Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

25.04.2023

Geschäftszahl

W275 2264057-1

Spruch


W275 2264057-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Stella VAN AKEN als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geboren am römisch 40 , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.11.2022, Zahl 1305092809/221339135, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig. 


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise am 21.04.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 23.04.2022 wurde der Beschwerdeführer vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und gab dabei im Wesentlichen an, Somalia wegen Al Shabaab verlassen zu haben; er habe als Installateur gearbeitet und sei nach der Arbeit mit seinem Freund von Mitgliedern der Al Shabaab gesehen worden. Sie hätten gesagt, dass er und sein Freund Ungläubige seien und für Ungläubige arbeiten würden. Sie seien aufgefordert worden, Sprengstoff in die Polizeistation zu schmuggeln, um zu zeigen, dass sie nicht ungläubig seien; andernfalls hätte man sie getötet.

Am 04.10.2022 fand die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Im Rahmen dieser Einvernahme gab der Beschwerdeführer an, einen Sohn zu haben und geschieden zu sein. Zu seinen Fluchtgründen führte er im Wesentlichen aus, dass er als Installateur bei der Polizei in römisch 40 einen Auftrag gehabt habe. Auf dem Heimweg hätten zwei Männer ihn und seinen Arbeitskollegen aufgehalten und gefragt, ob sie bei der Polizei arbeiten würden. Die Männer hätten anschließend nach ihren Telefonnummern gefragt, da sie einen Auftrag für sie gehabt hätten; am nächsten Morgen um 8 Uhr hätten er und sein Kollege zur Moschee kommen sollen, um für die Männer Sachen zur Polizei zu liefern. Am Abend habe er mit seinem Arbeitskollegen telefoniert und besprochen, dies nicht zu machen. Am nächsten Morgen seien sie von den Männern angerufen worden, wobei er gesagt habe, er sei krank; daraufhin sei er als Lügner dargestellt worden. Als er am darauffolgenden Tag zum Freitagsgebet in die Moschee gegangen sei, hätte ihn sein Arbeitskollege angerufen, dass er zu ihm kommen solle. Dort angekommen, sei auch der Onkel des Beschwerdeführers vor Ort gewesen; der Beschwerdeführer habe Essen bestellt und sei Hände waschen gegangen. Plötzlich habe er einen Schuss gehört und sein Onkel habe nach ihm gerufen. Sein Onkel und der Arbeitskollege seien angeschossen worden; der Beschwerdeführer sei daraufhin geflüchtet und man habe in seine Richtung geschossen. Er habe dann seiner Mutter und Tante davon erzählt, sein Vater habe daraufhin eine Reise nach Mogadischu mit einem Schlauchboot organisiert. In weiterer Folge hätten ihm Freunde seines Vaters einen somalischen Reisepass ausstellen lassen.

Mit oben genanntem Bescheid vom 03.11.2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 ab (Spruchpunkt römisch eins.), erkannte dem Beschwerdeführer gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt römisch II.) und erteilte ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt römisch III.).

Gegen Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheides wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.

Am 13.04.2023 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Lebensumständen sowie zu seinen Fluchtgründen befragt wurde.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen römisch 40 und das Geburtsdatum römisch 40 . Er ist Staatsangehöriger von Somalia und ledig. Seine Identität steht nicht fest. Der Beschwerdeführer gehört dem Clan der Benadiri (auch Banaadiri), Sub-Clan römisch 40 , Sub-Sub-Clan römisch 40 , Sub-Sub-Sub-Clan römisch 40 , an und bekennt sich zur Religionsgemeinschaft des Islam. Seine Erstsprache ist Somali, er beherrscht diese in Wort und Schrift. Der Beschwerdeführer hat einen minderjährigen Sohn, der in Somalia bei den Eltern des Beschwerdeführers lebt.

Der Beschwerdeführer ist in römisch 40 (auch römisch 40 ), Region Lower Shabelle (Somalia), geboren und aufgewachsen. In Somalia hat er kurze Zeit die Schule besucht und dann als Installateur gearbeitet. Sein Vater hat als Schneider gearbeitet. Bis zu seiner Ausreise lebte der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinen Eltern, seinem minderjährigen Sohn und seinen Geschwistern in seinem Heimatort. Seine Eltern sowie sein minderjähriger Sohn und seine Geschwister leben nach wie vor in Somalia. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinen Familienangehörigen.

Der Beschwerdeführer stellte am 21.04.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.11.2022 wurde ihm in Österreich subsidiärer Schutz in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Somalia zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer war in Somalia keiner Bedrohung bzw. Verfolgung durch Al Shabaab ausgesetzt; sein Onkel und sein Arbeitskollege wurden nicht wegen ihm von Al Shabaab getötet. Zudem droht dem Beschwerdeführer aufgrund der (inzwischen beendeten) Beziehung mit einer Clanangehörigen der römisch 40 keine Bedrohung oder Verfolgung.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Somalia daher aus diesen Gründen nicht konkret und individuell die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt.

Das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit wurde nicht konkret vorgebracht; Hinweise für eine solche Verfolgung sind auch amtswegig nicht hervorgekommen.

Der Beschwerdeführer verfügt nach wie vor über Anknüpfungspunkte in seiner Heimat. Seine Eltern, sein minderjähriger Sohn und seine Geschwister leben nach wie vor in seinem Heimatort.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:

Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Somalia (Version 5, Stand 17.03.2023):

„[…]

COVID-19

Mit Stand 1.1.2023 waren in Somalia insgesamt 27.300 Infektionen registriert worden. Zu diesem Zeitpunkt waren 12.757 aktive Fälle gemeldet (ACDC 1.1.2023). Bis 9.1.2023 sind im Land offiziellen Angaben zufolge 1.361 Menschen an COVID-19 verstorben (WHO 9.1.2023).

Mit Stand 22.12.2022 waren insgesamt 8.520.930 Impfungen verabreicht worden, 6.324.409 Menschen waren voll immunisiert (WHO 9.1.2023). Allerdings zögern viele Menschen, sich impfen zu lassen (AI 18.8.2021, Sitzung 18; vergleiche WB 6.2021, Sitzung 20). U. a. lässt das durch fehlende öffentliche Informationen befeuerte, mangelnde Bewusstsein der Öffentlichkeit hinsichtlich COVID-19 viele Menschen zögern, sich impfen zu lassen; dies gilt sogar für medizinisches Personal (AI 29.3.2022). Andere Gründe für die geringe Durchimpfung sind: eine niedrige Zahl an Neuinfektionen; die nicht vorhersagbare Verfügbarkeit von Impfstoffen; die geringe Haltbarkeit der Impfstoffe; und der mangelnde Zugang zu Impfzentren aufgrund von Unsicherheit oder geografischer Entfernung (UNOCHA 12.4.2022). Im August 2022 hat Somalia rund 1,6 Millionen Dosen an Impfstoff von Schweden und Tschechien erhalten (FTL 31.8.2022). Die USA haben Somalia im Mai (USEMB 25.5.2022) und im Juli 2022 mehrere Hunderttausend Dosen COVID-19-Impfstoff gespendet (Sonna 28.7.2022).

Der Umgang der somalischen Regierung mit der COVID-19-Pandemie war und ist völlig inadäquat. Die tatsächliche Zahl an COVID-19-Fällen und -Toten ist vermutlich höher als die offiziellen Zahlen darstellen (AI 18.8.2021, Sitzung 5; vergleiche AI 29.3.2022). So liegt die Zahl an COVID- 19-Toten im Zeitraum März bis September 2020 gemäß einer Studie mindestens 32-mal höher als offiziell angegeben. Während die von der Regierung angegebene Zahl bei 99 liegt, schätzen Experten die Zahl an Toten auf 3.200-11.800. Die Regierung zählt üblicherweise nur jene Toten, die an COVID-19 in medizinischen Einrichtungen verstorben sind. Außerhalb davon gab und gibt es in Somalia kein System für eine Registrierung von Todesfällen (VOA 19.10.2021). Auch insgesamt sind bei den Infektionen nur jene Fälle registriert worden, wo es Erkrankte überhaupt bis zu einer Gesundheitseinrichtung geschafft haben und dort dann auch tatsächlich getestet wurden. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs – viele mehr sind zu Hause gestorben (AI 18.8.2021, Sitzung 14).

Problematisch sind die - auch weiterhin - extrem geringen Testkapazitäten (UNFPA 5.2022), das mit COVID-19 verbundene Stigma, das geringe Vertrauen in Gesundheitseinrichtungen sowie teils auch die Leugnung von COVID-19 (UC 13.6.2021, Sitzung 9). COVID-19 wurde (und wird) von Falschinformationen und einem Stigma begleitet. So wurden z. B. Menschen, die Maske tragen, als infiziert oder sogar als gottlos erachtet, Abstandsregeln als kulturell inakzeptabel und unhöflich empfunden. Es wurde versucht, diesen Stigmata mit Aufklärungsarbeit entgegenzuwirken (BBC 2.2022).

Testungen sind v. a. auf Städte beschränkt (UC 13.6.2021, Sitzung 2). Viele Infektionen werden wegen der geringen Testkapazitäten nicht erkannt (UNFPA 5.2022). Humanitäre Partner hatten schon im April 2020 für einen Plan zur Eindämmung von COVID-19 insgesamt 256 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt (UNSC 13.11.2020, Absatz 51,). Anfangs gab es nur ein speziell für COVID-19-Patienten zugewiesenes Hospital, das Martino Hospital in Mogadischu. Dieses ist allerdings unterbesetzt und schlecht ausgerüstet; von 150 Betten verfügten im Feber 2021 nur 11 über ein Beatmungsgerät und Sauerstoffversorgung (Sahan 25.2.2021c). Viele COVID-19-Patienten sind in Spitälern aus Mangel an Sauerstoffversorgung oder wegen eines Stromausfalls gestorben (AI 18.8.2021, Sitzung 13f). Es gibt so gut wie keine präventiven Maßnahmen und Einrichtungen. Menschen, die an COVID-19 erkranken, bleibt der Ausweg in ein Privathospital – wenn sie sich das leisten können (Sahan 25.2.2021c). Die Situation war derart ernst, dass sich Akteure aus dem privaten Sektor engagiert und zusätzliche COVID-19-Kapazitäten geschaffen haben (AI 18.8.2021, Sitzung 14). Ab August 2021 gab es in Mogadischu schon drei Krankenhäuser, wo COVID-19-Patienten versorgt werden konnten (AI 29.3.2022). Der türkische Rote Halbmond hat Somalia im Feber 2021 weitere zehn Beatmungsgeräte zukommen lassen (AAG 26.2.2021). Im März 2021 spendete die Dahabshil Group dem Staat Sauerstoffverdichter, mit denen insgesamt 250 Patienten versorgt werden können. Die Firma übernimmt auch die technische Instandhaltung (Sahan 11.3.2021). Ende September 2021 wurde in Mogadischu die erste öffentliche Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff eröffnet. Diese wurde von der Hormuud Salaam Stiftung angekauft und gespendet. Der Sauerstoff wird an öffentlichen Spitälern in Mogadischu kostenlos zur Verfügung gestellt (Reuters 30.9.2021). Außerdem hat die EU gemeinsam mit der WHO dem Martino Hospital in Mogadischu eine eigene Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff geschenkt. Die Anlage wurde im März 2022 übergeben. Der Sauerstoff wird zur Behandlung von COVID-19 aber auch für andere Patienten verwendet. Zwei weitere solche Anlagen werden in Garoowe und Hargeysa installiert (EC/WHO 20.3.2022). Taiwan unterstützt Somaliland bei Testungen, Masken, Sauerstoffanlagen sowie mit Impfstoff (TRO 4.4.2022).

Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Die Mehrheit der Empfänger berichtete von Rückgängen von über 10 % (IPC 3.2021, Sitzung 2). Nach anderen Angaben erwies sich der Remissenfluss als resilient. Demnach haben sich die Überweisungen von 2,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 auf 2,8 Milliarden im Jahr 2020 erhöht. Die Überweisungen an Privathaushalte erhöhten sich von 1,3 auf 1,6 Milliarden (WB 6.2021, Sitzung 11f). In Somaliland sind die Remissen im Jahr 2020 jedenfalls gegenüber jenen im Jahr 2019 gestiegen (ISIR 1.3.2022).

Der Export von Vieh – der wichtigste Wirtschaftszweig – ist wegen der Pandemie zurückgegangen (ISIR 1.3.2022). 45 % der Kleinstunternehmen mussten schließen (UNSC 10.8.2021, Absatz 17,). Die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - haben sich verstärkt. Schätzungen zufolge mussten beim Ausbruch von COVID-19 21 % der Somali ihre Arbeit niederlegen; und das, obwohl nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnimmt. 78 % der Haushalte berichteten über einen Rückgang des Einkommens (WB 6.2021, Sitzung 23). Familien - und hier v. a. von Frauen geführte - spüren auch im Jahr 2022 die Auswirkungen der Pandemie - sei es durch Jobverlust oder den Verlust von Kaufkraft. Manche Unternehmen müssen Mitarbeiter entlassen, um die Folgen der Pandemie zu bewältigen; andere haben mit einem Minimum an Personal wieder den Betrieb aufgenommen (UNFPA 14.4.2022).

Geimpfte Reisende nach Süd-/Zentralsomalia und Somaliland müssen einen Impfnachweis mit sich führen und brauchen keinen Test vorzuweisen. Reisende mit COVID-19-Symptomen müssen sich in Mogadischu u.U. einem Antigen-Schnelltest unterziehen und müssen im Falle eines positiven Tests auf eigene Kosten in ei-nem Hotel in Quarantäne. Nicht oder nicht vollständig geimpfte Reisende müssen ein negatives PCR-Testergebnis mitführen, das nicht mehr als 72 (Mogadischu) bzw. 96 (Hargeysa) Stunden alt ist. Ungeimpfte, die ohne negatives COVID- 19-Testergebnis ankommen, müssen sich in Hargeysa für 14 Tage in Selbstquarantäne begeben. Auch in Mogadischu müssen im Falle eines positiven Antigentests auf eigene Kosten in Quarantäne (UKGOV 23.11.2022; vergleiche USEMB 11.10.2022). Nach neueren Angaben brauchen Ein- und Ausreisende in Somaliland ab Jänner 2023 keinen PCR-Test mehr vorzuweisen (RD 19.12.2022).

Die Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 wurden weitgehend gelockert bzw. aufgehoben (GW 19.4.2022). […]

Politische Lage

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (AA 28.6.2022, Sitzung 4f). Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (BS 2022, Sitzung 4).

Staatlichkeit: Trotz massiver militärischer, diplomatischer und finanzieller Unterstützung hat die Regierung in Mogadischu kaum Fortschritte gemacht (Meservey 19.10.2021). Nach anderen Angaben hat Somalia in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert (BBC 18.1.2021). Somalia ist nun zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind demnach sehr schwach, wesentliche Staatsfunktionen können von ihnen nicht ausgeübt werden. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6). Die Bundesregierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (FH 2022a, C1), da sie nur wenige Gebiete kontrolliert (BS 2022, Sitzung 33). Zudem hängt die Existenz des somalischen Staates zum größten Teil von der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ab (HIPS 3.2021, Sitzung 9). Dies gilt natürlich auch für die Umsetzung von Aktivitäten seitens der Regierung (FH 2022a, C1).

Die Unfähigkeit, gegen die endemische Korruption vorzugehen, behindert den Staatsbildungsprozess und den Aufbau von Institutionen (BS 2022, Sitzung 18); der politische Machtkampf hat das Vertrauen der Bevölkerung in bestehende staatliche Institutionen weiter geschwächt, die politischen Konflikte haben die Kluft zwischen den Fraktionen vergrößert (BS 2022, Sitzung 18/42). Zusätzlich spielen Clanälteste bei der Führung des Landes eine bedeutende Rolle. Sie repräsentieren und lobbyieren für ihre Claninteressen (Sahan 16.9.2022).

Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 28). Seit 2016 und 2017 die fünf Bundesstaaten gegründet wurden, stockt der Verfassungsprozess. Grundlegende Fragen des Staatsaufbaus sind nicht geklärt. Dies lähmt staatliches Handeln und fördert politische Spannungen zwischen Mogadischu und den föderalen Gliedstaaten, weil eben die Verfassungsgebung und Kompetenzverteilung noch immer nicht abgeschlossen sind (AA 28.6.2022, Sitzung 4).

Regierung: Unter der bestehenden Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 wird der Präsident für eine Amtszeit von vier Jahren von einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments gewählt. Der Präsident teilt sich seine exekutive Macht mit dem Premierminister, der wiederum nur mit Unterstützung des Parlaments arbeiten kann (FH 2022a, A1).

2017 wurde Farmaajo als Präsident gewählt, sein Mandat endete eigentlich am 8.2.2021 (FH 2022a, A1), er regierte aber bis Mai 2022 weiter (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6). Somalia stürzte in eine schwere Verfassungs- und politische Krise (Sahan 9.2.2021a), in deren Folge es in Mogadischu zwischen Kräften der Regierung und Kräften der Opposition auch zu Kampfhandlungen kam (UNSC 19.5.2021, Absatz 3 -, 11,). Nach dieser Eskalation im April 2021 konnte im Mai 2021 eine Einigung der Umsetzungsmodalitäten der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erzielt werden. Trotz aller Bekundungen konnten die eigentlich Ende 2020 geplanten Parlamentswahlen nicht demokratisch gestaltet werden. Stattdessen wurde wieder auf einen Selektionspro-zess ähnlich wie bei den Wahlen 2016 zurückgegriffen. Zudem wurde der Wahlprozess zu einem Zweikammerparlament durch innenpolitische Streitigkeiten für mehr als ein Jahr verzögert (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6). Mit der erneuten Wahl des ehemaligen Präsidenten Hassan Sheikh Mohamud (2012-2017) am 15.5.2022 ist der Wahlprozess mit großer Verzögerung abgeschlossen (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 2). Es gab 33 Kandidaten für das Präsidentenamt, darunter eine Frau. Die Präsidentschaftswahlen selbst wurden als friedlich und transparent bezeichnet (UNSC 1.9.2022, Absatz 4 f,). Nach mehr als 15 Monaten Streitigkeiten sind die Wahlen ruhig verlaufen. Im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2017 hat diesmal Geld bzw. Stimmenkauf keine entscheidende Rolle gespielt. In der letzten Wahlrunde erhielt Farmaajo 110 Stimmen, Hassan Sheikh Mohamud 214 Stimmen (AQ10, 5.2022). Der Wahlsieg wurde allgemein akzeptiert (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6; vergleiche UNSC 1.9.2022, Absatz 5,). Am 9.6.2022 wurde der neue Präsident ins Amt eingeführt (UNSC 1.9.2022, Absatz 5 ;, vergleiche Sahan 10.6.2022; GN 9.6.2022). Dieser ernannte am 15.6.2022 Hamza Abdi Barre, einen ehemaligen Vorsitzenden der staatlichen Wahlkommission von Jubaland, zum Premierminister (BAMF 20.6.2022; vergleiche FTL 28.6.2022).

Parlament: Die provisorische Verfassung sieht ein Zweikammernparlament mit einem 275-köpfigen Unterhaus und einem 54 Senatoren umfassenden Oberhaus vor (HIPS 11.2021). Die Mitglieder zum Oberhaus werden von den Parlamenten der Bundesstaaten gewählt. Die Wahlen zum Oberhaus begannen im Juli 2021 und konnten nach Monaten der Streitigkeiten im November 2021 abgeschlossen werden (FH 2022a, A2). Sie wurden auf voller Breite manipuliert, nur um 15 der 54 Sitze gab es tatsächlich einen Wettstreit. Die meisten Senatoren sind nunmehr de facto von den Präsidenten der Bundesstaaten nominierte (HIPS 8.2.2022, Sitzung 8; vergleiche HIPS 11.2021) Alliierte, Freunde und manchmal auch Familienangehörige. Insgesamt hat es sich nicht um einen glaubwürdigen Wahlbewerb gehandelt, der Vorgang kann kaum als „Wahl“ bezeichnet werden (HIPS 11.2021).

Bei der Wahl zum Unterhaus wählen Älteste und Gruppen der Zivilgesellschaft eines bestimmten Subclans Wahlmänner, welche als Delegation dann wiederum einen Abgeordneten küren. Senatoren und Abgeordnete wählen schlussendlich den Präsidenten. Der Manipulation sind Tür und Tor geöffnet (FP 22.9.2021). Eigentlich war für die Wahlen vorgesehen, dass jeder einzelne Unterhausabgeordnete von 101 Wahldelegierten seines Clans gewählt wird (2017 waren es 51 Delegierte pro Sitz). Später wurde die Zahl auf 67 Delegierte pro Sitz gesenkt (HIPS 11.2021). Insgesamt wurden die Wahlen durch innenpolitische Streitigkeiten für mehr als ein Jahr verzögert. Die Abgeordneten wurden in indirekter Wahl von Delegierten gewählt (AA 28.6.2022, Sitzung 6; vergleiche UNSC 13.5.2022, Absatz 3 f, f,). In diesem Wahlsystem spielt eine begrenzte Anzahl an Volksvertretern eine sehr eingeschränkt demokratische Rolle (BS 2022, Sitzung 20). Es musste eine allseits akzeptierte Repräsentation der verschiedenen Clans sowie der Gliedstaaten sichergestellt werden, was den Prozess der Delegiertenbestimmung sehr langwierig und intransparent machte. Die Legitimität der letzten Wahlprozesse war noch weitestgehend akzeptiert. Der derzeitige Prozess wird von verschiedenen nationalen und internationalen Politikern und Beobachtern hinsichtlich seiner Legitimität in Frage gestellt (AA 28.6.2022, Sitzung 6). Tatsächlich ist es auf breiter Front zu Wahlmanipulationen gekommen (HIPS 8.2.2022, Sitzung 4; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 3) bzw. gab es zahlreiche Vorwürfe über Unregelmäßigkeiten und einen Mangel an Transparenz (UNSC 8.2.2022, Absatz 2,) sowie hinsichtlich Bestechung (AA 28.6.2022, Sitzung 12). Der Wahlvorgang war selbst gegen den vorhergehenden – schwer defizitären – Wahlprozess noch eine dramatische Verschlechterung (Meservey 19.10.2021) und wird von einer Quelle als die korrupteste, intransparenteste und teuerste Wahl in der jüngeren Geschichte Somalias bezeichnet. Viele der Abgeordneten haben demnach ihre Stimme an den Höchstbietenden verkauft (Sahan 18.7.2022).

Am 28.4.2022 wurde der Wahlprozess der am 29.7.2021 begonnenen Parlamentswahlen abgeschlossen (AA 28.6.2022, Sitzung 6). Alle 275 Abgeordneten zum Unterhaus waren gewählt, 20 % davon sind Frauen (UNSC 13.5.2022, Absatz 2,). Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (USDOS 12.4.2022, Sitzung 31f; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 6; ÖB 11.2022, Sitzung 3f; BS 2022, Sitzung 12). Seit dem Jahr 2000 gilt diese 4.5-Formel, die eigentlich dazu bestimmt war, Somalia vorübergehend Stabilität zu verleihen. Allerdings hat sie sich bezüglich der Entwicklung des Landes als kontraproduktiv erwiesen. Denn mit ihr ist Clanzugehörigkeit und -Loyalität wieder wichtiger geworden als die Loyalität zum Staat (Sahan 28.3.2022).

Demokratie: Seit Jahrzehnten hat es keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene mehr gegeben (AA 28.6.2022, Sitzung 6; vergleiche FP 10.2.2021; USDOS 12.4.2022, Sitzung 28f). In Süd-/Zentralsomalia gibt es keine demokratischen Institutionen (BS 2022, Sitzung 20). Somalia ist keine Wahldemokratie und hat auch keine strikte Gewaltenteilung, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht (BS 2022, Sitzung 11/15). Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung demokratisch nicht legitimierter traditioneller Strukturen (v. a. Clanstrukturen) vergeben (AA 28.6.2022, Sitzung 6). Eine andere Quelle gibt zu bedenken: Auch wenn sie nicht wirklich frei und fair waren, so haben die in den letzten zwei Jahrzehnten in Somalia durchgeführten indirekten Wahlen zu Ergebnissen geführt, die im Allgemeinen von den politischen Akteuren und der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wurden. So wurden durch einen – gewaltfreien – Wahlprozess jeweils schwache, aber akzeptierte Institutionen geschaffen (HIPS 11.2021). Generell sind zwar immer wieder progressive Bemühungen zu beobachten, jedoch scheint der Druck der konservativen Eliten im Land oftmals größer zu sein als das tatsächliche Bewusstsein in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte (ÖB 11.2022, Sitzung 21).

Aktuelle politische Lage: Präsident Hassan Sheikh will die Staatsbildung im Konsens fortführen (Sahan 17.6.2022). Er setzt etwa auf ein klares und geregeltes Verhältnis zwischen der Bundesregierung und den Bundesstaaten - auch wenn dabei noch ein weiter Weg zu gehen sein wird. Hassan Sheikh versucht zudem, Versäumnisse der Vorgängerregierung aufzuholen. Er hat in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit mehr Gesetzesvorschläge (z.B. zum Nachrichtendienst, zur Stromversorgung, zur Fischerei) im Parlament zur Abstimmung gebracht als sein Vorgänger in fünf Jahren (BMLV 9.2.2023). Seine moderat-islamische politische Ausrichtung (BMLV 9.2.2023; vergleiche Sahan 28.6.2022) entspricht de facto der Ausrichtung der Muslimbruderschaft. Der Präsident stützt sich dabei auf die von ihm gegründete politische Partei, Union for Peace and Development, und die islamische Gruppierung Dam ul-Jadiid (Neues Blut) (BMLV 9.2.2023).

Präsident Hassan Sheikh hat von seinem Vorgänger eine politisierte, parteiische und unfähige Bürokratie geerbt. Die Nabad iyo Nolol (N&N, Friede und Leben), die Partei von Ex-Präsident Farmaajo, hat die letzten fünf Jahre damit verbracht, die Verwaltung ohne Skrupel zu zentralisieren (Sahan 17.6.2022). Politische Führungskräfte und Minister wurden auf Basis von Loyalität und nicht von Kompetenz ausgewählt. Jeder, der als Bedrohung wahrgenommen wurde, wurde angegriffen. Die Bundesregierung und regionale Führer haben alles getan, um zeitgerechte und glaubwürdige Wahlen zu verhindern. Der Versuch, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Wahlen zu manipulieren, führte das Land in politisches Chaos (Ali 28.1.2022). Um aber den Einfluss von N&N zu tilgen und eine inklusive Politik umzusetzen, wird es Zeit brauchen. Gleichzeitig wird N&N alles daran setzen, von Hassan Sheikh vorangetriebene Reformen zu sabotieren - und zwar von innerhalb der Regierung (Sahan 17.6.2022). Folglich ist das Machtzentrum Somalias nach der Machtübernahme durch den neuen Präsidenten paralysiert. Eine Elite im Wettstreit stehender islamistischer Fraktionen, die allesamt dem Föderalismus abgeneigt sind, versucht, Reformen zu hintertreiben oder rückgängig zu machen. Die N&N ist im Begriff, sich neu zu gruppieren. Der neue Präsident möchte dem mit einer Stärkung von Dam ul-Jadiid [„Partei“ bzw. politisch-islamische Strömung des Präsidenten] entgegenwirken. Insgesamt ist die Politik in Somalia zunehmend in der Hand von Eliten und fraktioniert (Sahan 28.6.2022).

Föderalisierung: Die Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 sieht föderale Strukturen vor (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 17), und zwar auf zwei Regierungsebenen: Die Bundesregierung (Federal Government) sowie die Bundesstaaten (Federal Member States), welche auch Lokalregierungen umfassen (SIDRA 12.2022, Sitzung 5). Seit damals sind sechs Entitäten durch die Bundesregierung als Bundesstaaten anerkannt worden: Puntland, Galmudug, Jubaland, South-West State (SWS) und HirShabelle. Jeder dieser Bundesstaaten hat eine eigene Verfassung. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 17). Die Hauptstadtregion Benadir (Mogadischu) verbleibt als Banadir Regional Administration/BRA unter direkter Kontrolle der Bundesregierung (HIPS 8.2.2022, Sitzung 19). Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (BFA 8.2017, Sitzung 55f).

Ein Jahrzehnt nach Einführung der föderalen Verfassung gibt es nur geringe Fortschritte hinsichtlich der Implementierung funktionierender Beziehungen zwischen den Regierungsebenen (SIDRA 12.2022, Sitzung 6). Die Judicial Service Commission sowie das Verfassungsgericht wurden immer noch nicht eingerichtet, es gibt keine Möglichkeit, Konflikte zwischen den Regierungsebenen geregelt zu lösen (SIDRA 12.2022, Sitzung 18).

Die Verfassungen der Bundesstaaten widersprechen teilweise der Bundesverfassung, was wiederum zu Spannungen in den Beziehungen zwischen den Regierungsebenen führt. So sieht zum Beispiel die puntländische Verfassung diplomatische Beziehungen des Bundesstaates vor, obgleich die Außenpolitik laut Bundesverfassung bei der Bundesregierung liegt (SIDRA 12.2022, Sitzung 13). Gleichzeitig wurden zahlreiche Befugnisse nicht geklärt. Das betrifft die Verteidigung, welche militärischen Truppen und Polizeieinheiten vor Ort eingesetzt werden können, die Frage der Ressourcenverteilung, die Verteilung von internationalen Hilfsgeldern. Auch Entwicklungszusammenarbeitsprojekte werden über die Zentralregierung in Mogadischu abgewickelt, und die Verteilung auf die Regionen ist strittig, ebenso die Fragen, wer welche Hoheiten über welche Verträge hat (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 4).

Unter der Regierung von Präsident Farmaajo waren die Beziehungen zwischen Bundesregierung und einigen Bundesstaaten angespannt. Dabei ging es um Fragen der Machtteilung, um Ressourcen, Territorien und die Kontrolle bewaffneter Kräfte (SPC 9.2.2022). Präsident Farmaajo hatte versucht, die Macht wieder zu zentralisieren (TNYT 14.4.2021). Unter der neuen Regierung sind die Spannungen zwischen den Bundesstaaten und der Regierung vorerst weitestgehend abgeflaut (ÖB 11.2022, Sitzung 3; vergleiche BMLV 9.2.2023). Im Dezember 2022 arbeitete der Präsident von Puntland, Said Abdullahi Deni, aber einer Quelle zufolge bereits an einer Front gegen Präsident Hassan Sheikh. Dieser sollen die Präsidenten von Galmudug und dem SWS angehören (KM 8.12.2022; vergleiche SG 12.12.2022), möglicherweise auch jener von Jubaland (SG 12.12.2022). […]

South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle)

Der SWS wurde in den Jahren 2014/2015 etabliert (HIPS 2021, Sitzung 14). Im Jänner 2019 ist mit Abdulaziz Hassan Mohamed 'Laftagareen' ein neuer Präsident angelobt worden (UNSC 15.5.2019, Absatz 4,), dessen Amtszeit ist im Dezember 2022 ausgelaufen. Danach wurde mit der Einschüchterung von Gegnern begonnen (Sahan 6.7.2022). Präsident Laftagareen wollte seine Amtszeit um ein Jahr verlängern. Er war 2018 ins Amt gewählt worden, nachdem sein Konkurrent im Wahlkampf, der ehemalige hohe Funktionär der al Shabaab und nunmehriger Bundesreligionsminister, Mukhtar Robow, in Haft gesetzt worden war. Der Rat der Präsidentschaftskandidaten des SWS stellte sich gegen die Ambition Laftagareens. Zudem ist in Baidoa eine Miliz namens Salvation Army of South West aufgetreten, die der Opposition zuzurechnen ist. Die Amtszeit von Laftagareen war im April 2020 vom Parlament verlängert worden. Die Opposition erklärt dazu, dass es dafür keine Rechtsbasis gegeben hat (TEA 25.12.2022). Die Bundesregierung hat ein Vermittlungskomitee eingerichtet, das zwischen den Streitparteien vermitteln soll. Bei Unruhen im Dezember 2022 waren mindestens zehn Menschen getötet und zwanzig weitere verletzt worden, als Kräfte der Opposition mit den Sicherheitskräften zusammenstießen (Halbeeg 2.1.2023). Am 5.2.2023 wurde ein Abkommen zur weiteren Regelung des Wahlablaufs geschlossen. Dieses war durch die Vermittlung des Vorsitzenden des Bundesparlaments zwischen Laftagareen und der Opposition geschlossen worden. Das Abkommen sieht die Wahl der Parlamentsabgeordneten durch die Clanältesten im Zeitraum November bis Dezember 2023 und die anschließende Wahl des Regionalpräsidenten durch das Parlament im Jänner 2024 vor. Obwohl diese Abkommen de facto die Amtszeitverlängerung für Laftagareen bestätigt, legt es den politischen Konflikt in SWS bei (BMLV 9.2.2023).

Im März 2020 haben Clanälteste ein neues Regionalparlament gewählt (HIPS 2021, Sitzung 14; vergleiche UNSC 13.5.2020, Absatz 7,). Im Jahr 2021 konzentrierte sich die Regierung auf den Aufbau von Lokalräten in ausgewählten Bezirken. Dieser Prozess konnte in der offiziellen Hauptstadt des SWS, Baraawe (Lower Shabelle), in Waajid und Ceel Barde (Bakool) auch abgeschlossen werden (HIPS 8.2.2022, Sitzung 24). In den Gebieten, die in Bay von der Regionalregierung kontrolliert werden, funktioniert die Verwaltung einigermaßen. Beim Aufbau der Verwaltung konnten seit 2021 keine weiteren Fortschritte erzielt werden (BMLV 9.2.2023). […]

Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst - und in noch geringeren Teilen vom Islamischen Staat in Somalia - während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 9.2.2023). […]

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Die Sicherheitslage bleibt volatil (UNSC 1.9.2022, Absatz 15 ;, vergleiche BS 2022, Sitzung 38), mit durchschnittlich 227 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat (Zeitraum Mai-Juli 2022). Die meisten Vorfälle gingen auf das Konto von al Shabaab. Die Angriffe der Gruppe richten sich in erster Linie gegen somalische Sicherheitskräfte und ATMIS. Dabei werden Angriffe vorwiegend mit improvisierten Sprengsätzen und sogenannten hit-and-run-Angriffen durchgeführt. Am meisten betroffen von Aktivitäten der al Shabaab waren zuletzt Mogadischu, Lower Shabelle und Bay (UNSC 1.9.2022, Absatz 15,) und im Zusammenhang mit der Offensive auch Middle Shabelle, Mudug, Galgaduud und Hiiraan (BMLV 9.2.2023). Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt (ÖB 11.2022, Sitzung 2), während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet (AA 28.6.2022, Sitzung 5/9). Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (ÖB 11.2022, Sitzung 2).

Die Afrikanische Union (AU) hat angekündigt, die Reduzierung der Truppenstärke von ATMIS zu verschieben. Diese Entscheidung deutet auf Lücken im Aufbau der somalischen Sicherheitskräfte hin. Geplant war eine Reduzierung um 2.000 Mann im Dezember 2022 und ein vollständiger Abzug bis Ende 2024. Die Truppenreduktion wurde nun von der AU auf Juni 2023 verschoben – auf Antrag Somalias (GO 24.11.2022; vergleiche TEA 29.11.2022). Die nächsten Schritte zur Truppenreduktion sollen aber eingehalten werden, am Ziel, im Dezember 2024 die letzten Teile von ATMIS abzuziehen, wird festgehalten (BMLV 9.2.2023).

ATMIS hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete (BS 2022, Sitzung 6). Die somalische Regierung und ATMIS können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren (AA 17.5.2022). Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS - aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen (BMLV 9.2.2023; vergleiche BS 2022, Sitzung 11/13; HIPS 4.2021, Sitzung 16). Wenn ATMIS abzieht, würde Mogadischu rasch fallen (BMLV 9.2.2023; vergleiche Robinson 27.1.2022). An dieser Situation wird sich nur etwas ändern, wenn die aktuellen Bemühungen zur Ausbildung weiterer Soldaten (geplant sind zusätzliche 15.000 Mann bis Ende 2023) erfolgreich abgeschlossen werden können und mit entsprechenden finanziellen Mitteln (Gehälter, Ausrüstung) ausgestattet werden (BMLV 9.2.2023). Nach älteren Angaben ist die Regierung zudem zum eigenen Überleben schon alleine deswegen auf ausländische Truppen und Hilfe angewiesen, weil sie nicht in der Lage ist, aus eigenen Mitteln Polizisten und Soldaten zu bezahlen (FP 22.9.2021).

Trend: Die Bundesregierung hat es nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten (BMLV 9.2.2023; vergleiche HIPS 3.2021, Sitzung 22). Der Kampf gegen al Shabaab stagnierte mehrere Jahre lang (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 7). Gegen Ende der Amtsperiode von Ex-Präsident Farmaajo war die Gruppe stärker denn je, immer mehr Gebiete gingen an die Gruppe verloren (Bryden 8.11.2021). Insgesamt konnte al Shabaab unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS-Geländegewinne erzielen (HIPS 8.2.2022, Sitzung 6). Noch im Mai und Juni 2021 hatte die Bundesarmee bei einer Offensive in Middle Shabelle bewiesen, dass sie zu einer ausschließlich auf eigenen Kräften beruhenden Initiative kaum in der Lage war. Die Operation endete unter großen Verlusten im Fiasko (Sahan 14.7.2021).

Doch seit dem Abschluss der Wahlen im Mai 2022 und dem Beschluss der USA, wieder Truppen in Somalia zu stationieren, haben die militärischen Operationen gegen al Shabaab zugenommen (UNSC 10.10.2022, Absatz 36 ;, vergleiche Sahan 29.6.2022). Der Kampf gegen al Shabaab hat seit Mai 2022 größere Fortschritte erzielt als in den vergangenen fünf Jahren zusammen (Sahan 12.10.2022; vergleiche TEC 3.11.2022). Die Dürre hat Pastoralisten – u.a. die Hawadle / Ali Madaxweyne und die Habr Gedir / Saleeban – derart hart getroffen, dass sie sich weigerten, Steuern an al Shabaab abzuführen (AQ12 10.2022). Lokale (Clan-)Milizen, die Macawiisley, haben gegen al Shabaab revoltiert. Dies hatte mehrere Ursachen: Erstens hebt al Shabaab hohe Steuern ein – auf Händler, Landwirte, Verkehr und Viehbesitzer. Zweitens betreibt al Shabaab in einigen Gebieten Zwangsrekrutierungen. Mehrfach wurden Eltern dazu „überredet“, der Gruppe Kinder zu „spenden“. Drittens gibt es regelmäßig Berichte, wonach al Shabaab lokale Clans zwingt, der Gruppe Frauen und Mädchen zuzuführen. So werden etwa die Mitglieder der Selbstmordgruppe von al Shabaab mit Ehefrauen ausgestattet (Sahan 23.9.2022). Gleichzeitig sind aufgrund der Dürre im ländlichen Raum mehr als drei Millionen Stück Vieh verendet, eine Million Menschen musste fliehen, die Städte sind mit dem Zustrom überfordert. Die Landbevölkerung ist aufgebracht, weil sich al Shabaab diesbezüglich als wenig hilfreich erwiesen hat (Sahan 26.9.2022).

Während vorherige Offensiven immer von Truppen der AU geführt wurden, handelt es sich dieses Mal um eine somalische Offensive. An der Spitze des Kampfes stehen die Macawiisley, die Aufstände in mehreren Bezirken von HirShabelle angeführt haben. Sie kennen das Terrain und sind motiviert, für ihr eigenes Gebiet zu kämpfen (TEC 3.11.2022). Die Regierungskräfte bieten den Macawiisley Aufklärung, Informationen und Versorgung, ATMIS und die USA geben Luftunterstützung (Sahan 23.9.2022; vergleiche TEC 3.11.2022). Kräfte der Bundesarmee (Danab und Gorgor) wurden als alliierte Kräfte hinzugefügt. Schlussendlich wird den Macawiisley auch Ausbildung, Logistik und Unterstützung mit schweren Waffen zuteil (AQ12 10.2022). Dieses Zusammenwirken ist einmalig und der Grund dafür, dass al Shabaab zum Rückzug gezwungen wurde (Sahan 23.9.2022). Die Erfolge der Macawiisley sind beeindruckend, al Shabaab wurde aus den östlichen Teilen von Hiiraan und Middle Shabelle sowie aus wichtigen Orten in Galmudug verdrängt (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab befindet sich auf dem Rückzug. Beide Seiten erlitten schwere Verluste (AQ12 10.2022). Aber vor allem al Shabaab wurde durch die jüngeren Offensiven schwer beschädigt. Der Verlust von Adan Yabaal ist für die Gruppe schmerzhaft, die Stadt war eines ihrer strategischen Zentren (Sahan 7.12.2022). Mehrere größere Städte und Dutzende Dörfer wurden befreit (Sahan 26.9.2022; vergleiche TEC 3.11.2022). Durch die Gebietsgewinne seitens der Regierung wird al Shabaab von lukrativen Handelsrouten abgedrängt (TEC 3.11.2022).

Die aktuelle Offensive hat al Shabaab dazu gezwungen, in entlegene Gebiete auszuweichen; dort konnte sich die Gruppe neu gruppieren und reorganisieren. Derweil haben sich Regierungskräfte in den Städten verstärkt und eingerichtet, das Zwischenland - und damit die Versorgungsrouten - hingegen al Shabaab überlassen (Sahan 30.11.2022). Einerseits sind die Macawiisley an der Grenze ihrer Durchhaltefähigkeit angelangt, andererseits können neu herangeführte Kräfte der Bundesarmee (Gorgor, Danab) erfolgreich Orte in Besitz nehmen (BMLV 9.2.2023). Allerdings stehen dann keine bzw. zu wenige leistungsfähige und verlässliche Truppen zur Verfügung, um diese Orte zu halten, wenn die Angriffstruppen weiterziehen (BMLV 9.2.2023; vergleiche Sahan 7.12.2022). Da sich aber al Shabaab weiterhin im freien Gelände zwischen den Ortschaften aufhält und bei jeder Gelegenheit die Orte selbst bzw. die Bewegungen zwischen den Ortschaften angreift (BMLV 9.2.2023), gelten die neuen Gewinne noch als fragil (Sahan 7.12.2022). Zudem sind die Clanmilizen nicht nur schlecht ausgebildet, sondern auch brutal. Gleichzeitig gibt es im weiter südlich gelegenen Teil Somalias keine derart gut ausgerüsteten und großen Clanmilizen (TEC 3.11.2022; vergleiche Sahan 7.12.2022). Außerdem haben sich nur einige Clans dem Kampf gegen al Shabaab angeschlossen. In der Vergangenheit hat sich wiederholt gezeigt, dass derartige Allianzen nicht immer von langer Dauer sind, sondern dass sich Clanmilizen gegeneinander wenden, sobald der gemeinsame Feind nicht mehr als existenzielle Gefahr wahrgenommen wird. Dies ist auch der Grund dafür, warum die Bundesregierung den Macawiisley keine Waffen liefert. Al Shabaab ist sich dessen ebenfalls bewusst und hat begonnen, Munition und Waffen an Nachbarclans jener Clans abzugeben, die sich den Macawiisley angeschlossen haben. Zudem arbeiten Kräfte von Ex-Präsident Farmaajo daran, in die Allianz einen Keil zu treiben (AQ12 10.2022). Insgesamt haben die militärischen Kräfte der al Shabaab in Zentralsomalia zwar hohe Verluste hinnehmen müssen, sind aber bei Weitem nicht geschlagen (BMLV 9.2.2023).

Durch Konflikte Vertriebene: Alleine in den ersten zehn Monaten 2022 wurden fast 1,6 Millionen Menschen zu Vertriebenen im Land, eine Million davon aufgrund von Dürre und 500.000 aufgrund von Konflikten. Fast die Hälfte dieser 500.000 wurde im Rahmen der Offensive lokaler Milizen und der Bundesarmee in Hiiraan vertrieben (VOA 15.12.2022). Die meisten neuen IDPs aufgrund von Konflikten gab es im Jahr 2022 in den Regionen Hiiraan (255.350), Galgaduud (120.610), Lower Shabelle (73.910), Bakool (56.510), Middle Shabelle (46.620) und Bay (21.370). Dahingegen wurden in Bari (200), Benadir (590), Nugaal (890) und Middle Juba (900) deutlich weniger Menschen neu vertrieben (UNHCR 31.12.2022).

Al Shabaab steht gemäß Aussagen des Experten Rashid Abdi mit dem Rücken zur Wand. Die Gruppe hat in wenigen Monaten mehr Gebiet verloren, als in den gesamten fünf Jahren zuvor und steht gleichzeitig einer Revolte mehrere Clans gegenüber. Damit steht auch das Wirtschaftsimperium al Shabaab unter Druck (GN 5.11.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Insgesamt führt al Shabaab aber weiterhin einen Guerillakrieg (USDOS 2.6.2022, Sitzung 5) mit gewalttätigen, extremistischen Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Sie ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte hit-and-run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des „teile und herrsche“; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z. B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte „komplexe“ - Angriffe durchzuführen (UNSC 6.10.2021). Insgesamt verfolgt al Shabaab eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab kann sich – frei nach Mao Zedong – als Guerilla innerhalb der Bevölkerung wie ein Fisch im Wasser bewegen. In Mogadischu oder anderen Gebieten unter Regierungskontrolle geschieht dies durch eine Mischung aus Einschüchterung und Anonymität (Sahan 20.7.2022).

Da al Shabaab an den Fronten an Boden verliert, hat die Gruppe ihre terroristischen Aktivitäten verstärkt. Dadurch soll suggeriert werden, dass die Gruppe jederzeit an jedem Ort zuschlagen kann (Sahan 14.12.2022; vergleiche AQ12 10.2022). Beim Einsatz von improvisierten Sprengsätzen ist hinsichtlich der Anzahl in den letzten Jahren keine Veränderung eingetreten. Allerdings sind die Opferzahlen seit 2020 stetig nach oben gegangen. Im Jahr 2020 wurden 501 Somali durch improvisierte Sprengsätze getötet; 2021 waren es 669; und in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 gab es mindestens 855 Opfer (UNSC 10.10.2022, Absatz 10,). Daher war 2022 hinsichtlich der Opferzahlen ein sehr blutiges Jahr. Al Shabaab eskalierte Anschläge und komplexe Attentate - etwa in Belet Weyne und Mogadischu, weil die Gruppe etwa in Hiiraan und angrenzenden Gebieten zunehmend unter Druck geraten ist. Die Gruppe wollte mit größeren Gewalttaten zeigen, dass sie immer noch dazu in der Lage ist. Es handelte sich um Racheangriffe auf zivile Ziele, um den politischen Willen und die öffentliche Unterstützung für die Regierungsoffensive zu unterminieren (GN 5.11.2022). Angegriffen werden Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, aber auch Hotels, Märkte und andere öffentliche Einrichtungen (AA 17.5.2022).

Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab (AA 28.6.2022, Sitzung 20; vergleiche AA 17.5.2022; ÖB 11.2022, Sitzung 21). Die Kriegsführung von al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn (JF 28.7.2020). Generell sind insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle betroffen (AA 28.6.2022, Sitzung 20). Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Im zweiten Halbjahr 2022 rebellierten in Hiiraan und Galmudug mehrere Clans gegen al Shabaab, es kam und kommt zu direkten Auseinandersetzungen (Sahan 26.9.2022).

Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖB 11.2022, Sitzung 2). Während ATMIS und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen. Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen (USDOS 2.6.2022, Sitzung 5f). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 28.6.2022, Sitzung 5). In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss (BMLV 9.2.2023; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 12). Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß (BMLV 9.2.2023). Das „urban island scenario“ besteht also weiterhin. Viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben (BMLV 9.2.2023; vergleiche WZ 29.12.2021). Und selbst in den Orten und Städten wird die Regierung von Rebellen unterwandert (WZ 29.12.2021). Gebessert hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle, wo auch Bewegungen zwischen den Orten möglich sind (BMLV 9.2.2023). In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen – versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen (UNSC 6.10.2021). Gleichzeitig erhöht al Shabaab mit der Einnahme von Wegzöllen das eigene Budget (HIPS 8.2.2022, Sitzung 6). Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (HRW 13.1.2022).

Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind

1. das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;

2. Jamaame und Badhaade in Lower Juba;

3. größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;

4. Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;

5. der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor; sowie Rab Dhuure;

6. Gebiete rechts und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

7. sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit der Stadt Ceel Buur (PGN 23.1.2023).

In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden – insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch ATMIS und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i. d. R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden. Immer wieder gelingt es al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Galcad am 20.1.2023 - einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab hat sich – in begrenztem Ausmaß – fähig gezeigt, Territorien, die bereits durch die Nationale Armee und ATMIS befreit wurden, wieder zurückzuerobern. In der Vergangenheit war das Scheitern, eroberte Territorien erfolgreich zu halten, mit dem Mangel an Polizeipräsenz in den eroberten Gebieten und der allgemein schlechten Moral in der Nationalen Armee verbunden, die auf sehr geringe und oftmals verzögerte Besoldung zurückzuführen war (ÖB 11.2022, Sitzung 9).

Andere Akteure: Über drei Jahrzehnte gewaltsamer Konflikte haben die sozialen Brüche größer werden lassen. Kämpfe zwischen Clanmilizen und gewaltsame Auseinandersetzungen in Bundesstaaten und zwischen Bundesstaaten und der Bundesregierung kennzeichnen den anhaltenden Konflikt um Macht und Ressourcen (BS 2022, Sitzung 34). Kämpfe zwischen Clans und Subclans, insbesondere um Wasser- und Landressourcen sind weit verbreitet, insbesondere in den Regionen Hiiraan, Galmudug, Lower und Middle Shabelle bzw. in Regionen, in denen die Regierung oder staatliche Behörden schwach oder nicht vorhanden sind (ÖB 11.2022, Sitzung 11). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 17.5.2022) sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen wie ASWJ (AA 28.6.2022, Sitzung 20). Solche Kämpfe zwischen (Sub-)Clans - vorrangig um Land und Wasser, aber auch um Macht - haben im Jahr 2021 zugenommen. Bei Zusammenstößen in Galmudug, Jubaland und dem SWS kam es dabei zu Toten und massiven Vertreibungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 4f). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15). Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer - generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter - Gewalt verbunden sein (BMLV 9.2.2023).

Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 28.6.2022, Sitzung 19). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub („Carjacking“), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (AA 17.5.2022).

Im Zeitraum Feber-Mai 2022 verübte der Islamische Staat in Somalia (ISIS) zwei Sprengstoffanschläge auf einen Polizisten und einen Beamten sowie einen Handgranatenanschlag auf einen Checkpoint der Polizei. Alle diese Vorfälle, bei denen zwei Zivilisten und drei Angehörige der Sicherheitskräfte verletzt wurden, ereigneten sich in Mogadischu (UNSC 13.5.2022, Absatz 21,). Im Zeitraum Mai-August 2022 verübte der ISIS einen Anschlag in Mogadischu, drei Polizisten wurden dabei verletzt (UNSC 1.9.2022, Absatz 22,). Nach Einschätzung der Expertengruppe der Vereinten Nationen kann der ISIS lediglich in Puntland eingeschränkt operieren (UNSC 10.10.2022, Absatz 31,).

Zivile Opfer: Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten (HRW 13.1.2022). Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an (C4 15.6.2022). Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu ATMIS und somalischen Sicherheitskräften (AA 28.6.2022, Sitzung 6). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (BMLV 9.2.2023).

Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von ATMIS bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28 % der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es nur 20 % (Sahan 6.4.2021a). […]

Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 17 Millionen Einwohnern (IPC 13.12.2022) lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:12.117 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen].

Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v.a. durch die USA: 2017 waren es 35, 2018 47, 2019 63, 2020 51 (HIPS 2021, Sitzung 21), 2021 11 (HRW 13.1.2022) und 2022 15 (BMLV 9.2.2023). Bei Luftangriffen auf al Shabaab und den ISIS sind zwischen 2017 und 2021 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden (HIPS 2021, Sitzung 21). Auch Kenia führt nach wie vor Luftschläge in Somalia durch, z. B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (GN 22.6.2022); und es kommt auch zu äthiopischen Luftangriffen (VOA 8.8.2022), z. B. am 30.7.2022 in der Region Bakool (SG 31.7.2022). Nach Angaben somalischer Armeevertreter sind nunmehr auch türkische Drohnen bei den Operationen gegen al Shabaab in Lower und Middle Shabelle zum Einsatz gekommen (VOA 30.11.2022). […]

South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle)

In den größeren von der Regierung kontrollierten Städten besteht eine grundlegende Verwaltung. Es gibt Bürgermeister, eine lokale Rechtsprechung und Ordnungskräfte. Die Regierung konnte mit internationaler Unterstützung ihre eigene, lokal rekrutierte Armee, die South West State Special Police Force (SWSSPF), weiter ausbauen. Sie wird von Äthiopien versorgt und ist in Bay der Hauptträger des Kampfes gegen al Shabaab. Al Shabaab kontrolliert viele ländliche Gebiete (BMLV 9.2.2023) und nahezu alle wichtigen Hauptversorgungsrouten (HIPS 8.2.2022, Sitzung 23f). Sicheres Reisen erfolgt über den Luftweg (BMLV 9.2.2023). Alle Verbindungsstraßen nach Baidoa werden von al Shabaab kontrolliert. Selbst gepanzerte Fahrzeuge werden mit dem Flugzeug eingeflogen, weil der Straßentransport aus Mogadischu als zu gefährlich eingestuft wird (NPR 17.12.2022). Da der SWS maßgeblich von den Häfen Kismayo und Mogadischu abhängig ist, müssen Güter durch von al Shabaab kontrolliertes Gebiet transportiert werden (HIPS 8.2.2022, Sitzung 23f). Al Shabaab bleibt in der Lage, die somalische Armee und ATMIS im Gebiet anzugreifen (BMLV 9.2.2023). Vor allem die Regionen Bay und Lower Shabelle sind von Angriffen und Anschlägen betroffen (UNSC 13.5.2022, Absatz 13,).

Stößt al Shabaab auf den Widerstand lokaler Clanmilizen, so wie dies bei den Leysan (Rahanweyn) in Bay und Bakool oder den Galja'el (Hawiye) in Lower Shabelle geschehen ist, und wo es kaum Schutz durch Sicherheitskräfte gibt, dann entführt die Gruppe mitunter Älteste, und es kommt zur Zwangsvertreibung ganzer Dörfer (BMLV 9.2.2023; vergleiche UNSC 6.10.2021).

Lower Shabelle: Wanla Weyne, Afgooye, Qoryooley, Merka und Baraawe befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS, Kurtunwaarey und Sablaale werden von al Shabaab kontrolliert. Dies gilt auch für große Teile des Hinterlandes nördlich des Shabelle (PGN 23.1.2023). Lower Shabelle ist nach wie vor von Gewalt betroffen, das Gebiet zwischen den Städten liegt im Fokus der al Shabaab (BMLV 9.2.2023).

Nach wie vor mangelt es den Regierungskräften an Kapazitäten, um erobertes Gebiet auch zu halten (BMLV 9.2.2023; vergleiche HIPS 8.2.2022, Sitzung 28). Immer wieder kann al Shabaab in Orte vordringen - z. B. am 7.4.2022 nach Buulo Mareer. Der Ort, in dem es Stützpunkte von ATMIS und Bundesarmee gibt, wurde vorab mit Mörsern beschossen und danach kurzzeitig von al Shabaab besetzt (ACLED 7.4.2022).

Anfang 2021 eskalierte der Konflikt zwischen al Shabaab und dem Clan der Galje’el (Hawiye). Al Shabaab vertrieb in Lower Shabelle dabei ca. 1.500 Haushalte aus 11 Dörfern. Im Zuge dieser Strafaktion ermordete die Gruppe zwei Menschen und setzte mehrere Dutzend Wohnstätten in Brand. Auch gegen Angehörige der Shanta Alemod (Rahanweyn) ging al Shabaab vor (UNSC 6.10.2021). Auch Mitte 2021 kam es im Gebiet zwischen al Shabaab, Galja'el, Shanta Alemod und Digil/Mirifle zu Auseinandersetzungen. Milizen der Galja'el griffen dabei Konvois an und beteiligten sich an Vergewaltigungen, Brandschatzungen, Plünderungen und Landraub (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7).

Afgooye liegt aufgrund seines strategischen Wertes im ständigen Fokus aller Konfliktparteien - die Stadt gilt als Schlüssel zu Mogadischu. Trotzdem kann Afgooye hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Die Lage in der Stadt hat sich in den vergangenen Monaten verbessert (BMLV 9.2.2023).

Merka kann hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Die Kontrolle über einige Dörfer an der Küste zwischen Mogadischu und Merka ist unklar. Allerdings kann al Shabaab diesen Landesteil nicht mehr so einfach erreichen, wie vor der Operation Badbaado (BMLV 9.2.2023). Bei einem Selbstmordattentat kamen am 27.7.2022 in Merka mindestens elf, nach anderen Angaben 20 Menschen ums Leben - darunter der Bürgermeister bzw. Bezirkschef (VOA 27.7.2022; vergleiche UNSC 1.9.2022, Absatz 25,).

Aus Baraawe gibt es auch weiterhin nur wenige sicherheitsrelevante Meldungen (BMLV 9.2.2023). Am 9.2.2022 kam es zu einem Mörserangriff auf Baraawe, vier Zivilisten wurden getötet (UNSC 13.5.2022, Absatz 15,).

In den Gebieten von Qoryooley und Kurtunwaarey hat al Shabaab 2021 die Bewohner einiger Dörfer der Leysan (Rahanweyn) zwangsvertrieben (UNSC 6.10.2021).

Bay: Die großen Städte – Baidoa, Buur Hakaba, Diinsoor – werden von Regierungskräften und ATMIS kontrolliert, dies gilt auch für Qansax Dheere und Berdale (PGN 23.1.2023). Die drei erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Im Umfeld der Stadt Diinsoor, die als Frontstadt bezeichnet werden kann, ist al Shabaab aktiv. Die Straße von Diinsoor nach Baidoa ist offen und nutzbar (BMLV 9.2.2023). Ab Feber 2022 hat al Shabaab wiederholt Armee- und ATMIS-Stützpunkte in Diinsoor angegriffen und dort auch zunehmend Gewalt gegen Zivilisten angewendet. Im März 2022 haben die Einwohner die Stadt temporär geräumt (UNSC 10.10.2022, Absatz 117,) - aufgrund von Feindseligkeiten von al Shabaab. Mehr als 17.000 Menschen sind damals geflohen. Am 5.2.2022 konnte al Shabaab Diinsoor sogar für kurze Zeit besetzen; immer wieder wurde die Stadt auch mit Mörsern beschossen (UNSC 13.5.2022, Absatz 38,).

Al Shabaab kontrolliert große Teile von Bay (PGN 23.1.2023). Die Gruppe kontrolliert den Ort Leego an der Straße von Wanla Weyne nach Buur Hakaba. Dort nimmt sie monatlich hunderttausende US-Dollar an Wegzoll ein (Bryden 8.11.2021). Die Straße nach Baidoa bleibt demnach für Zwecke der Regierung geschlossen (BMLV 9.2.2023; vergleiche Bryden 8.11.2021). Nach anderen Angaben ist die Kontrolle über Leego ungewiss (PGN 23.1.2023). Im April 2021 sind Flüchtlinge in Baidoa und in Berdale angelangt; sie waren vor Drohungen und möglichen Rekrutierungen durch al Shabaab geflüchtet (UNOCHA 17.6.2021, Sitzung 3).

Die Sicherheitslage in Baidoa ist stabil, die Stadt wird als relativ sicher beschrieben. Es gibt dort regelmäßig Sicherheitsoperationen und Razzien durch Sicherheitskräfte. Die Einsatzfähigkeit der SWS Police Force (SWSPF) hat sich nach der Aufnahme lokaler Rekruten verbessert. In Baidoa sind zudem eine sogenannte Formed Police Unit und einzelne Polizisten von ATMIS stationiert. Diese Polizisten bilden die lokale Polizei nicht nur aus, sondern unterstützen sie auch im Einsatz. Gleichzeitig ist Baidoa auf die Anwesenheit der äthiopischen ATMIS-Truppen angewiesen. Al Shabaab ist in der Lage, Baidoa in der Nacht zu infiltrieren (BMLV 9.2.2023). Allerdings weigert sich laut einer Studie aus dem Jahr 2020 rund ein Drittel der Wirtschaftstreibenden, in Baidoa Steuern an al Shabaab abzuführen. Dies weist auf einen besseren Schutz bzw. auf eine geringere Dichte an Straforganen der al Shabaab hin (HI 10.2020, Sitzung 2). Am 29.7.2022 wurden bei einem gezielten Anschlag in Baidoa der Justizminister des SWS und sein Sohn getötet, mindestens neun weitere Personen wurden verletzt (UNSC 1.9.2022, Absatz 25,). Mit der Einnahme von Goof Gaduud Burey Mitte Dezember 2022 konnte im Umland von Baidoa das Gebiet unter Kontrolle der Regierung ausgeweitet werden (HO 12.12.2022).

Am 22.12.2022 ist es in Baidoa zu Auseinandersetzungen gekommen, als regionale Kräfte das Haus von Mohamed Adan Ibrahim stürmen wollten. Letzterer ist Präsidentschaftskandidat für den SWS. Der amtierende Präsident Laftagareen möchte aber sein eigenes Mandat um ein Jahr verlängern. Die Union der Präsidentschaftskandidaten für den SWS hat hingegen zur Abhaltung von Wahlen aufgefordert (MM 23.12.2022). Die Bundesregierung hat ein Komitee eingerichtet, das zwischen den Streitparteien vermitteln soll. Bei den Unruhen waren mindestens zehn Menschen getötet und 20 weitere verletzt worden (Halbeeg 2.1.2023). Am 5.2.2023 wurde zwischen Regierung und Opposition ein Abkommen abgeschlossen (BMLV 9.2.2023).

Bakool: Ceel Barde, Yeed, Xudur und Waajid werden von Regierungskräften und ATMIS kontrolliert (PGN 23.1.2023). Die drei letztgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Ein mindestens 20 km breiter Grenzstreifen an der Grenze zu Äthiopien, der von durch Äthiopien gesponserte, lokale Clanmilizen beherrscht wird, ist frei von al Shabaab (BMLV 9.2.2023; vergleiche PGN 23.1.2023). Kleinere Teile der Region werden aber von der Gruppe kontrolliert, darunter auch die Städte Rab Dhuure und Tayeeglow (PGN 23.1.2023). In Xudur aber auch in Waajid befinden sich Stützpunkte der Armee. Außerdem operieren in Bakool unabhängige Clanmilizen. Die Verwaltung von Bakool steht massiven Problemen gegenüber, um die Bevölkerung zu erreichen (BMLV 9.2.2023). Gegen Xudur und Waajid hält al Shabaab weiterhin eine Blockade aufrecht, es kommt zu Versorgungsengpässen (ICG 1.10.2021). Nach anderen Angaben ist v. a. Xudur von einer Blockade betroffen. Gütertransporte werden immer wieder angegriffen (UNSC 6.10.2021). Die Versorgungsstraße nach Xudur wird nur fallweise freigekämpft. Insgesamt gibt es in Bakool nur geringe Kampfhandlungen (BMLV 9.2.2023). Um Xudur hatte al Shabaab die Menschen von 42 Orten im April 2021 dazu aufgefordert, ihre Dörfer zu verlassen. Fast 30.000 Menschen flohen daraufhin nach Xudur (UNSC 10.8.2021, Absatz 53,). Betroffen war maßgeblich der Clan der Leysan (Rahanweyn). Auch im Juni 2021 kam es zu Vertreibungen im Umland von Xudur, diesmal waren die Rahanweyn-Subclans Hadame und Luwaay betroffen. Beiden Clans hatte al Shabaab vorgeworfen, das Handelsverbot mit Xudur zu missachten (UNSC 6.10.2021). Im Juli und August 2022 kam es in den Gebieten von Yeed, Ato und Washaaqo zu schweren Auseinandersetzungen zwischen äthiopischer Liyu-Police und al Shabaab. In allen drei Orten befinden sich größere Kontingente der Liyu (VOA 20.7.2022; vergleiche MM 3.8.2022). Al Shabaab zerstörte dabei u. a. Einrichtungen der Liyu und tötete einige Mitglieder dieser Einheit (UNSC 1.9.2022, Absatz 24,). Diese Angriffe, die auch nach Äthiopien hinein zielten und von Bakool ausgegangen sind, weisen darauf hin, dass al Shabaab hier relativ einfach stärkere Kräfte (in diesem Fall rund 1.100 Mann) zusammenziehen kann (BMLV 9.2.2023).

Vorfälle: In den Regionen Bakool (492.487), Bay (1,287.587) und Lower Shabelle (1,425.393) leben nach Angaben einer Quelle 3,205.467 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2021 insgesamt 55 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie violence against civilians). Bei 44 dieser 55 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2022 waren es ebenfalls 55 derartige Vorfälle (davon 39 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und "Violence against Civilians" ergeben sich für 2022 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): Bakool 0,41; Bay 1,24; Lower Shabelle 2,60 [...]

Al Shabaab

Al Shabaab ist eine radikal-islamistische, mit der al Qaida affiliierte Miliz (AA 28.6.2022, Sitzung 5; vergleiche SPC 9.2.2022). Die Gruppe erkennt die Bundesregierung nicht als legitime Regierung Somalias an (UNSC 10.10.2022, Absatz 5,) und lehnt die gesamte politische Ordnung Somalias, die sie als unislamisch bezeichnet, ab (Sahan 20.7.2022). Al Shabaab war mit Stand August 2022 stärker und besser entwickelt als im Jahr 2012 (BBC 24.8.2022). Im Zuge der politischen Machtkämpfe 2021 ergab sich für al Shabaab die Möglichkeit, die politische Elite als korrupt und inkompetent und sich selbst als verlässliche Alternative darzustellen (TNH 20.5.2021). Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias (BMLV 9.2.2023; vergleiche BBC 18.1.2021) bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation des Islams und der Scharia in „Großsomalia“ (USDOS 2.6.2022, Sitzung 6) und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia (CFR 19.5.2021). Al Shabaab ist eine tief eingegrabene, mafiöse Organisation, die in fast allen Facetten der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik integriert ist (GITOC 8.12.2022). Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah (UNSC 10.10.2022, Absatz 5,).

Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin große Teile Süd-/Zentralsomalias und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (BMLV 9.2.2023).

Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z. B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 7; vergleiche FP 22.9.2021). römisch fünf. a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben (FP 22.9.2021). Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (BS 2022, Sitzung 10). [Zur Gerichtsbarkeit der al Shabaab siehe auch das Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen (6.1)]

Im eigenen Gebiet hat die Gruppe grundlegende Verwaltungsstrukturen geschaffen (BS 2022, Sitzung 10). Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten (HO 12.9.2021). Al Shabaab sorgt dort auch einigermaßen für Ordnung (ICG 27.6.2019, Sitzung 1). Durch das Anbieten öffentlicher Dienste - v. a. hinsichtlich Sicherheit und Justiz - genießt al Shabaab in einigen Gebieten ein gewisses Maß an Legitimität (GITOC 8.12.2022). Mit der Hisbah verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei (GITOC 8.12.2022; vergleiche UNSC 6.10.2021). Offensichtlich führt al Shabaab auch eine Art Volkszählung durch. Auf den diesbezüglich bekannten Formularen müssen u. a. Clan und Subclan, Zahl an Kindern in und außerhalb Somalias, Quelle des Haushaltseinkommens und der Empfang von Remissen angegeben werden (UNSC 10.10.2022, Sitzung 45). Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (AA 28.6.2022, Sitzung 5/19).

Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität (BMLV 9.2.2023; vergleiche JF 18.6.2021). Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BMLV 9.2.2023).

Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung (Bryden 8.11.2021). Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (C4 15.6.2022).

Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiter bestehen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 29). Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen. Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen (SPC 9.2.2022). Manche Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Sultaan, Ugaas, Wabar) und stattetLletztere mit z. B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (UNSC 6.10.2021).

Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft (Sahan 30.6.2022). Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 13). Andere unterstützen al Shabaab, weil die Gruppe Rechtsschutz bietet. Die meisten Menschen befolgen ihre Anweisungen aber aus Angst (FIS 7.8.2020, Sitzung 15f).

Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und ATMIS bzw. AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk (Maruf 14.11.2018). Laut einer Schätzung vom Feber 2022 hat die Gruppe nunmehr 12.000 Kämpfer (VOA 17.5.2022). Eine andere Quelle berichtet im Juli 2022 von einer Stärke von 7.000-12.000 Mann (Sahan 4.11.2022); eine weitere Quelle bestätigt diese Zahl (BMLV 9.2.2023). Die tatsächliche Größe ist schwer festzulegen, da viele Angehörige der al Shabaab zwischen Kampf und Zivilleben hin- und her wechseln (WP 31.8.2019). Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen ATMIS manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyat über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BMLV 9.2.2023). Dieser Dienst, der mehr als nur ein Geheimdienst ist, verfügt über 500 bis 1.000 Mann (BBC 27.5.2019). Der Amniyat ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Der Amniyat ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig (JF 18.6.2021). Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen (UNSC 6.10.2021). Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (Maruf 14.11.2018).

Gebiete: Al Shabaab wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat die Gruppe dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und - in sehr geringem Maße - Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und - in sehr geringem Maße - Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (PGN 23.1.2023).

Jedenfalls steht ebenso fest: Das Einsatzgebiet von al Shabaab ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 8). Gemäß einer Quelle verfügt al Shabaab bei Clans über Verbindungsleute (Kilmurry 1.4.2022); laut einer anderen Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus (LI 21.5.2019a, Sitzung 3). Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab funktioniert in nahezu ganz Südsomalia als Schattenregierung bzw. -Verwaltung (GITOC 8.12.2022; vergleiche FP 22.9.2021). „Kontrolliert“ wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch „exemplarische Gewalt“; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 8). In Gebieten, die an von der Regierung kontrollierte und von al Shabaab unter Blockade gestellte Städte grenzen, hat die Gruppe strenge Regeln hinsichtlich ökonomischer und beruflicher Tätigkeiten eingeführt. Al Shabaab setzt diese mit Drohungen und Gewalt durch und bestraft jene, die diese Regeln brechen (UNSC 10.10.2022, Absatz 117,).

Kapazitäten: Die Kämpfe der letzten Monate haben bei al Shabaab erhebliche Spuren hinterlassen. Die Angaben der Bundesregierung von angeblich 2.000 getöteten Kämpfern von al Shabaab seit Juni 2022 müssen allerdings angezweifelt werden und sind vermutlich doppelt so hoch angesetzt wie tatsächlich gegeben (BMLV 9.2.2023). Jedenfalls verfügt al Shabaab weiterhin über die Kapazität und die Präsenz, um in fast allen Teilen Somalias – auch in Mogadischu – Operationen durchführen zu können. Dabei geht die Einflusssphäre der Gruppe über jene Gebiete, die sie tatsächlich unter Kontrolle hat, hinaus (UNSC 10.10.2022, Absatz 8,). Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Sie führt z. B. Körperstrafen immer wieder exemplarisch aus; aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 9).

Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Kapitel „Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen“]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem (BS 2022, Sitzung 10), dort wird alles und jeder besteuert (HI 10.2020, Sitzung 2f; vergleiche BBC 18.1.2021). Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022, Sitzung 10). Mit Steuereinnahmen kann al Shabaab genug Geld generieren, um die Rebellion auch hinkünftig aufrechterhalten zu können (UNSC 6.10.2021). Schätzungen von Experten zufolge nimmt al Shabaab alleine an Checkpoints pro Jahr mehr als 100 Millionen US-Dollar ein (GITOC 8.12.2022).

Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen (UNSC 6.10.2021). Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen (Bryden 8.11.2021). In umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt. Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden Steuern an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben; aber jene, die sich weigern, werden bestraft und ihr Leben bedroht. Vorerst werden dabei hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Andere müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (HI 10.2020, Sitzung 1ff). Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat (FDD 11.8.2021). Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu lukrieren. Die Religion dient nur als Deckmantel (FIS 7.8.2020, Sitzung 18).

Laut einer Schätzung vom Feber 2022 kann al Shabaab pro Monat bis zu 10 Millionen USDollar generieren (VOA 17.5.2022). Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh (BS 2022, Sitzung 10; vergleiche UNSC 6.10.2021); sowie auf manche Dienstleistungen (HIPS 2020, Sitzung 13). Sogar Bundesbedienstete – darunter hochrangige Angehörige der Armee – führen Schutzgeld oder „Einkommenssteuer“ an al Shabaab ab. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (HI 10.2020, Sitzung 6f). Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (WP 31.8.2019).

Wehrdienst und Rekrutierungen (durch den Staat und Dritte)

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Die somalische Armee ist eine Freiwilligenarmee (BMLV 19.7.2022). Es gibt keinen verpflichtenden Militärdienst. Allerdings rekrutieren Clans regelmäßig – und teils unter Androhung von Zwangsmaßnahmen für die Familie – junge Männer zum Dienst in einer Miliz, bei den staatlichen Sicherheitskräften oder bei al Shabaab. Dadurch soll für den eigenen Clan oder Subclan Schutz erlangt werden (AA 28.6.2022, Sitzung 16). [...]

(Zwangs-)Rekrutierungen und Kindersoldaten

[...] (Zwangs-)Rekrutierung: Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia (ÖB 11.2022, Sitzung 6). Die meisten Rekruten stammen aus ländlichen Gebieten – v. a. in Bay und Bakool. Bei den meisten neuen Rekruten handelt es sich um Kinder, die das Bildungssystem der al Shabaab durchlaufen haben, was wiederum ihre Loyalität zur Gruppe fördert (HI 12.2018, Sitzung 1). Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus den Regionen Bay und Bakool (Marchal 2018, Sitzung 107). Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren hierbei eine Hauptquelle an Fußsoldaten (EASO 9.2021c, Sitzung 18). Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich hingegen um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu (Ingiriis 2020). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022).

Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet (Ingiriis 2020), jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen (Marchal 2018, Sitzung 92). Alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet sind als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z.B. bei militärischen Operationen im Bereich oder zur Aufklärung (BMLV 9.2.2023). Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen (Marchal 2018, Sitzung 105). Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen (FIS 7.8.2020, Sitzung 18; vergleiche ICG 27.6.2019, Sitzung 2). Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren (Khalil 1.2019, Sitzung 14). Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 36/40). Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 17f). Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)Rekrutierung zu entziehen (BMLV 9.2.2023). Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM bzw. ATMIS oder die Regierung äußern (EASO 9.2021c, Sitzung 21).

Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan (Ingiriis 2020). Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (EASO 9.2021c, Sitzung 18).

Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt (EASO 9.2021c, Sitzung 21). Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können, trotz fehlendem religiösem Verständnis, auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle (FIS 7.8.2020, Sitzung 17; vergleiche Khalil 1.2019, Sitzung 33). Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle (Khalil 1.2019, Sitzung 33). Etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab sind der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden (Felbab 2020, Sitzung 120f). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52 % der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 % (Botha 2019). Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen (SIDRA 6.2019a, Sitzung 4). Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen von al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent (Khalil 1.2019, Sitzung 16). Nach neueren Angaben verdienen Fußsoldaten und niedrige Ränge 60-100 US-Dollar, Finanzbedienstete z. B. 250 US-Dollar im Monat (UNSC 10.10.2022, Absatz 52,). Gemäß somalischen Regierungsangaben erhalten neue Rekruten 30 US-Dollar im Monat, ein ausgebildeter Fußsoldat oder ein Fahrer 70 US-Dollar; den höchsten Sold erhält demnach mit 25.000 US-Dollar der Emir selbst (FGS 2022, Sitzung 99). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge überhaupt nicht bezahlt worden sind (Botha 2019).

Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer (FIS 7.8.2020, Sitzung 17). Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans (Khalil 1.2019, Sitzung 14f; vergleiche EASO 9.2021c, Sitzung 20). Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern (FIS 5.10.2018, Sitzung 34). Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 42f). So z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft Tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (Ingiriis 2020).

Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Diese „Vorschreibung“ - also wieviele Rekruten ein Dorf, ein Gebiet oder ein Clan stellen muss - erfolgt üblicherweise jährlich, und zwar im Zuge der Vorschreibung anderer jährlicher Abgaben. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens (BMLV 9.2.2023). Eltern versuchen, durch Geldzahlungen die Rekrutierung ihrer Kinder zu verhindern (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,). Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (BMLV 9.2.2023).

Sich einer Rekrutierung zu entziehen ist möglich, aber nicht einfach. Die Flucht aus von al Shabaab kontrolliertem Gebiet gestaltet sich mit Gepäck schwierig, eine Person würde dahingehend befragt werden (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 18). Trotzdem schicken Eltern ihre Kinder mitunter in von der Regierung kontrollierte Gebiete – meist zu Verwandten (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,).

Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat (BMLV 9.2.2023). Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 40). Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt (BMLV 9.2.2023; vergleiche UNSC 28.9.2020, Annex 7.2). [...]

Allgemeine Menschenrechtslage

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

In der somalischen Verfassung ist der Schutz der Menschenrechte ebenso verankert wie die prägende Rolle der Scharia als Rechtsquelle (AA 28.6.2022, Sitzung 20).

Trotzdem werden Grund- und Menschenrechte regelmäßig und systematisch verletzt. Im Wettstreit stehende, politische Akteure in Süd-/Zentralsomalia sind in schwere und systematische Menschenrechtsverbrechen involviert (BS 2022, Sitzung 18; vergleiche AI 29.3.2022). Die schwersten Menschenrechtsverletzungen sind: willkürliche und ungesetzliche Tötungen durch Kräfte der somalischen Bundesregierung; Entführungen und Verschwindenlassen; Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten; Folter und andere grausame Behandlung; harte Haftbedingungen; willkürliche und politisch motivierte Verhaftungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1f; vergleiche BS 2022, Sitzung 34). Al Shabaab ist für die Mehrheit der schweren Menschenrechtsverletzungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche UNSC 6.10.2021) und für den größten Teil ziviler Todesopfer verantwortlich (BS 2022, Sitzung 34). Es gibt aber auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Kräfte der Bundesregierung und von Regionalregierungen. Auch Clanmilizen sind für Vergehen verantwortlich - darunter Tötungen, Entführungen und Zerstörung zivilen Eigentums (UNSC 6.10.2021).

Bei Kämpfen unter Beteiligung von ATMIS, Regierung, Milizen und al Shabaab kommt es zur Tötung, Verletzung und Vertreibung von Zivilisten sowie zu anderen Kriegsverbrechen, welche durch alle Konfliktbeteiligten verübt werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 2). Es gibt zahlreiche Berichte, wonach die Regierung und ihre Handlanger Personen willkürlich und außergesetzlich töten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Nach anderen Angaben stellen extralegale Tötungen bei den Sicherheitskräften kein strukturelles Problem dar (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Jedenfalls werden Sicherheitskräfte beschuldigt, Zivilisten bei Streitigkeiten um Land, bei Checkpoints, bei Zwangsräumungen und anderen Gelegenheiten willkürlich angegriffen zu haben (BS 2022, Sitzung 18). In solchen Fällen ist aufgrund des dysfunktionalen Justizsystems häufig von Straflosigkeit auszugehen (AA 28.6.2022, Sitzung 22).

Für die meisten Tötungen sind aber al Shabaab und Clanmilizen verantwortlich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; vergleiche AI 29.3.2022). Im Zeitraum 7.5. bis 23.8.2022 kamen landesweit 419 Zivilisten ums Leben oder wurden verletzt. Für 88 Opfer trug dabei al Shabaab, für 249 Unbekannte, für 30 Clanmilizen, für 46 staatliche Sicherheitskräfte und für sechs die Liyu Police die Verantwortung (UNSC 1.9.2022, Absatz 52,). Im Zeitraum 1.2. bis 6.5.2022 sind es vergleichsweise insgesamt 428 Opfer gewesen (UNSC 13.5.2022, Absatz 51,). In den vergangenen Jahren war die Zahl an zivilen Opfern stetig zurückgegangen. Gemäß verfügbarer Zahlen der UN ist aber 2022 bereits im November das Jahr mit den höchsten Zahlen an getöteten (613) und verletzten (948) Zivilisten seit dem Jahr 2017. Dabei wurden bei Sprengstoffanschlägen 315 Menschen getötet und 686 verletzt. Von diesen Anschlägen können mindestens 94 Prozent al Shabaab angelastet werden. Die restlichen Opfer wurden durch staatliche Kräfte, Milizen und Unbekannte verursacht (UNOHCHR 14.11.2022).

Es gibt mehrere Berichte über von der Regierung gesteuertes, politisch motiviertes Verschwindenlassen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen durch Bundes- und Regionalbehörden sowie durch alliierte Milizen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 9; vergleiche BS 2022, Sitzung 16). Die Regierung verwendet bei derartigen Verhaftungen oft den Vorwurf der Mitgliedschaft bei al Shabaab (USDOS 12.4.2022, Sitzung 10).

Generell ist Straflosigkeit die Norm. Die Regierung macht zumindest einige Schritte, um öffentlich Bedienstete – vor allem Sicherheitskräfte – strafrechtlich zu verfolgen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2).

Al Shabaab verletzt in den Gebieten unter ihrer Kontrolle systematisch Grundrechte (BS 2022, Sitzung 19). Die Gruppe ist für die Mehrheit schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Al Shabaab verübt terroristische Anschläge gegen Zivilisten; begeht Morde und Attentate; entführt Menschen, begeht Vergewaltigungen und vollzieht grausame Bestrafungen; Bürgerrechte und Bewegungsfreiheit werden eingeschränkt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Die Gruppe rekrutiert Kindersoldaten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche HRW 13.1.2022). Al Shabaab entführt Menschen und nimmt Geiseln (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Die Entführung und Verhaftung von Zivilisten erfolgt, um Regelbrüche zu ahnden oder Kollaboration zu erzwingen. Von Ende 2020 bis September 2021 wurden 13 derartige Entführungen dokumentiert, betroffen waren 155 Zivilisten – u. a. Älteste, Wirtschaftstreibende und Jugendliche (UNSC 6.10.2021). Nachdem sich al Shabaab bei schweren Kämpfen im Bereich Siigale Degta (Lower Shabelle) am 8.3.2022 zurückziehen musste, kehrte die Gruppe noch am selben Tag in das Dorf zurück. Al Shabaab beschuldigte die Gemeinde der Spionage und Kollaboration mit der Bundesarmee, tötete mindestens einen Mann und entführte 33 Dorfbewohner (darunter neun Frauen). Der Verbleib dieser Menschen ist bis heute ungeklärt (UNSC 10.10.2022, Sitzung 86).

Al Shabaab verhängt in ihren Gebieten Körperstrafen. So werden sexuelle Vergehen mitunter mit Auspeitschen, Diebstahl mit Amputation und Spionage mit dem Tode bestraft (UNSC 6.10.2021). Al Shabaab richtet regelmäßig und ohne ordentliches Verfahren Menschen hin, denen Kooperation mit der Regierung, internationalen Organisationen oder westlichen Hilfsorganisationen vorgeworfen wird (AA 28.6.2022, Sitzung 16), bzw. Zivilisten, die zu Abtrünnigen oder Spionen deklariert werden (BS 2022, Sitzung 19). Al Shabaab übt teils Rache an der Bevölkerung von Gebieten, die zuvor „befreit“ aber danach von al Shabaab wieder eingenommen worden waren. Die Gruppe wendet u. a. auch das Mittel von Zwangsvertreibungen an, um sich an sich widersetzenden oder nicht die eigenen Regeln befolgenden Bevölkerungsgruppen zu rächen. Bei derartigen Kollektivstrafen wurden z. B. im ersten Halbjahr 2021 im SWS und in Galmudug mehr als 11.000 Familien vertrieben (UNSC 6.10.2021). Mitunter kommt es bei al Shabaab auch zu Zwangsarbeit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46).

Minderheiten und Clans

[…] Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen (SPC 9.2.2022). Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2022, Sitzung 10). Selbst relative starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan 30.9.2022).

Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessenvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des Xeer. Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler. Al Shabaab installiert oft Älteste, welche die Gruppe repräsentieren. Er wird so zum Bindeglied zwischen der Gemeinschaft und al Shabaab. So werden zuvor legitime Strukturen in Geiselhaft genommen (Sahan 26.10.2022).

In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56) und für ökonomische sowie politische Partizipation (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56; vergleiche BS 2022, Sitzung 23). Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2022, Sitzung 23). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UNOCHA 14.3.2022).

Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Weder das traditionelle Recht (Xeer) (SEM 31.5.2017, Sitzung 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, Sitzung 42; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen (ÖB 11.2022, Sitzung 4). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, Sitzung 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, Sitzung 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, Sitzung 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14).

Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel (ÖB 11.2022, Sitzung 3). Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten (ÖB 11.2022, Sitzung 3; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 31f; FH 2022a, B4). Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert (FH 2022a, B4). Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen (SPC 9.2.2022). So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (ÖB 11.2022, Sitzung 4).

Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 14; FH 2022a, F4). Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (AA 28.6.2022, Sitzung 14). Zudem sind die Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen weniger gut ausgebaut, und sie verfügen über geringere Ressourcen (Sahan 24.10.2022) und erhalten weniger Remissen (Sahan 24.10.2022; vergleiche SPC 9.2.2022). Die mächtigen Gruppen erhalten den Löwenanteil an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird (Sahan 24.10.2022). Dementsprechend stehen Haushalte, die einer Minderheit angehören, einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u.a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (UNOCHA 14.3.2022).

Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).

Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt (BS 2022, Sitzung 19; vergleiche ÖB 11.2022 Sitzung 6). Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet (DI 6.2019, Sitzung 11; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Al Shabaab hat sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Gruppen zunutze gemacht (Sahan 24.10.2022). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022). Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab beitreten (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Missstände treiben ganze Gemeinden in die Arme von al Shabaab. Sie suchen ein taktisches Bündnis – haben dabei aber keine dschihadistische Vision, sondern wollen ihre Rivalen ausstechen. Al Shabaab nimmt derartige Spannungen gerne auf und verwendet sie für eigene Zwecke (Sahan 30.9.2022). Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (ÖB 11.2022, Sitzung 4f).

Bevölkerungsstruktur

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar (AA 28.6.2022, Sitzung 11/14). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UNOCHA 14.3.2022; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44; vergleiche SEM, 31.5.2017, Sitzung 12). Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, Sitzung 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 5).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2022, Sitzung 34). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017, Sitzung 8).

Die sogenannten "noblen" Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:

●             Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

●             Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

●             Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

●             Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.

●             Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 10). Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (BS 2020, Sitzung 9).

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017, Sitzung 25). In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (FIS 7.8.2020, Sitzung 38ff).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LI 4.4.2016, Sitzung 9). Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (BS 2022, Sitzung 25).

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

[...]

Ethnische Minderheiten, aktuelle Situation

Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums (SEM 31.5.2017, Sitzung 11). Die soziale Stellung der einzelnen ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich (SEM 31.5.2017, Sitzung 14). Sie werden aber als minderwertig (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44) und mitunter als Fremde erachtet (SPC 9.2.2022). So können Angehörige ethnischer Minderheiten auf Probleme stoßen - bis hin zu Staatenlosigkeit - wenn sie z. B. in einem Flüchtlingslager außerhalb Somalias geboren wurden (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Generell sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt, wie dies Anfang der 1990er der Fall war (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Dies gilt auch für Mogadischu. Allerdings sind dort all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, Sitzung 3). In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (UNFPA/DIS 25.6.2020).

Nach anderen Angaben drohen ethnischen Minderheiten Stigmatisierung, soziale Absonderung, Verweigerung von Rechten und ein niedriger sozialer, ökonomischer und politischer Status (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44), Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ressourcen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v. a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig wie für die Älteren (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff).

Die Bantu sind die größte Minderheit in Somalia (SEM 31.5.2017, Sitzung 12f; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 41). Es gibt zahlreiche Bantu-Gruppen bzw. -Clans, wie z. B. Gosha, Makane, Kabole, Shiidle, Reer Shabelle, Mushunguli, Oji oder Gobaweyne; pejorativ werden sie auch Adoon (Sklaven) oder Jareer (Kraushaar) genannt. Traditionell leben sie als sesshafte Bauern in den fruchtbaren Tälern der Flüsse Juba und Shabelle (SEM 31.5.2017, Sitzung 12f; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Von den ca. 900.000 IDPs, die sich im Großraum Mogadischu aufhalten (Stand 2020), sind rund 700.000 Bantu (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff).

Die Bantu werden überall in Somalia rassistisch stigmatisiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25) und diskriminiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 25; vergleiche BS 2022, Sitzung 9; USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; GIGA 3.7.2018). Die meisten Somali schauen auf die sesshaften Bantu, die zum Teil einst als Sklaven ins Land gekommen waren, herab (SEM 31.5.2017, Sitzung 14; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Sie sind das dramatischste Beispiel für die Schlechterbehandlung durch dominierende Gruppen (Sahan 30.9.2022) und werden als Bürger zweiter Klasse erachtet (BS 2022, Sitzung 9) und befinden sich am untersten Ende der Gesellschaft (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 9f). Auch in IDP-Lagern werden sie diskriminiert, Bantu-Frauen mangelt es dort an Schutz durch die traditionelle Clanstruktur (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche LIFOS 19.6.2019, Sitzung 8). 80 % der Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt finden sich unter ihnen (FIS 7.8.2020, Sitzung 42ff). Überhaupt befinden sich Bantu in einer vulnerablen Situation, da zuvor bestehende Patronageverhältnisse (welche Schutz gewährleisteten) im Bürgerkrieg erodiert sind. Dadurch haben Bantu heute kaum Zugang zum Xeer (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 9f). Bantu sind besonders schutzlos (ÖB 11.2022, Sitzung 4; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 42). Andererseits sind einige Bantu-Gruppen mit lokal mächtigen Clans Allianzen eingegangen, um sich dadurch zu schützen (FIS 7.8.2020, Sitzung 44).

Mischehen werden stigmatisiert (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 7). Im September 2018 wurde ein Bantu in Mogadischu in Zusammenhang mit einer Mischehe getötet. Allerdings war dies ein sehr außergewöhnlicher Vorfall, über welchen viele Somali ihre Entrüstung äußerten (NLMBZ 3.2019, Sitzung 43). Al Shabaab hingegen hat zahlreiche Kinder der Bantu entführt oder zwangsrekrutiert. Trotzdem genießt die Gruppe bei dieser Minderheit größere Unterstützung (LIFOS 19.6.2019, Sitzung 7ff). Die meisten Fußsoldaten von al Shabaab, die aus Middle Shabelle stammen, gehören zu Gruppen mit niedrigem Status – etwa zu den Bantu. Al Shabaab hat diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (Ingiriis 2020).

Einem Bericht zufolge sind aus den USA deportierte somalische Bantu - manchmal schon am Flughafen in Mogadischu - von Bewaffneten entführt worden, um Lösegeld zu erpressen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Benadiri ist ein Dachbegriff für verschiedene voneinander unabhängige urbane Minderheiten, die in den Küstenstädten des Südens leben (z. B. Mogadischu, Merka, Baraawe) und sich traditionell im Handel betätigen. Sie haben eine gemischte Abstammung aus Somalia, Arabien, Persien, Indien und Portugal (SEM 31.5.2017, Sitzung 13f; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57). Vor 1991 hatten sie einen privilegierten Status. Ohne bewaffnete Miliz waren sie im Bürgerkrieg aber schutzlos. Heute werden Benadiri gemeinhin als Händler respektiert (SEM 31.5.2017, Sitzung 13f). In Mogadischu stellen die Benadiri die zweitgrößte Minderheitengruppe. Einige von ihnen haben es geschafft, reich zu werden (FIS 7.8.2020, Sitzung 41ff). Im Gegensatz zu den Bantu kommt ihnen kein geringerer Status zu, Mischehen sind kein Problem (LI 14.6.2018, Sitzung 17). Auch von Sicherheitsproblemen wird (in Mogadischu) nicht berichtet (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 45). Vielen Reer Xamar (Teil der Benadiri) ist es gelungen, ihre vormaligen Immobilien im Bezirk Xamar Weyne (Mogadischu) durch Zahlungen zurückzuerhalten. Dort stellen sie auch die Bevölkerungsmehrheit (LI 21.5.2019b, Sitzung 2f).

Die Bajuni sind ein kleines Fischervolk, das auf den Bajuni-Inseln im Süden Somalias sowie in Kismayo (SEM 31.5.2017, Sitzung 14; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57) aber auch entlang der kenianischen Küste bis Lamu lebt. Der UNHCR zählt die Bajuni zu den Benadiri (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 57).

Kinder von Mischehen der al-Shabaab: Einige somalische Mädchen und Frauen haben ausländische Kämpfer (z.B. aus Europa, USA, Asien) der al Shabaab geheiratet. Die aus solchen Ehen hervorgegangenen Kinder sind teils leicht zu identifizieren (ICG 27.6.2019, Sitzung 9).

[...]“.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Soweit in der gegenständlichen Entscheidung Feststellungen zum Namen sowie zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers getroffen wurden, beruhen diese auf den Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung Sitzung 6 der Niederschrift der Verhandlung). Der Beschwerdeführer hat kein Identitätsdokument vorgelegt. Diese Feststellungen gelten somit ausschließlich für die Identifizierung des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Clan- und Religionszugehörigkeit, zum Familienstand, zur Herkunft, zu den Sprachkenntnissen, zur Schulbildung und Berufserfahrung des Beschwerdeführers sowie zu dem Aufenthaltsort und den Lebensumständen seiner Familienangehörigen sowie dem derzeit bestehenden Kontakt mit diesen stützen sich auf seine diesbezüglich glaubhaften sowie gleichbleibenden Angaben im gesamten Verfahren vergleiche etwa Sitzung 6ff der Niederschrift der Verhandlung), auf die Kenntnis und Verwendung der Sprache Somali sowie auf die Kenntnis der geografischen Gegebenheiten Somalias.

Das Datum der Antragstellung ergibt sich ebenso wie die Gewährung subsidiären Schutzes aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer gesund ist, stützt sich auf seine Angaben in der mündlichen Verhandlung Sitzung 5 der Niederschrift der Verhandlung). Die Feststellung der Arbeitsfähigkeit stützt sich insbesondere auf den Umstand, dass eine Arbeitsunfähigkeit nicht behauptet wurde und auch sonst im Verfahren nicht hervorgekommen ist.

Die Feststellung zur Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus einer Einsichtnahme in das Strafregister.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Das Vorbringen des Beschwerdeführers, einerseits von Al Shabaab und andererseits von der Familie seiner Freundin verfolgt zu werden, sowie dass ihm deswegen in Somalia eine individuelle und konkrete Verfolgung drohe, ist aus nachstehenden Gründen nicht glaubhaft.

Der Beschwerdeführer brachte bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen vor, Somalia wegen Al Shabaab verlassen zu haben. Al Shabaab habe nach der Telefonnummer von seinem Arbeitskollegen und ihm verlangt sowie gefordert, dass sie am nächsten Tag eine Arbeit für Al Shabaab – nämlich „Sachen“ zur Polizeistation bringen – erledigen müssten. Da sein Kollege und er dies nicht machen hätten wollen, hätten sie am nächsten Morgen angegeben, krank zu sein; aufgrund dessen sei ihnen gedroht worden. Am nächsten Tag sei der Beschwerdeführer nach dem Freitagsgebet in ein Lokal gegangen, wo er seien Kollegen und seinen Onkel angetroffen habe. Sein Kollege habe seinem Onkel die Geschehnisse erzählt. Als der Beschwerdeführer aufgestanden sei, um die Toilette aufzusuchen, habe er Schüsse gehört und gesehen, dass sein Onkel und sein Kollege erschossen worden seien. Infolgedessen sei er nach Mogadischu gereist, dort sei ihm von Freunden seines Vaters ein Reisepass besorgt worden.

Die freie Erzählung der Fluchtgründe des Beschwerdeführers war zwar jeweils relativ ausführlich, jedoch sind seinen Ausführungen kaum konkrete Details zu entnehmen. Auch auf Nachfrage war der Beschwerdeführer sowohl in der mündlichen Verhandlung als auch während der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wiederholt nicht in der Lage, detailliertere Angaben zu seinem Vorbringen zu machen und waren seine Antworten vielfach oberflächlich. Auffallend war zudem, dass die wenigen Details, die in den Ausführungen des Beschwerdeführers enthalten waren, nicht übereinstimmten und er diese im Rahmen der mündlichen Verhandlung zum ersten Mal erwähnte.

So führte er vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Zuge seiner freien Erzählung aus, er und sein Arbeitskollege seien von zwei Männern aufgefordert worden, am nächsten Tag um 8 Uhr zur Moschee zu kommen, um Sachen zur Polizeistation zu liefern. Diesbezüglich hätte er um 7:30 Uhr einen Anruf erhalten, diesen jedoch verpasst; den zweiten Anruf habe er entgegengenommen und es sei ihm gesagt worden, dass er um 8 Uhr bei der Moschee sein müsse (AS 64). Im Rahmen seiner freien Erzählung während der mündlichen Verhandlung brachte er in diesem Zusammenhang jedoch Folgendes vor: „Sie sagten, wir müssen unsere Telefonnummer hergeben, damit sie uns morgen um 8:00 Uhr anrufen.“ Sitzung 11 der Niederschrift der Verhandlung). In der Beschwerde wurde schließlich von 8:30 Uhr als Zeitpunkt für die Abholung der Sachen gesprochen (AS 278).

Auch hinsichtlich der Geschehnisse am folgenden Tag verstrickte sich der Beschwerdeführer in Widersprüche. Während er in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Folgendes angab: „Am nächsten Tag bin ich in die Moschee gegangen. Nach dem Freitagsgebet habe ich von meinem Kollegen römisch 40 einen Anruf erhalten. Er fragte, wo ich bin. Ich sagte, in der Moschee. Er sagte, ich solle zu ihm kommen.“ (AS 64), führte er in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht Nachstehendes aus: „Nach dem Mittagsgebet habe ich mit meinem Freund telefoniert und gefragt, wo er sich aufhält. Er sagte auch, dass er in der Moschee ist. Ich habe zu ihm gesagt, er soll nach draußen kommen. Wir sind zu einem Teehaus gegangen, das war gegenüber.“ Sitzung 12 der Niederschrift der Verhandlung).

Insbesondere ein weiteres fluchtauslösendes Ereignis konnte der Beschwerdeführer zudem nicht unwidersprüchlich und nachvollziehbar darlegen. Einerseits brachte der Beschwerdeführer in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vor, dass er – als er Hände gewaschen habe – plötzlich einen Schuss gehört habe und sein Onkel seinen Namen geschrien hätte. Sein Onkel und sein Kollege seien angeschossen worden, er selbst sei beim Hinterausgang hinaus und man habe in seine Richtung geschossen (AS 64). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht schilderte der Beschwerdeführer sodann, er habe Waffengeräusche und seinen Onkel seinen Namen schreien gehört; als er nach draußen gekommen sei, habe er seinen Onkel und seinen Freund am Boden liegen sehen und diese Männer seien auf seinem Onkel gestanden. Er sei dann durch die Hintertür weggelaufen Sitzung 12 der Niederschrift der Verhandlung). So ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Onkel des Beschwerdeführers seinetwegen erschossen worden sein soll. Befragt dazu gab er vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als Grund an, dass der Onkel seinen Namen gerufen habe (AS 65). Nach den Erzählungen des Beschwerdeführers sowohl vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als auch vor dem Bundesverwaltungsgericht habe er jedoch zuerst die Schüsse und anschließend seinen Namen schreien gehört, weshalb sich der Ablauf der Geschehnisse mit diesen Ausführungen nicht plausibel erklären ließ.

Auch war es dem Beschwerdeführer auf (wiederholte) Nachfrage nicht möglich zu erklären, ob er die genannten Männer gesehen habe, da er in der mündlichen Verhandlung erstmals vorbrachte, er habe die Männer auf seinem Onkel stehen sehen. Die diesbezügliche Frage verneinte er jedoch in weiterer Folge wieder. Überdies konnte der Beschwerdeführer nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich bei den Männern, für welche er etwas in die Polizeistation bringen hätte sollen, um Al Shabaab-Mitglieder gehandelt habe; er führte lediglich aus, dass anhand von dem, was sie gesagt hätten, eindeutig gewesen sei, dass sie von Al Shabaab seien; sonst würde dies niemand machen Sitzung 12f der Niederschrift der Verhandlung).

Der Beschwerdeführer steigerte sein Vorbringen auch dahingehend, dass bei jeder Einvernahme neue Umstände zu seinem Fluchtvorbringen hinzukamen. Während er bei der Erstbefragung angab, keine Kinder zu haben und ledig zu sein (AS 21 und 25), brachte er bei der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vor, dass er geschieden sei und einen minderjährigen Sohn habe (AS 62). Auch in der Beschwerde wird wiederholt angegeben, dass der Beschwerdeführer nach seiner heimlichen Heirat nunmehr geschieden sei (AS 278). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht führte der Beschwerdeführer sodann aus, dass er seit 2019 eine Freundin gehabt habe und diese von ihm schwanger geworden sei; sie seien nicht verheiratet gewesen. Als die Freundin ihrer Familie davon erzählt habe, hätten ihr Vater und ihr Bruder den Beschwerdeführer für ca. eine Woche in einem Zimmer eingesperrt. Anschließend habe man ihn unter der Bedingung, dass ihn sein Vater aus der Stadt bringe und das Kind nach der Geburt zu der Familie des Beschwerdeführers komme, freigelassen; dem habe der Vater des Beschwerdeführers zugestimmt Sitzung 7, 14 und 16 der Niederschrift der Verhandlung).

Dass dem Beschwerdeführer aus den soeben angeführten Gründen in Somalia eine individuelle und konkrete Verfolgung droht, ist aus nachstehenden Gründen jedoch nicht glaubhaft.

Zunächst ist auszuführen, dass er diesen vermeintlichen Fluchtgrund sowohl in der Erstbefragung als auch in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen mit keinem Wort erwähnte. Der in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht auf entsprechende Nachfrage unternommene Erklärungsversuch („Ich habe angefangen, das zu erzählen und man hat mich gestoppt“, Sitzung 14 der Niederschrift der Verhandlung) vermag nicht zu überzeugen. Überdies scheint das Vorbringen vor folgendem Hintergrund gänzlich unplausibel: Der Beschwerdeführer gab in der mündlichen Verhandlung an, dass seine Freundin im Juni 2019 schwanger geworden sei Sitzung 15 der Niederschrift der Verhandlung), somit ungefähr im März 2020 das Kind bekommen haben müsste. Nach diesen Ausführungen wäre das Kind aktuell drei Jahre alt. Der Beschwerdeführer brachte zudem vor, bis August 2021 in Merka gelebt und somit die Stadt nicht sofort verlassen zu haben Sitzung 10 und 16 der Niederschrift der Verhandlung). Angesichts der Tatsache, dass der Beschwerdeführer weitere eineinhalb Jahre nach der Geburt seines Sohnes in derselben Stadt wohnte, kann eine aktuelle, individuelle Verfolgung bzw. Bedrohung durch die Familie seiner Freundin verneint werden, zudem er auch angab, sich erst im Juli 2021 von seiner Freundin getrennt zu haben Sitzung 7 der Niederschrift der Verhandlung).

Der Beschwerdeführer brachte überdies erstmals in der Beschwerde vor, aufgrund seiner Clanzugehörigkeit ständig beleidigt und gedemütigt worden zu sein (AS 278). In der mündlichen Verhandlung führte er dazu aus, dass er aufgrund der Diskriminierungen nur kurz die Schule besuchen habe können, verneinte dann jedoch die Frage, ob er sonst noch in irgendeiner Form diskriminiert worden sei Sitzung 8f der Niederschrift der Verhandlung). Diesbezüglich ist anzumerken, dass sich weder aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers noch aus den Länderberichten eine aktuelle asylrelevante Gefährdung des Beschwerdeführers ergibt. Den Länderberichten ist zu entnehmen, dass Angehörige der Minderheitenclans in Somalia nach wie vor gesellschaftlicher Diskriminierung und Schikane unterliegen. Im Gegensatz zu anderen Minderheitenclans kommt Angehörigen der Benadiri jedoch kein geringerer Status zu, auch Mischehen sind kein Problem.

In einer Gesamtschau der dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen sowie unter Berücksichtigung des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Beschwerdeverhandlung konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen, dass ihm durch Al Shabaab oder wegen der vorgebrachten Liebesbeziehung eine aktuelle asylrelevante Verfolgung droht.

Die Feststellung, wonach das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit nicht konkret vorgebracht wurde und Hinweise für eine solche Verfolgung auch amtswegig nicht hervorgekommen sind, ergibt sich aus der Aktenlage, insbesondere aus der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der durchgeführten mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer keine Hinweise auf das Vorliegen einer solchen Verfolgung vorgebracht hat bzw. nicht einmal ein Hinweis auf eine solche amtswegig zu ersehen war.

Dass der Beschwerdeführer nach wie vor über Anknüpfungspunkte in seiner Heimat verfügt sowie die Feststellungen zu diesen ergeben sich aus seinen diesbezüglichen Angaben während des gesamten Verfahrens (siehe dazu auch bereits oben).


2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht (wesentlich) geändert haben.

Dem Beschwerdeführer wurde in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme zu den Länderberichten eingeräumt; er ist diesen nicht entgegengetreten.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Die Beschwerde ist rechtzeitig und zulässig.

3.2. Zu A) Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:

Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zuge-hörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde vergleiche vergleiche VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 mwN). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 06.09.2018, Ra 2017/18/0055; vergleiche auch VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100, mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Herkunftsstaates bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Herkunftsstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr vergleiche VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss vergleiche etwa VwGH 25.09.2018, Ra 2017/01/0203; 26.06.2018, Ra 2018/20/0307, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Herkunftsstaat des Betroffenen aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren vergleiche etwa VwGH 12.06.2018, Ra 2018/20/0177; 19.10.2017, Ra 2017/20/0069). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist vergleiche VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaft-machung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinne der ZPO zu verstehen. Es genügt daher, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, das heißt er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, Paragraph 45,, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden Verwaltungsgerichtes vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom Verwaltungsgericht nicht getroffen werden (VwGH 28.06.2016, Ra 2018/19/0262; vergleiche auch VwGH 18.11.2015, Ra 2015/18/0237-0240, mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl begründete die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer keine (drohende) Verfolgung aus Gründen der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht habe. Mit dieser Beurteilung ist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – wie beweiswürdigend dargelegt – im Ergebnis im Recht. Der Beschwerdeführer verfügt weiters in Somalia über Anknüpfungspunkte in Form von Familienangerhörigen.

Da sich aus den Verfahrensergebnissen auch sonst keine konkrete gegen den Beschwerdeführer gerichtete (drohende) Verfolgung in seinem Herkunftsstaat ableiten ließ, ist die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.

3.3. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel vergleiche z.B. VwGH 30.08.2018, Ra 2018/21/0149, mwN).

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2023:W275.2264057.1.00