 8, sowie Artikel 2, bzw. 3 EMRK.
6. Die Parteien wurden mit Schreiben vom 12.04.2023 über die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung informiert.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am römisch 40 2023 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die BF und ihr Vertreter teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm entschuldigt nicht teil. Die BF brachte zu ihren Fluchtgründen befragt ergänzend vor, sie habe niemanden im Libanon. Sie habe zwar einen Onkel mütterlicherseits, aber dieser sei nicht anwesend. Weiters habe sie Probleme mit ihrem Ehemann. Dieser habe sie, wenn sie gestritten hätten, oft geschlagen und rausgeschmissen. Als sie hinausgeworfen worden sei, habe sie ihre Kinder zurücklassen müssen. Ihr Onkel wohne zwar in der Nähe, habe sie jedoch nicht aufnehmen können, weil dessen Ehefrau das nicht gewollt habe. Nach Syrien könne sie nicht zurückkehren, weil nach ihrem Vater gefahndet werde und ihr Heimatort zerstört worden sei.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die BF ist eine staatenlose Palästinenserin, gehört der Volksgruppe der Araber an, ist Muslimin und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung. Die Muttersprache der BF ist Arabisch. Ihre Identität steht fest.
Die BF wurde in Damaskus in Syrien geboren. Sie lebte im Flüchtlingslager Yarmuk und besuchte zwölf Jahre die Grundschule, welche sie mit Matura abschloss. Als sie im Libanon lebte, reinigte sie gelegentlich Häuser, ansonsten war sie bisher nicht erwerbstätig. Die BF ist seit dem Jahr 2016 verheiratet und hat zwei Kinder. Vor ihrer Flucht hielt sich die BF von Oktober 2015 bis Oktober 2020 im Libanon auf. Ihr letzter gewöhnlicher Aufenthalt war im Libanon, daher handelt es sich beim Libanon um den Herkunftsstaat der BF.
In Österreich leben ihre Eltern, ihre drei Schwestern und ihr Bruder sowie ein Onkel väterlicherseits und zwei Cousins. Die BF lebt mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in einem gemeinsamen Haushalt.
In Syrien leben ein Onkel väterlicherseits und drei Cousins der BF. Im Libanon leben ihr Ehemann, ihre beiden Kinder und ein Onkel mütterlicherseits.
Die BF leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Sie ist gesund und arbeitsfähig.
Die BF spricht kaum Deutsch, sie besuchte bisher keine Deutschkurse. Die BF ist in Österreich nicht legal erwerbstätig und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung.
Sie ist strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF im Libanon vor ihrer Ausreise einer individuellen asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in den Libanon einer solchen ausgesetzt wäre.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführerin in den Herkunftsstaat:
Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verletzung ihrer durch Artikel 2 und 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt sein wird oder dass sonstige Gründe vorliegen, die einer Rückkehr in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.
Die BF verfügt mit ihrem Ehegatten und dessen Familie, den gemeinsamen Kindern sowie ihrem Onkel mütterlicherseits über ein familiäres Netz im Libanon. Sie ist arbeitsfähig und gesund. Sie lebte vor ihrer Ausreise mehrere Jahre im Libanon und spricht muttersprachlich Arabisch.
Die BF kann nach der Rückkehr ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit und mit Hilfe ihrer Familienangehörigen sichern und wird nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es wird ihr nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen.
Die BF ist gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren Kindern bei der UNRWA im Libanon registriert. Nach ihrer Rückkehr in den Libanon kann sie erneut den Beistand der UNRWA in Anspruch nehmen.
1.4. Zur relevanten Situation im Herkunftsland:
Die Feststellung zur maßgeblichen Situation für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien im Libanon basiert auf Auszügen der Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien und der Länderinformation der Staatendokumentation zum Libanon aus dem COI-CMS.
Länderinformationsblatt zu Syrien, Version 7, Stand 10.08.2022:
Ethnische und religiöse Minderheiten
Letzte Änderung: 09.08.2022
Anmerkung, Viele der angeführten Minderheiten sind ethno-religiöse Minderheiten (z.B. armenische Christen, kurdische Jesiden) oder sie verfügen über kulturell bedingte eigene Interpretationen des Islams im Alltag (z.B. viele sunnitische Kurden). Nähere Informationen zu einzelnen Minderheiten können nach Bedarf im Rahmen von Anfragebeantwortungen geboten werden.
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich unter anderem aus arabischen, kurdischen, tscherkessischen, tschetschenischen und turkmenischen Bevölkerungsanteilen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich Alawiten, Ismailiten und Zwölfer Schiiten machen zusammen 13 % aus, die Drusen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 % (USDOS 2.6.2022; vergleiche MRG 5.2018a, CIA 12.8.2020), wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 Jesiden (USDOS 2.6.2022).
Die alawitische Gemeinschaft [Anm.: zu der Bashar al-Assad gehört] genießt weiterhin einen privilegierten Status in der Regierung und dominiert auch den staatlichen Sicherheitsapparat und das Militär in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil, wobei auch bei AlawitInnen gilt, dass, so wie bei Angehörigen den anderen Religionsgemeinschaften, nur diejenigen, welche zum inneren Machtzirkel um Bashar al-Assad gehören, politischen Einfluss besitzen. Auch einige Sunniten gehören zur politischen Elite (USDOS 2.6.2022).
In Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit besteht die syrische Bevölkerung zum Großteil aus Arabern (Syrer, Palästinenser, Iraker). Ethnische Minderheiten sind Kurden, Armenier, Turkmenen und Tscherkessen (MRG 5.2018a).
Die Situation von Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheitengruppen ist von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich und hängt insbesondere von den Akteuren ab, die das Gebiet kontrollieren, von den Ansichten und Wahrnehmungen dieser Akteure gegenüber Angehörigen anderer religiöser und ethnischer Minderheitengruppen sowie von den spezifischen Konfliktentwicklungen in diesen Gebieten (UNHCR 3.2021).
Im Allgemeinen bestehen in Gebieten, die unter Regierungskontrolle stehen, keine Hindernisse für religiöse Minderheiten, insbesondere nicht für Christen. Schätzungen zufolge leben nur mehr 3 % (vor dem Konflikt über 10 %) Christen im Land; viele sind seit Ausbruch des Konflikts geflohen. – Ihre Rückkehr scheint unwahrscheinlich. In Rebellengebieten, die von sunnitischen Fraktionen kontrolliert werden, ist die Religionsausübung zwar möglich, aber nur sehr eingeschränkt. Zusätzlich erschwert wird die Situation der Christen dadurch, dass sie als regierungsnahe wahrgenommen werden. Sowohl auf Seiten der regierungstreuen als auch auf Seiten der Opposition sind alle religiösen Gruppen vertreten. Aufgrund ihrer starken Dominanz in der Regierung und im Sicherheitsapparat werden Alawiten aber grundsätzlich als regierungstreu wahrgenommen, während sich viele Sunniten (sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung, vor Beginn des Konflikts waren es 72 %) in der (auch bewaffneten) Opposition finden. Aufgrund dieser Zugehörigkeit zur Opposition ist die Mehrheit der politischen Gefangenen und Verschwundenen sunnitisch. Bei der militärischen Rückeroberung der syrischen Armee von Gebieten wie Homs oder Ost-Ghouta wurden sunnitisch dominierte Viertel stark in Mitleidenschaft gezogen. Dadurch wurden viele Sunniten aus diesen Gebieten vertrieben und faktisch ein demografischer Wandel dieser Gebiete herbeigeführt. Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB 1.10.2021).
Religiöse bzw. interkonfessionelle Faktoren spielen auf allen Seiten des Konfliktes eine Rolle, doch fließen auch andere Faktoren im Kampf um die politische Vormachtstellung mit ein. Die Gewalt von Seiten der Regierung gegen Oppositionsgruppen aber auch Zivilisten weist sowohl konfessionelle Elemente als auch Elemente ohne konfessionellen Bezug auf. Beobachtern zufolge ist die Vorgehensweise der Regierung gegen Oppositionsgruppen, welche die Vormachtstellung der Regierung bedrohen, nicht in erster Linie konfessionell motiviert, doch zeige sie konfessionelle Auswirkungen (USDOS 10.6.2020). So versucht die syrische Regierung konfessionell motivierte Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten vor Angriffen von gewalttätigen sunnitisch-extremistischen Gruppen darstellt. Manche Rebellengruppen bezeichnen sich in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Muslime und haben Beobachtern zufolge eine fast ausschließlich sunnitische Unterstützerbasis (USDOS 2.6.2022). Dies gibt dem Vorgehen der Regierung gegen oppositionelle Gruppen auch ein konfessionelles Element. Der Einsatz von schiitischen Kämpfern, z.B. aus Afghanistan, um gegen die mehrheitlich sunnitische Opposition vorzugehen, verstärkt zusätzlich die konfessionellen Spannungen. Laut Experten stellt die Regierung die bewaffnete Opposition auch als religiös motiviert dar, indem sie diese mit extremistischen islamistischen Gruppen und Terroristen in Zusammenhang setzt, welche die religiösen Minderheiten sowie die säkulare Regierung eliminieren wollen (USDOS 10.6.2020).
Dies führt dazu, dass manche Führer religiöser Minderheitengruppen der Regierung Präsident Assads ihre Unterstützung aussprechen, weil sie diese als ihren Beschützer gegen gewalttätige sunnitisch-arabische Extremisten sehen (USDOS 10.6.2020; vergleiche USCIRF 4.2019, FA 27.7.2017). Die Minderheiten sind in ihrer Einstellung der syrischen Regierung gegenüber allerdings gespalten. Auch die Alawiten sind in ihrer Unterstützung bzw. Ablehnung der syrischen Regierung nicht geeint. Manche Mitglieder der Minderheiten sehen die Regierung als Beschützer, andere sehen einen Versuch der Regierung die Minderheiten auszunutzen, um die eigene Legitimität zu stärken, indem zum Beispiel konfessionell motivierte Propaganda verbreitet, und so die Ängste der Minderheiten geschürt und deren empfundene Vulnerabilität vertieft wird (MRG 5.2018b). So werden Berichten zufolge auch alawitische oppositionelle Aktivisten Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord durch die Regierung. Alawiten werden zudem aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen (USDOS 12.4.2022).
In den unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) oder der islamistischen Gruppierung Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) stehenden Gebieten wurden Schiiten, Alawiten, Christen und andere Minderheiten sowie auch Sunniten, inklusive Kurden, Ziele von Tötung, Entführung, Verhaftung oder Misshandlung. Christen wurden gezwungen eine Schutzsteuer zu zahlen, zu konvertieren, oder liefen Gefahr getötet zu werden (USDOS 12.5.2021). In seit 2018 bzw. 2019 türkisch kontrollierten Gebieten im Norden Syriens ist es zu Vertreibungen und Drohungen gegen Minderheiten gekommen (JP 13.6.2020; vergleiche Wilson Center 7.2020).
Der sogenannte IS entführte tausende großteils jesidische, aber auch christliche und turkmenische Frauen und Mädchen im Irak und verschleppte sie nach Syrien, wo sie als Sexsklavinnen verkauft und als Kriegsbeute an IS-Kämpfer verteilt wurden. Durch die Zurückdrängung des IS wurde dessen Herrschaft über Teile der Bevölkerung beendet und seine Möglichkeit, religiöse Minderheiten zu unterdrücken und Gewalt auszusetzen, eingedämmt (USDOS 21.6.2019). Trotz der territorialen Niederlage des IS berichteten Medien und NGOs, dass seine extremistische Ideologie weiterhin stark im Land präsent ist (USDOS 12.5.2021).
Palästinensische Flüchtlinge
Letzte Änderung: 09.08.2022
Rechtlicher Status der palästinensischen Flüchtlinge in Syrien und das Mandat der UNRWA
Die United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) ist entsprechend der Resolution 302 römisch IV (1949) der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit einem Mandat zur Förderung der menschlichen Entwicklung palästinensischer Flüchtlinge ausgestattet. Per definitionem sind palästinensische Flüchtlinge Personen, deren gewöhnlicher Aufenthaltsort zwischen 1.6.1946 und 15.5.1948 Palästina war, und die sowohl ihr Zuhause wie auch ihre Mittel zur Lebenshaltung aufgrund des Konflikts von 1948 verloren haben. Dienste von UNRWA stehen all jenen Personen offen, die im Einsatzgebiet der Organisation leben, von der Definition umfasst und bei UNRWA registriert sind, sowie Bedarf an Unterstützung haben. Nachkommen männlicher palästinensischer Flüchtlinge können sich ebenfalls bei UNRWA registrieren. Darüber hinaus bietet UNRWA ihre Dienste auch palästinensischen Flüchtlingen und Vertriebenen des Arabisch-Israelischen Konflikts von 1967 und nachfolgender Feindseligkeiten an (STDOK 8.2017). Im Dezember 2019 beschloss die UN-Generalversammlung eine Verlängerung des UNRWA-Mandats bis 2023 (UNRWA 16.11.2019).
In Syrien lebende Palästinenser werden in Abhängigkeit vom Zeitpunkt ihrer Ankunft in Syrien in verschiedene Kategorien eingeteilt, von denen jeweils auch ihre rechtliche Stellung abhängt. Zu unterscheiden ist zwischen jenen Palästinensern, die als Flüchtlinge in Syrien anerkannt sind, und jenen, die in Syrien keinen Flüchtlingsstatus genießen. Da Syrien nicht Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist, richtet sich der Flüchtlingsstatus nach syrischem Recht. Die Unterteilung in verschiedene Kategorien hat Auswirkungen auf die Art des Reisedokumentes, im Besitz dessen Palästinenser in Syrien sind (ÖB 1.10.2021).
Die größte Gruppe (rund 85 % der Palästinenser vor Ausbruch der Krise) bilden Palästinenser, die bis zum oder im Jahr 1956 nach Syrien gekommen waren sowie deren Nachkommen. Diese Palästinenser fallen unter die Anwendung des Gesetzes Nr. 260 aus 1956, welches Palästinenser, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes einen Wohnsitz in Syrien hatten, im Hinblick auf Arbeit, Handel, Militärdienst und Zugang zum öffentlichen Dienst syrischen Staatsbürgern gleichstellt. Ausgeschlossen ist diese Gruppe jedoch vom Wahlrecht, dem Innehaben öffentlicher Ämter sowie vom Erwerb landwirtschaftlicher Nutzflächen. Sie erhalten auch nicht die syrische Staatsbürgerschaft. Unter diese Kategorie fallende Personen sind bei der GAPAR (General Authority for Palestinian Arab Refugees) registriert (ÖB 1.10.2021).
Für jene Palästinenser, die sich nach Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 260 noch im Jahr 1956 in Syrien niedergelassen haben, gelten bestimmte Modifikationen und Einschränkungen (va. Anstellung im öffentlichen Dienst nur auf Grundlage zeitliche befristeter Verträge; keine Ableistung von Militärdienst). Berichtet wurde, dass Angehörige dieser Gruppe von der PLO rekrutiert werden und sich sonstigen regimetreuen bewaffneten Gruppierungen anschließen. Sie sind aber ebenfalls bei GAPAR registriert. Die genannten Gruppen von Palästinensern und ihre Nachkommen sind somit als Flüchtlinge in Syrien anerkannt (ÖB 1.10.2021).
Die nach 1956, insbesondere ab 1967 nach Syrien gekommenen Palästinenser und deren Nachkommen umfassen ihrerseits eine Reihe weiterer Untergruppen (unter anderem fallen darunter Personen, die nach 1970 aus Jordanien, nach 1982 aus dem Libanon und während der letzten beiden Dekaden aus dem Irak gekommen waren). Ihnen ist gemeinsam, dass sie nicht bei GAPAR registriert und nicht als palästinensische Flüchtlinge anerkannt sind. In Syrien gelten sie als „Arabs in Syria“ und werden wie Staatsbürger arabischer Staaten (unterschieden wird in Syrien in vielen Bereichen zwischen syrischen Staatsbürgern, Staatsbürgern arabischer Staaten und sonstigen ausländischen Staatsbürgern) behandelt. Sie können ihre Aufenthaltsgenehmigungen in Syrien alle zehn Jahre beim Innenministerium erneuern lassen und müssen um Arbeitsgenehmigungen ansuchen. Einige aus dieser Gruppe fallen unter das Mandat von UNHCR (ÖB 1.10.2021). Palästinenser dieser Gruppe können in Syrien jedoch öffentliche Leistungen des Gesundheits- oder Bildungsbereiches kostenfrei nutzen, abgesehen von einem Studium an der Universität, für welches sie eine Gebühr bezahlen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die syrische Verfassung die Bewegungsfreiheit für syrische Bürger und GAPAR-registrierte Palästinenser garantiert, hat die Regierung seit Beginn des Konflikts Gebiete, darunter auch die Palästinenserlager in der Umgebung von Damaskus, durch die Einrichtung bemannter und unbemannter Kontrollpunkte voneinander getrennt. Die syrische Regierung hat außerdem Militärpersonal und physische Grenzen eingesetzt, um die Abgrenzung der Gebiete zu verstärken. Die Zahl der Kontrollpunkte in Damaskus wurde seit 2018 reduziert; es gibt jedoch immer noch Kontrollpunkte in Damaskus und an den Hauptstraßen, die verschiedene Gebiete miteinander verbinden, auch in der Nähe der Lager, sowie an den Hauptstraßen nach Damaskus. Palästinenser müssen viele Kontrollpunkte passieren, wenn sie sich in Gebieten zwischen den Lagern bewegen. Einige Palästinenser, die nicht bei der GAPAR registriert sind, müssen mit weiteren Bewegungseinschränkungen rechnen, weil die Dokumente in ihrem Besitz nicht an allen Kontrollpunkten akzeptiert werden. Nach Einschätzung einer internationalen Organisation laufen sie Gefahr, inhaftiert zu werden, weil ihr Aufenthalt in Syrien als illegal angesehen werden könnte (DIS 10.2021).
Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palestinian Liberation Army (PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vergleiche FIS 14.12.2018)
Die Sicherheitslage in den palästinensischen Flüchtlingslagern und Wohngebieten
Schätzungen aus dem Jahr 2018 zufolge sind noch 438.000 palästinensische Flüchtlinge in Syrien aufhältig (UNRWA 5.12.2018; vergleiche UNRWA o.D. A, UN 14.3.2019). Laut UN-Schätzung aus dem Jahr 2019 wurden seit 2011 mindestens 120.000 Palästinenser aus Syrien vertrieben (USDOS 12.4.2022). Vor Ausbruch des Bürgerkrieges lebten geschätzte 560.000 palästinensische Flüchtlinge in Syrien und davon mehr als 80 % in und um Damaskus. Die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien waren von schweren Kämpfen in und um manche palästinensische Flüchtlingslager und Stadtteile erheblich betroffen (USAID 4.8.2017). Schon vor dem Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 waren die Palästinenser in Syrien eine vulnerable Bevölkerungsgruppe (STDOK 8.2017).
Zu Beginn des Konfliktes versuchten die Bewohner der meisten palästinensischen Flüchtlingslager neutral zu bleiben (NOREF 24.1.2017). Mittlerweile sind die Palästinenser zwischen den Konfliktparteien gespalten (STDOK 8.2017). Palästinenser sind hauptsächlich Sunniten und werden vonseiten des Regimes und dessen Verbündeten auch wie Sunniten behandelt - also mit Misstrauen, wobei es Ausnahmen hierzu gibt. Was die Vulnerabilität betrifft, scheint jedoch die Herkunft einer Person aus einem bestimmten Gebiet wichtiger zu sein, als ihre Konfession, und ob sie der palästinensischen Minderheit angehört oder nicht. Dabei determinierten die Anfangsjahre des Konflikts 2011-2013, welche Gebiete zu welchen Konfliktparteien zugeordnet werden. Die Bewegungsfreiheit von Palästinensern ist eingeschränkt. Berichten zufolge müssen sie z.B. in Damaskus eine Genehmigung der Geheimdienste (Mukhabarat) und der Sicherheitskräfte erhalten, um ihren Wohnsitz verlegen zu können. Dass Palästinenser den Wohnsitz bei den Geheimdiensten registrieren müssen, führt dazu, dass manche Personen nicht an Palästinenser vermieten wollen (STDOK 8.2017).
Allgemein gesprochen, sind die Palästinenser vulnerabler als der durchschnittliche Syrer, was auch mit fehlenden Identitätsdokumenten in Verbindung steht (STDOK 8.2017). Palästinenser, die bereits vor dem Konflikt deutlich ärmer als Syrer waren, zählen nun zu einer der am meisten vom Konflikt betroffenen Bevölkerungsgruppen in Syrien (UNRWA 5.12.2018). Sie sind außerdem häufig von mehrfacher Vertreibung betroffen (STDOK 8.2017). Dies ist mitunter auch auf die strategische Relevanz der von Palästinensern bewohnten Gebiete zurückzuführen. Beispielsweise waren die Lager südlich von Damaskus strategisch bedeutend, weil sie die beiden oppositionellen Hochburgen im westlichen Damaskus und in Ost-Ghouta trennten und dadurch im bewaffneten Konflikt zum Ziel von Beschuss und Blockaden wurden. Dies führte zur Vertreibung der Bewohner dieser Lager (NOREF 24.1.2017). Sowohl das Regime als auch oppositionelle Gruppierungen belagerten oder beschossen manche palästinensische Flüchtlingslager und Nachbarschaften oder machten diese anderweitig praktisch unzugänglich, was zu Fällen von schwerer Unterernährung und fehlendem Zugang zu medizinischer und humanitärer Versorgung und Todesfällen unter Zivilisten führte (USDOS 12.4.2022).
Es gibt Berichte darüber, dass Palästinenser während des gesamten Konflikts in ganz Syrien, auch in den beiden Gouvernements Damaskus und Rif Dimashq, ins Visier der syrischen Behörden geraten sind. Palästinenser, die beispielsweise in Gebieten südlich von Damaskus leben, wurden an Kontrollpunkten kontrolliert und erpresst. Es kam zu Verhaftungen von Einzelpersonen ohne bekannten Grund sowie zu Verhaftungen von Personen, die zum Militärdienst eingezogen werden sollten. Es wurde von nicht-explodierten Kampfmittelrückständen (unexploded ordnances, UXOs) in manchen palästinensischen Flüchtlingslagern berichtet. Im Lager Yarmouk kam es zu groß angelegten Plünderungen durch regierungsnahe Milizen und syrische Regierungstruppen, während es in den anderen Lagern keine Plünderungen in ähnlichem Ausmaß gab (DIS 10.2021).
Die Leistungen der UNRWA im Rahmen ihrer Zugangsmöglichkeiten
UNRWA ist auf den Einsatz in staatlich kontrollierten Gebieten beschränkt, auch angesichts wachsender Budgetknappheit. UNRWA hat keine Präsenz in von der Opposition gehaltenen Gebieten im Nordwesten Syriens (SD 4.3.2019; vergleiche DIS 10.2021). Die offiziellen UNRWA-Flüchtlingslager sind Gebiete, die UNRWA von der Regierung des jeweiligen Gastlandes zur Errichtung eines Lagers und der notwendigen Infrastruktur überlassen werden. Die Aktivitätenvon UNRWA erstrecken sich jedoch auch auf nicht offiziell diesem Zweck zugewiesene Gebiete (sog. „Inoffizielle Lager“). Dies trifft auch auf Yarmouk zu, einen Stadtteil von Damaskus (STDOK 8.2017; UNRWA o.D. B), der lange Zeit die größte Dichte an palästinensischen Flüchtlingen in Syrien aufwies (STDOK 8.2017). Die meisten Einrichtungen von UNRWA befinden sich in den Flüchtlingslagern. UNRWA unterhält jedoch teils auch Schulen, Gesundheitszentren und Verteilungszentren in Gebieten außerhalb der offiziellen Lager. Alle Dienstleistungen von UNRWA stehen allen registrierten palästinensischen Flüchtlingen zur Verfügung - auch denen, die nicht in den Lagern leben (UNRWA o.D. B). UNRWA bietet Unterstützungsleistungen in zwölf Flüchtlingslagern in Syrien an (neun offizielle und drei inoffizielle Lager). Diese Lager werden von UNRWA jedoch nicht verwaltet, und UNRWA ist nicht für die Sicherheit in den Lagern zuständig. Diese liegt in der Verantwortung der Behörden des Gaststaates (UNRWA o.D. A).
Viele UNRWA-Einrichtungen wurden durch den Konflikt in Syrien zerstört oder sind für UNRWA nicht zugänglich, wie z.B. 40 % der UNRWA-Klassenräume oder 25 % der Gesundheitszentren (UNRWA o.D. A). UNRWA versucht, Alternativen zu den Bildungseinrichtungen zu finden, und bietet, sofern möglich, auch Bildung in staatlichen Schulen für palästinensische Kinder an, oft in Form einer zweiten Schicht von Unterrichtsstunden (STDOK 8.2017; vergleiche UNRWA o.D. A). In mehreren Flüchtlingslagern, besonders in Yarmouk, fanden schwere Kämpfe zwischen dem Regime und der Opposition statt, und die Lager wurden dabei fast gänzlich zerstört (AJ 20.10.2018).
Die palästinensischen Flüchtlingslager in Syrien sind nicht durch physische Begrenzungen wie z.B. Mauern eingefriedet, sondern sie sind Teil der Städte und gleichen eher Wohnvierteln. In Syrien leben Teile der palästinensischen Bevölkerung innerhalb und andere außerhalb der Lager. Das Land, auf welchem sich die UNRWA-Lager befinden, ist Eigentum des Gaststaates. Den palästinensischen Familien wurden in der Vergangenheit Grundstücke zugeteilt, worauf Häuser gebaut wurden. Rechtlich gehört den palästinensischen Bewohnern das Land, auf dem die Häuser stehen, nicht. Dennoch werden die dort errichteten Wohnungen und Häuser mittlerweile auch vermietet und verkauft. Der Zugang zu UNRWA-Lagern ist rechtlich nicht eingeschränkt, es kann jedoch faktische Probleme geben, die den Zugang einschränken (STDOK 8.2017). Für Palästinenser ist es zudem schwierig, sich durch Checkpoints zu bewegen, z.B. wenn sie keine gültigen syrischen Dokumente vorweisen können. Ihre Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens ist aufgrund der Notwendigkeit, die Genehmigung für Wohnortwechsel einzuholen, und aufgrund der Registrierungspflicht eingeschränkt (STDOK 8.2017).
Etwa 254.000 Palästinenser wurden zumindest einmal innerhalb Syriens vertrieben (UNRWA 5.12.2018; vergleiche UNRWA o.D. C). 40 % der palästinensischen Flüchtlinge sind prolongiert innerhalb Syriens Vertriebene. Yarmouk, Dara’a und Ein el Tal, wo früher mehr als ein Drittel der palästinensischen Flüchtlinge Syriens lebte, sind beinahe vollständig zerstört. Seit Ende 2020 dürfen palästinensische Flüchtlinge unter der Vorbedingung einer offiziellen Genehmigung nach Yarmouk zurückkehren. Die syrische Regierung stellte bisher über 2.000 Genehmigungen aus. Die noch nicht vollständig wiederhergestellte Grundinfrastruktur für einen sicheren Zugang zu Wasser und Elektrizität hindert mehr Familien an der Rückkehr, und dies verzögert Pläne für die Wiederherstellung der UNRWA-Einrichtungen (UN OCHA 22.2.2022).
2019 kam es aufgrund fehlender finanzieller Mittel zu Reduzierungen der Leistungen durch UNRWA (IO A 1.4.2019; vergleiche MEE 20.2.2020). Mit Stand Mai 2021 lebten einer UNRWA-Studie zufolge 82 % der Personen in den befragten 503 Haushalten von weniger als 1,9 USD am Tag - inklusive allfälliger UNRWA-Finanzunterstützung - um 8 % mehr Personen als bei der letzten Studie 2017/18. 48 % der Haushaltsausgaben entfielen auf Lebensmittel, was auf die Schwere der Lage der Familien hinweist (UN OCHA 22.2.2022). Etwa 96 % der in Syrien verbliebenen palästinensischen Flüchtlingsbevölkerung von ungefähr 420.000 Menschen hängt von humanitärer Hilfe ab, um ihre Grundbedürfnisse zu stillen. 145.000 von ihnen, das sind 35 %, gelten als am meisten vulnerabel: Haushalte mit weiblichen Vorständen, Familien mit Mitgliedern mit Behinderungen, Familien mit älteren Familienoberhäuptern sowie unbegleitete Minderjährige und Waisen (UN OCHA22.2.2022). Bei der Vergabe von Nothilfe haben sie Priorität: 28.622 Personen erhalten z.B. zwecks Hilfe bei der Deckung ihrer Grundbedürfnisse wie Lebensmittel, Obdach oder Heizung 14 USD (11,86 EUR) pro Monat über einen Zeitraum von fünf Monaten (ReliefWeb 7.3.2022). Aktuell erhalten circa 145.000 palästinensische Flüchtlinge, die in die vulnerabelsten Kategorien fallen, eine finanzielle Unterstützung (UNRWA 25.3.2022).
Reisedokumente und Ausreiseregelungen für Palästinenser
Je nach rechtlichem Status unterscheidet sich auch die Art der Reisedokumente der in Syrien lebenden Palästinenser. Nur jene Palästinenser, die als palästinensische Flüchtlinge anerkannt sind, d.h. nur jene, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien gekommen sind, erhalten ein von syrischen Behörden ausgestelltes Reisedokument. Alle anderen Palästinenser, d.h. jene, die ab 1957 nach Syrien gekommen sind, hatten/haben in Abhängigkeit nach deren Herkunft (Westbank, Gaza) in der Regel von anderen Staaten ausgestellte Dokumente, meistens von Jordanien oder Ägypten. Viele leben daher bis heute mit abgelaufenen jordanischen oder ägyptischen Dokumenten. In Einzelfällen anerkennt Syrien zwar auch nach 1956 eingereiste Palästinenser als Flüchtlinge und stattet sie mit dem Status gemäß dem Gesetz 260 aus 1956 aus; dies erfolgt jedoch nur im Ermessen des Staates und einzelfallorientiert (ÖB 1.11.2021).
Nach der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens 1993 erhielt die Palästinensische Autonomiebehörde das Recht, Reisedokumente auszustellen (erfolgt in der Praxis seit 1995). Ausstellungsort dieser durch die Palästinensische Autonomiebehörde ausgestellten Reisedokumente ist stets Ramallah, auch dann, wenn die Antragstellung an einer palästinensischen Vertretung im Ausland erfolgt (eine persönliche Vorsprache in Ramallah ist für die Ausstellung dieses Reisedokuments nicht erforderlich) (ÖB 1.10.2021).
Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild hinsichtlich der unterschiedlichen Reisedokumente, die Palästinenser aus Syrien bei einer Antragstellung auf Familienzusammenführung gem. Paragraph 35, AsylG vorweisen:
1. Palästinenser, die als Flüchtlinge in Syrien anerkannt sind: Dies betrifft Palästinenser, die bis 1956 nach Syrien gekommen sind. Diese Personen sind mit von syrischen Behörden ausgestellten Reisedokumenten ausgestattet. Blaue Reisedokumente mit der Bezeichnung „Travel Document for Palestinian Refugees“ (Nummer beginnend mit „P“)
2. Palästinenser, die von Syrien nicht als Flüchtlinge anerkannt sind, da sie nach 1956 nach Syrien gekommen waren: Diese Personen haben in Syrien den Status als „Arabs in Syria“ und erhalten keine Reisedokumente durch Syrien. Mangels anderer gültiger Reisedokumente beantragen Personen aus dieser Kategorie bei der Vertretung der Palästinensischen Behörde (Botschaft Palästinas in Syrien) in Damaskus die Ausstellung eines Reisedokuments durch die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah. Schwarze Reisedokumente, ausgestellt von der „Palestinian Authority“ mit der Bezeichnung „Passport – Travel Document“; Ausstellungsort Ramallah (ÖB 1.10.2021).
Einige in Syrien aufhältige Palästinenser brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen, dies hängt jedoch wieder von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab. Auch in der Türkei sind Einreisebeschränkungen für Palästinenser in Kraft (STDOK 8.2017).
Ein Palästinenser, der in Syrien bei UNRWA registriert ist und dann in ein anderes Land geht, das auch im Mandatsgebiet der UNRWA liegt (wie z.B. der Libanon), bleibt in Syrien registriert („registered“), wird aber z.B. im Libanon erfasst („recorded“) und hat dort Zugang zu UNRWA-Leistungen. UNRWA schränkt den Zugang zu UNRWA-Leistungen für Palästinenser aus anderen Staaten nicht ein, jedoch können die Staaten die Einreise von Palästinensern und somit deren Zugang zu UNRWA Leistungen in Nachbarstaaten einschränken (STDOK 8.2017).
Für Palästinenser ist es nicht nur schwieriger, als für syrische Flüchtlinge in Nachbarländer einzureisen, sondern auch dort zu bleiben und einen legalen Aufenthaltsstatus beizubehalten sowie folglich Leistungen zu erhalten. Ohne legalen Aufenthaltsstatus ist es nicht möglich, eine Ehe zu registrieren, weshalb in weiterer Folge auch die Geburt eines Kindes aus dieser Ehe nicht registriert werden kann (STDOK 8.2017).
Anmerkung: Für weitere Informationen zu Einreisemöglichkeiten in Nachbarländer siehe Abschnitt „Bewegungsfreiheit“ und die jeweiligen Länderinformationsblätter (LIB) zu Libanon und Jordanien, den einzigen Nachstaaten, welche ebenfalls Mandatsgebiet von UNRWA sind [Dort finden sich auch Informationen, aus denen hervorgeht, dass ein legale Umsiedlung von staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien nicht vorgesehen ist, und auch eine etwaige UNRWA-Registrierung nicht zu einer Legalisierung des Aufenthalts oder etwa zu einem gesicherten, dauerhaften Aufenthaltsrecht führt, wie das seit Oktober 2012 geltende Einreiseverbot Jordaniens für Palästinenser illustriert].
Länderinformationsblatt zum Libanon, Stand 31.10.2021:
Politische Lage
Der Libanon ist eine parlamentarische Demokratie nach konfessionellem Proporzsystem. Das politische System basiert auf der Verfassung von 1926, dem ungeschriebenen Nationalpakt von 1943 und dem im Gefolge der Taif-Verhandlungen am 30.9.1989 verabschiedeten „Dokument der Nationalen Versöhnung“ (AA 4.1.2021). In diesem sogenannten Taif-Abkommen wurde festgelegt, dass die drei wichtigsten Ämter im Land auf die drei größten Konfessionen verteilt werden:
• Das Staatsoberhaupt muss maronitischer Christ sein
• Der Parlamentspräsident muss schiitischer Muslim sein
• Der Regierungschef muss sunnitischer Muslim sein (GIZ 3.2020)
Der Konfessionsproporz bestimmt die gesamte Verwaltung und macht auch vor der Legislative nicht halt. Das Parlament mit seinen 128 Mitgliedern setzt sich nach dem Grundsatz der konfessionellen Parität wie folgt zusammen: 34 Maroniten, 27 Schiiten, 27 Sunniten, 14 griechisch-orthodoxe Christen, acht Drusen, acht melikitische/griechisch-katholische Christen, fünf orthodoxe Armenier, zwei Alawiten, ein armenischer Katholik, ein Protestant und ein Vertreter einer Minderheit (GIZ 3.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020). Die konfessionelle Fragmentierung des Landes bewirkt eine äußere Abhängigkeit von den jeweiligen Schutzmächten der konfessionellen Gruppen. Dies reduziert die Souveränität des Staates (GIZ 3.2020).
Bei der im Abkommen von Taif vorgesehenen allmählichen Entkonfessionalisierung des politischen Systems gibt es kaum Fortschritte. Das libanesische System wird von der Zusammenarbeit der verschiedenen religiösen Gruppen getragen; daneben spielen Familien- und regionale Interessen eine große Rolle. Die destabilisierenden regionalen politischen und konfessionellen Spannungen haben infolge der Krise in Syrien seit Anfang 2011 deutlich zugenommen (AA 4.1.2021). Das Abkommen zur Machtaufteilung, das den Bürgerkrieg beendete brachte ein konfessionelles politisches System, das den Staat ausplündert und seine Institutionen aushöhlt. Der Libanon wurde durch eine Handvoll Politiker in den Bankrott getrieben, viele von ihnen frühere Warlords [Anm.: in der Zeit des Bürgerkriegs 1975-1990] (NYT 28.10.2021).
Das Parlament des Libanon ist konfessionsübergreifend in zwei politische Blöcke gespalten, die einander unversöhnlich gegenüberstehen:
• die von der schiitisch geprägten und vom Iran beeinflussten Hizbollah angeführte 8. März-Koalition und
• die eher westlich orientierte, sunnitisch geprägte und von Saad Hariri (Future Movement; arab.: (al-)Mustaqbal) angeführte 14. März-Bewegung (GIZ 3.2020).
Die traditionelle Feindschaft zwischen diesen beiden Blöcken wurde durch den Konflikt im benachbarten Syrien zusätzlich vertieft. Die Polarisierung zwischen den beiden Lagern lähmt das Land politisch und ökonomisch und verstärkt konfessionelle Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten (GIZ 3.2020).
Am 31.10.2016 wurde schließlich nach zweieinhalb Jahren und 45 gescheiterten Versuchen ein neuer Präsident gewählt (GIZ 3.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020). Am 6.5.2018 fanden nach jahrelanger Pattstellung erstmals seit 2009 erneut Parlamentswahlen statt. 77 Listen mit insgesamt 597 Kandidaten waren für die Wahl um 128 Parlamentssitze in 26 Distrikten registriert. Die Anzahl der weiblichen Kandidaten nahm gegenüber der letzten Wahl auf 86 zu und betrug somit nun 14,4 %. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 49,2 %. Die offiziellen Ergebnisse weisen die Sitze wie folgt zu: Future Movement [Anm.: arab. - (al-)Mustaqbal] 21; Free Patriotic Movement 20; Amal 17; Lebanese Forces 15; Hizbollah 12; Progressive Socialist Party 8; die „Determination (Azem)" Bewegung des ehemaligen Premierministers Mikati 4; Marada, die Syrian Social Nationalist Party, Kataeb und Tashnaq jeweils 3 Sitze. Zum ersten Mal gewann ein Kandidat der Zivilgesellschaft einen Sitz durch die Wahlliste „Koulouna Watani" in Beirut. Die Zahl der gewählten Frauen im Parlament stieg von vier auf sechs (UNSC 13.7.2018). Die Hizbollah und ihre politischen Verbündeten - darunter auch das „Free Patriotic Movement“ (FPM), eine christliche Partei unter der Führung von Präsident Michel Aoun, die knapp zwanzig Sitze erringen konnte (AA 24.1.2020), besetzen nach dieser Wahl knapp die Hälfte der 128 Sitze im Parlament, während der vom Westen unterstützte sunnitische Saad al-Hariri [Premierminister bis Oktober 2019, Anm.] mit 21 Parlamentsmitgliedern immer noch Führer des größten politischen Blocks ist (RFE 7.5.2018; vergleiche ICG 9.6.2018).
Im Oktober 2019 trat Saad Hariri als Premierminister zurück und Hassan Diab folgte mit einer neuen Regierung. Nach der verheerenden Explosion vom 4.8.2020 mit über 200 Toten und mehr als 6.500 Verletzten musste Diab nach einer weiteren Protestwelle zurücktreten (USDOS 30.3.2021) Am 10.9.2021 gab Najib Mikati sein neues Kabinett bekannt (DW 10.9.2021). Die nunmehrige Regierung ist durch den Streit über die Ermittlungen zur Hafenexplosion gelähmt und aktuell wird aufgrund eines Eklats im Bereich Außenpolitik (Saudi-Arabien) ein eventueller Zerfall der Regierung diskutiert (L’Orient 30.10.2021). Neue Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sind für Mai 2022 angesetzt (TAZ 10.9.2021). Das Land ist von Krisen betroffen: der Finanz- und Wirtschaftskrise, die politische Lähmung und die Explosion vom 4.8.2020 (NYT 28.10.2021). Aufgrund der zunehmend prekären wirtschaftlichen Situation kam es schon Mitte Oktober 2019 zu massiven Protesten gegen Korruption und Misswirtschaft (Standard 12.2.2020; vergleiche FAZ 24.1.2020).
Bezüglich der Untersuchung der Verantwortung von früheren Ministern für die Explosion im Hafen von Beirut ist die Einberufung eines speziellen Gerichts aus Parlamentsabgeordneten und Richtern geplant. Der eigentlich zuständige Richter Tarek Bitar darf weiterhin gegen die niederrangigeren Amtsträger ermitteln. Bitar hatte versucht, Spitzenfunktionäre einschließlich ehemaliger Minister von den Parteien Amal und Marada Bewegung – beide Verbündete der Hizbollah, anzuklagen. Daraufhin wurde er in einer Schmierkampagne beschuldigt, die Ermittlungen zu politisieren, und es wurde auch seine Absetzung gefordert (Haaretz 26.10.2021). Am 14.10.2021 waren inmitten politischer Spannungen sieben Anhänger der Hizbollah und Amal während eines Protests der Parteien gegen Bitar erschossen worden. Die beiden Parteien beschuldigen die christliche Partei Forces Libanaises hinter dem Angriff zu stehen (Haaretz 26.10.2021; vergleiche BBC 28.10.2021). Deren Parteichef hatte die Ermittlungen unterstützt und leugnet eine Involvierung in das Gefecht (Haaretz 26.10.2021).
Die Hizbollah, die „Partei Gottes“, ist – wie auch jetzt – seit Jahrzehnten immer wieder Teil der libanesischen Regierung. Sie tritt dabei jedoch nicht nur als politische Partei, sondern häufig auch als soziale Organisation auf, die mit ihrem Angebot an sozialen und medizinischen Hilfsleistungen ärmeren Menschen in Not hilft. Der bewaffnete Arm der Hizbollah kämpft in Syrien an der Seite der Truppen des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. Gleichzeitig stellt die Organisation das Existenzrecht Israels offen in Frage. Immer wieder kommt es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Hizbollah und Israel (DF 30.4.2020). Die Hisbollah macht gleichzeitig Geschäfte gegen und mit dem Gesetz, schmuggelt Drogen und kontrolliert die Zollstationen am Hafen von Beirut. Dabei hilft ihr ein weltweites Netzwerk von Unterstützern in der Diaspora (Zeit 6.5.2020).
Die Hizbollah wird von den Vereinigten Staaten als terroristische Gruppe eingestuft. In der EU stand bislang nur der militärische Arm der Hizbollah auf der Terrorliste, bis Deutschland den Kurs nun verschärft und auch den politischen Arm der Hizbollah als terroristische Vereinigung bewertet und ein Betätigungsverbot der Organisation in Deutschland verfügt hat (Spiegel 30.4.2020; vergleiche Spiegel 5.5.2020, TDS 6.11.2019). Anfang Februar 2021 wurde der prominente schiitische Kritiker der Hizbollah, Lokman Slim, ermordet. Er hatte bereits Ende 2019 Morddrohungen erhalten, welche er der Hizbollah und ihren Verbündeten zugeschrieben hatte. Damals war er in der Protestbewegung gegen die damalige Regierung aktiv gewesen. Die großen Menschenmassen hatten eine komplette Reform des politischen Systems gefordert, nachdem ein Wirtschaftskollaps zu Inflation im dreistelligen Bereich sowie massenhaften Verlusten von Arbeitsplätzen geführt hatte und die Hälfte der Bevölkerung bei Anfang Februar 2021 unter die Armutsgrenze gerutscht war. Die Pandemie und die Explosion im Hafen von Beirut mit 200 Toten haben die Lage weiter verschärft (BBC 4.2.2021). Auch die Journalistin Mariam Seif Eddine, welche in ihren Berichten die Hizbollah kritisiert, berichtete über Drohungen und Übergriffe gegen sie und ihre Familie durch Hizbollah-Mitglieder Anfang Dezember 2020. Sie und ihre Familie wohnten [Anm.: wie Lokman Slim] in einem von der Hizbollah kontrollierten Wohngebiet im Süden Beiruts (UDSOS 30.3.2021).
Sicherheitslage
[Anm.: Der besseren Übersichtlichkeit wegen wird die Situation in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Abschnitt über palästinensische Flüchtlinge dargestellt.]
Die libanesische Regierung hat weder die vollständige Kontrolle über alle Regionen des Landes noch über die Grenzen zu Syrien und Israel. Nach wie vor kontrolliert die Hizbollah den Zugang zu bestimmten Gebieten und hat überdies Einfluss auf einige Elemente innerhalb der libanesischen Sicherheitsdienste (USDOS 24.6.2020a).
Im Libanon präsent sind neben der Hizbollah z.B. die Terrorgruppen Abdallah Azzam Brigades, al-Aqsa Martyrs Brigade, Asbat al-Ansar, al-Nusrah Front (Hay'at Tahrir al-Sham), Palestine Liberation Front, PFLP-General Command; Popular Front for the Liberation of Palestine [CIA 20.10.2021]: Die Al-Nusrah-Front, der sogenannte Islamische Staat (IS) und andere sunnitische Terrorgruppen operierten auch 2019 weiterhin in unkontrollierten Gebieten entlang der unmarkierten libanesisch-syrischen Grenze. Andere terroristische Gruppen wie die Hamas, die Palestine Liberation Front, PFLP-General Command, Asbat al-Ansar, Fatah al-Islam, Fatah al-Intifada, Jund al-Sham, der Palästinensische Islamische Dschihad und die Abdullah-Azzam-Brigaden operierten weiterhin in Gebieten mit begrenzter Regierungskontrolle, vor allem in den zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern. Diese Lager werden als sichere Zufluchtsorte genutzt, und sie dienen als Waffenverstecke (USDOS 24.6.2020a). Die zwölf über das ganze Land verteilten palästinensischen Flüchtlingslager sind der Kontrolle durch staatliche Gewalt weitgehend entzogen (AA 4.1.2021).
Die politische und militärische Rolle der Hisbollah bleibt struktureller Streitpunkt im Libanon. Ihr politischer Arm hat 13 Vertreter im Parlament, zwei Minister sind auf Vorschlag der Hisbollah im Kabinett. Ihr „militärischer Arm“ ist von der EU seit 2013 als terroristische Vereinigung gelistet. In ihren Hochburgen (Teile der Bekaa-Ebene, südliche Beiruter Vororte, Teilgebiete des Südens) übernimmt die Hisbollah faktisch auch die Funktion der Sicherheitsbehörden [Anm.: siehe auch Kapitel 6. Sicherheitsbehörden] (AA 4.1.2021). Am 14.10.2021 kam es im Beiruter Statdteil Tayouneh zu gewalttätigen Demonstrationen (EDA 15.10.2021; vergleiche BBC 28.10.2021). Diese forderten mehrere Todesopfer und Verletzte (EDA 15.10.2021), darunter Hizbollah- und Amal-Anhänger. Die Hizbollah beschuldigte die christliche Miliz Forces Libanaises hinter dem Angriff zu stehen. Der Chef der Forces Libanaises, Samir Geagea, leugnete das Bestehen einer Parteimiliz und die Involvierung in das Gefecht (BBC 28.10.2021).
Die allgemeine Sicherheitslage ist durch die Proteste und den wirtschaftlichen Niedergang unübersichtlicher geworden (AA 4.1.2021). Sie ist ungewiss und kann sich rasch ändern. Es bestehen soziale, politische und religiöse Spannungen, und das Land leidet unter einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise. Es kommt zu Demonstrationen, Straßenblockaden, Streiks und gewaltsame Zusammenstöße zwischen verschiedenen Gruppierungen sowie zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften. Bei solchen Ereignissen kommt es regelmäßig zu Sachbeschädigungen, und vereinzelt werden Schusswaffen eingesetzt (EDA 15.10.2021).
Den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können die Sicherheitslage in Libanon jederzeit und unvermittelt beeinflussen. So wirken sich die anhaltenden Spannungen mit Israel und der bewaffnete Konflikt in Syrien weiterhin auf Libanon aus. Der Konflikt in Syrien hat gewisse politische und religiöse Spannungen verstärkt, insbesondere aufgrund der Anwesenheit von über einer Million Flüchtlingen (EDA 15.10.2021).
Südlibanon: Das Risiko von nicht explodierten Bomben und Minen ist im Südlibanon hoch. Im libanesisch-israelischen Grenzgebiet sind die Spannungen sehr hoch. Im September 2019 kam es dort nach langer Waffenruhe zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee (EDA 15.10.2021). Der Libanon und Israel befinden sich offiziell weiterhin im Krieg (ORF 26.8.2020). Die weiterhin hohen Spannungen ziehen gelegentliche Gefechte nach sich (CIA 20.10.2021).
Nordlibanon: Es bestehen große Spannungen in der Region, die sich durch den Konflikt in Syrien und die Ankunft zahlreicher Flüchtlinge noch verschärft haben. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen der Armee und militanten Gruppierungen oder zwischen verschiedenen politisch-religiösen Gruppierungen, vor allem in und um Arsal, Ras Baalbek und Qaa. Spannungen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen, aber auch innerhalb einzelner Gemeinschaften, entladen sich immer wieder in bewaffnete Konfrontationen oder Anschlägen. In der Bekaa-Ebene sind zahlreiche nicht explodierte Bomben und Minen vorhanden, die Gefahr von weiteren Anschlägen und einer Eskalation ist groß (EDA 15.10.2021). Die Bekaa-Ebene ist bekannt für Waffen- und Drogenhandel (Al Ahram 13.2.2020).
Grenzgebiet zu Syrien: Der Konflikt in Syrien wirkt sich auf die Sicherheitslage entlang der Grenze aus. In der Nähe der syrischen Grenze ereigneten sich in der Vergangenheit wiederholt Kämpfe zwischen extremistischen Gruppierungen und den libanesischen Streitkräften. Es besteht weiterhin ein erhöhtes Risiko von Sicherheitszwischenfällen (EDA 15.10.2021). Das Sichern der Grenze gegen das Eindringen von Mitgliedern des Islamischen Staates und von mit al-Qaida verbundenen Gruppen blieb eine Herausforderung (CIA 20.10.2021) Die Effizienz der Kontrollen der Landgrenze des Libanon mit Syrien konnte in letzter Zeit durch ein von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und Kanada finanziertes Landgrenzsicherungsprojekt gesteigert werden, was die Festnahme von aus Syrien einreisenden IS-Mitgliedern ermöglichte (USDOS 24.6.2020b).
Im ganzen Land besteht das Risiko von terroristischen Akten, vor allem in Tripoli im Norden des Landes und in den südlichen Stadtteilen von Beirut (EDA 15.10.2021).
Rechtsschutz / Justizwesen
Die Verfassungsinstitutionen, insbesondere Parlament, Regierung und Justizwesen, funktionieren im Prinzip nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, sind aber in ihrer tatsächlichen Arbeit politischen Einflussnahmen ausgesetzt. Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgeschrieben, wird in der Praxis aber nur eingeschränkt respektiert; insbesondere in politisch brisanten Ermittlungsverfahren kommt es zu Versuchen der Einflussnahme auf die Justiz, z.B. bei der Ernennung von Staatsanwälten und Ermittlungsrichtern oder zum Schutz politischer Parteigänger vor Strafverfolgung. Neben den in mehrere Instanzen gegliederten und strukturell dem französischen Justizwesen angeglichenen Zivilgerichten existieren in Libanon konfessionelle Gerichtsbarkeiten, in deren Zuständigkeit die familienrechtlichen, bei den islamischen Religionsgemeinschaften auch die erbrechtlichen Verfahren, fallen (AA 4.1.2021). Die 15 konfessionellen Gerichtsbarkeiten diskriminieren durchwegs Frauen und zwar in Bezug auf die Ehe, das Sorgerecht für Kinder, das Erbrecht und die Scheidung (HRW 2021). [Anm.: Nähere Ausführungen hierzu sind dem Abschnitt „17. Frauen" zu entnehmen.]
Eine Strafverfolgungs- und Strafbemessungspraxis, die nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität diskriminiert, ist im Libanon nicht gegeben. Allgemeine kriminelle Delikte werden im Rahmen feststehender straf- bzw. strafprozessrechtlicher Vorschriften nach insgesamt weitgehend rechtsstaatlichen Prinzipien verfolgt und geahndet (AA 4.1.2021).
Die Einhaltung der in der Verfassung garantierten richterlichen Unabhängigkeit ist in der praktischen Durchführung durch verbreitete Korruption, chronischen Richtermangel und zum Teil auch politische Einflussnahme eingeschränkt (AA 4.1.2021). Personen, die an zivil- und strafrechtlichen Routineverfahren beteiligt waren, baten manchmal um die Unterstützung prominenter Personen, um den Ausgang ihrer Verfahren zu beeinflussen (USDOS 30.3.2021). Politische Führer versuchten zeitweise, die richterliche Behandlung politisch aufgeladener Fälle zu beeinflussen, und gegensätzliche politische und konfessionelle Fraktionen werfen sich jeweils unzulässige Einflussnahme vor (USDOS 11.3.2020). Im Fall der Explosion vom 4.8.2020 wurde bisher keine einzige Person zur Verantwortung gezogen. Dabei handelte es sich um eine der größten nicht-nuklearen Detonationen der Geschichte. Es starben mindestens 216 Menschen (genaue Zahl unbekannt) und mehr als 6.500 Personen wurden verletzt. Hunderttausende Menschen wurden obdachlos und 85.744 Gebäude wurden beschädigt. Eine Handvoll hoher Amtsträger aus Politik, Justiz, Sicherheit, Militär und Zoll wusste von den explosiven Materialien im Hafen – darunter Präsident Michel Aboun und der frühere Premierminister Hassan Diab. Sie unternahmen nichts, um die Materialien entfernen zu lassen. Eine gerichtliche Untersuchung ist im Gang, aber wenige LibanesInnen erwarten eine Benennung der Schuldigen, weil sie politische Einmischung befürchten. Der erste beauftragte Richter wurde wegen „Voreingenommenheit“ entfernt, nachdem er Diab und frühere Minister wegen Fahrlässigkeit anklagte, und zwei der Minister sich beschwerten. Ähnliche Versuche gab es, den zweiten Richter Tarek Bitar zu entfernen – bisher vergeblich. Besonders die Hizbollah und ihre Verbündeten sind aktiv und lösten im Oktober 2021 gewaltsame Proteste aus, bei denen mindestens sechs Menschen starben. Viele Libanesinnen wünschen sich eine internationale Untersuchung der Explosion (NYT 28.10.2021). [Anm.: Über die neuestes politisch-rechtliche Abmachung bzgl. der Untersuchung der Explosion siehe Abschnitt 2 – Politische Lage.]
Das Rechtssystem unterscheidet im Strafrechtsbereich zwischen ordentlichen und Militärgerichten (AA 4.1.2021). Die Militärgerichte sind zuständig für Fälle, an denen Militär-, Polizei- und Regierungsbeamte beteiligt sind, sowie für Fälle, in denen Zivilpersonen oder Militärs der Spionage, des Hochverrats, des Waffenbesitzes, der Wehrpflichtverletzung (USDOS 30.3.2021; vergleiche AA 4.1.2021). Dabei werden die Zuständigkeiten der Militärgerichtsbarkeit oftmals extensiv ausgelegt, vor allem beim Vorwurf des Terrorismus (AA 4.1.2021). Militärgerichte verurteilen auch Zivilpersonen (USDOS 30.3.2021; vergleiche AA 4.1.2021), beispielsweise wegen terroristischer Delikte mit islamistischem Hintergrund, oft in Schnellverfahren ohne ausreichenden Rechtsbeistand. Seit Jahren (allerdings ohne greifbare Fortschritte) wird erwogen, alle Militärverfahren, wenngleich unter Beibehaltung der prozeduralen Besonderheiten, ordentlichen Gerichten zu übertragen. Gegen Urteile des sogenannten Justizrates („Conseil de Justice“) kann kein Rechtsmittel eingelegt werden. Dieses mit fünf Richtern des Kassationsgerichtshofs besetzte Gericht urteilt auf Beschluss des Ministerrates in Strafverfahren, die die nationale Sicherheit betreffen. Es gibt keine Anhaltspunkte für eine Verhängung von Sippenhaft (AA 4.1.2021).
Zivilgerichte können zwar auch über Militärangehörige verhandeln, aber das Militärgericht verhandelt diese Fälle häufig auch bei nicht mit dem offiziellen Militärdienst in Zusammenhang stehenden Anklagen. Menschenrechtsaktivisten befürchten, dass solche Verfahren das Potenzial für Straflosigkeit schaffen (USDOS 30.3.2021).
Die Justiz in den palästinensischen Lagern ist sehr unterschiedlich. Palästinensische Gruppen betreiben in den Flüchtlingslagern ein autonomes Justizsystem, das für Außenstehende meist undurchsichtig ist und das sich der Kontrolle des Staates entzieht. Beispielsweise versuchen lokale Volkskomitees in den Lagern, Streitigkeiten durch informelle Vermittlungsmethoden zu schlichten, verweisen aber gelegentlich die betroffenen Personen im Falle schwerwiegenderer Vergehen (wie z.B. Mord und Terrorismus) für Gerichtsverfahren an die staatlichen Behörden Die meisten Lager stehen unter der Kontrolle von gemeinsamen palästinensischen Sicherheitskräften, die mehrere Fraktionen vertreten (USDOS 30.3.2021).
Sicherheitsbehörden
Die führenden Positionen in den Sicherheitsbehörden werden u.a. nach konfessionellem Proporz vergeben. Ein Polizeigesetz im engeren Sinne gibt es nicht. Alle Institutionen und Dienste kooperieren seit Frühjahr 2014 zwar verstärkt miteinander, gleichwohl sind ihre Kompetenzen nicht scharf voneinander abgegrenzt. Die Zuordnung von Institutionen zu einer bestimmten Konfession und ihrem politischen Lager beeinflusst teilweise spürbar ihre Zusammenarbeit (AA 4.1.2021).
Das Verhältnis zwischen den Bürgern und den staatlichen Sicherheitsbehörden, einschließlich der Internal Security Forces (ISF) und der General Security (GS) ist nicht immer vertrauensvoll. Es wird beklagt, dass die Sicherheitsinstitutionen wie viele andere Staatsorgane von dem selben Klientelismus betroffen sind, der den Libanon als Ganzes durchzieht. Dieser Umstand stellt die Unparteilichkeit der Polizei in Frage. Auf der anderen Seite hat der Strategische Plan 2018-2022 des ISF die Organisation zu einem allgemeinen Wechsel zu mehr Verantwortlichkeit und Schutz der Menschenrechte verpflichtet. Die Verwirklichung solcher Ambitionen wird einige Zeit in Anspruch nehmen und nicht ganz reibungslos vor sich gehen (MEI 23.1.2019). Die zivilen Behörden behielten die Kontrolle über die Sicherheits- und Streitkräfte der Regierung. Allerdings befanden sich die palästinensischen Sicherheitskräfte und Milizen sowie die als Terrorgruppe eingestufte Hizbollah [Anm.: EU-weit nur der militärische Arm der Hizbollah] und andere extremistische Gruppen außerhalb ihrer Kontrolle (USDOS 30.3.2021).
Die ISF sind die allgemein zuständige Polizei des Staates und gleichzeitig Hilfsorgan der Justiz (z.B. zum Führen des Kriminalregisters), sie werden durch einen sunnitischen General geleitet und stehen dem (ebenfalls sunnitischen) geschäftsführenden Innenminister nahe (AA 4.1.2021).
Die schiitisch geprägte General Security hat neben Fragen der Ein- und Ausreisekontrollen auch eine nachrichtendienstliche Funktion inne. Ihr Leiter wird der AMAL-Partei von Parlamentspräsident Berri zugeordnet (AA 4.1.2021).
Daneben gibt es noch mehrere vorwiegend nachrichtendienstlich tätige Sicherheitsbehörden: Amn ad-Daula (State Security); Amn al-Dschaisch (Military Security); Sicherheitsdienst der ISF; Nachrichtendienstliche Abteilung der General Security (AA 4.1.2021).
Die Lebanese Armed Forces (LAF), unter der Führung des Verteidigungsministeriums, sind für die äußere Sicherheit verantwortlich, aber auch zur Festnahme von Verdächtigen aus Gründen der nationalen Sicherheit befugt. Sie inhaftierten auch mutmaßliche Drogenhändler, führten die Überwachung von Protesten durch, setzten Bauvorschriften im Zusammenhang mit Flüchtlingsunterkünften durch und intervenierten, um Gewalt zwischen rivalisierenden politischen Fraktionen zu verhindern (USDOS 30.3.2021). Sie nimmt in Libanon auch Aufgaben der inneren Sicherheit wahr, z.B. an den weit verbreiteten Kontrollpunkten (AA 4.1.2021). Anders als die beiden anderen Sicherheitskräfte gilt die Armee als parteipolitisch und konfessionell weitgehend neutral (trotz eines stets christlichen Oberbefehlshabers und zahlreicher christlicher Generäle) und genießt grundsätzlich hohes Ansehen in allen Bevölkerungsteilen (AA 4.1.2021).
Ende 2021 ist das libanesische Militär mehrfachen Herausforderungen ausgesetzt: - das Sichern der Grenze zu Syrien in Form des Eindringens von Mitgliedern von Terrorgruppen des Islamischen Staates (IS) und von al-Qaida, - die Aufrechterhaltung von Stabilität an der Grenze zu Israel, wo die vom Iran unterstützte Hizbollah im Jahr 2006 einen Krieg mit Israel führte. Die weiterhin hohen Spannungen ziehen gelegentliche Gefechte nach sich. - Die Finanzkrise und die Regierungsschulden hintertreiben das volle Auszahlen von Gehältern und die Versorgung des Personals, was im Libanon und im Ausland Befürchtungen auslöste, dass die Streitkräfte auseinanderfallen könnten (CIA 20.10.2021). Im Juni 2021 warnte der Kommandant der LAF, Joseph Aoun, vor dem Kollaps der staatlichen Institutionen einschließlich der libanesischen Streitkräfte, wenn die Wirtschafts- und Finanzkrise ungebremst anhalte (CRS 10.8.2021). Das Vertrauen in den Staat und die wirtschaftliche Basis für eine Wohlstandsentwicklung sind nachhaltig zerstört (AA 4.1.2021).
Die staatlichen Institutionen haben in Teilen des Landes keinen uneingeschränkten Zugriff. Er fehlt umfassend in einigen der palästinensischen Flüchtlingslager. Auch in anderen Landesteilen schränkt die Existenz nichtstaatlicher Akteure die Zugriffsmöglichkeiten der Staatsorgane ein. Dies gilt insbesondere für die Hizbollah Hochburgen in den südlichen Vororten Beiruts, für die schiitischen Siedlungsgebiete in Teilen der Bekaa-Ebene und in Teilgebieten des Südens des Landes, in denen die Hizbollah Druck auf staatliche Institutionen ausübt und faktisch auch Aufgaben der Sicherheitsbehörden übernimmt. Parallel bestehen kleinere bewaffnete Milizen, wie jene der AMAL-Partei des Parlamentspräsidenten Nabih Berri, drusische Bürgerwehren sowie christliche Milizen, die etwa der Kataeb-Partei oder der griechisch-orthodoxen Kirche nahestehennd die sich zuletzt im Spätsommer 2015 auch an Kampfhandlungen gegen aus Syrien einsickernde sunnitische Extremisten beteiligt haben (AA 4.1.2021).
Folter und unmenschliche Behandlung
Das Gesetz verbietet den Einsatz von Gewalttaten zur Erlangung eines Geständnisses oder von Informationen über ein Verbrechen (USDOS 30.3.2021). Im März 2019 ernannte das Kabinett – wie im Anti-Folter-Gesetz von 2017 gefordert - die fünf Mitglieder des Nationalen Präventionsmechanismus gegen Folter (National Preventive Mechanism - NPM), ein Gremium innerhalb des zehnköpfigen Nationalen Menschenrechtsinstituts (National Human Rights Institute – NHRI), das die Aufgabe hat, die Menschenrechtssituation im Land zu überwachen. Hierzu werden Gesetze, Dekrete und Verwaltungsentscheidungen überprüft, es wird Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen nachgegangen und es werden regelmäßige Berichte über die Ergebnisse der Arbeiten herausgegeben. Das NPM beaufsichtigt die Umsetzung des Anti-Terrorgesetzes. Es ist befugt, regelmäßig unangekündigte Besuche an allen Haftorten durchzuführen, den Einsatz von Folter zu untersuchen und Empfehlungen zur Verbesserung der Behandlung von Gefangenen abzugeben. Bis September 2020 hatte es noch nicht die Arbeit aufgenommen (USDOS 30.3.2021).
Der Einsatz von Folter durch Mitarbeiter der Exekutive, des Militärs und der Staatssicherheit findet trotzdem weiterhin statt (FH 3.3.2021). Auch Vorwürfe von NGOs von Misshandlungen auf bestimmten Polizeistationen sind bekannt. Die Regierung leugnete den systematischen Einsatz von Folter, obwohl die Behörden einräumten, dass es bei Voruntersuchungen auf Polizeistationen oder in militärischen Einrichtungen, bei denen Beamte Verdächtige ohne Anwalt verhörten, manchmal zu gewalttätigen Misshandlungen kam (USDOS 30.3.2021). Ermittlungs- oder Strafverfahren wegen Foltervorwürfen sind bisher nur in Einzelfällen bekannt geworden. Jedwede Form „systematischer Folter“ streitet die Regierung ab. Es handele sich um „Exzesse Einzelner“, gegen die man noch stärker auf strafrechtlicher Grundlage vorgehen werde (AA 4.1.2021).
Die interne Untersuchung von Foltervorwürfen in den LAF-Gefängnissen in Sidon und Tripoli nach lokalen Protesten wurden eingestellt. Es mangelte an formalen Anklagen der Opfer, und der ursprüngliche Richter legte sein Amt zurück. So blieben die Fälle offen, wenngleich die LAF in mehreren Fällen von Foltervorwürfen die höchstmöglichen Strafen des Militärstrafrechts verhängte. Gleichzeitig räumte die LAF ein, dass für eine Bestrafung über Verwaltungsstrafen hinweg ein Gerichtsurteil nötig wäre. Die Untersuchungen zum Tod des Gefangenen Hassan Diqa im Mai 2019 sind noch nicht abgeschlossen. In einem anderen Fall, in welchem der Schauspieler Ziad Itani zwei Mitarbeiter des Geheimdienstes der Staatssicherheit der Folter beschuldigte, wurde dieser im Rahmen einer Anzeige wegen Verleumdung durch die Beschuldigten durch einen Untersuchungsrichter befragt (USDOS 30.3.2021).
Obwohl Menschenrechtsorganisationen einige Verbesserungen bei der Behandlung von Häftlingen im Laufe des Jahres 2019 einräumten, berichteten diese Organisationen und ehemalige Häftlinge weiterhin, dass Drogenkonsumenten, Prostituierte und LGBTI-Personen durch Beamte der Internal Security Force (ISF) - unter anderem durch Androhung längerer Haft und Preisgabe ihrer Identität gegenüber Familie oder Freunden - misshandelt wurden, insbesondere in Haftanstalten außerhalb Beiruts. Analuntersuchungen von Männern, die der gleichgeschlechtlichen sexuellen Aktivität verdächtigt werden, sind in den Polizeidienststellen Beiruts zwar verboten, werden aber in Tripoli und anderen Städten außerhalb der Hauptstadt weiterhin durchgeführt (USDOS 30.3.2021).
Menschenrechtsorganisationen haben, anders als das Internationale Komitee des Roten Kreuzes seit 2007, keinen Zutritt zu den Militärgefängnissen und zum Verhörzentrum im Verteidigungsministerium (AA 4.1.2021).
Im Jahr 2020 gab der damals amtierende Innenminister im Fernsehen zu, während des Bürgerkriegs [1975-1990] zwei Menschen getötet zu haben. Der aktuelle Präsident Michel Aoun habe ihn vor Konsequenzen geschützt. Das Geständnis fiel zeitlich mit Misshandlungen durch Sicherheitskräfte unter der Kontrolle des Innenministers zusammen. Im August 2020 haben Sicherheitskräfte zum Beispiel Bürger, welche den Präsidenten beleidigt hatten oder nach der Explosion im Hafen von Beirut an Protesten teilnahmen, angegriffen und schikaniert (FH 3.3.2021).
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
In Libanon sind zahlreiche lokale und internationale, im öffentlichen Leben deutlich wahrnehmbare Menschenrechtsorganisationen tätig. Sie können grundsätzlich frei arbeiten (AA 4.1.2021). NGOs müssen das in Grundzügen seit 1909 bestehende Vereinsgesetz und andere anwendbare Gesetze in Bezug auf Arbeit, Finanzen und Einwanderung einhalten. Auch ist eine Registrierung beim Innenministerium erforderlich, womit unter Umständen ein Genehmigungsverfahren verbunden ist (FH 3.3.2021). Rechtlich erschwert bleibt die Gründung von Organisationen durch Ausländer; dies macht es palästinensischen und syrischen Flüchtlingen de facto unmöglich, unabhängig von libanesischen Partnern NGOs zur Verfolgung ihrer Interessen zu gründen. In der Praxis treten libanesische Staatsangehörige für palästinensische und syrische Flüchtlinge als Gründer und Funktionäre auf (AA 4.1.2021). Das Innenministerium kann gegen Gründer, Funktionäre und Mitarbeiter einer NGO ermitteln (FH 3.3.2021).
Die Anwaltskammer Beirut veranstaltet regelmäßig öffentliche Seminare zum Schutz der Menschenrechte. Zahlreiche NGOs arbeiten offiziell mit staatlichen Stellen bei der Aus- und Fortbildung von Sicherheitskräften und anderen Staatsbediensteten zusammen, deren Arbeit Auswirkungen auf die Menschenrechtslage haben können. Vertreterinnen und Vertreter internationaler Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch (HRW) können sich im Land frei bewegen. HRW unterhält ein Regionalbüro in Beirut und publiziert so wie lokale NGOs regelmäßig kritische Berichte zur Menschenrechtslage im Land. Auch eine Delegation des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) ist im Libanon vertreten und befasst sich mit der Situation in den Gefängnissen. Ihm ist auch der Zugang zu den Gefängnissen der Armee und des Verteidigungsministeriums gestattet (AA 4.1.2021).
Versuche der Einschüchterung und Beeinflussung von NGOs durch politische Institutionen oder nicht-staatliche Akteure kommen vor (AA 4.1.2021). In Gebieten unter Hizbollah-Einfluss sind unabhängige NGOs Schikanen und Einschüchterung ausgesetzt, einschließlich sozialem, politischem und finanziellem Druck (USDOS 30.3.2021). [Anm.: Zur Ermordung des Hizbollah-Kritikers Lokman Slim siehe Abschnitt 2 Politische Lage.] Die manchmal vorkommenden bürokratischen Verhinderungs- und Einschüchterungsaktionen durch Sicherheitskräfte hängen von der Art der Arbeit der NGOs oder ihren Initiativen ab. Gruppen mit Schwerpunkt auf Angelegenheiten mit Syrien-Bezug oder mit syrischen Flüchtlingen als MitarbeiterInnen sind besonders anfällig für Prüfungen und Einmischungen (FH 3.3.2021)
Der Libanon hat nach mehrjährigen Vorarbeiten im Herbst 2016 den Aufbau einer nationalen Menschenrechtsinstitution beschlossen, die seit Mai 2018 mit zehn Mitgliedern besetzt ist, jedoch bislang über kein eigenes Budget verfügt (AA 4.1.2021).
Wehrdienst und Rekrutierungen
Die allgemeine Wehrpflicht wurde 2006 abgeschafft und die Armee in eine Berufsarmee umgewandelt. Der Zugang zum Militärdienst ist nicht an ethnische oder religiöse Kriterien gebunden (AA 4.1.2021). Im Alter von 17 bis 25 Jahre können Männer und Frauen im Libanon den freiwilligen Militärdienst ableisten (CIA 20.10.2021). Laut dem US-Ministerium für Arbeit beträgt das Mindestalter für den Eintritt in den freiwilligen Wehrdienst 18 Jahre (USDOL 29.9.2021).
Fahnenflüchtigen drohen nach Artikel 107, ff. des Militärstrafgesetzbuches Haftstrafen. Für Offiziere bzw. in Spannungszeiten erhöht sich das Strafmaß empfindlich. Auf Fahnenflucht mit Überlaufen zum Feind steht die Todesstrafe (Artikel 110, lib. MilitärStGB). Dem Auswärtigen Amt ist allerdings kein Fall bekannt, in der diese vollstreckt wurde (AA 4.1.2021).
Die Vereinten Nationen (UN) bestätigen für das Jahr 2019 die Rekrutierung und den Einsatz von 43 in der Mehrzahl palästinensischen Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen elf und 17 Jahren durch folgende Organisationen: Bilal Badr (zehn), Fatah al-Islam (neun), Hizbollah und Al-Nasri Front (je zwei) sowie verschiedene nicht identifizierte bewaffnete Gruppen (20). Fünf Kinder wurden als Kombattanten rekrutiert und 38 wurden in Unterstützungsrollen eingesetzt (UNGA 9.6.2020). Für das Jahr 2020 meldeten die Vereinten Nationen folgende Zahlen für die Rekrutierung und den Einsatz von neun Kindern – acht Buben und ein Mädchen durch folgende Organisationen: - Jund Ansar Allah (drei), - nicht identifizierte Gruppe, Fatah al-Islam und IS - Islamischer Staat (je zwei). Davon wurden drei Kinder als Kämpfer eingesetzt. Kinder wurden weiterhin unter der Militärjurisdiktion wegen Sicherheitsvergehen verhaftet und angeklagt, darunter Terrorismus. In zwei Fällen ist die Haft von zwei Buben belegt. Mit Stand Dezember 2020 befanden sich drei weitere Buben in Haft (UNGA 6.5.2021).
Die Hisbollah rekrutierte im Jahr 2020 weiterhin Jugendliche. Ein Betroffener berichtet dem Magazin „The Arab Weekly“, dass viele der Jugendlichen der Partei aus wirtschaftlichen bzw. finanziellen Gründen beigetreten wären; andere wären gewaltsam bzw. durch psychologischen Druck rekrutiert worden. In Gebieten unter Kontrolle der Hizbollah wäre es schwer, sich deren Einfluss zu entziehen (TAW 30.6.2020).
Allgemeine Menschenrechtslage
Der Libanon ist seit 1945 Gründungsmitglied der Vereinten Nationen (GIZ 3.2020). Die Präambel der libanesischen Verfassung hält ausdrücklich fest, dass der Libanon die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen beachtet. Der Staat ist Vertragsstaat wichtiger internationaler Menschenrechtsabkommen, jedoch wurden die meisten der Fakultativprotokolle zu den Menschenrechtsabkommen nicht ratifiziert, so beispielsweise auch das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OP2-ICCPR) von 1991. Der Libanon ist bislang keinem internationalen Übereinkommen zum Status von Flüchtlingen beigetreten (AA 4.1.2021).
Das Land genießt im Vergleich zu anderen arabischen Ländern eine demokratische und rechtsstaatliche Tradition, die sich in einer aktiven Zivilgesellschaft und zahlreichen Nichtregierungsorganisationen ausdrückt. Jedoch lassen sich trotz gesetzlicher Regelungen grobe Verstöße gegen die Menschenrechte feststellen (GIZ 3.2020). Zu den wichtigsten Menschenrechtsverletzungen gehörten Vorwürfe der Folter durch Sicherheitskräfte und willkürlichen Verhaftungen. Auch gab es Berichte über eine exzessive Dauer der Untersuchungshaft, schwerwiegende Einschränkungen der Rede- und Pressefreiheit und Einmischung in die Justiz. Darüber hinaus gibt es hochgradige und weit verbreitete Korruption bei den Behörden, eine Kriminalisierung des Status oder Verhaltens von Homosexuellen, Bisexuellen, Transgender-Personen und Intersexuellen (LGBTI). Außerdem kommt es zu Refoulement [Anm.: [Anm.: Non-Refoulement - ein im Völkerrecht verankerter Grundsatz, die Rückführung von Personen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, zu unterlassen] von Flüchtlingen. Obwohl die Rechtsstruktur die Verfolgung und Bestrafung von Beamten vorsieht, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, bleibt die Durchsetzung ein Problem und Regierungsbeamte genießen in solchen Fällen ein gewisses Maß an Straffreiheit. Gerichtsverfahren werden umgangen oder beeinflusst (USDOS 30.3.2021).
Das Nationale Menschenrechtsinstitut (NHRI) soll die Menschenrechtslage im Libanon überwachen, Beschwerden über Verstöße entgegennehmen und regelmäßig Berichte und Empfehlungen abgeben. 2019 ernannte das Kabinett die fünf Mitglieder für den Ausschuss für Folterprävention des NHRI. Mit Stand 8.9.2021 hat das NHRI noch nicht mit seiner Arbeit begonnen (USDOS 30.3.2021).
Todesstrafe
Die Todesstrafe wird weiterhin verhängt; es besteht aber seit 2004 ein Vollstreckungsmoratorium. Der Libanon hat nicht das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OP2-ICCPR) von 1991 ratifiziert (AA 4.1.2021).
In Libanon droht die Todesstrafe für folgende Delikte des allgemeinen Strafrechts (lib. StGB):
a) Hochverrat und ähnliche Delikte (Artikel 273,, 274, 275 u. 276),
b) Aufruhr und Aktionen, die den Bürgerkrieg schüren (Artikel 308,),
c) Terrorismus in besonders schweren Fällen (Artikel 315,),
d) Bildung von kriminellen Banden in besonders schweren Fällen (Artikel 336,),
e) Totschlag mit Vorsatz (Artikel 549,),
f) Verbrechen gegen die Verkehrssicherheit mit Todesfolge (Artikel 599,)
sowie für folgende Straftatbestände des militärischen Strafrechts (lib MilitärStGB):
g) Fahnenflucht und Überlaufen zum Feind (Artikel 110,),
h) Kapitulation vor dem Feind (betrifft nur regionale Militärbefehlshaber, Artikel 121,),
i) Hochverrat, militärischer Umsturz und Spionage (Artikel 123,, 124 und 130),
j) Befehlsverweigerung im Kriegsfall (Artikel 152,),
k) Verlassen eines sinkenden Kriegsschiffes (gilt nur für Kommandanten, Artikel 168,) (AA 4.1.2021).
Im Januar 2004 fanden trotz heftiger Proteste der Öffentlichkeit und der EU – nach jahrelangem Moratorium – drei Hinrichtungen statt. 2017 waren nach NGO-Angaben 75 Personen in Haft, gegen welche die Todesstrafe verhängt wurde (AA 4.1.2021). Im Jahr 2020 wurde mindestens einmal die Todesstrafe verhängt, während es im Jahr zuvor noch 23 Urteile waren (AI 4.2021). Seit 2004 ist es jedoch zu keinen weiteren Vollstreckungen gekommen (AA 4.1.2021). Im Jahr 2011 hatte das libanesische Parlament einer Gesetzesänderung bzgl. der Todesstrafe zugestimmt und schuf einen formalen Status für Personen, die zum Tode verurteilt wurden, ohne hingerichtet zu werden (TDS 10.10.2014).
In Libanon sind keine extralegalen Tötungen durch libanesische Staatsorgane bekannt geworden. Extralegale Hinrichtungen können aber für militärische Kampfhandlungen in Gebieten außerhalb staatlicher Kontrolle nicht ausgeschlossen werden. Bei einem Antiterroreinsatz der libanesischen Armee in der Gegend von Arsal am 30.6.2017 wurden 350 Personen vorübergehend festgenommen, mindestens vier starben im Gewahrsam der Armee - nach Armeeangaben in Folge bereits bestehender gesundheitlicher Probleme. Menschenrechtsgruppen fordern seither erfolglos eine Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse (AA 4.1.2021).
Religionsfreiheit
Der Libanon sieht keine Staatsreligion vor, und die Glaubensfreiheit ist in Artikel 9 der Verfassung verankert (BTI 29.4.2020). Die freie Ausübung religiöser Riten ist für alle religiösen Gruppen garantiert, sofern sie die öffentliche Ordnung nicht stören. Statistics Lebanon schätzt, dass insgesamt 67,6 % der Bevölkerung muslimischen Glaubens sind (31,9 % Sunniten, 31 % Schiiten und je ein kleiner Prozentsatz von Alawiten und Ismailiten) und 32,4 % Christen, wobei die Maroniten die größte christliche Gruppe bilden, gefolgt von den Griechisch-Orthodoxen (USDOS 12.5.2021). Der Anteil der Drusen beläuft sich auf lediglich 4,52 % der Bevölkerung (USDOS 10.6.2020). Aber diese Gruppe spielt aber eine wichtige Rolle für die Ausgewogenheit der politischen Bündnisse (BTI 29.4.2020).
Das in der Verfassung garantierte Grundrecht der Religionsfreiheit wird jedoch auf den 1936 erstellten Katalog von 18 offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften beschränkt: vier muslimische Glaubensrichtungen (Sunniten, Schiiten, Alawiten und Ismailis), zwölf christliche Gemeinschaften (Maroniten, Assyrer, Chaldäer, Kopten und Protestanten sowie die Griechisch-Orthodoxe, die Griechisch-Katholische, die Armenisch-Orthodoxe, die Armenisch-Katholische, die Syrisch-Orthodoxe, die Syrisch-Katholische und die Römisch-Katholische Kirche). Weitere Religionsgemeinschaften sind die Drusen und Juden (AA 4.1.2021; vergleiche CIA 25.10.2021, GIZ 6.2020a). Zu den nicht anerkannten Religionsgemeinschaften gehören u.a. Bahais, Buddhisten und mehrere protestantische Gruppierungen (USDOS 12.5.2021).
Die 18 offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften verfügen über die ausschließliche Macht über das Personenstandsrecht und kontrollieren teilweise die sozialen Dienste, einschließlich der Bildung (BTI 29.4.2020). Laut Gesetz erlaubt die Regierung anerkannten religiösen Gruppen, ihre eigenen Regeln in Familien- und Personenstandsangelegenheiten - einschließlich Ehe-, Scheidungs- und Sorgerecht für Kinder sowie Erbschaftsrecht - anzuwenden. Schiitische, sunnitische, anerkannte christliche und drusische Gruppen haben staatlich ernannte, von der Regierung subventionierte religiöse Gerichte, die das Familien- und Personenstandsrecht verwalten. Während die Religionsgerichte gesetzlich dazu verpflichtet sind, die Bestimmungen der Verfassung einzuhalten, hat das Kassationsgericht, das höchste Zivilgericht im Justizsystem, nur eine sehr begrenzte Aufsicht über religiöse Gerichtsverfahren und Entscheidungen. Gemäß Verfassung können anerkannte Religionsgemeinschaften ihre eigenen Schulen betreiben, vorausgesetzt, sie befolgen die für öffentliche Schulen erlassenen allgemeinen Regeln, die auch besagen, dass Schulen nicht zu konfessioneller Zwietracht aufstacheln oder die nationale Sicherheit bedrohen dürfen. Angehörige aller Konfessionen können im Militär, im Nachrichten- und Sicherheitsdienst dienen (USDOS 12.5.2021).
Nicht anerkannten religiösen Gruppierungen ist es entsprechend untersagt, eigene Gerichte zu betreiben und Personenstandsangelegenheiten zu regeln. Hierzu müssen staatliche Strukturen genützt werden. Sie können jedoch Eigentum besitzen, sich zum Gottesdienst versammeln und religiöse Riten frei durchführen. Allerdings dürfen sie keine rechtlich anerkannten Heirats- oder Scheidungsverfahren durchführen und sie haben auch kein Recht, über Erbschaftsfragen zu entscheiden. Zudem sind Mitglieder nicht anerkannter religiöser Gruppen von der Bekleidung bestimmter Regierungspositionen ausgenommen (USDOS 10.6.2020).
Es gibt keine formalisierten Verfahren für Zivilehen oder Scheidungen. Die Regierung erkennt außerhalb des Landes durchgeführte standesamtliche Eheschließungen unabhängig von der Religionszugehörigkeit der einzelnen Ehepartner an. Während einige christliche und muslimische Religionsbehörden interreligiöse Eheschließungen durchführen, verlangen Kleriker, Priester oder religiöse Gerichte von dem Partner mit anderer Religion häufig, dass er sich verpflichtet, seine Kinder in der Religion des Partners zu erziehen und/oder im Falle einer Scheidung auf bestimmte Rechte wie z.B. Erbschafts- oder Sorgerechtsansprüche zu verzichten (USDOS 12.5.2021). Interkonfessionelle Ehen waren nur in wenigen Fällen und unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, die letztlich darauf abzielen, dass ein Ehegatte zum Glauben des anderen konvertiert. Die vor einer anerkannten religiösen Instanz geschlossenen Ehen müssen anschließend in das libanesische Personenstandsregister eingetragen werden, damit die Eheurkunde rechtliche Beweiskraft erlangen kann (AA 4.1.2021).
Religiöse Führer greifen regelmäßig in politische Fragen ein und bewegen sich dabei oft an der Grenze zwischen religiöser und politischer Führung. Ungeachtet ihres Einflusses tendieren sie dazu, die institutionellen, politischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Gruppe zu schützen, anstatt der Gesellschaft als Ganzes eine religiöse Agenda aufzuzwingen (BTI 29.4.2020). Führer muslimischer und christlicher Gemeinden betonen die freundschaftlichen Beziehungen zwischen einzelnen Mitgliedern verschiedener religiöser Gruppen (USDOS 12.5.2021). Interreligiöser Dialog hat im Libanon einen festen Platz und findet teilweise in institutionalisierter Form auf hoher Ebene statt. Wiederholt haben die drei höchsten religiösen Repräsentanten gemeinsame Erklärungen zu politischen Themen abgegeben (AA 4.1.2021).
Blasphemie
Das Strafgesetzbuch sieht eine maximale Gefängnisstrafe von einem Jahr für Personen vor, die wegen „öffentlicher Gotteslästerung" verurteilt wurden, ohne diesen Tatbestand näher zu definieren. Verleumdung und Missachtung der Religion werden mit einer maximalen Gefängnisstrafe von drei Jahren geahndet (USDOS 12.5.2021).
Konversion
Laut Gesetz steht es einer Person frei, zu einer anderen Religion zu konvertieren, wenn ein örtlicher hochrangiger Beamter der religiösen Gruppe, der die Person beitreten möchte, dem Wechsel zustimmt. Die neu beigetretene Religionsgruppe stellt ein Dokument aus, in dem die neue Religion des Konvertiten bestätigt wird und das dem Konvertiten erlaubt, seine neue Religion bei der Direktion für Personenstand des Innenministeriums anzumelden. Die neue Religion wird danach in die von der Regierung ausgestellten Personenstandsurkunden aufgenommen. Die Bürger haben das Recht, den üblichen Vermerk ihrer Religion aus den von der Regierung ausgestellten Meldeunterlagen zu entfernen oder die Art der Eintragung zu ändern. Für die Änderung der Dokumente ist keine Genehmigung der religiösen Amtsträger erforderlich (USDOS 12.5.2021).
In der Praxis kommen Konversionen nur in Ausnahmefällen vor, zumal Konvertiten nur eingeschränkt mit Verständnis ihres familiären oder gesellschaftlichen Umfelds rechnen können und allenfalls auch der Gefahr physischer Bedrohung ausgesetzt sind. Staatlichen Repressionen sind Konvertiten nicht ausgesetzt (AA 4.1.2021).
Ethnische Minderheiten
Die Bevölkerung des Libanon von geschätzten 5.261.372 Menschen besteht zu 95 % aus Arabern, 4 % Armeniern und 1 % sonstiger Ethnien (CIA o.D). Es besteht keine ethnisch oder religiös diskriminierende Gesetzgebung für libanesische Staatsangehörige. Allerdings unterliegen palästinensische und syrische Flüchtlinge gravierenden rechtlichen und tatsächlichen Einschränkungen (AA 4.1.2021) [Anm.: Siehe Kapitel 20.1. Syrische Flüchtlinge und 20.2. Palästinensische Flüchtlinge].
Es gibt ebenso keine Anhaltspunkte für gezielte staatliche Repressionen gegen bestimmte Personengruppen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wiederum ausgenommen palästinensische und syrische Flüchtlinge. Die ca. 100.000 Personen umfassende kurdischstämmige Bevölkerung türkischen oder irakischen Ursprungs wird nicht als Minderheit anerkannt, unterliegt aber auch keiner Repression. Nach wie vor ist ein kleiner Teil dieser Bevölkerungsgruppe (ca. 1.000-1.500 Personen) staatenlos und hat damit keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, insbesondere zu staatlichen Schulen und zum Gesundheitssystem (AA 4.1.2021).
Beduinen – al-Ashaer, bzw. al-Arabiya
Die meisten Beduinen identifizieren sich aufgrund des sozialen Stigmas nicht als „Badu“, sondern als „Al-Ashaer“ („Stämme“) oder „Al-Arabiya“ (ÖB 28.10.2021). Die Bezeichnung „Beduinen“ wird von anderen LibanesInnen mit Rückständigkeit gleichgesetzt. Auch wenn ein Beduine sich nicht von anderen unterscheidet, so gibt es trotzdem Diskriminierung der Gruppe (TDS 24.8.2016).
Die Vertretung der arabischen Stämme wird von der „Föderation der arabischen Stämme“ beansprucht (ÖB 28.10.2021).
Seit dem 13. Jahrhundert und verstärkt seit der französischen Mandatszeit leben Gruppen von Beduinen mit einer hohen Geburtenrate im Libanon, weswegen Schätzungen von bis zu einigen Hunderttausenden von Mitgliedern ausgehen. Ursprünglich lebten Beduinen vor allem in der Bekaa-Ebene sowie in Wadi Khaled im Akkar. Mittlerweile gibt es solche Gruppen im gesamten Land. Viele Beduinen leben schon lange im Land, zusätzliche Gruppen kamen während des Syrien-Kriegs in den Libanon. Die meisten von ihnen sind nach wie vor staatenlos, einige zehntausende wurden jedoch unter Premierminister Rafik Hariri 1994 eingebürgert, was bei vor allem bei der christlichen Bevölkerungsgruppe auf Kritik stieß, da man eine Veränderung des Bevölkerungsgleichgewichts befürchtete (ÖB 28.10.2021).
Die Zahl der über das Schulsystem gut integrierten Beduinen dürfte 5 Prozent nicht übersteigen, so dass die überwiegende Mehrzahl weiterhin als Taglöhner in der Landwirtschaft arbeitet. Es fehlt in ihren Dörfern an grundlegender Infrastruktur. Die Staatenlosigkeit erschwert insbesondere seit dem 50er Jahren, als der Prozess der Sesshaftwerdung sich verstärkte, den Kauf/Verkauf von Land (ÖB 28.10.2021).
Die Beduinen galten noch im Jahr 2013 „als für die Regierung großteils unsichtbar“, was auch ihren Zugang zu Gesundheitsversorgung betraf (SSM 4.2013). Auch wenn die Beduinen rechtlich nicht diskriminiert werden, handelt es sich sozial und ökonomisch neben den palästinensischen Flüchtlingen um die am stärksten benachteiligte Bevölkerungsgruppe. Die Lage der nicht eingebürgerten Beduinen ist besonders prekär; sie haben keinen Zugang zu staatlichen Leistungen (AA 4.1.2021). Zu einer Beendigung der Diskriminierung – auch jener Beduinen mit libanesischer Staatsbürgerschaft – wurde im Jahr 2016 auf die Notwendigkeit eines Umdenkens der Öffentlichkeit und des Einsatzes der Regierung hingewiesen (TDS 24.8.2016).
Die Beduinen sind stark in eigenen Traditionen verwurzelt, einschließlich eines traditionellen Rechtssystems und eines sie von anderen Libanesen differenzierenden Dialekts (ÖB 28.10.2021; vergleiche TDS 24.8.2016). Aber die Praktiken variieren je nach Familie und Stamm. Einige Stämme verbieten Frauen die Heirat außerhalb der Familie – mit einem Cousin als Ehemann als einzige Option. In anderen Stämmen können die Frauen heiraten, wen sie wollen (TDS 24.8.2016).
Bei den Sunniten in Khalde [nahe Beirut] handelt es sich meist um Beiruter Beduinen, die während des Bürgerkriegs von christlichen Milizen aus dem Stadtteil Quarantaine [Karantina] vertrieben wurden ([daher] „Arab Al-Maslakh“ oder „Schlachthausaraber“) (ÖB 28.10.2021). Der Zusammenstoß in Khalde im August 2021 involvierte die Hizbollah und auf der anderen Seite Mitglieder eines Beduinenstammes. Ein Jahr zuvor war ein Mitglied des Stammes von einem Hizbollah-Mitglied getötet worden. Dieses wurde ein Jahr später aus Rache bei einer Hochzeit ermordet. Dann folgte ein Angriff auf dessen Beerdigungszug in Khalde, was in eine Auseinandersetzung mit mindestens fünf Toten mündete (KT 3.8.2021; vergleiche bzgl. der einhergehenden politische Verwicklungen und konfessionelle Konnotationen Atlas 9.2021).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Die Lebenssituation der Frauen im Libanon ist insgesamt besser als in den meisten Staaten der Region. Allerdings sind Frauen im politischen und gesellschaftlichen Leben deutlich unterrepräsentiert. Seit 1953 haben Frauen das aktive und passive Wahlrecht, konnten jedoch erst 2004 Ministerinnen im Kabinett stellen. Die [Anm.: im September 2021 abgelöste] Übergangsregierung bestand zu einem Drittel aus Frauen, darunter die Verteidigungsministerin. Unter den 2018 neugewählten 128 Abgeordneten befinden sich jedoch nur sechs Frauen. Damit liegt das Land unter dem Durchschnitt der arabischen Staaten (AA 4.1.2021).
Der Libanon hat 1997 das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) ratifiziert, jedoch bezüglich zahlreicher Bestimmungen Vorbehalte eingelegt. Das dazugehörige Fakultativprotokoll zur Möglichkeit der Individualbeschwerde wurde bisher nicht unterzeichnet (AA 4.1.2021).
Frauen werden in Staatsangehörigkeitsfragen oder Passangelegenheiten benachteiligt: Kinder erwerben durch Geburt die Staatsangehörigkeit vom Vater, nicht aber von der Mutter (AA 4.1.2021). Anders als Männer können libanesische Frauen ihre Staatsangehörigkeit auch nicht an ausländische Ehemänner und Kinder weitergeben (HRW 13.1.2021). Verheiratete Frauen benötigen für die Ausstellung eines Reisepasses die Zustimmung des Ehemannes (AA 4.1.2021).
Innerhalb der Familien und der Gesellschaft herrscht weiterhin ein patriarchalisches System, was den Frauen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschwert (AA 4.1.2021). Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen ist ein verbreitetes Problem (GIZ 3.2020; vergleiche AA 4.1.2021). Grobe Verstöße gegen kulturelle Normen können im Namen der „Familienehre", der Tradition oder gar der Religion sanktioniert werden. In Extremfällen kann dies die Betroffenen das Leben kosten (GIZ 3.2020).
Frauenrechtsorganisationen des Landes versuchen seit Jahren Frauen vor Gewalt zu schützen (GIZ 3.2020). Die Abteilung für Frauenangelegenheiten im Ministerium für Soziale Angelegenheiten und mehrere NGOs leiten Projekte, die das Thema sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt ansprechen – etwa durch Beratung und Unterkünfte für Opfer (USDOS 30.3.2021). Seit 2014 ist ein Gesetz in Kraft, das häusliche Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt. Allerdings ist nicht eindeutig definiert, unter welchen Umständen eine Vergewaltigung in der Ehe strafbar ist; außerdem ist das Strafmaß deutlich niedriger als bei Vergewaltigung außerhalb der Ehe. 2017 wurde auch durch die Aufhebung des Paragraphs 522 des Strafgesetzbuches die Straffreiheit abgeschafft, für den Fall dass der Vergewaltiger das Opfer nach der Tat heiratete (AA 4.1.2021). Es verblieb jedoch eine Gesetzeslücke bezüglich minderjähriger Opfer (15-17 Jahre) und bezüglich Sex mit einem jungfräulichen Mädchen, dem die Heirat versprochen wurde (HRW 13.1.2021).
Gemäß Artikel 487, -489 des Strafgesetzes erhalten Frauen bei Verurteilung wegen Ehebruchs höhere Strafen als Männer (AA 4.1.2021)
Alle 18 anerkannten religiösen Gruppen haben jeweils ihre eigenen Personenstandsgerichte, und die Gesetze sind je nach religiöser Gruppe unterschiedlich. Die rechtliche Stellung der Frau wird stark durch die konfessionell unterschiedlichen Personenstandsgesetze beeinflusst, die teilweise – wie im islamischen Ehe- und Erbrecht, aber auch im christlich-maronitischen Aufenthaltsbestimmungsrecht - zur Diskriminierung von Frauen führen (AA 4.1.2021). Das religiöse Recht begünstigt z.B. in Fragen des Sorgerechts für Kinder - unabhängig von der Religion - in den meisten Fällen den Vater (USDOS 30.3.2021). Zur Diskriminierung gehören auch Ungleichheiten beim Zugang zu Scheidung sowie Erbschafts- und Eigentumsrechten. Es gibt kein einheitliches Mindestalter für die Eheschließung. Einige religiöse Gerichte erlauben Eheschließungen von Mädchen unter 15 Jahren (HRW 13.1.2021). Alle Religionsgemeinschaften erlauben Heiraten unter 18 Jahre. Am 8.3.2021 forderten hunderte Protestierende ein Mindestalter für die Eheschließung von 18 Jahren (USDOS 30.3.2021).
Bewegungsfreiheit
Das Gesetz gewährt Bewegungsfreiheit in Bezug auf Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung, und die Regierung respektierte grundsätzlich diese Rechte. Einschränkungen gibt es nur für Flüchtlinge und Asylsuchende, von denen die meisten aus Palästina, Syrien und dem Irak stammen [Für detaillierte Informationen wird auf den entsprechenden Abschnitt "IDPs und Flüchtlinge" verwiesen; Anm.] (USDOS 30.3.2021).
Aufgrund von Übergriffen des sogenannten Islamischen Staates (IS), terroristischen Anschlägen und Waffenschmuggel nach Syrien hält der Libanon die Grenzen zu Syrien nur für den eingeschränkten Personenverkehr offen (GIZ 3.2020). Die libanesischen Behörden behalten bestimmte COVID-19-Einschränkungen sowie die internationalen Einreisebeschränkungen mit Stand Ende Oktober bei – mutmaßlich bis 30.11.2021. Während die meisten Einschränkungen in den letzten Wochen aufgehoben wurden, wird weiterhin eine Erlaubnis von der IMPACT-Website der Regierung benötigt, um Aktivitäten an stark frequentierten Orten nachzugehen, z.B. der Besuch von Supermärkten oder Banken (GW 27.10.2021).
Kontrollpunkte sind im Libanon weit verbreitet (AA 4.1.2021).
Innerhalb des Landes behinderten oder verhinderten bewaffnete nichtstaatliche Akteure die Bewegung in den von ihnen kontrollierten Gebieten. Bewaffnete Mitglieder der Hizbollah kontrollierten den Zugang zu einigen Gebieten unter ihrer Kontrolle, und die Palästinensische Front für die Befreiung Palästinas (PFLP) verhinderten den Zugang zu einem Grenzgebiet unter ihrer Kontrolle (USDOS 30.3.2021).
Innerhalb der Familien üben die Männer manchmal eine beträchtliche Kontrolle über die weiblichen Verwandten aus, indem sie ihre Aktivitäten außerhalb des Hauses oder ihren Kontakt zu Freunden und Verwandten einschränken (USDOS 30.3.2021). Verheiratete Frauen benötigen für die Ausstellung eines Reisepasses die Zustimmung des Ehemannes (AA 4.1.2021).
IDPs und Flüchtlinge
Das Gesetz sieht weder die Gewährung von Asyl noch die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus vor (USDOS 30.3.2021). Die Regierung hat aber durch ein „Memorandum of Understanding“ in Absprache mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) seit September 2003 ein faktisches und verlängerbares Bleiberecht von höchstens einem Jahr für Flüchtlinge geschaffen, das allerdings nicht für Altfälle gilt. Ferner duldet die Regierung den vorübergehenden Aufenthalt von Asylsuchenden – bei Betreuung durch UNHCR - bis zu einer Dauer von sechs Monaten (AA 4.1.2021).
Der Libanon beheimatet pro Kopf die meisten Flüchtlinge weltweit (KAS 20.2.2019). Es leben bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von etwa 5,8 Millionen nach Schätzungen des UNHCR und anderer Organisationen 1,3 Millionen Flüchtlinge im Land (USDOS 30.3.2021; vergleiche GIZ 6.2020a). 880.414 Personen davon sind beim UNHCR registrierte syrische Flüchtlinge. Der UNHCR musste auf Anordnung der libanesischen Regierung Anfang 2015 die Registrierung von Flüchtlingen aus Syrien einstellen. Später im Libanon eintreffende SyrerInnen sind somit nicht in der Zahl erfasst (USDOS 30.3.2021) [Anm.: Näheres zu syrischen Flüchtlingen entnehmen Sie bitte dem Unterkapitel 20.1. Syrische Flüchtlinge]. Hinzukommen palästinensische Flüchtlinge. Diese sind in den meisten Fällen überwiegend sunnitische, aber auch christliche Nachkommen von Flüchtlingen, die in den 1940er und 1950er Jahren ins Land kamen (USDOS 12.5.2020). Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) schätzte Anfang 2019, dass von den insgesamt über 470.000 registrierten palästinensischen Flüchtlingen tatsächlich etwa 180.000 im Libanon aufhältig waren (UNRWA o.D.; vergleiche KAS 20.2.2019) [Anm.: Näheres zu palästinensischen Flüchtlingen siehe Unterkapitel 20.2. Palästinensische Flüchtlinge].
Außerdem sind bei UNHCR etwa 14.000 irakische Flüchtlinge registriert. Die Flüchtlinge und ausländischen Migranten aus dem Irak sind vor allem sunnitische Kurden, sunnitische und schiitische Muslime sowie Chaldäer. Es gab auch koptische Christen aus Ägypten und dem Sudan. Nach Angaben der NGO Syriac League, die sich für die assyrischen Christen im Land einsetzt, leben etwa 10.000 irakische Christen aller Konfessionen und 3.000 bis 4.000 koptische Christen im Land. Derselben NGO zufolge ist die Mehrheit der irakischen christlichen Flüchtlinge nicht beim UNHCR registriert und wird daher nicht in ihre Zählung einbezogen. Die Zahl der Christen aus dem Iraq ging aufgrund der Wirtschaftskrise im Libanon seit 2019 um 60 % durch Emigration zurück (USDOS 12.5.2021). Zudem gibt es mit Stand 31.7.2020 2.282 bei UNHCR registrierte Flüchtlinge und Asylsuchende aus dem Sudan sowie weitere andere Flüchtlinge (USDOS 30.3.2021).
Um Flüchtlinge dazu zu bewegen, sich um einen Aufenthaltsstatus zu beantragen, bzw. diesen zu verlängern, werden seit 2017 keine diesbezüglichen Gebühren für jene Flüchtlinge verlangt, die sich vor 2015 bei UNHCR registriert hatten. Diese Regelung schließt Flüchtlinge aus, die nicht registriert sind. Die Anwendung dieser Regelung ist jedoch inkonsistent und der Anteil der Flüchtlinge mit legalem Aufenthaltsstatus hat sich trotzdem nur minimal verbessert. Nach Angaben der UNO hatten im Juli 2020 nur 28 % der Flüchtlingsbevölkerung einen legalen Aufenthaltsstatus. Die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge konnte ihre Rechtsdokumente nicht erneuern, was deren Bewegungsfreiheit wegen der Möglichkeit von Festnahmen an Kontrollpunkten, insbesondere für erwachsene Männer erheblich beeinträchtigte (USDOS 30.3.2021).
Einige Kinder unter den Flüchtlingen leben und arbeiten auf der Straße. Angesichts des schlechten wirtschaftlichen Umfelds, der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und der geringen Möglichkeiten für Erwachsene, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, verlassen sich viele syrische Flüchtlingsfamilien oft auf Kinder, um Geld für die Familie zu verdienen, unter anderem durch Betteln oder den Verkauf kleiner Gegenstände auf der Straße. Diese Kinder sind in Bezug auf Ausbeutung, geschlechtsspezifische Gewalt und Kinderarbeit einem größeren Risiko ausgesetzt als libanesische Kinder, da sie im Vergleich zu ihren Eltern, die oft keine Aufenthaltsgenehmigung besitzen, eine größere Bewegungsfreiheit haben (USDOS 30.3.2021).
Syrische Flüchtlinge
Der Libanon nahm von allen benachbarten Ländern die größte Zahl an syrischen Flüchtlingen auf. Diese machen mit über einer Million Menschen ungefähr 25 % der Gesamtbevölkerung aus (KAS 20.2.2019; vergleiche GIZ 3.2020). Die hohe Zahl an Flüchtlingen hat zu einer enormen Belastung der staatlichen Strukturen geführt. Verarmungstendenzen der lokalen Bevölkerung, Übergriffe auf Flüchtlinge und eine erhöhte Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung sind die Folge (GIZ 3.2020). Es kommt vereinzelt zu Übergriffen von Libanesen auf syrische Flüchtlinge (z.B. Inbrandsetzung von Zelten, nächtliche „Ausgangssperren“ durch Bürgerwehren, vereinzelt auch „Lynchjustiz“) (AA 4.1.2021). Aufgrund von Ängsten und Erfahrungen mit palästinensischen Flüchtlingscamps wurden bis dato keine Flüchtlingslager für Syrer offiziell genehmigt (AA 4.1.2021; vergleiche GIZ 3.2020).
Lebensbedingungen
Die meisten syrischen Flüchtlinge wohnen in städtischen Gebieten, häufig in unfertigen und minderwertigen Gebäuden. Laut einer Einschätzung der UNO leben etwa 20 % in informellen Zeltsiedlungen. Oft nehmen Flüchtlinge Kredite auf, um selbst ihre grundlegendsten Bedürfnisse wie Miete, Lebensmittel und Gesundheitsversorgung decken zu können. In der Folge waren fast 90 % der Flüchtlinge verschuldet und von Ernährungsunsicherheit betroffen (USDOS 30.3.2021).
73 % der Syrer leben unterhalb der nationalen Armutsgrenze und somit von weniger als 3,84 US-Dollar pro Person und Tag (GIZ 3.2020). Laut den Vereinten Nationen stehen der Hälfte der syrischen Flüchtlingshaushalte sogar weniger als 2,9 US-Dollar pro Person und Tag zur Verfügung (AA 24.1.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020). Im April 2019 fand eine Sitzung des Hohen Verteidigungsrats zum Umgang mit syrischen Flüchtlingen statt, die u.a. Vorgaben zu Flüchtlingsunterkünften sowie zur Abschiebung und zu Arbeitsmöglichkeiten verschärfte. In der Folge kam es zu Abrissen von semi-permanenten Strukturen von Flüchtlingen, da laut libanesischem Recht nur temporäre Strukturen (z.B. Zelte ohne Holzverstärkung) erlaubt sind (AA 4.1.2021). Tausende Flüchtlingsunterkünfte wurden zerstört. Im Jahr 2020 wurden zwar keine weiteren „harten“ Unterkünfte zerstört, aber mehr als 470 weitere Personen waren in der ersten Jahreshälfte von Delogierungen aufgrund von Umweltbedenken betroffen (USDOS 30.3.2021).
Flüchtlinge dürfen weiterhin nur in Bereichen Landwirtschaft, Bausektor und Müllentsorgung arbeiten, benötigen dafür aber eine Arbeitsgenehmigung, die so gut wie nie erteilt wird. In der Folge werden Flüchtlinge in irreguläre Arbeitsverhältnisse gedrängt. Die Sicherheitsbehörden führen regelmäßig Razzien gegen im informellen Sektor tätige Flüchtlinge durch. Flüchtlinge haben nur bedingt Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung (AA 4.1.2021). Der UNHCR schätzt die Zahl der im Libanon als Flüchtlinge registrierte syrischen Kinder im Schulalter (3 bis 14 Jahre) auf fast 512.000. Sie haben kein Recht, zu regulären Zeiten am Unterricht in öffentlichen Schulen teilzunehmen, dürfen diesen aber in einer gesonderten zweiten Schicht besuchen (USDOS 30.3.2021). Oftmals werden diese Kinder bei der Anmeldung an Schulen dennoch abgewiesen. Zudem steigen mit der Armut unter Flüchtlingen auch Kinderarbeit und Ausbeutung von Jugendlichen, was einen Schulbesuch verhindert. Mehr als die Hälfte der syrischen Kinder geht nicht in die Schule (AA 4.1.2021). Der Anteil von syrischen Kindern, die Unterricht hatten, fiel auf 25 % und 30 % haben nie eine Schule besucht (HRW 11.10.2021).
Mehrere Nichtregierungs- und UN-Organisationen berichteten über sexuelle Belästigung und Ausbeutung von Flüchtlingen durch Arbeitgeber und Vermieter, darunter die Bezahlung von Arbeitnehmern unter dem Mindestlohn, überlange Arbeitszeiten, Schuldknechtschaft und das Drängen von Familien, ihre Töchter früh zu verheiraten, um wirtschaftliche Not zu lindern (USDOS 30.3.2021).
Syrische Flüchtlinge haben Zugang zu vielen gemeinnützigen und privaten Gesundheitszentren und örtlichen Kliniken für die medizinische Grundversorgung, und UN-Organisationen und NGOs finanzierten den Großteil der damit verbundenen Kosten mit internationaler Spenderunterstützung. Syrische Flüchtlinge haben weiters Zugang zu einer begrenzten Anzahl von Krankenhäusern, die von UNHCR unter Vertrag genommen wurden und lebensrettende Versorgung und Geburtenhilfe bieten (USDOS 11.3.2020).
Bei der Explosion im Hafen von Beirut am 4.8.2020 starben 23 syrische und zwei palästinensische Flüchtlinge, 504 syrische und mehrere palästinensische Flüchtlinge wurden verletzt und drei syrische Flüchtlinge wurden als vermisst gemeldet. Auch Wohngebäude von Flüchtlingen wurden teilweise zerstört (AA 4.1.2021).
Die finanziellen Herausforderungen, denen sich viele syrische Flüchtlinge durch die aktuelle Wirtschaftskrise derzeit gegenüber sehen, werden durch ihren rechtlichen Status im Land noch verschärft, da viele keine Arbeitserlaubnis erhalten können und daher ihren Lebensunterhalt unter der Hand und ohne Verträge verdienen müssen. Während die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter nach wie vor mit ihrem alten Lohn zum offiziellen Wechselkurs bezahlt werden - wenn sie überhaupt ihren Lohn erhalten - sind die Preise gestiegen, und Vermieter, Gläubiger und andere verlangen häufig Zahlungen in Dollar oder zum Schwarzmarktkurs (TNH 9.1.2020).
Rückkehr
Sofern die Flüchtlinge über keine libanesische Aufenthaltsgenehmigung verfügen, erhalten sie im Rahmen von Personenkontrollen regelmäßig schriftliche Aufforderungen zur Ausreise. Diese werden nun zunehmend auch vollstreckt, insbesondere bei Syrern, die nach April 2019 irregulär eingereist sind. Derzeit betont die Regierung, dass man nur die freiwillige Ausreise unterstütze. Hierfür seien landesweit 18 Informationsbüros eingerichtet worden, in denen rückkehrwillige Flüchtlinge Unterstützung einholen können. Der UNHCR berichtet von 7.535 verifizierten Rückkehrenden aus dem Libanon nach Syrien im Jahr 2020 (Stand: Ende September 2020) (AA 4.1.2021). Die libanesische Regierung hat ihre zunehmende Frustration darüber zum Ausdruck gebracht, dass die internationale Gemeinschaft es zulässt, dass der Libanon mit der höchsten pro-Kopf-Flüchtlingszahl der Welt eine unverhältnismäßig hohe Verantwortung für die syrischen Flüchtlinge übernimmt (ECRE 5.9.2019). Sie drängt auf internationale Unterstützung bei der Rückführung dieser Flüchtlinge. Große Teile der libanesischen Regierung sehen unter Verweis auf die sukzessive Rückerlangung der Territorialkontrolle durch das syrische Regime die Bedingungen für eine sichere und freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien nunmehr als gegeben an. Der UNHCR widerspricht dieser Einschätzung (AA 24.1.2020).
Der Libanon hat sich zwar wiederholt zum Prinzip des Non-Refoulement [Anm.: Ein im Völkerrecht verankerter Grundsatz, die Rückführung von Personen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, zu unterlassen] bekannt, rechtliche Garantien gibt es jedoch weiterhin keine. 2019 kam es zu mehreren Abschiebungen von syrischen Flüchtlingen nach Syrien ohne rechtsstaatliches Verfahren. Dabei wurden die Flüchtlinge direkt an staatliche syrische Behörden übergeben und nicht nur an die Grenze verbracht. Aufgrund dieser Rechtsunsicherheit ist jeder Flüchtling oder jeder sich illegal im Land aufhaltende Ausländer von Abschiebehaft und Abschiebung bedroht - ausgenommen Palästinenser. Der Libanon führt mitunter aus Syrien einreisende Personen an die syrische Grenze zurück, wenn sich im Laufe ihres Aufenthalts im Land herausstellt, dass die Einreise in den Libanon mit gefälschten Dokumenten erfolgte. Außerdem werden über den internationalen Flughafen Beirut einreisende Syrer in der Regel an den Ausgangsflughafen zurückgeschickt, wenn sie nicht über einen Aufenthaltstitel für den Libanon verfügen (AA 4.1.2021).
Die General Security (GS) koordinierte sich mit syrischen Regierungsbeamten, um die freiwillige Rückkehr von etwa 21.000 Flüchtlingen von April 2018 bis August zu ermöglichen. Der UNHCR organisierte diese Gruppenrückkehr zwar nicht, war aber an den Ausreiseorten anwesend und fand keine Hinweise darauf, dass die Rückkehr der befragten Flüchtlinge unfreiwillig oder unter Zwang erfolgte. Menschenrechtsgruppen wie etwa Amnesty International stellten die Behauptungen der Regierung, die Rückkehr der Flüchtlinge sei völlig freiwillig gewesen, in Frage, sprachen von „Unterdrucksetzen“, und führten ein glaubwürdiges Risiko der Verfolgung oder anderer Menschenrechtsverletzungen bei der Rückkehr in vom syrischen Regime kontrollierte Gebiete an (USDOS 30.3.2021).
Am 14.7.2020 genehmigte die Regierung eine Rückkehrpolitik für Flüchtlinge, welche dem Wunsch einer Rückkehr der syrischen Flüchtlinge nach Syrien Ausdruck gab. Diese Politik soll Hindernisse für eine Rückkehr im Libanon abschaffen, und die Ausreise ermöglichen, z.B. durch Erlass von Gebühren, welche Flüchtlinge sonst bei der Ausreise als Vorbedingung zahlen müssen. Die Politik spielt die Schutzrisiken und das Fehlen von Basisleistungen für RückkehrerInnen in Syrien herunter. Es wird dabei auch gefordert, einen Zensus aller Flüchtlinge durchzuführen und Personen, die sich nicht von sich aus melden mit Geldstrafen oder potentiell mit Haft zu belegen. Eine Datenbank mit biometrischen Daten der Flüchtlinge ist auch geplant. Diese schürt bei den Flüchtlingen Ängste vor Refoulement [Anm.: Non-Refoulement - ein im Völkerrecht verankerter Grundsatz, die Rückführung von Personen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, zu unterlassen]. Die Umsetzung scheiterte jedoch im Jahr 2020 noch an dem bedeutenden Ressourcenaufwand (USDOS 30.3.2021).
Seit April 2019 verlangt eine Entscheidung des Higher Defense Council (HDC) die Abschiebung aller Personen, die nach dem 24.4.2019 festgenommen und deren Einreise ins Land für illegal befunden wurde (USDOS 11.3.2020). Die Behörden berichteten, dass bis September 2019 2.731 Personen auf der Grundlage dieser Anordnung abgeschoben worden wären. Weitere Abschiebungen folgten bis März 2020, als die Grenzen wegen der COVID-19-Pandemie geschlossen wurden. Humanitäre Organisationen sahen in der neuen Abschiebepolitik der Regierung ein hohes Refoulement-Risiko, da es kein formelles Überprüfungsverfahren zur Beurteilung der glaubwürdigen Furcht vor Verfolgung oder Folter gibt. Es gab mehrere Einzelberichte von internationalen Beobachtern über Misshandlungen von syrischen Flüchtlingen in Haft, einschließlich eines Todesfalls im Juli 2020, nach ihrer Übergabe an die syrischen Behörden. Libanesische Regierungsbeamte beharrten darauf, dass diese Politik nur für illegale Migranten und nicht für Flüchtlinge gelte, obwohl es anscheinend kein ausreichendes ordentliches Verfahren gibt, um dies festzustellen (USDOS 30.3.2021).
Die von verschiedenen Seiten genannten Zahlen zu RückkehrerInnen nach Syrien divergieren stark. Laut libanesischer Regierung seien im Jahr 2019 rund 120.000 SyrerInnen freiwillig nach Syrien zurückgekehrt. Der UNHCR nennt dagegen deutlich niedrigere Zahlen (rund 18.000 in 2019, Stand Oktober). Der UNHCR erhält innerhalb Syriens bislang so gut wie keinen Zugang zu Rückkehrern (AA 24.1.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020). Für das Jahr 2020 berichtet der UNHCR von 7.535 verifizierten Rückkehrenden aus dem Libanon nach Syrien seit Jahresbeginn (Stand: Ende September 2020) (AA 4.1.2021).
Palästinensische Flüchtlinge
Die palästinensischen Flüchtlinge sind meist Nachkommen jener Flüchtlingen, die in den 1940er und 1950er Jahren ins Land kamen. Sie sind meist sunnitische Muslime, manchmal aber auch Christen (USDOS 10.6.2020). Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) schätzt mit Stand vom 1.1.2019, dass von insgesamt über 470.000 registrierten Flüchtlingen etwa 180.000 tatsächlich im Libanon aufhältig sind, wovon wiederum etwa 45 % in und um zwölf Flüchtlingslager leben (UNRWA o.D.a). Eine gemeinsame Zählung der libanesischen und palästinensischen Statistikämter 2017 hat ergeben, dass sich die Zahl der Palästinenser im Libanon auf 174.000 Personen beläuft (PCBS 21.12.2017; vergleiche Spiegel 29.7.2019).
UNRWA
Die humanitären Dienste der UNRWA umfassen die Grund- und Berufsausbildung, die medizinische Grundversorgung, Hilfs- und Sozialdienste, die Verbesserung der Infrastruktur und der Lager, Mikrofinanzierung und Notfallmaßnahmen, auch in Situationen bewaffneter Konflikte (UNRWA o.D.b).
Rechtliche Lage der palästinensischen Flüchtlinge
Die meisten Palästinenser im Libanon sind staatenlos, mit Ausnahme von etwa 30.000 Christen, die 1948 ankamen, und die libanesische Staatsbürgerschaft erhielten (UNHCR 2.2016). UNRWA-registrierte palästinensische Flüchtlinge werden von Gesetzes wegen als AusländerInnen gesehen (USDOS 30.3.2021). Palästinensische Flüchtlinge können nicht die Staatsbürgerschaft erhalten mit Ausnahme von palästinensischen Ehefrauen von libanesischen Staatsbürgern nach einem Jahr Ehe (USDOS 30.3.2021). Doch werden ihnen häufig gesetzlich nicht vorgesehene administrative Hürden in den Weg gelegt (z.B. Einbürgerung erst nach Geburt eines Sohnes) (AA 4.1.2021).
Von den staatenlosen Palästinensern hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) vier Unterkategorien identifiziert (UNHCR 2.2016):
[Anm.: Für Informationen zu Staatenlosigkeit siehe auch Abschnitt 19.3.]
• „Registrierte" Flüchtlinge („Palästina-Flüchtlinge") – vormals ca. 470.000 Personen
Diese Flüchtlinge sind bei UNRWA und den libanesischen Behörden registriert, wobei sich die Zahl der tatsächlich im Land aufhältigen registrierten Palästina-Flüchtlinge laut UNRWA nunmehr auf etwa 180.000 Personen belaufen dürfte (UNRWA o.D.a.) Es handelt sich hierbei vor allem um palästinensische Flüchtlinge, die in der Zeit vom 1.7.1946 bis 15.5.1948 ihren gewöhnlichen Wohnsitz in Palästina hatten und durch den Konflikt von 1948 sowohl ihre Heimat als auch ihre Lebensgrundlage verloren haben (UNHCR 2.2016; vergleiche UNRWA o.D.c).
• Nicht bei UNRWA registrierte palästinensische Flüchtlinge - 35.000-40.000 Personen
Diese sind nicht beim UNRWA, sondern bei den libanesischen Behörden registriert und besitzen ebenfalls den vom Directorate General of Political and Refugees Affairs (DPRA) ausgestellten „Ausweis für Palästina-Flüchtlinge", erhalten jedoch ein anderes Reisedokument (Laissez Passer) (UNHCR 2.2016).
• "Non-ID-Palestinians" - 3.000 – 5.000 Personen
Die meisten dieser Flüchtlinge zogen nach der Vertreibung der Palestine Liberation Organization (PLO) aus Jordanien 1971 in den Libanon. Sie sind weder beim UNRWA noch bei den libanesischen Behörden registriert und daher auch als „undokumentierte Palästinenser“ bekannt (UNHCR 2.2016; vergleiche UK 6.2018). Auch wenn undokumentierte Palästinenser nicht unmittelbar Anspruch darauf haben, bot das UNRWA doch in den meisten Fällen medizinische Grundversorgung, Bildung und Berufsausbildung an. Die Mehrheit der undokumentierten Palästinenser waren Männer, viele von ihnen verheiratet mit UNRWA-registrierten Flüchtlingen oder libanesischen Bürgerinnen, die den Flüchtlingsstatus oder die Staatsbürgerschaft nicht auf ihre Ehemänner oder Kinder übertragen konnten (USDOS 30.1.2021). Die Lage der „undokumentierten“ PalästinenserInnen ist besonders schwierig. Sie laufen Gefahr, wegen illegalen Aufenthalts verhaftet zu werden, sobald sie die Lager verlassen. Auch wenn auf Drängen (nicht zuletzt der EU) bisher ca. 1.000 Identitätsnachweise ausgestellt wurden, bleibt die Rechtsstellung der betroffenen Personen unverändert prekär (AA 4.1.2021).
• Palästinensische Flüchtlinge aus Syrien (PRS) – ca. 30.000 Personen (UNRWA o.D.d)
Einreisevisa werden seit 2014 an der Grenze nur für PRS mit einem verifizierten Botschaftstermin im Land oder einem Flugticket und Visum in ein Drittland ausgestellt. Die UNRWA schätzt, dass nach 2016 nur 12 % der PRS in das Land gekommen sind. Eine offizielle Beschränkung der Bewegungsfreiheit für PRS gibt es nicht; allerdings droht ohne legalen Status eine Verhaftung an Kontrollpunkten (USDOS 30.3.2016). Die Behörden erlaubten den Kindern von palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien, sich in UNRWA-Schulen einzuschreiben und Zugang zu UNRWA-Gesundheitskliniken zu erhalten. Weiters werden die PRS von UNRWA auch finanziell unterstützt (USDOS 30.3.2021). PRS-Familien erhalten jedes Monat eine Mehrzweck-Barzuwendung in Libanesischen Pfund im Wert von umgerechnet 100 US-Dollar pro Familie. Für jedes Familienmitglied erhöht sich der Zuschuss um umgerechnet 27 US-Dollar zur Deckung der Nahrungsmittelkosten (UNRWA o.D.d). Die Kaufkraft der umgerechnet 27 US-Dollar ist mit Stand Juni 2021 auf ca. 7 Dollar gefallen (R 17.6.2021). [Anm.: siehe auch Abschnitt 20 Grundversorgung]. Auch Bargeld für die Überwinterung wird bereitgestellt, vorbehaltlich einer gesicherten Finanzierung. Darüber hinaus setzt sich UNRWA bei den libanesischen Behörden für die PRS auch in Fragen von Arbeitsmöglichkeiten, Lebensbedingungen und des Rechtsstatus sowie hinsichtlich der Registrierung durch den libanesischen Staat ein (UNRWA o.D.d).
Lebensbedingungen
Auch wenn Repressionen allein aufgrund der palästinensischen Volkszugehörigkeit nicht bekannt sind, ist die Lage der palästinensischen Flüchtlinge prekär. Politische und wirtschaftliche Rechte werden ihnen verwehrt. Sie dürfen, anders als andere AusländerInnen, im Libanon seit 2001 keinen Grund und Boden mehr erwerben. Auch wenn einige Berufe den PalästinenserInnen zugänglich gemacht wurden, bestehen rechtliche Hindernisse und gesellschaftliche Diskriminierung. So wird von PalästinenserInnen stets eine Arbeitserlaubnis verlangt; freie Berufe (Arzt, Rechtsanwalt etc.) können nicht ausgeübt werden. Der Besuch staatlicher Schulen ist ihnen untersagt. Für ihre Schulbildung und gesundheitliche Versorgung hängt die Lagerbevölkerung ausschließlich vom UNRWA-Hilfswerk bzw. Hilfeleistungen anderer NGOs (z.B. des Palästinensischen Roten Halbmondes) ab. Die in den Lagern lebenden PalästinenserInnen benötigen keine spezielle Erlaubnis, um diese zu verlassen. Die General Security (GS) stellt registrierten palästinensischen Flüchtlingen Reisedokumente (Documents de Voyage) aus (AA 4.1.2020).
Zahlreiche diskriminierende Maßnahmen werden nicht zuletzt deshalb gesetzt, weil die libanesische Regierung fürchtet, dass die Integration der - meist sunnitischen - Palästinenser das konfessionelle Gleichgewicht des Landes gefährden könnte. Im Sommer 2019 startete die Regierung eine Kampagne gegen „illegale ausländische Arbeitskräfte", die sich zum einen gegen die Hunderttausenden syrischen Kriegsflüchtlinge und zum anderen gegen die Palästinenser richtete. Unternehmen erhielten einen Monat lang Zeit, Arbeitsgenehmigungen für ausländische Angestellte zu beantragen. Nach Ablauf der Frist schlossen die Behörden erste Geschäfte, die Palästinenser ohne gültige Arbeitserlaubnis beschäftigten (Spiegel 29.7.2019).
Flüchtlingslager
Knapp über die Hälfte der Palästina-Flüchtlinge lebt in den folgenden zwölf anerkannten Palästina-Flüchtlingslagern: in der Nähe von Beirut (Mar Elias, Burj el-Barajneh, Bbayeh, Shatila), von Tripoli (Nahr el-Bared, Beddawi), von Sidon (Saïda) (Ein el-Hilweh), Mieh Mieh), von Sur (Tyros) (El-Buss, Rashidieh, Burj el-Shemali) und von Baalbek (Wavell) (UNRWA o.D.a; vergleiche GIZ 6.2020a). [Anm.: Auf andere in den Lagern aufhältige Personen wie z.B. verarmte LibanesInnen, syrische Flüchtlinge u.a. wird in diesem Abschnitt nicht näher eingegangen.]
Die UNRWA-Verantwortlichkeiten in den Lagern beschränken sich auf Leistungen und Verwaltung ihrer Anlagen. UNRWA besitzt weder die Lager noch verwaltet sie diese. Sie ist auch nicht als Polizei aktiv. Das ist die Aufgabe der Gaststaaten. Das Land, auf dem die offiziellen Flüchtlingslager stehen wurde meist vom Gaststaat von lokalen Landbesitzern gepachtet. Die Flüchtlinge „besitzen“ das Land nicht, haben aber das Nutzungsrecht für das Grundstück für eine Wohnunterkunft (UNRWA o.D.c).
Die zwölf über das ganze Land verteilten palästinensischen Flüchtlingslager sind der Kontrolle durch staatliche Gewalt weitgehend entzogen. Die Sicherheit innerhalb der Lager wird teilweise durch palästinensische bewaffnete Ordnungskräfte und Volkskomitees gewährleistet, die von der jeweils politisch bestimmenden Fraktion gestellt werden. Ausnahme stellt das Lager Nahr El Bared dar, das unter libanesischer Kontrolle steht. Die libanesische Armee beschränkt sich auf Zugangskontrollen und die Sicherung der Umgebung (AA 4.1.2021).Terroristische Gruppen wie die Hamas, die Volksfront für die Befreiung Palästinas, das Generalkommando der Volksfront für die Befreiung Palästinas, Asbat al-Ansar, Fatah al-Islam, Fatah al-Intifada, Jund al-Sham, der Palästinensische Islamische Dschihad und die Abdullah-Azzam-Brigaden operierten weiterhin in Gebieten mit begrenzter Regierungskontrolle, vor allem in den zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern. Diese Lager werden als sichere Zufluchtsorte genutzt und sie dienen als Waffenverstecke (USDOS 24.6.2020a).
Die Bedingungen in den Lagern sind sehr schlecht und durch Überbelegung, schlechte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Armut und mangelnden Zugang zur Justiz gekennzeichnet (UNRWA o.D.a). Die Lager sind der staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen. Deren Sicherheit wird teilweise durch palästinensische bewaffnete Ordnungskräfte und Volkskomitees gewährleistet, die von der jeweils politisch bestimmenden Fraktion gestellt werden. Eine Ausnahme stellt das Lager Nahr el-Bared dar, das unter libanesischer Kontrolle steht. Die libanesische Armee beschränkt sich hierbei jedoch auf Zugangskontrollen und die Sicherung der Umgebung (AA 24.1.2020). Sporadische bewaffnete Zusammenstöße unterbrachen Bildungs- und Gesundheitsdienste und führten zur vorübergehenden Schließung von Schulen und Krankenhäusern. Sicherheitsbedenken schränkten auch die Tätigkeit humanitärer Akteure ein (UNGA 9.6.2020). Es kommt immer wieder zu teils schweren Auseinandersetzungen in den Palästinenser-Lagern bzw. Ansiedelungen, z.T. mit Todesopfern (u. a. in den Lagern Ain El-Hilweh sowie Mieh-Mieh). Terroristische Gruppen, die die Lager als Rückzugsraum nutzen, stehen unter hohem Verfolgungsdruck der Sicherheitskräfte (AA 4.1.2021). Die Fläche, die den zwölf offiziellen palästinensischen Flüchtlingslagern im Land zugeteilt wurde, hat sich seit 1948 trotz einer Vervierfachung der Bevölkerung nur geringfügig verändert. Folglich leben die meisten palästinensischen Flüchtlinge in übervölkerten Lagern, von denen einige zudem während der vergangenen Konflikte schwer beschädigt wurden (USDOS 30.3.2021).
Alle Lager sind von Hilfeleistungen der chronisch unterfinanzierten UNRWA abhängig, deren Lage sich seit Mitte 2018 durch die massive Kürzung der zuvor substanziellen US-Unterstützung noch weiter zugespitzt hat. Immer wieder kommt es speziell in den Lagern Mieh-Mieh und Ain el-Hilweh zu schweren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen extremistischen Gruppierungen (Jund al-Scham, Abdullah-Azzam-Brigaden, Ansar Allah etc.). Die libanesischen Sicherheitskräfte greifen in diese Auseinandersetzungen entgegen der bisherigen, per Abkommen geregelten Praxis immer häufiger ein, weil die eigentlich zuständigen palästinensischen Sicherheitsbehörden zunehmend überfordert scheinen (AA 4.1.2021).
Grundversorgung und Wirtschaft
Vor dem Bürgerkrieg 1975 zählte der Libanon zu den bedeutendsten Finanzzentren im Nahen Osten. Im Zuge des Bürgerkriegs [1975-1990] überschuldete sich der Staat maßlos. Die Verschuldung beläuft sich nunmehr auf über 150 % des BIP. 40 % des Haushalts fließen somit in den Zinsendienst, seine eigentlichen Aufgaben kann der Staat kaum noch erfüllen (SZ 17.2.2020; vergleiche DailyStar 6.11.2019).
69 % des BIP wird durch den Dienstleistungssektor erwirtschaftet, 8 % durch den Agrarsektor und 23 % durch den Industriesektor. Dabei erzielt das Land seit Jahren hohe Handelsbilanzdefizite. Insbesondere gut ausgebildete Ingenieure, Ärzte und Betriebswirte verlassen das Land. Notwendige Investitionen bleiben aus (GIZ 6.2020b).
Am 17.10.2020 jährte sich der Ausbruch von Protesten und Demonstrationen, die ein Ende von Korruption und klientelistischer Misswirtschaft forderten. Dahinter stand jedoch jahrelang aufgestaute Frustration über den von den politischen Eliten zu verantwortenden wirtschaftlichen Niedergang Libanons. Dieser hatte sich mit dem Ausbruch des bewaffneten Konfliktes in Syrien seit 2012 stetig verschärft. Die Proteste, die weitestgehend friedlich abliefen, und durch die Verwendung nationaler Symbole gekennzeichnet waren, führten schließlich zum Rücktritt des damaligen Premierministers Saad Hariri. Die Proteste hatten aber auch einen weiteren Effekt: sie haben die sich bereits anbahnende Wirtschaftskrise des Libanon verschärft. Das libanesische Finanzwesen hatte sich in den vergangenen Jahren durch sog. „financial engineering" der Zentralbank zu einem letztlich betrügerischen Pyramidensystem entwickelt. Im Ergebnis wurden rund 2,5 Mio. Konten von Sparern und Anlegern ohne gesetzliche Grundlage „eingefroren". Dieser Zustand hält – mangels gesetzlicher Kapitalverkehrskontrollen - bis heute an. Maßnahmen der Regierung im Zuge der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie haben die wirtschaftliche Notlage weiter verschärft (AA 4.1.2021). Die Währung hat mehr als 90 % ihres Werts verloren. Die LibanesInnen sind nun mit einer der weltweit ärgsten Wirtschaftskrisen der letzten 150 Jahre konfrontiert, welche die Weltbank als „absichtliche Depression“ verursacht durch die Regierenden bezeichnet (NYT 28.10.2021). Laut ESCWA befindet sich bereits 82 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Gehälter von Staatsangestellten haben nur noch etwa ein Zehntel ihres früheren Werts [Anm.: vor Oktober 2019] (ÖB 1.9.2021). Die Hyperinflation liegt im dreistelligen Bereich, und die Lebensmittelpreise stiegen seit 2019 um 550 %. Die Arbeitslosigkeit steigt, Firmen schließen und zehntausende Menschen emigrieren. (NYT 28.10.2021).
Es bestehen Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten, elektrischem Strom, Treibstoff, Trinkwasser und anderen Gütern. In den Warteschlangen an den Tankstellen kann es zu Aggressionen kommen, die einen Einsatz der Polizei oder der Armee erfordern (EDA 15.10.2021). Wenn sich der Trend in Bezug auf Treibstoffknappheit fortsetzt, laufen zwei Drittel der Bevölkerung in Gefahr, ohne Wasserversorgung zu sein (ÖB 1.9.2021). Die Stromausfälle können nämlich Tage dauern (NYT 28.10.2021). Der Währungsverlust und die steigenden Preise verringern den Zugang zu Lebensmitteln, Obdach und Gesundheitsversorgung (HRW 2021).
Die Pandemie verschärfte die Armut weiter und traf disproportional marginalisierte Gruppen, darunter Familien mit geringem Einkommen, Menschen mit Behinderungen, Migranten, Flüchtlinge sowie sexuelle Minderheiten [Anm.: siehe auch Abschnitt 17.3 LGBTI-Menschen]. Die Regierung entwickelte kein zeitnahes und koordiniertes Hilfsprogramm (HRW 2021).
Am 4.8.2020 ereignete sich im Hafen von Beirut eine verheerende Explosion. 218 Menschen starben und rund 7,000 wurden verletzt. Etwa 77.000 Wohnungen wurden beschädigt, wodurch über 300.000 Personen vertrieben wurden. Erhebliche Schäden entstanden an der Infrastruktur, einschließlich des Verkehrs, der Energieversorgung, der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung sowie an den kommunalen Diensten (in Höhe von 390 bis 475 Millionen US-Dollar). Nach Angaben der Weltbank verursachte die Explosion Sachschäden in Höhe von schätzungsweise 3,8 bis 4,6 Milliarden US-Dollar (HRW 3.8.2021). Tausende zogen in der Folge zu Protesten auf die Straßen und forderten eine umfassendere Aufklärung der Hintergründe der Explosion. Die Regierung von Ministerpräsident Hassan Diab trat zurück (Standard 17.8.2020). Dieser hatte selbst die endemische Korruption für die verheerende Explosion verantwortlich gemacht (AJ 10.8.2020). Das Vertrauen in den Staat und die wirtschaftliche Basis für eine Wohlstandsentwicklung sind nachhaltig zerstört. Diese Explosionskatastrophe ist für viele Libanesinnen und Libanesen das letzte Signal gewesen, dem Land endgültig den Rücken zu kehren (AA 4.1.2021).
Es existiert weder eine allgemeine Arbeitslosen- noch eine Rentenversicherung (nur eine arbeitsrechtliche Austrittsprämie, die mit Blick auf die Arbeitsjahre berechnet wird). Wesentliches Element sozialer Sicherung ist die Familie, daneben karitative und religiöse Einrichtungen (immer nur für die jeweilige Religionsgruppe) (AA 4.1.2020).
Das UN-Hilfsprogramm für den Libanon LOUISE vom WFP (World Food Program), dem UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR und dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF sowie allgemein das WFP und das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA verloren durch die ungünstige Umtauschrate zwischen US-Dollar und Libanesischem Pfund durch libanesische Banken zwischen 2019 und 2021 mindestens 250 Millionen US-Dollar. Der Druck der Organisationen auf die Banken führte zu einem besseren Wechselkurs, aber eine Diskrepanz zum Marktkurs blieb (R 17.6.2021). Vor der Krise [Anm.: ab Oktober 2019] erhielten Flüchtlinge und arme LibanesInnen eine monatliche Auszahlung in Libanesischen Pfund im Wert von 27 US-Dollar vom UN-Welternährungsprogramm WFP. Im Juni 2021 war dieser Zuschuss de facto nur mehr etwa 7 US-Dollar wert (R 17.6.2021).
Die libanesischen Behörden wehren sich gegen eine Abwicklung von Geldhilfen in US-Dollar, weil sie die Kontrolle über eine der wenigen verbliebenen Quellen für harte Währung behalten wollen (R 17.6.2021). Mittlerweile kündigte jedoch der Libanon selbst u.a. die Auszahlung einer monatliche Geldhilfe von 25 US-Dollar pro Person für maximal sechs Personen je bedürftiger Familie von für ca. 500.000 Familien [Anm.: die maximale Zahl der potentiellen BezieherInnen divergiert je nach Quelle]. Alle Libanesischen StaatsbürgerInnen können einen Antrag stellen.
Einer der Ausschlussgründe für den Erhalt der Geldhilfe ist ein Auslandsaufenthalt von mehr als 90 Tagen im Jahr (TNA 10.9.2021). Das Auszahlungsprogramm ist für drei Jahre geplant (BP 12.2.2021). Der Beginn der Auszahlung war für Oktober 2021 angekündigt. Gleichzeitig sollen die Subventionen für Treibstoff und einige Medikamente fallen, weshalb Preissteigerungen für die meisten Produkte erwartet werden (TNA 10.9.2021). Am 15.10.2021 erfolgte die Bekanntgabe der Verschiebung des Beginns der Auszahlung um maximal 2 Wochen (TNA 15.10.2021). [Anm.: Abseits der Frage intendierter oder bereits erfolgender Auszahlungen von Hilfsgeldern in US-Dollars durch Hilfsorganisationen (die Quellenlage dazu ist unübersichtlich) an Bedürftige kommt es zur Barauszahlung von Gehältern in US-Dollars durch einige Hilfsorganisationen und Firmen.]
Medizinische Versorgung
- Versicherungstechnisches
Nur ein kleiner Teil der Libanesen ist Mitglied der Nationalen Sozialversicherungskasse (Caisse nationale de la sécurité sociale, CNSS). Das Gesundheitsministerium wendet 80 % seines Budgets für die Bezahlung privater Krankenhäuser auf, um die Kosten der medizinischen Betreuung von Patienten abzudecken, die nicht sozial- bzw. privatversichert sind und ihre Krankenhausrechnung nicht bezahlen können. Damit ist der Anteil der Bevölkerung mit Zugang zu Gesundheitsdiensten insgesamt sehr hoch. Das nationale Gesundheitsprogramm erstreckt sich jedoch nur auf Personen, die seit mehr als zehn Jahren libanesische Staatsbürger sind und nicht vom Nationalen Sicherheitsplan oder anderen staatlichen Versicherungen abgedeckt werden. Daher fallen große Teile der im Libanon lebenden Menschen aus dem Versorgungssystem heraus, darunter besonders die palästinensischen Flüchtlinge (GIZ 6.2020a). Diese werden vom Gesundheitsdienst des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) versorgt, doch deckt dieser Leistungen der Nachsorge (qualifizierte Krankenhausversorgung) nur unzureichend ab. Andere Flüchtlinge und Ausländer haben ebenfalls keinen Zugang zur staatlichen Krankenversorgung und müssen ihre Behandlungskosten selbst tragen oder eine private Krankenversicherung abschließen (AA 4.1.2021) Andernfalls sind sie auf sozial-karitative Organisationen angewiesen (GIZ 6.2020a). Auch Rückkehrende können grundsätzlich eine – allerdings kostspielige – private Krankenversicherung abschließen. Für ältere Personen oder solchen mit Vorerkrankungen kann es ausgeschlossen oder exorbitant teuer sein, eine private Krankenversicherung abzuschließen (AA 4.1.2021).
Krankenhäuser verlangen vor Behandlungen meistens eine Vorschusszahlung (EDA 15.10.2021).
- Die aktuelle Gesundheitsversorgung
Der ausgerufene medizinische Notstand wurde von den Behörden bis zum 31.12.2021 verlängert (GW 27.10.2021). Die medizinische Grundversorgung ist wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise nicht mehr immer und überall gewährleistet (EDA 15.10.2021), denn sie ist in mehrfacher Hinsicht von der Finanzkrise betroffen. Vielen kleineren Spitälern und Gesundheitszentren droht der Bankrott. Die größeren, tertiären Zentren mussten harte Maßnahmen für ihr finanzielles Überleben ergreifen und entließen zum Beispiel eine bedeutende Anzahl an MitarbeiterInnen und schlossen einige Spitalsabteilungen (MedCOI 20.8.2021). Einige private Krankenhäuser haben die Behandlungspreise verdoppelt. Neben Entlassungen kommt es auch zu einer Abwanderung von Ärzten und Pflegekräften (AA 4.1.2021).
Weniger als ein Jahr nach Beginn des Wirtschaftskollaps verschärfte die Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 zusätzlich zur Pandemie die Lage im Gesundheitsbereich weiter, denn die Detonation zerstörte mehrere Spitäler und das Warenhaus des Gesundheitsministeriums, in dem die nationalen Medikamentenvorräte lagerten. Laut Weltbank waren 36 % der Gesundheitseinrichtungen vom sprunghaften Anstieg an PatientInnen [Anm.: rund 7.000 Verletzte] aufgrund der Explosion betroffen (MedCOI 20.8.2021). Außerdem waren in Beirut die Hälfte der Gesundheitszentren aufgrund von durch die Explosion verursachte Schäden nicht mehr funktionsfähig (HRW 3.8.2021). Der Libanon als wichtige Anlaufstelle für Tertiärversorgung im Nahen Osten sank auf das Niveau von Primärversorgung (MedCOI 20.8.2021). Im Sommer 2020 gab es Berichte, dass Krankenhäuser keine weiteren Schwerkranken mehr aufnehmen konnten (Zeit 31.8.2020). Auch private Spitäler, beispielsweise in Tripoli, waren bereits ausgelastet (Spiegel 17.7.2020). Dazu kommt, dass die Hyperinflation im dreistelligen Bereich, die Knappheit an Auslandswährungen und die mangelnden Importmöglichkeiten verminderten den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Elektrizität aufgrund von Engpässen bei Benzin und Diesel beeinträchtigen. Dies erschwert es den Krankenhäusern mit voller Kapazität zu arbeiten und die Wasser- und Stromversorgungaufrechtzuerhalten. Am 14.8.2021 warnte das American University of Beirut Medical Center – eines der prestigeträchtigsten Krankenhäuser des Libanon – vor seiner drohenden Schließung aufgrund von Treibstoffmangel. Zahlreiche weitere Privatspitäler warnten ebenfalls vor ihrer Schließung. Die chronisch unterfinanzierten öffentlichen Spitäler, welche den Kampf gegen die Pandemie anführen, fürchten, dass sie von PatientInnen überrannt werden (MedCOI 20.8.2021). Die Engpässe an Medikamenten sowie die Finanzkrise führen dazu, dass mehr PatientInnen Behandlung im einzigen funktionierenden öffentlichen Krankenhaus von Beirut, dem Rafiq al-Hariri Krankenhaus suchen. Aufgrund der beschränkten Verfügbarkeit von Strom aus dem öffentlichen Netz ist das Krankenhaus auf Generatoren angewiesen, wobei es jedoch schwierig ist, Treibstoff für diese zu erhalten. Es drohte bereits die Einstellung des Betriebs des Krankenhauses aufgrund von Treibstoffmangel, was durch eine Notlieferung abgewendet werden konnte. Es ist unklar, wie lange der Treibstoff für den Betrieb des größten öffentlichen Krankenhauses des Landes reichen wird (Vice 8.10.2021). Die Krankenhäuser haben Schwierigkeiten, dringende und notwendige lebensrettenden medizinische Versorgung zu bieten (HRW 13.1.2021). Ernsthafte Erkrankungen und Verletzungen müssen im Ausland behandelt werden (EDA 15.10.2021). MedCOI-Quellen schildern die Lage als „Kollaps des öffentlichen Gesundheitssystems und das komplette Fehlen von Medikamenten, Infrastruktur und essentieller Ausstattung sowie von Labortests, welcher essentielle und lebensrettende medizinische Eingriffe verhindert“ (MedCOI 20.8.2021).
Aufgrund des Wertverlusts des Libanesischen Pfunds auf 10 % seit Ende 2019 sind die Importe von essentiellen Medikamenten und medizinischer Ausstattung stark zurückgegangen, was dazu führt, dass privaten und öffentlichen Spitälern sowie Gesundheitszentren und Apotheken regelmäßig grundlegende Medikamente ausgehen. Etwa 800 Apotheken droht die Schließung. Die Hyperinflation macht die Medikamentenpreise volatil, so dass diese bis zu fünfmal mehr kosten als früher - ähnlich die Preise für medizinische Behandlungen (MedCOI 20.8.2021). Es bestehen auch Engpässe in der Versorgung mit anderen medizinischen Gütern (EDA 15.10.2021): Medizinische Bedarfsgüter wie Handschuhe und Masken sind Mangelware, und beeinträchtigen die Möglichkeiten des Libanon, die Pandemie zu bewältigen (HRW 13.1.2021). Die Covid-19-Pandemie bringt die Krankenhäuser landesweit an ihre Belastungsgrenze – laut Bericht des Auswärtigen Amts vom 4.1.2021 waren zum Berichtszeitpunkt die Beatmungsbetten zu ca. 80 % belegt (AA 4.1.2021).
Der Libanon verzeichnete mit Stand 27.10.2021 527 neue COVID-19-Fälle innerhalb von 24 Stunden. Insgesamt starben bis dahin 8.465 Menschen und 638.581 bestätigte Infektionsfälle wurden registriert (WHO 27.10.2021). Einen Tag später mit Stand 28.10.2021 lag die Zahl der Todesfälle bei 8.471 Personen und die Zahl der Erkrankungen insgesamt bei 639.332 Menschen (JHU 28.10.2021).
Alleine im Monat Oktober 2021 gab es mit Stand 28.10.2021 15.723 Erkrankungen und 156 Todesopfer. Mit Stand Februar 2021 waren insgesamt 7.068 palästinensische und 3.626 syrische Flüchtlinge positiv auf COVID-19 getestet worden. Aber ihr Zugang zu Gesundheitsversorgung und Testmöglichkeiten war durch Ausgangssperren und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die nur für Flüchtlinge galten, beschränkt – ebenso wie die Möglichkeiten von kostenlosen Tests für Flüchtlinge mit Symptomen (CSR 21.4.2021). Mit Stand Anfang August 2021 waren ungefähr 26 % der Bevölkerung teilweise gegen COVID-19 geimpft (CRS 10.8.2021).
Aufgrund der aktuellen Situation der Gesundheitsversorgung im Libanon können bis auf Weiteres keine Auskünfte über die staatliche Gesundheitsversicherung sowie über Kosten medizinischer Behandlungen oder von Medikamenten erteilt werden (MedCOI 20.8.2021).
Rückkehr
Die Einreisekontrollen an den Grenzübergängen und am internationalen Flughafen Beirut sind strikt. Reise- und Dokumentendaten werden seit 1995 an allen Einreisestellen erfasst und sind durch die General Security zentral abrufbar. Es ist möglich, sich gegen eine geringe Gebühr die Ein- und Ausreisebewegungen aus dem Libanon bescheinigen zu lassen. Personen ohne gültige Dokumente werden erfasst und an der Einreise gehindert. Der Libanon erkennt keine von EU-Staaten für libanesische Staatsangehörige oder Staatenlose ausgestellten Heimreisepapiere an. Libanesische Staatsbürger können nicht ohne Vorlage eines Reisepasses bzw. eines von der zuständigen libanesischen Auslandsvertretung ausgestellten Heimreisedokuments (z. B. Laissez-Passer) einreisen. Besteht bei der Einreise in den Libanon der Verdacht, dass ein Drittausländer vormals illegal nach Europa gelangt ist, verweigern libanesische Grenzbehörden die Einreise. Luftfahrtunternehmen sind dann in der Pflicht, den Passagier zurück zu befördern und pro Passagier wird ein Bußgeld in Höhe von derzeit 2.000 USD erhoben (AA 4.1.2021).
Es sind keine Fälle bekannt, in denen libanesische Staatsbürger, die aus Deutschland abgeschoben wurden, aus diesem Grund eine diskriminierende Behandlung in Libanon erfahren haben. Sie werden wie alle Einreisenden von den Sicherheitsbehörden überprüft. Ein besonderes staatliches Interesse an dieser Personengruppe ist nicht erkennbar. Bisher ist kein Fall bekannt, in dem die unfreiwillige Rückkehr eines abgelehnten Asylbewerbers staatliche Repressionsmaßnahmen ausgelöst hätte. In Abwesenheit verurteilte Personen werden bei der Einreise in Strafhaft genommen und verbüßen die verhängte Haftstrafe. Sie haben unmittelbar nach Haftantritt die Möglichkeit, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen. Das Verfahren wird vollständig neu durchgeführt, und es gilt das Verbot der „reformatio in peius“. In solchen Fällen sind keine Vorwürfe von Folter oder Misshandlung bekannt (AA 4.1.2021).
Laut Bericht des Danish Immigration Service (DIS) sträuben sich die libanesischen Behörden seit Mai 2018 den staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus dem Libanon (PRLs), die sich im Ausland aufhalten, die Rückkehr in den Libanon zu gestatten, wenn sie keine Aufenthaltsgenehmigung in dem Land haben, in dem sie sich derzeit aufhalten. Dies gilt unabhängig davon, ob die Rückkehr freiwillig oder zwangsweise erfolgen soll. Die Zahl der erfolgreichen Rückführungen innerhalb dieses Zeitraums ist sehr begrenzt. Anträge für neue oder zu verlängernde palästinensische Reisedokumente sowie die Ausstellung von Laissez-passer für PRLs werden vom libanesischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Emigranten auf Eis gelegt. Es begründet dies damit, dass der Libanon bereits genug Flüchtlinge beherbergt und von der internationalen Gemeinschaft angesichts der großen Anzahl von Flüchtlingen im Libanon keine ausreichende Unterstützung erhält. Laut einer weiteren diplomatischen Quelle des DIS ist es unwahrscheinlich, dass sich die strikte Politik der libanesischen Regierung gegenüber den Flüchtlingen im Libanon, angesichts des derzeitigen politischen Klimas und der finanzpolitischen Herausforderungen, mit denen der Libanon derzeit konfrontiert ist, in absehbarer Zeit ändern wird (DIS 9.3.2020). Z.B. ist laut libanesischer Botschaft Berlin für die Ausstellung eines Reisedokuments sowohl ein Aufenthaltstitel in Deutschland (oder eine Zusicherung der deutschen Ausländerbehörde) als auch im Libanon nötig (BL 2021).
Über den internationalen Flughafen Beirut einreisende Syrer werden in der Regel an den Ausgangsflughafen zurückgeschickt, wenn sie nicht bereits über einen Aufenthaltstitel für den Libanon verfügen (AA 4.1.2021).
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen ergeben sich aus den von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsunterlagen sowie den Aktenbestandteilen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Als Beweismittel insbesondere relevant sind die Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahme durch das BFA, der Beschwerdeschriftsatz, die Länderinformationen der Staatendokumentation zum Libanon vom 31.10.2021 und zu Syrien vom 10.08.2022, mit den darin enthaltenen, bei den Feststellungen näher zitierten Berichten, die von der BF vorgelegten Unterlagen und Dokumente sowie die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am römisch 40 2023.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person der BF:
Die Feststellungen zur Staatenlosigkeit und Herkunft, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie ihrer familiären und beruflichen Situation beruhen auf den diesbezüglich gleichbleibenden und glaubhaften Angaben der BF im Verfahren sowie den vorgelegten Dokumenten.
Die Feststellungen zur Muttersprache stützen sich auf die Tatsache, dass sowohl die Erstbefragung wie auch die Einvernahme des BF vor dem BFA und die Beschwerdeverhandlung unter Beiziehung eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt wurden und die BF angab, dass ihre Muttersprache Arabisch sei.
Zum letzten gewöhnlichen Aufenthalt der BF ist Folgendes anzuführen:
Gemäß der Entscheidung des VwGH vom 26.05.2011, Zl. 2011/23/0093, gilt als Herkunftsstaat nach Paragraph eins, Ziffer 4, AsylG (bzw. nunmehr nach Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 17, AsylG) der Staat, dessen Staatsangehörigkeit Fremde besitzen, oder – im Falle der Staatenlosigkeit – der Staat ihres früheren gewöhnlichen Aufenthaltes. Herkunftsstaat im Sinne dieser Bestimmung ist somit primär jener Staat, zu dem ein formelles Band der Staatsbürgerschaft besteht. Nur wenn ein solcher Staat nicht existiert, wird subsidiär auf sonstige feste Bindungen zu einem Staat in Form eines dauernden (gewöhnlichen) Aufenthaltes zurückgegriffen (VwGH vom 19. November 2010, Zl. 2006/19/0502, und vom 20. Februar 2009, Zl. 2007/19/0535, mwN). Auf welchen Staat diese Voraussetzungen im Einzelfall zutreffen, ist von den Asylbehörden zu ermitteln und festzustellen.
Der zeitliche Bezug des Wortes „frühere“ bezieht sich auf den Vorgängeraufenthaltsstaat, also auf jenen Staat, in dem sich der Fremde dauernd aufgehalten hat, bevor er in den Asylantragstaat eingereist ist (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, Kommentar, K36 zu §2 AsylG).
UNHCR erläutert in seinem Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft (1993), es müsse zur Festlegung des maßgeblichen Herkunftsstaates geprüft werden, ob eine Wechselbeziehung zwischen den angegebenen Fluchtgründen und dem Land, in dem der bisherige Wohnsitz lag, und im Verhältnis zu dem Furcht vor Verfolgung geltend gemacht wird, bestehe. Er bezieht sich dabei (wie auch Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law römisch eins (1966), 160 f) auf die Materialien zur Genfer Flüchtlingskonvention, wonach es sich um das Land handle, "in dem er (der Asylwerber) seinen Wohnsitz hatte und wo er Verfolgung erlitten hatte bzw. fürchtete, verfolgt zu werden, wenn er dahin zurückkehrte" (UNHCR-Handbuch, Rz 103). Gefordert wird eine 'feste Bindung' zu diesem Staat im Sinne einer zumindest für eine gewisse Dauer erfolgten Verlagerung der Interessen dorthin vergleiche Grahl-Madsen, a.a.O., 160; Rohrböck, Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (1999(, Rz 158, und ihm folgend das hg. Erkenntnis vom 22. Oktober 2002, Zl. 2001/01/0089, sowie Schmidt/Frank, AsylG 1997, K 22 zu Paragraph eins,). Unter dem „Land seines (das heißt des Asylwerbers) gewöhnlichen Aufenthaltes“ („country of his former habitual residence“ bzw „pays dans laquelle elle avait sa résidence habituelle“) iSd Artikel eins, lit A Ziffer 2, GFK ist nur ein solcher Aufenthalt zu verstehen, der sich auf eine gewollte Rechtsbeziehung zwischen Flüchtling und Aufenthaltsstaat gründet.
Solch eine Beziehung würde jedenfalls bei sich unrechtmäßig im betreffenden Staatsgebiet aufhaltenden Personen nicht vorliegen vergleiche Amann, Die Rechte des Flüchtlings, 129, zum gleichlautenden Begriff des „gewöhnlichen Aufenthaltes“ in Artikel 14, GFK; Frank/Anerinhof/Filzwieser, AsylG 2005, 3. Auflage, E7 zu §2).
Ein gewöhnlicher Aufenthalt setzt dauerhafte, nicht nur vorübergehende Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt voraus, die sich in einer bestimmten längeren Dauer und Beständigkeit des Aufenthalts äußert und sich auf objektiv überprüfbare Umstände persönlicher oder beruflicher Art gründet (OGH, 29.08.1996, RS0102776, 15.11.1988, RS0046583).
Die BF hielt sich von Oktober 2015 bis Oktober 2020 im Libanon auf. Hinweise auf einen illegalen Aufenthalt haben sich nicht ergeben. Die BF hat im Jahr 2016 im Libanon einen Palästinenser, der in diesem Land geboren wurde, geheiratet. Ihre beiden Kinder wurden ebenfalls im Libanon geboren. Im Oktober 2020 reiste sie im Rahmen ihrer Flucht aus dem Libanon aus und hielt sich nur kurzzeitig zur Durchreise in Syrien auf. Somit war der Libanon ihr letzter gewöhnlicher Aufenthalt und konnte der Libanon als Herkunftsstaat der BF festgestellt werden.
In der Beschwerdeverhandlung gab die BF an, dass sie Probleme mit dem Hals und mit der Niere habe und sie diesbezüglich im Libanon behandelt worden sei. In Österreich sei sie nicht behandelt worden. Sie gab weiters an, dass sie sich selbst als gesund bezeichnen würde. Sie legte im gesamten Verfahren keine sie selbst betreffenden ärztlichen Unterlagen vor. Daher konnte festgestellt werden, dass die BF gesund ist.
Dass die BF kaum Deutsch spricht, ergibt sich daraus, dass in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ein Dolmetscher erforderlich war und sie der Aufforderung, etwas auf Deutsch zu erzählen, kaum nachkommen konnte. Sie gab weiters an, dass sie keine Deutschkurse besucht habe (Verhandlungsprotokoll Sitzung 18, 19). Dass sie bisher in Österreich nicht legal erwerbstätig war, gab sie in der Beschwerdeverhandlung selbst an (Verhandlungsprotokoll Sitzung 18). Aus einem aktuellen Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem ergibt sich, dass die BF Leistungen aus der Grundversorgung erhält.
Die strafgerichtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in einen aktuellen Strafregisterauszug der BF.
2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der BF
Dass die BF im Herkunftsland im Falle ihrer Rückkehr keiner staatlichen oder staatlich geduldeten asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre, ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die BF in der Erstbefragung lediglich allgemein den Krieg in Syrien als Fluchtgrund anführte. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich die Erstbefragung Paragraph 19, Absatz eins, AsylG zufolge nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat und Bedenken gegen eine unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen bestehen vergleiche VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 mwN). Dennoch fällt im gegenständlichen Fall ins Gewicht, dass die BF bei der Erstbefragung zwar den Krieg in Syrien als Ausreisegrund bezeichnete, jedoch von persönlichen Bedrohungen nichts ins Treffen führte. Selbst wenn die Erstbefragung keine detaillierte Aufnahme des Ausreisegrundes umfasst, wäre dennoch zu erwarten, dass die BF zumindest irgendwelche unmittelbar erlebten Vorfälle erwähnt, insbesondere jene, die zuletzt geschahen und konkret Einfluss auf den von ihr gefassten Entschluss, aus dem Herkunftsland zu flüchten, hatten. Stattdessen verwies sie lediglich allgemein auf den Krieg in einem Land, in dem sie zum Zeitpunkt ihrer Flucht seit mehreren Jahren keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr hatte.
Bei der Einvernahme vor dem BFA gab die BF – zu ihren Fluchtgründen befragt – zusammengefasst an, dass in Syrien Krieg herrsche und sie dort als alleinstehende Frau nicht leben könne. Sie sei im Jahr 2013 bereits einmal an einem Checkpoint festgenommen worden. Sie sei etwa vier Stunden lang festgehalten worden und sei dann auf Befehl einer höherrangigen Person freigelassen worden. Dieser Vorfall ereignete sich im Jahr 2013 und es handelte sich wohl nicht um eine konkret gegen die BF gerichtete, sondern um eine zufällige Anhaltung, denn sie durfte bereits nach einigen Stunden wieder gehen. Weiters kann nicht von einer aktuellen Verfolgungsgefahr ausgegangen werden, da der Vorfall etwa zehn Jahre zurückliegt. Die BF konnte im Rahmen ihrer Flucht aus dem Libanon über Syrien in die Türkei reisen. Würde tatsächlich eine akute Verfolgungsgefahr bestehen, hätte sie die Durchreise mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht mit der Hilfe von Schleppern riskiert, derer sie sich für die Durchreise bedient habe. Weitere über die allgemeine Gefahrenlage in Syrien hinausgehende Fluchtgründe brachte die BF Syrien betreffend nicht vor.
Hinsichtlich der behaupteten Fluchtgründe betreffend Syrien und der in der Beschwerde ausgeführten Unmöglichkeit einer Rückkehr der BF nach Syrien ist darauf hinzuweisen, dass die BF nicht als palästinensischer Flüchtling aus Syrien, sondern aus dem Libanon anzusehen ist. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt der BF vor ihrer Flucht nach Europa und der Asylantragstellung war im Libanon, weshalb der Libanon als Herkunftsstaat anzusehen ist.
Den Libanon betreffend führte sie aus, dass es dort eine Explosion im Hafen gegeben habe. Ihre Tochter sei deswegen psychisch belastet, habe Schlafstörungen und schreie immer wieder. Ihre Tochter und sie hätten sich während der Explosion bei ihrem Schwager, der in der Nähe des Hafens wohne, aufgehalten, weshalb sie alles mitbekommen hätten. Die wirtschaftliche Lage habe sich seit der Explosion verschlechtert. Die Explosion im Hafen von Beirut richtete sich nicht konkret gegen die BF, weshalb hinsichtlich dieses Vorbringens keine asylrelevante Verfolgung vorliegt.
Dass sie im Libanon Probleme mit ihrem Ehegatten gehabt habe, brachte die BF erstmals in der Beschwerdeverhandlung vor. Sie führte aus, dass ihr Ehemann sie, wenn sie gestritten hätten, oft geschlagen und aus dem Haus geschmissen habe. Als sie den Libanon verlassen habe, hatte sie sich zuvor mit ihrem Ehemann gestritten und er habe sie rausgeschmissen. Ihr Ehemann habe gemacht, was er wollte, weil er gewusst habe, dass sie im Libanon niemanden hätte, der sie verteidigen würde. Die BF gab an, dass sie sich diesbezüglich nicht an die Behörden gewandt habe, weil sie nur als Flüchtling im Libanon gewesen sei und es ohnehin sinnlos gewesen wäre, da das Gesetz dort auf der Seite ihres Ehemannes stehen würde. Dieses Vorbringen ist nicht glaubhaft. Die BF erwähnte diese angeblichen Geschehnisse bis zur Beschwerdeverhandlung nicht und deutete sie auch in keiner Weise an. Bei der Einvernahme vor dem BFA gab sie an, sie habe regelmäßig Kontakt mit ihrem Ehemann und ihren Kindern. Diesen würde es schlecht gehen, weil sie nicht dort sei und weil ihr Ehemann nicht immer Arbeit hätte (AS 67). Sie sei deshalb alleine geflohen, weil der Weg zu gefährlich und für ihren Ehemann aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme auch zu beschwerlich sei (AS 69). In der Beschwerdeverhandlung gab sie an, sie könne sich vorstellen, dass ihr Ehegatte und sie sich versöhnen und in Österreich als Familie zusammenwohnen könnten, weil es in Österreich Gesetze gebe und er sie nicht schlagen und erniedrigen könnte (Verhandlungsprotokoll Sitzung 20). Es ist davon auszugehen, dass es sich bei diesem Vorbringen um eine Schutzbehauptung handelt, um einer etwaigen aufenthaltsbeendenden Maßnahme zu entgehen, denn die BF konnte nicht glaubhaft darlegen, weshalb sie – obwohl sie mehrmals zu ihren Familienverhältnissen befragt wurde – bis zur Beschwerdeverhandlung die angeblichen Probleme mit ihrem Ehegatten nie erwähnte. Wie oben angeführt, wurde sie bei der Einvernahme vor dem BFA explizit gefragt, warum sie alleine geflüchtet sei, woraufhin sie keinerlei Probleme zwischen ihrem Ehemann und ihr schilderte, sondern auf dessen Gesundheitszustand verwies. Sie bestätigte bei der Einvernahme vor dem BFA auf Nachfrage, dass sie alle Gründe für das Verlassen ihres Herkunftsstaates genannt habe und bestätigte mit ihrer Unterschrift die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift.
Es ist somit von keiner asylrelevanten Verfolgung der BF im Herkunftsland auszugehen.
2.3. Zu den Feststellungen zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr der BF in den Libanon ergeben sich aus den Länderberichten zum Libanon und zu Syrien und den Angaben der BF (Sprachkenntnisse, familiäres Netz, Ausbildung, Arbeitserfahrung, Gesundheitszustand).
Vor dem Hintergrund der persönlichen Verhältnisse der BF und der Unglaubwürdigkeit der vorgebrachten Fluchtgründe ist kein Grund ersichtlich, weshalb sich die BF nicht wieder im Libanon ansiedeln könnte. Die BF ist jung, gesund und arbeitsfähig und verfügt über eine gute Schulbildung. Sie spricht muttersprachlich die arabische Sprache und verfügt im Libanon über familiäre Anknüpfungspunkte. Die BF kann wieder bei ihrer Familie wohnen, wie sie es auch vor ihrer Ausreise tat. Wie bereits ausgeführt, war das Vorbringen der BF hinsichtlich der Probleme mit ihrem Ehegatten nicht glaubhaft.
Dass die BF bei der UNRWA im Libanon registriert ist und sie die Unterstützung der UNRWA, in Anspruch nehmen kann, ergibt sich aus der vorgelegten UNRWA-Registrierungsbestätigung betreffend ihre Familie (AS 79). Den Länderberichten ist auch nicht zu entnehmen, dass die UNRWA ihre Aufgaben im Libanon nicht mehr ausreichend wahrnehmen kann oder aus sonstigen Gründen nicht mehr vor Ort agieren würde. Darüber hinaus ist darauf hinzuwiesen, dass mehrere Familienangehörige (ihr Ehegatte und die zwei gemeinsamen Kinder), die gemeinsam mit ihr bei der UNRWA registriert sind, nach wie vor im Libanon unbehelligt wohnhaft sind. Im Übrigen reicht die bloße Registrierung aus (siehe VfGH 29.06.2013, U 706/2012), um Unterstützungsleistungen seitens der UNRWA zu erhalten.
2.4. Zu den Feststellungen zur allgemeinen Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:
Gemäß Paragraph 6, BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes) ist durch das VwGVG geregelt (Paragraph eins, leg.cit.). Gemäß Paragraph 59, Absatz 2, VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, des Agrarverfahrensgesetzes und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem, dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen, Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Paragraph eins, BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG 2005 und FPG bleiben unberührt. Gemäß Paragraphen 16, Absatz 6 und 18 Absatz 7, BFA-VG sind die Paragraphen 13, Absatz 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.
Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen (Paragraph 28, Absatz eins, VwGVG).
Mit 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.
Zu A)
3.2. Zur Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides):
3.2.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974, (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht.
Als Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, Ziffer 2, AsylG ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.
Gemäß Paragraph 6, Absatz eins, Ziffer , AsylG ist ein Fremder von der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ausgeschlossen, solange er Schutz gemäß Artikel eins, Abschnitt D der GFK genießt. Gemäß Absatz 2, kann der Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne weitere Prüfung abgewiesen werden, wenn ein Ausschlussgrund nach Absatz eins, vorliegt. Paragraph 8, gilt.
Nach Artikel eins, Abschnitt D GFK findet die GFK keine Anwendung auf Personen, die zurzeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge genießen. Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen, ohne dass das Schicksal dieser Person endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens.
Nach Artikel 12, Absatz eins, Litera a, der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Status-RL) ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie.
Zu Paragraph 6, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG hat der VwGH in seinem Erkenntnis vom 01.03.2018, Ra 2017/19/0273, unter Hinweis auf die Rsp des EuGH vergleiche die E des EuGH vom 19.12.2012, El Kott, C-364/11) zu Artikel 12, Absatz eins, Litera a, der Statusrichtlinie, festgehalten, dass mit Artikel eins, Abschnitt D GFK, auf den Artikel 12, Absatz eins, Litera a, Status-RL verweist, in Anbetracht der besonderen Situation der palästinensischen Flüchtlinge, für diese gezielt eine privilegierte Rechtsstellung geschaffen wurde. Asylwerber, welche unter dem Schutz einer von Artikel eins, Abschnitt D GFK erfassten Organisation oder Institution stehen, sind im Gegensatz zu anderen Asylwerbern gemäß Artikel 12, Absatz eins, Litera a, Status-RL von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, genießen jedoch bei Wegfall ebendieses Schutzes oder Beistands "aus irgendeinem Grund" "ipso facto" den Schutz der Status-RL (EuGH 19.12.2012, El Kott, C-364/11, Rn. 80). Dabei bezieht sich die Wendung "genießt (...) den Schutz dieser Richtlinie" in Artikel 12, Absatz eins, Litera a, zweiter Satz der Status-RL als Verweis allein auf die Flüchtlingseigenschaft und nicht auf die Eigenschaft eines subsidiär Schutzberechtigten (EuGH 19.12.2012, El Kott, C-364/11, Rn. 66 ff); eine Verfolgung im Sinne des Artikel 2, Litera c, Status-RL muss in diesem Fall gerade nicht dargetan werden. Voraussetzungen für den ipso-facto Schutz sind lediglich die Stellung eines Asylantrags sowie die Prüfung durch die Asylbehörden, ob der Beistand von UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen wurde, dieser nicht länger gewährt wird und keiner der Ausschlussgründe nach Artikel 12, Absatz eins, Litera b, oder Absatz 2 und 3 Status-RL vorliegt.
Für die erforderliche Feststellung, ob der Beistand oder der Schutz von UNRWA im Sinne der Status-RL bzw. des Artikel eins, Abschnitt D GFK tatsächlich nicht länger gewährt wird, haben die nationalen Behörden und Gerichte zu prüfen, ob der Wegzug des Betroffenen durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen dieses Gebietes zwingen und somit daran hindern den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen vergleiche VwGH, 01.03.2018, Ra 2017/19/0273 mit Hinweis auf EuGH 19.12.2012, El Kott, C-364/11, Rn. 61; siehe auch VfGH 29.06.2013, U 706/2012).
Ein Zwang, das Einsatzgebiet von UNRWA zu verlassen, und somit ein Wegfall des Schutzes von UNRWA, hängt nicht vom Vorliegen individueller Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A GFK ab, sondern ist vielmehr auch gegeben, wenn sich die betroffene Person in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es von UNRWA unmöglich ist, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0274 mit Hinweis auf EuGH 19.12.2012, El Kott, C 364/11, Rn. 63, 65).
Beispielsweise steht die rechtskräftige Gewährung von subsidiärem Schutz an den Fremden und damit die Bejahung der Voraussetzungen zur Zuerkennung dieses Schutzstatus durch das BFA der Annahme, der Fremde könne weiterhin den Schutz durch UNRWA genießen, entgegen vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0274 mit Hinweis auf VfGH 22.9.2017, E 1965/2017).
3.2.2. Die BF ist gemeinsam mit ihrem Ehegatten und den beiden gemeinsamen Kindern als Familie bei UNRWA registriert und die Organisation ist weiterhin im Libanon tätig.
Bei der UNRWA handelt es sich um eine Organisation iSd Artikel eins, Abschnitt D GFK und Paragraph 12, Absatz eins, Litera a, der Status-RL. Eine Registrierung bei dieser ist ein ausreichender Nachweis der tatsächlichen Inanspruchnahme der Hilfe der UNRWA vergleiche VfGH 14.06.2022, E 761/2022, Rz 3.1.; VfGH 29.06.2013, U 706/2012 mit Hinweis aus EuGH 17.06.2010, Nawras Bolbol, C-31/09, Rz. 52). Die BF legte im Verfahren eine entsprechende Familien-Registrierungsbestätigung vor und gab zusätzlich an, dass sie in der Vergangenheit und nach der Heirat ihr Ehemann als Familienoberhaupt zuletzt ein bis zwei Mal jährlich Leistungen der UNRWA erhalten haben.
Die BF fällt daher in den Anwendungsbereich des Artikel eins, Abschnitt D. der GFK bzw. Artikel 12, Absatz eins, Litera a, der Status-RL. Vor dem Hintergrund der og. hg. Judikatur war daher noch zu prüfen, ob der Beistand der UNRWA nicht länger gewährt wird, was u.a. voraussetzt, dass ihr Wegzug durch nicht von ihr zu kontrollierende und von ihrem Willen unabhängige Gründe begründet war, die sie zum Verlassen des Gebiets zwangen und auch pro futuro daran hindern den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen.
Die von der BF vorgebrachten Fluchtgründe waren nicht glaubhaft, daher war die BF nicht aus nicht von ihr zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Gründen zum Verlassen des Mandatsgebiets der UNRWA gezwungen. Es ist auch davon auszugehen, dass sie nach ihrer Rückkehr den Beistand der UNRWA wieder bzw. ihre Familie diesen weiterhin in Anspruch nehmen können wird/kann.
Weiters sind auch keine stichhaltigen Hinweise darauf hervorgekommen, dass die UNRWA ihre Aufgaben im Libanon wegen eines aktuellen innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht mehr (ausreichend) wahrnehmen kann oder aus sonstigen Gründen nicht (mehr) vor Ort agieren würde.
Da die BF somit den Schutz und Beistand der UNRWA genoss, sich diesem Schutz freiwillig entzog, dieser Schutz auch weiterhin gewährt wird und ihr Wegzug daher nicht gerechtfertigt war, ist sie gemäß Paragraph 6, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ausgeschlossen.
3.3. Zur Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides):
3.3.1. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden im Falle der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes folgt, dass eine Voraussetzung für die Gewährung subsidiären Schutzes das Drohen einer realen Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Artikel 2, oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung ist (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137). Um von der realen Gefahr ("real risk") im Falle der Rückkehr ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüberhinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird.
Zum AsylG 2005 hat der VwGH betreffend die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz – entsprechend dem Wortlaut des Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 – (insbesondere) auf den Maßstab des Artikel 3, MRK abgestellt vergleiche VwGH 21.05.2019, Ra 2019/19/0006; 06.11.2018, Ra 2018/01/0106, Rn. 14 f, mwN). Nach dieser Rechtsprechung kann die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat etwa auch dann eine Verletzung von Artikel 3, MRK bedeuten und daher die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründen, wenn – wobei eine solche Situation allerdings nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen ist – der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also seine Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können vergleiche näher zu den Voraussetzungen einer solchen Annahme etwa VwGH 18.10.2018, Ra 2017/19/0200; 25.04.2017, Ra 2017/01/0016). Ebenso ist in der Rechtsprechung des VwGH in Hinblick auf den anzuwendenden Prüfungsmaßstab des Artikel 3, MRK (weiterhin) anerkannt, dass es unter Berücksichtigung der Judikatur des EGMR Ausnahmefälle geben kann, in denen durch eine schwere Erkrankung bzw. einen fehlenden tatsächlichen Zugang zur erforderlichen Behandlung im Herkunftsstaat die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird vergleiche jüngst VwGH 21.03.2018, Ra 2018/18/0021).
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Artikel 3, EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen vergleiche VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, Rn. 123, mwN).
Gemäß Paragraph 8, Absatz 3, AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offen steht. Dies ist gem. Paragraph 11, Absatz eins, AsylG 2005 dann der Fall, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind. Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerberin zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (Paragraph 11, Absatz 2, AsylG 2005).
Selbst wenn einem Antragsteller in seiner Herkunftsregion eine Artikel 3, EMRK-widrige Situation drohen sollte, ist seine Rückführung daher dennoch möglich, wenn ihm in einem anderen Landesteil seines Herkunftsstaates eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht (Paragraph 11, AsylG 2005). Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative muss dem Fremden - im Sinne eines zusätzlichen Kriteriums - zumutbar sein (Prüfung der konkreten Lebensumstände am Zielort); für die Frage der Zumutbarkeit (im engeren Sinn) muss daher ein geringerer Maßstab als für die Zuerkennung subsidiären Schutzes als maßgeblich angesehen werden vergleiche Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, Paragraph 11, AsylG 2005, K15).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Artikel 2, oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen vergleiche VwGH 30.09.2019, Ra 2018/01/0068).
3.3.2. Im konkreten Fall der BF ist nicht ersichtlich, dass derart exzeptionelle Umstände vorliegen würden, die eine Außerlandesschaffung der BF im Hinblick auf die Gegebenheiten im Libanon hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage gemäß Artikel 3, EMRK unzulässig scheinen lassen.
Wie die Beweiswürdigung ergeben hat, ist das Vorbringen der BF hinsichtlich einer sie selbst betreffenden Verfolgungsgefahr zur Gänze unglaubwürdig, weshalb auf Grund des konkreten Vorbringens der BF auch keinerlei Bedrohung im Sinne des Paragraph 8, AsylG 2005 erkannt werden kann.
Aus der allgemeinen Situation allein ergeben sich aber auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass es maßgeblich wahrscheinlich wäre, dass die BF im Falle einer Rückkehr in den Libanon im Sinne des Paragraph 8, AsylG 2005 bedroht wäre. Bei der BF handelt es sich um eine gesunde und arbeitsfähige junge Frau, bei der die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Sie lebte bereits mehrere Jahre lang mit ihrem Ehegatten und den gemeinsamen Kindern im Libanon und arbeitete gelegentlich als Reinigungskraft. Sie besuchte zwölf Jahre lang die Grundschule und schloss diese mit Matura ab. Sie verfügt im Libanon über familiäre Anknüpfungspunkte (Ehemann, Kinder, Onkel). Weiters ist es auch für die Familienangehörigen der BF möglich, im Libanon zu leben. Dass ihr Ehemann sie geschlagen und aus dem Haus geworfen hätte, ist wie oben ausgeführt nicht glaubhaft.
Bei einer Rückkehr kann die BF wieder bei ihrer Familie leben. Sie ist im Übrigen gemeinsam mit ihrer Familie als Flüchtling bei UNRWA registriert, daher kann die Familie auch die Leistungen von UNRWA weiterhin in Anspruch nehmen.
Dass sich der Libanon seit mehreren Jahren in einer Wirtschafts- und Finanzkrise befindet und sich die wirtschaftliche Situation seit Oktober 2019 verschlechtert hat, ist evident. Daraus kann aber nicht abgeleitete werden, dass eine Rückkehr für eine erwachsene, gesunde Person generell nicht möglich bzw. unzumutbar wäre.
Unter Berücksichtigung der Länderberichte und der persönlichen Situation der BF ist in einer Gesamtbetrachtung nicht zu erkennen, dass sie im Fall ihrer Abschiebung in den Libanon in eine ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen würde, eine Verletzung ihrer durch Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden. Die BF hat gegenüber der Behörde nicht detailliert und konkret dargelegt, dass exzeptionelle Umstände vorliegen, die ein reales Risiko einer drohenden Verletzung von Artikel 3, EMRK bedeuten. vergleiche auch BVwG 12.08.2022, W296 2245589-1/10E).
Im Ergebnis war daher die Beschwerde auch hinsichtlich Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides abzuweisen.
3.4. Zu Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß Paragraph 57, Absatz eins, AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Absatz eins a, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt der BF weder seit mindestens einem Jahr gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG geduldet ist, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist noch die BF Opfer von Gewalt iSd Paragraph 57, Absatz eins, Ziffer 3, FPG wurde. Weder hat die BF das Vorliegen eines der Gründe des Paragraph 57, FPG behauptet, noch kam ein Hinweis auf das Vorliegen eines solchen Sachverhaltes im Ermittlungsverfahren hervor.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides war daher seitens des Bundesverwaltungsgerichtes abzuweisen.
3.5. Zu Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides:
3.5.1. Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Die BF ist keine begünstigte Drittstaatsangehörige und es kommt ihr kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu.
Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 55, AsylG ist, dass dies gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK geboten ist. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzungen kommt ein Abspruch über einen Aufenthaltstitel nach Paragraph 55, AsylG überhaupt in Betracht (VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).
Paragraph 9, Absatz eins bis 3 BFA-VG lautet:
"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraphen 45 und 48 oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre."
Gemäß Artikel 8, Absatz eins, EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen vergleiche VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0198; VwGH vom 25.01.2018, Ra 2017/21/0218).
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
3.5.2. Vom Prüfungsumfang des Begriffes des "Familienlebens" in Artikel 8, EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR vom 14.03.1980, B 8986/80; EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (EKMR vom 06.10.1981, B 9202/80; EuGRZ 1983, 215; VfGH vom 12.03.2014, U 1904/2013). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt.
So fallen familiäre Beziehungen unter Erwachsenen jedoch nur dann unter den Schutz des Artikel 8, EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (VfGH vom 09.06.2006, B 1277/04; vom 26.01.2006, 2002/20/0423 und 2002/20/0235, vom 08.06.2006, 2003/01/0600; vom 29.03.2007, 2005/20/0040-0042). Die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind.
Im vorliegenden Fall verfügt die BF im Bundesgebiet über mehrere Familienangehörige, ihre Eltern und ihre vier Geschwister leben in Österreich. Es liegt auch eine gewisse Beziehungsintensität vor, da die BF mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in einem gemeinsamen Haushalt lebt.
Die BF verfügt somit über ein Familienleben iSd Artikel 8, EMRK in Österreich. Allerdings fällt die gemäß Artikel 8, Absatz 2, EMRK gebotene Abwägung nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts zu Lasten der BF aus.
Die BF ist volljährig und lebt erst seit etwas mehr als eineinhalb Jahren in Österreich. Davor lebte sie mehr als sechs Jahre von ihrer Familie getrennt in anderen Ländern. Nach ihrer Rückkehr könnte sie den Kontakt zu ihren Eltern und ihren Geschwistern weiterhin durch moderne Kommunikationsmittel aufrechterhalten.
Eine existentiell notwendige Abhängigkeit der BF von ihren Eltern oder ihren Geschwistern (oder umgekehrt) kann nicht erkannt werden. Ein wechselseitiger Pflegebedarf wurde nicht einmal behauptet. Die BF erhält in Österreich Leistungen aus der Grundversorgung. Sie ist arbeitsfähig und kann nach ihrer Rückkehr im Libanon einer Erwerbsarbeit nachgehen. Ihr Ehemann und ihre Kinder leben weiterhin im Libanon und sie kann wieder mit ihnen zusammenleben. Weiters könnten ihre Eltern und ihre Geschwister sie trotzdem finanziell unterstützen.
Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist für die Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung und diese Wertung des Gesetzgebers geht auch aus dem Fremdenrechtspaket 2005 klar hervor. Die Rückkehrentscheidung bildet daher zwar einen Eingriff in das Recht der BF auf Schutz des Familienlebens, doch ist dieser in Anbetracht der oa. Ausführungen kein unzulässiger Eingriff im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK, sondern als verhältnismäßig anzusehen.
3.5.3. Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen vergleiche Sisojeva ua gg Lettland, EuGRZ 2006, 554). Artikel 8, EMRK schützt unter anderem sowohl die individuelle Selbstbestimmung und persönliche Identität als auch die freie Gestaltung der Lebensführung. In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration der Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Bei der Beurteilung der Frage, ob die BF in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt der verstrichene Zeitraum im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt vergleiche dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK, ÖJZ 2007, 852 ff). Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, als – abseits familiärer Umstände – eine von Artikel 8, EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist vergleiche Thym, EuGRZ 2006, 541). Der Verwaltungsgerichtshof geht in seinem Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/01/0479, davon aus, dass "der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren […] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte". Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt vergleiche VwGH 30.07.2015, 2014/22/0055 mwN).
Nach der bisherigen Rechtsprechung ist auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist vergleiche VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).
Die BF reiste im Oktober 2021 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Seither hält sie sich im Bundesgebiet auf.
Es liegen keine Hinweise auf eine bereits erfolgte außergewöhnliche Integration der BF vor. Der bisherige erst kurze Aufenthalt in Österreich von etwas mehr als eineinhalb Jahren ist ausschließlich auf ihren Antrag auf internationalen Schutz gestützt, wodurch sie nie über ein Aufenthaltsrecht, abgesehen des bloß vorübergehenden Aufenthaltsrechts aufgrund ihres Antrags auf internationalen Schutz, verfügt hat.
Die BF war bisher in Österreich nicht erwerbstätig, sondern erhielt Leistungen aus der Grundversorgung.Sie ist kein Mitglied in einem Verein oder einer Organisation. Die BF besuchte keine Deutschkurse und verfügt über keine nennenswerten Deutschkenntnisse.
Insgesamt kann daher nicht von einer besonderen Integration ausgegangen werden.
Es ist auch nach wie vor von einer engen Bindung der BF zum Libanon auszugehen, zumal ihr Ehemann und ihre Kinder dort leben und sie mehr als fünf Jahre in diesem Land aufhältig war. Sie hat im Libanon geheiratet und dort ihre Familie gegründet. Sie spricht auch die Landessprache. Es ist davon auszugehen, dass die BF sich im Libanon problemlos wieder eingliedern können wird.
Dass die BF strafrechtlich unbescholten ist, vermag weder ihr persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (VwGH 25.02.2010, 2009/21/0070; 13.10.2011, 2009/22/0273; 19.04.2012, 2011/18/0253).
Das Interesse der BF an der Aufrechterhaltung etwaiger privater Kontakte ist dadurch geschwächt, dass sie sich bei allen Integrationsschritten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit der Integrationsschritte bewusst sein musste: Die BF durfte sich hier bisher nur aufgrund eines Antrages auf internationalen Schutz aufhalten, der zu keinem Zeitpunkt berechtigt war (VwGH 20.02.2004, 2003/18/0347; 26.02.2004, 2004/21/0027; 27.04.2004, 2000/18/0257; sowie EGMR 08.04.2008, Fall Nnyanzi, Appl. 21878/06, wonach ein vom Fremden in einem Zeitraum, in dem er sich bloß aufgrund eines Asylantrages im Aufnahmestaat aufhalten darf, begründetes Privatleben per se nicht geeignet ist, die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffes zu begründen). Auch der Verfassungsgerichtshof misst in ständiger Rechtsprechung dem Umstand im Rahmen der Interessenabwägung nach Artikel 8, Absatz 2, EMRK wesentliche Bedeutung bei, ob die Aufenthaltsverfestigung des Asylwerbers überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgte, weil der Asylwerber über keine über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung verfügt hat. In diesem Fall muss sich der Asylwerber bei allen Integrationsschritten im Aufenthaltsstaat seines unsicheren Aufenthaltsstatus und damit auch der Vorläufigkeit seiner Integrationsschritte bewusst sein (VfSlg 18.224/2007, 18.382/2008, 19.086/2010, 19.752/2013).
Den privaten Interessen der BF an einem weiteren Aufenthalt in Österreich stehen die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber. Nach ständiger Judikatur des VwGH kommt den Normen, die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Artikel 8, Absatz 2, EMRK) ein hoher Stellenwert zu (VwGH 16.01.2001, 2000/18/0251).
Die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, die sich insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie darin manifestieren, dass das Asylrecht (und die mit der Erbringung eines Asylantrags verbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf, wiegen im vorliegenden Fall schwerer als die Interessen der BF am Verbleib in Österreich.
Nach Maßgabe einer Interessenabwägung im Sinne des Paragraph 9, BFA-VG ist davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes der BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse der BF am Verbleib im Bundesgebiet und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Artikel 8, EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, die im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig machen würden.
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG stellt sohin keine Verletzung der BF in ihrem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG in Verbindung mit Artikel 8, EMRK dar.
Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 55, Absatz eins, AsylG ist ebenfalls nicht geboten.
Die Voraussetzungen des Paragraph 10, AsylG liegen vor: Da der Antrag der BF auf internationalen Schutz abgewiesen wurde, ist die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG zu erlassen. Es ist auch – wie bereits ausgeführt – kein Aufenthaltstitel nach Paragraph 57, AsylG von Amts wegen zu erteilen.
Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG setzt weiters voraus, dass der BF kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Die BF hat weder behauptet über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens zu verfügen noch ist ein solches im Ermittlungsverfahren hervorgekommen.
Die Erlassung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall geboten und ist auch nicht unverhältnismäßig.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides war folglich seitens des Bundesverwaltungsgerichtes abzuweisen.
3.6. Zu Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheides:
Mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung ist gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß Paragraph 50, Absatz eins, FPG unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 EMRK oder das 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Das entspricht dem Tatbestand des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG. Das Vorliegen eines entsprechenden Sachverhaltes wird mit der gegenständlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes verneint (siehe zu Spruchpunkt römisch II.).
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß Paragraph 50, Absatz 2, FPG auch unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Das entspricht dem Tatbestand des Paragraph 3, AsylG. Das Vorliegen eines dementsprechenden Sachverhaltes wird mit der gegenständlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes verneint (siehe zu Spruchpunkt römisch eins.).
Die Abschiebung ist nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine derartige Empfehlung besteht nicht.
Die Abschiebung der BF in den Libanon ist daher zulässig.
Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich Spruchpunkt römisch fünf. seitens des Bundesverwaltungsgerichtes als unbegründet abzuweisen.
3.7. Zu Spruchpunkt römisch VI. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt; die Frist beträgt gemäß Paragraph 55, Absatz 2, FPG vierzehn Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom BFA vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
Derartige Gründe wurden im vorliegenden Fall nicht dargetan und liegen keine Anhaltspunkte vor, die für eine längere Frist sprächen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
ECLI:AT:BVWG:2023:W242.2261508.1.00