Bundesverwaltungsgericht
20.02.2023
L504 2208114-2
L504 2208114-2/33E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 geb., StA. Türkei, vertreten durch Verein ZEIGE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.05.2019, Zl. 556952109-180396987, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrenshergang
Die beschwerdeführende Partei [bP] stellte am 25.04.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Es handelt sich dabei um einen Mann, welcher seinen Angaben nach Staatsangehöriger der Türkei und Atheist ist, der Volksgruppe der Kurden angehört und aus dem Dorf römisch 40 in Araban stammt.
Aus dem unbestritten gebliebenen Verfahrensgang des angefochtenen Bescheides ergibt sich im Wesentlichen Folgendes:
„(…)
- Am 10.06.2011 beantragten Sie erstmalig einen Aufenthaltstitel für das österreichische Bundesgebiet.
- Am 24.02.2012 wurde Ihnen vom Magistrat der Stadt Wien (MA35) ein bis zum 01.09.2012 befristeter Aufenthaltstitel ausgestellt.
- Am 28.02.2012 wurde Ihnen von der Österreichischen Botschaft in Ankara ein Visum D zur Abholung eines Aufenthaltstitels ausgestellt und war dieses von 28.02.2012 bis zum 27.06.2012 gültig.
- Aufgrund dieses Visums war es Ihnen möglich, legal in das österreichische Bundesgebiet einzureisen. Die Ausreise aus Ihrem Heimatland Türkei erfolgte ebenfalls legal und gestaltete sich ohne Schwierigkeiten.
- Sowohl am 02.09.2012, als auch am 03.09.2013 und am 13.04.2017 wurden Ihre Aufenthaltstitel vom Magistrat der Stadt Wien (MA35) verlängert und war Ihr letzter Aufenthaltstitel bis zum 13.07.2017 gültig.
- Erst nachdem Ihr letzter Aufenthaltstitel keine Gültigkeit mehr besaß und Ihr Erstantrag auf Ausstellung einer „Aufenthaltskarte (Angehöriger eines EWR- oder Schweizer Bürgers)“ mit Bescheid vom 14.08.2017 zurückgewiesen wurde, stellten Sie am 25.04.2018 Ihren Antrag auf internationalen Schutz.
- Im Zuge Ihrer Erstbefragung gaben Sie am 25.04.2018 vor Sicherheitsbeamten der LPD befragt nach Ihren Fluchtgründen Folgendes an:
„Mein Asylgrund ist der Umstand, dass ich keinen Militärdienst leisten will. Da ich Kurde bin, würde man mich in ein Kurdengebiet senden. Ich will aber nicht auf meine Brüder schießen. Außerdem wurde ich unterdrückt, weil ich Atheist bin und zur Fastenzeit nicht gefastet habe. Da ich nicht bete und faste, falle ich als Ungläubiger auf. Ich wurde immer wieder gefragt warum ich den Glauben nicht nachgehe. Auch fühle ich mich dort nicht sicher und meine Familie wollte meinen Nichtglauben nicht akzeptieren und mich zwangsverheiraten. Ich habe hiermit all meine Asylgründe genannt und weshalb ich das Land verlassen habe und hier her nach Österreich gekommen bin. Es gibt keine weiteren Gründe“.
Bezüglich Ihrer Rückkehrbefürchtungen gaben Sie im Rahmen Ihrer Erstbefragung Folgendes an:
„Dass ich zum Militärdienst einrücken muss.“
- Sowohl Ihrer Ladung vom 04.07.2018 als auch vom 26.07.2018 blieben Sie unentschuldigt fern.
- Erst Ihre dritte Ladung zur asylrechtlichen Einvernahme, die Sie mittels Ladungsbescheids erhalten haben, nahmen Sie wahr. Folglich wurden Sie am 20.08.2018 von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, unter Teilnahme eines beeideten Dolmetschers für die Sprache Türkisch, einvernommen. Die wesentlichen Passagen dieser Einvernahme gestalteten sich dabei folgendermaßen:
[…]
F: Welche Religionszugehörigkeit haben Sie?
A: Ich bin ohne Bekenntnis; Atheist.
F: Wie lange sind Sie schon ohne Bekenntnis?
A: Seit ungefähr vier Jahren.
F: Was gab den Ausschlag dafür, dass Sie keinen Glauben mehr haben?
A: Aufgrund der Tatsache, dass die IS-Kämpfer in Syrien wegen der Religion andere Menschen töten. An so etwas glaube ich nicht.
F: Waren Sie davor gläubig?
A: Ja. Normal.
F: Wer weiß davon Bescheid, dass Sie keinen Glauben mehr haben?
A: Niemand.
F: Sind Ihre Eltern streng gläubig?
A: Jetzt, ja, früher nicht.
F: Was meinen Sie damit? Seit wann sind sie strenger gläubig?
A: Wir haben telefonischen Kontakt. Ich merke aufgrund der Gespräche, dass sie jetzt strenger gläubig sind.
F: Seit wann sind Ihre Eltern strenger gläubig?
A: Seitdem ich in Österreich bin.
F: Was gab den Ausschlag dafür, dass Ihre Eltern strenger gläubig sind?
A: Seit kurzer Zeit will die Türkei dem Scharia-Gesetz mehr Beachtung schenken. Auch meine Eltern wurden streng gläubiger.
[…]
F: Gab es Probleme bei Ihrer Ausreise?
A: Nein. Ich reiste legal mit Visum aus der Türkei aus.
Vorhalt: Sie sind seit dem Jahr 2013 im österreichischen Bundesgebiet aufhältig, aber stellten erst im Jahr 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz, obwohl Sie seit über 5 Jahren nicht mehr in der Türkei aufhältig sind. Wie erklären Sie sich das denn?
A: Am Anfang war ich sowieso legal in Österreich und hatte das Studentenvisum. Dann konnte ich das Visum verlängern. Ich wollte nicht illegal in Österreich bleiben und suchte um Asyl an, nachdem der Aufenthaltstitel abgelaufen war.
[…]
FLUCHTGRUND:
F: Nennen Sie mir nun bitte all Ihre Fluchtgründe so detailliert und konkret wie möglich?
A: Ich möchte nicht zum Militärdienst gehen. Falls ich in die Türkei zurückkehre, muss ich den Wehrdienst antreten. Ich möchte keine Waffe in die Hand nehmen und auf Menschen schießen. Ich habe Angst, dass ich getötet werde, wenn ich den Militärdienst antrete. Sie werden mich an die Front bringen.
Der zweite Grund ist wegen der Religion. Wenn ich in die Türkei zurückkehre, muss ich das machen, was die Eltern verlangen. Ich möchte den Islam aber nicht streng ausleben. In meinem Dorf kennt sich ein jeder. Ich fühle mich in Österreich frei, in der Türkei nicht. Mir gefällt Österreich sehr gut. In Österreich gibt es Menschenrechte. Man kann frei leben.
F: Wurden Sie in der Türkei bereits persönlich bedroht?
A: Ja.
Auff: Schildern Sie mir diese Bedrohung so genau wie möglich, mit allen Details und Emotionen!
A: Im Jahr 2007 wurde ich beschuldigt, dass ich den Sprit der Tankstelle inoffiziell verkaufe. Es wurde nach Beweisen gesucht und haben sie das Geschäft durchsucht. Es waren Zivilpolizisten.
F: Weshalb kam der Verdacht auf, dass Sie illegal Sprit verkaufen?
A: Ich hatte Flaggen der HDP aufgehängt gehabt. Ich habe einen HDP-Abgeordneten kennengelernt und habe ich danach diese Flaggen aufgehängt. So wurde gesehen, dass ich die HDP unterstütze und wurde ich deshalb unterdrückt, indem ich deswegen beschuldigt wurde.
F: Was war das Ergebnis der Ermittlungen gegen Sie? A: Es wurde nach Beweisen gesucht, aber wurde nichts gefunden. Ich wurde jedoch für 3, 4 Stunden festgehalten bzw. wurde die Tankstelle nach Beweisen durchsucht und wurde ich während dieser Zeit beobachtet.
F: Was passierte im Laufe dieser Zeit?
A: Die Tankstelle wurde nach Beweisen durchsucht, es wurde aber nichts gefunden. Solch Durchsuchung fand noch zwei weitere Male statt, jedoch wurde nie etwas gefunden, weshalb mir nie etwas vorgeworfen werden konnte. Mir ist nichts passiert.
F: Wurden Sie jemals aufgrund Ihrer Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit bedroht?
Anmerkung: VP überlegt länger.
A: Im Jahr 2009 war ich mit meinem Bruder in einem anderen Dorf. Dort wollten wir arbeiten gehen. Sie haben uns als Terroristen beschimpft und meinten, dass wir Feinde wären.
Vorhalt: Werden Sie konkreter!
A: Ich wurde von türkischen Bewohnern beschimpft. Sie schimpften uns, weil wir Kurden sind.
F: Was passierte dann?
A: Nichts. Ich bin weggegangen. Ich wollte nicht streiten.
F: Haben Sie den Grundwehrdienst abgeleistet in der Türkei?
A: Nein.
F: Wie war es Ihnen möglich, so lange in der Türkei zu leben, ohne den Grundwehrdienst abzuleisten?
A: Den Grundwehrdienst konnte ich stets verschieben.
Vorhalt: Den Wehrdienst muss jeder türkische Staatsbürger antreten. Wieso sollten gerade Ihnen etwas schlimmeres als den anderen Grundwehrdienern drohen?
A: Weil ich Kurde bin.
F: Gibt es weitere Gründe, die dafür sprechen, dass Ihnen etwas schlimmeres als den anderen droht?
A: Nein, nur weil ich Kurde bin.
F: Sie meinten, dass Sie nicht in die Türkei zurückkehren können, weil Sie in der Türkei machen müssen, was Ihre Eltern gerne möchten. Sie sind doch mit 28 Jahren ein Mann, der selbst Entscheidungen treffen kann und müssen Sie nicht mehr bei Ihren Eltern leben.
A: Mir ist lieber in Österreich zu leben. Hier habe ich keine Probleme. Österreich ist im Vergleich zur Türkei schöner und sicherer.
F: Was spricht beispielsweise gegen eine Rückkehr nach Istanbul oder Ankara?
A: In der Türkei gibt es überall streng gläubige.
F: Weswegen sollten Sie Probleme bekommen?
A: Wenn herausgefunden wird, dass ich nicht in die Moschee gehe, kann ich Probleme bekommen.
F: Wurden Sie jemals geschlagen oder gefoltert?
A: Nein.
F: Haben Sie weitere Fluchtgründe?
A: Nein. Ich habe keinen weiteren Fluchtgrund.
F: Waren Sie oder Familienangehörige Ihrerseits jemals militärisch, politisch oder religiös aktiv?
A: nein.
F: Was befürchten Sie im Falle der Rückkehr in die Türkei?
A: Sie werden mich sofort festnehmen und zum Militärdienst bringen. Ich habe Angst beim Militär getötet zu werden.
[…]
- Am 25.09.2018 wurde Ihr Antrag auf internationalen Schutz von der ha. Behörde gemäß Paragraph 3,, Paragraph 8, sowie Paragraph 57, abgewiesen und wurde gegen Sie gemäß Paragraph 10, BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG erlassen. Darüber hinaus wurde Ihre Abschiebung in die Türkei gemäß Paragraph 46, FPG für zulässig erklärt und Ihnen gemäß Paragraph 55, FPG eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt.
- Diese Entscheidung wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.11.2018 behoben und die Angelegenheit gemäß Paragraph 28, Absatz 3, VwGVG an die ha. Behörde zurückverwiesen. Im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts wurde bemängelt, dass sich die ha. Behörde im erlassenen Bescheid zu den relevanten Themen, wie Ableistung des Militärdienstes bzw. Wehrersatzdienst bzw. Wehrdienstverweigerung, ethnischen Minderheiten, insbesondere der Kurden sowie der Abkehr vom Islam bzw. einer lockeren Handhabung des islamischen Glaubens vor dem Hintergrund streng gläubiger Eltern und Dorfbewohnern, auf Berichte zum Herkunftsstaat stütze, die im Wesentlichen aus den Jahren 2014, 2015 und 2016 stammen, weswegen diese zur Beurteilung für den Fall der gedachten Rückkehr als nicht geeignet eingestuft wurden.
- Am 11.12.2018 wurden Sie vom Bezirksgericht Mödling gemäß Paragraphen 117, (1), 117 (4) FPG (Eingehen und Vermittlung von Aufenthaltsehen und Aufenthaltspartnerschaften) sowie gemäß Paragraph 293, (2) StGB (Fälschung eines Beweismittels) rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen zu je 4 Euro (800,00 Euro) im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt.
- Am 07.02.2019 wurde eine Anfrage an die Staatendokumentation zum Thema „Diskriminierung bei Apostasie oder Nicht-Einhaltung des Ramadan“ gestellt. Die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation langte am 25.02.2019 bei der ha. Behörde ein.
- Am 28.02.2019 wurden Sie zu einer asylrechtlichen Einvernahme von der ha. Behörde geladen, doch blieben Sie dieser Ladung unentschuldigt fern.
- Am 21.03.2019 wurden Sie erneut zu einer asylrechtlichen Einvernahme geladen, doch blieben Sie auch dieser Ladung unentschuldigt fern.
- Da Sie die Ladungen zu Ihrer asylrechtlichen Einvernahme nicht wahrnahmen, wurde Ihnen eine Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme mit der Bitte um Beantwortung der sich darin gestellten Fragen übermittelt, welches am 28.03.2019 in einer Abgabeeinrichtung hinterlegt wurde.
- Am 16.04.2019 langte die Stellungnahme Ihrer rechtlichen Vertretung zu dem Ihnen zugestellten Ergebnis der Beweisaufnahme ein.
- Mit Verfahrensanordnung vom heutigen Tag wurde Ihnen ein Rechtsberater gemäß Paragraph 52, BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
(…)“
Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom Bundesamt (bB) gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt.
Gem. Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen.
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG wurde nicht erteilt.
Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde gegen die bP gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß Paragraph 46, FPG zulässig sei.
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Gemäß Paragraph 53, Absatz 1 i.V.m. Absatz 2, Ziffer 8, Fremdenpolizeigesetz wird ein auf die Dauer von 5 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ebenso ergebe sich aus allgemeinen Lage im Herkunftsstaat keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende bzw. reale Gefährdung der bP. Abschiebungshindernisse lägen demnach nicht vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen seien nicht gegeben. Ein die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung übersteigendes Privat- und Familienleben würde nicht vorliegen und wurde daher eine Rückkehrentscheidung verfügt. Die bP wurde wegen des Eingehens einer Aufenthaltsehe sowie Urkundenfälschung rechtskräftig verurteilt und sei deshalb ein Einreiseverbot zu verhängen.
Die gegen diesen Bescheid fristgerecht erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 04.11.2019, GZ: L504 2208114-2/3E, als unbegründet abgewiesen.
Darin schloss sich das erkennende Gericht den Feststellungen und der Beweiswürdigung des Bundesamts an, zumal die Beschwerde weder eine wesentliche Unschlüssigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung aufzuzeigen vermocht habe, noch dieser im Rahmen der Anfechtungsbegründung in substantiierter Form entgegengetreten sei.
Mit Erkenntnis vom 05.03.2020, E 4422/2019-13, hob der Verfassungsgerichtshof (VfGH) das Erkenntnis des BVwG vom 04.11.2019, GZ: L504 2208114-2/3E, auf und führte begründend aus, dass das BVwG keine eigenen Länderfeststellungen getroffen habe, es den Ausführungen zur Unglaubwürdigkeit der bP an eigenständigem Begründungswert fehle und sich die Entscheidung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unzureichend und nicht nachvollziehbar erweise, da die Begründungstechnik, einerseits ausschließlich auf die verwaltungsbehördliche Begründung zu verweisen und andererseits der Beschwerde fehlende Substanz zu unterstellen, auf eine bloße Plausibilitätskontrolle hinauslaufe.
Mit Schriftsatz vom 02.11.2022 wurden den Parteien vom BVwG im Rahmen des Parteiengehörs Berichte übermittelt, die das Verwaltungsgericht zur Beurteilung der aktuellen asyl- und abschiebungsrelevanten Lage zugrunde legt und wurde zur Stellungnahme binnen einer Frist von 2 Wochen aufgefordert.
Weder die bP noch die bB brachten eine schriftliche Stellungnahme ein.
Mit Schriftsatz vom 25.11.2022 legte die bP diverse integrationsbegründende Unterlagen vor.
Am 12.12.2011 fand eine mündliche Verhandlung in Anwesenheit der bP sowie im Beisein ihres bevollmächtigten Vertreters statt. Das Bundesamt blieb der Verhandlung fern.
Mit Schriftsatz vom 23.12.2022 legte die bP die Kopie eines Schreibens des Dorfvorstehers ihres Heimatsdorfs über die Nichtableistung ihres Wehrdiensts vor.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde sowie durch die Ergebnisse des ergänzenden Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben.
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1. Identität und Herkunftsstaat:
Name und Geburtsdatum (wie im Einleitungssatz des Spruches angeführt) stehen (lt. Bundesamt) fest. Da dem BVwG selbst keine nationalen, mit Lichtbild versehenen Identitätsdokumente im Original vorlagen, kann mangels Überprüfbarkeit, seitens des BVwG dazu keine eigene Feststellung getroffen werden.
Die bP bezeichnet sich der Volksgruppe der Kurden zugehörig. Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP tatsächlich nicht mehr dem islamischen Glauben angehörig ist. Sie ist ledig, kinderlos und hat keine Sorgepflichten.
Ihre Staatsangehörigkeit und der hier der Prüfung zugrundeliegende Herkunftsstaat ist die Türkei.
1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise:
Die bP ist im Dorf römisch 40 in Araban, Provinz Gaziantep, geboren und absolvierte dort ihre Schulbildung.
Sie wohnte bis zu ihrer Ausreise im Haus ihrer Eltern im Dorf römisch 40 in Araban.
Die bP hat 5 Jahre lang die Grundschule und 6 Jahre lang das Gymnasium besucht. 2009 studierte sie 2 Semester lang an der Universität in Gaziantep Kommunikationswissenschaft. Danach setzte sie bis zu ihrer Ausreise ihr Studium als Fernstudium fort. Sie arbeitete als Geschäftsführer der familieneigenen römisch 40 in ihrem Heimatort.
Die Familie der bP verfügt im Herkunftsstaat über ein Haus und eine römisch 40 .
1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:
Neben den Eltern und sieben Geschwistern verfügt die bP über Onkeln und Tanten. Die Eltern und sowie zwei Brüder der bP leben in ihrem Eigentumshaus in ihrem Heimatort. Zwei ihrer Brüder leben in Gaziantep. Ihre beiden Schwestern sind verheiratet und leben in Araban. Zwei Onkel und zwei Tanten leben in Gaziantep. Ein Bruder lebt in Österreich. Ihren Angehörigen in der Türkei geht es gut. Ihre Eltern sind durch den Betrieb ihrer römisch 40 in einer finanziell guten Lage.
Die bP pflegt regelmäßigen Kontakt zu ihren Familienangehörigen und wird durch ihren Vater sowie ihren Bruder, der in Österreich lebt, finanziell unterstützt.
1.4. Ausreisemodalitäten:
Am 10.06.2011 beantragte die bP erstmalig einen Aufenthaltstitel für das österreichische Bundesgebiet. Am 24.02.2012 wurde ihr vom Magistrat der Stadt Wien (MA 35) ein bis zum 01.09.2012 befristeter Aufenthaltstitel ausgestellt. Ein Visum D (Studentenvisum) wurde am 28.02.2012 von der österreichischen Botschaft in Ankara zur Abholung des Aufenthaltstitels ausgestellt und war von 28.02.2012 bis zum 27.06.2012 gültig.
Am 02.09.2012, 03.09.2013 und 13.04.2017 wurde der Aufenthaltstitel der bP vom Magistrat der Stadt Wien (MA 35) verlängert und war ihr letzter Aufenthaltstitel bis zum 13.07.2017 gültig.
Die bP reiste frühestens am 28.02.2012 – das genaue Datum ist nicht feststellbar – legal unter Verwendung ihres türkischen Reisepasses mit dem Flugzeug von Istanbul Atatürk nach Wien Schwechat. Es liegen keine Hinweise auf Probleme anlässlich der Grenzkontrolle vor. Zu ihrem türkischen Reisepass gab die bP an, dass dieser nach ihrer Einreise ins Bundesgebiet für zwei Jahre gültig war. Diesen ließ sich die bP 2013 von der türkischen Botschaft in Wien für 10 Jahre ohne Probleme zu gegenwärtigen verlängern. Die bP hielt sich für einen nicht näher feststellbaren Zeitraum in Österreich auf und kehrte zu einem ebenfalls nicht näher feststellbaren Zeitpunkt 2013 für einen Monat in die Türkei zurück. Weder bei der Einreise noch bei der Ausreise aus der Türkei liegen Hinweise auf Probleme anlässlich der Grenzkontrolle vor. 2013 reiste die bP zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt wieder nach Österreich ein und war seitdem wieder in Österreich aufhältig.
Erst nachdem ihr letzter Aufenthaltstitel keine Gültigkeit mehr besaß und ihr Erstantrag auf Ausstellung einer „Aufenthaltskarte (Angehöriger eines EWR- oder Schweizer Bürgers)“ mit Bescheid vom 14.08.2017 zurückgewiesen wurde, stellte die bP am 25.04.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Über den Verbleib ihres heimatstaatlichen Reisepasses gab die bP an, diesen in ihrer ehemaligen Wohnung nach der Asylantragstellung verloren zu haben.
1.5. Aktueller Gesundheitszustand:
Die bP hat in der Verhandlung keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt.
1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich:
Art, Dauer, Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthaltes
Die bP begab sich aufgrund eines gültigen Einreise- bzw. Aufenthaltstitels frühestens am 28.02.2012 in das Bundesgebiet.
Mit der am 25.04.2018 – 6 Jahre nach Einreise ins Bundesgebiet – erfolgten Stellung des Antrages auf internationalen Schutz erlangte die bP eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG, die nach Antragsabweisung durch die Beschwerdeerhebung verlängert wurde.
Der Aufenthalt der bP im Bundesgebiet war von 14.07.2017 bis 24.04.2018 rechtswidrig.
Da ihr in diesem Verfahren weder der Status eines Asylberechtigten noch jener eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, erweist sich auch der Aufenthalt seit Asylantragstellung gem. Paragraph 120, Absatz eins, Litera a, in Verbindung mit Absatz 7, FPG als rechtswidrig. Wer sich als Fremder nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, begeht eine Verwaltungsübertretung, die als Offizialdelikt von der Verwaltungsstrafbehörde mit einer Geldstrafe von 500 bis 2500 Euro, im Wiederholungsfall mit 2500 bis 7500 Euro zu ahnden ist.
Familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich
Ein Bruder der bP lebt in Österreich. Zu diesem hat die bP ein bis zwei Mal in Monat Kontakt und wird gelegentlich von ihm finanziell unterstützt.
Bei der am 07.04.2015 eingegangen Ehe der bP mit der ungarischen Staatsbürgerin römisch 40 handelte es sich um eine sog. Aufenthaltsehe.
Grad der Integration
Die bP hat keine Prüfungen gem. GER für Sprachen erfolgreich abgelegt. In der Verhandlung vermochte sich die bP auf Deutsch mündlich gut zu verständigen, sodass ihr Sprachniveau zwischen A1 und A2 liegt. Sie hat keine sonstigen Ausbildungen oder Kurse absolviert.
Es besteht in Österreich ein Bekannten- bzw. Freundeskreis. Die bP hat keine Unterstützungserklärungen vorgelegt. Sie spielt Fußball und reist gerne. Sie ist Mitglied beim Roten Kreuz. Die bP besitzt einen Führerschein.
Mit Bescheid des AMS vom 30.07.2021 wurde der römisch 40 GmbH eine Beschäftigungsbewilligung für die bP als Zahlkellner von 01.08.2021 bis 31.07.2022 für eine Ganztagesbeschäftigung im Ausmaß von 40 Wochenstunden mit einem monatlichen Entgelt von EUR 1.650,- brutto erteilt.
Teilweise oder gänzliche wirtschaftliche Selbsterhaltung während des Verfahrens bzw. Teilnahme an auch für Asylwerber real möglicher und gesetzlich erlaubter Erwerbstätigkeit (ds. mit Beschäftigungsbewilligung, Werkvertrag, Arbeiten im Rahmen des Grundversorgungsgesetzes, Dienstleistungen über Dienstleistungsscheck)
(Quelle: https://www.ams.at/unternehmen/service-zur-personalsuche/beschaeftigung-auslaendischer-arbeitskraefte/beschaeftigung-von-asylwerberinnen-und-asylwerbern#wie-koennen-asylwerber-innen-beschaeftigt-werden) oder Abhängigkeit von staatlichen Leistungen
Sie ist bei der Grundversorgung aktiv gemeldet und bezog von 25.04.2018 bis 23.05.2018 Leistungen aus der Grundversorgung in den Leistungsbereichen Unterbringung, Taschengeld und Krankenversicherung.
Von 05.07.2012 bis 25.09.2012 war die bP geringfügig bei der römisch 40 und von 16.07.2013 bis 16.07.2013 sowie von 06.09.2013 bis 23.10.2014 bei der römisch 40 GmbH beschäftigt.
Am 21.02.2022 meldete die bP das Gewerbe der „Reinigung von Polstermöbeln und nicht fest verlegten Teppichen“ an und ist seit 15.04.2022 gewerblich selbstständig tätig. Sie gibt ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von ca. EUR 3.000,- an.
Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Familienlebens; die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren
Die bP hat diese Anknüpfungspunkte während einer Zeit erlangt, in der der Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet auf Grund befristeter Aufenthaltsberechtigungen prekär bzw. zum Teil nicht rechtmäßig.
Bindungen zum Herkunftsstaat
Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit, kann sich im Herkunftsstaat – im Gegensatz zu Österreich – problemlos verständigen und hat ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Sie wurde somit im Herkunftsstaat sozialisiert und kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens einschließlich der gegebenen sozialen Unterstützungsnetzwerke. Es leben dort auch noch insbes. Familienangehörige sowie Verwandte. Mit den Familienangehörigen in der Türkei hat sie regelmäßigen Kontakt und wird die bP von ihrem Vater finanziell unterstützt.
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten wäre.
Strafrechtliche/verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen
In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheint folgende Vormerkung wegen rk. gerichtlicher Verurteilungen auf:
BG MOEDLING 006 U 275/2016v vom 06.12.2018 RK 11.12.2018
Paragraphen 117, (1), 117 (4) FPG, Paragraph 293, (2) StGB
Datum der (letzten) Tat 04.12.2016
Geldstrafe von 200 Tags zu je 4,00 EUR (800,00 EUR) im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe
Vollzugsdatum 07.01.2019
Sachverhalt:
Die bP ist am 07.04.2015 mit römisch 40 eine Ehe eingegangen, ohne ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK führen zu wollen, um sich im Sinne der Bestimmung die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines gemeinschaftlichen Aufenthaltsrechts für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe zu berufen und hat am 04.12.2016 ein falsches Beweismittel in einem verwaltungsrechtlichen Verfahren gebraucht, indem sie die von römisch 40 erhaltenen falschen Bestätigungen bei der MA 35 vorlegte, wobei ein Angestelltenverhältnis von römisch 40 vorgetäuscht wurde, ohne dass diese nur einen einzigen Tag gearbeitet hatte und so ein Arbeits- und Einkommensverhältnis vorgetäuscht wurde, um einen Aufenthaltstitel für sich zu erwirken.
Strafbare Handlungen:
Die bP hat hiedurch das Vergehen des Eingehens und der Vermittlung von Aufenthaltsehen und Aufenthaltspartnerschaften nach Paragraph 117, Absatz eins und 4 FPG und das Vergehen der Fälschung eines Beweismittels nach Paragraph 293, (2) StGB begangen.
Strafe:
Die bP wurde unter Anwendung des Paragraph 28, (1) StGB nach Paragraph 293, (2) StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 200 Tagessätzen á EUR 4,-, sohin EUR 800,-, bei deren Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 100 Tagen verurteilt.
Strafbemessungsgründe:
Als erschwerend wurde die Begehung mehrerer strafbarer Handlungen und als mildernd das Geständnis sowie der bisher ordentliche Lebenswandel der bP gewertet.
Subjektive Tatseite:
Die bP wusste, dass sie vorschriftswidrig handelte.
Das Vorliegen von rk. Verwaltungsstrafen wurde dem BVwG von der Polizei bzw. den Verwaltungsstrafbehörden einschließlich dem Bundesamt nicht mitgeteilt und ergibt sich auch nicht aus dem Akteninhalt der belangten Behörde.
Sonstige Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts
Obwohl das Visum D sowie die Aufenthaltstitel der bP zu Studienzwecken ausgestellt wurden, studierte die bP in Österreich zu keinem Zeitpunkt und legte auch keine Prüfungen ab, da sie mangels bestandener Deutschprüfungen nicht zum Studium an der Universität Wien zugelassen wurde. Die bP täuschte die Behörden darüber hinweg, dass sie kein Studium absolvierte und erschlich sich so mehrmalige Verlängerungen ihres studienzweckbezogenen Aufenthaltstitels.
Als die Gültigkeit ihres Aufenthaltstitels am 03.09.2014 ablief und nicht verlängert wurde, suchte die bP nicht um Asyl an, sondern versuchte, ihren Aufenthalt im Bundesgebiet mit anderen Mitteln zu legalisieren, indem sie eine Aufenthaltsehe mit einer ungarischen Staatsbürgerin einging. Am 07.04.2015 ehelichte die bP die Ungarin römisch 40 Im Oktober 2016 erfolgte eine Anzeige wegen Verdachts einer Aufenthaltsehe, am 08.11.2016 ein diesbezüglicher Strafantrag. Am 04.12.2016 legte die bP ein falsches Beweismittel, nämlich die von römisch 40 erhaltenen falschen Bestätigungen, bei der MA 35 vor, wobei ein Angestelltenverhältnis von römisch 40 vorgetäuscht wurde, ohne dass diese nur einen einzigen Tag gearbeitet hatte. So täuschte die bP vorsätzlich ein Arbeits- und Einkommensverhältnis vor, um einen Aufenthaltstitel für sich zu erwirken. Aufgrund dessen erfuhr die Gültigkeit des letzten Aufenthaltstitels der bP eine weitere Verlängerung bis zum 13.07.2017. Die bP erschlich sich sohin durch Täuschung der Behörden die ihr ausgestellten Aufenthaltstitel.
Auch nachdem ihr Erstantrag auf Ausstellung einer „Aufenthaltskarte (Angehöriger eines EWR- oder Schweizer Bürgers) zurückgewiesen wurde, stellte sie keinen Asylantrag, sondern tauchte monatelang unter. Erst 10 Monate nach ihrem Untertauchen, stellte die bP schließlich einen Asylantrag. Da der bP weder der Status einer Asylberechtigten noch der einer subsidiär schutzberechtigten Person zukommt, stellt der rechtswidrige Aufenthalt (bei strafmündigen Personen) gegenständlich auch grds. eine Verwaltungsübertretung dar vergleiche Paragraph 120, Absatz eins, Litera a, in Verbindung mit Absatz 7, FPG).
Die bP verletzte – trotz diesbezüglicher Belehrung - durch die nichtwahrheitsgemäße Begründung ihres Antrages auf internationalen Schutz ihre gesetzlich auferlegte Mitwirkungs- und Verfahrensförderungsverpflichtung im Asylverfahren vergleiche §15 Absatz eins, Z1 AsylG; Paragraph 39, Absatz 2 a,). In einem Zeitraum, als die bP über keinen Aufenthaltstitel mehr verfügte, entzog sie sich zudem ihrer Meldepflicht, indem von 08.06.2017 bis 22.05.2018 untertauchte. Trotz ordnungsgemäßer Ladung zur niederschriftlichen Einvernahme am 04.07.2018, 26.07.2018, 28.02.2019 und 21.03.2019 verletzte sie darüber hinaus ihre Mitwirkungspflicht im Asylverfahren, indem sie sich unentschuldigt diesen Ladungen des Bundesamts entzog. Erst als die bP nach bescheidmäßiger Ladung am 20.08.2018 beim Bundesamt erschien und am 16.04.2019 mit schriftlicher Stellungnahme auf die Verständigung von der Beweisaufnahme reagierte, konnte das Asylverfahren fortgesetzt werden.
Sie hat ihre Mitwirkungsverpflichtung im Hinblick auf die Verpflichtung nur wahrheitsgemäße Angaben zu machen in zentralen Punkten verletzt und versuchte dadurch die entscheidenden staatlichen Instanzen zur Erlangung von internationalen Schutz zu täuschen.
Verfahrensdauer
Gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz wurde am 25.04.2018 gestellt und erging der verfahrensgegenständliche Bescheid vom Bundesamt am 10.05.2019. Nach eingebrachter Beschwerde erging mit heutigem Erkenntnis die Entscheidung im Beschwerdeverfahren.
1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen / nichtstaatlichen Akteuren bzw. den von der bP vorgebrachten Problemen, die sie persönlich im Entscheidungszeitpunkt im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwartet:
a) Betreffend ihrer persönlichen Sicherheit / Verfolgung im Herkunftsstaat:
Es ist nicht glaubhaft, dass die bP ihren Wehrdienst in der Türkei bislang nicht abgeleistet hat bzw. sich von diesem nicht freigekauft hat. Es kann nicht festgestellt werden, dass die bP die Ableistung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen verweigert.
Es ist nicht glaubhaft, dass die bP vor der Ausreise asylrelevant verfolgt wurde oder ihr eine solche entscheidungsrelevante Gefahr im Falle der Rückkehr in ihre Herkunftsregion real bzw. mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen würde.
Aus der derzeitigen Lage ergibt sich im Herkunftsstaat, insbesondere in der Herkunftsregion der bP, unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, keine Situation, wonach im Falle der Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der bP als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht.
b) Betreffend ihrer Sicherung der existentiellen Grundbedürfnisse im Herkunftsstaat:
Die bP hat hinsichtlich ihrer persönlichen Versorgungssituation im Falle der Rückkehr zuletzt in der Verhandlung persönlich keine konkrete Problemlage vorgebracht (VHS S 6f). Dass die bP von ihrer Familie bei Rückkehr verstoßen werden würde, ist nicht glaubhaft.
Die bP war im Hinblick auf Unterkunft und Versorgung mit Lebensmitteln auch vor der Ausreise schon in der Lage im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern und kam nicht hervor, dass dies bei einer Rückkehr nicht gegeben wäre. Sie ist erwerbsfähig, verfügt über Berufserfahrung, hat im Herkunftsstaat Familienangehörige samt Unterkunft und wurde bereits vor ihrer Ausreise auch von ihrem Vater finanziell unterstützt.
c) Betreffend ihrer aktuellen Versorgungssituation im Hinblick der notwendigen Erlangung medizinischer Versorgung im Herkunftsstaat:
Die bP ist gesund und gehört keiner Covid-19 Risikogruppe an. Es ergibt sich kein Sachverhalt, wonach aus der Pandemie resultierend für die bP die reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 3, EMRK bestünde.
1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat
Aus nachfolgend genannten Quellen (einschließlich darin zitierter weiterer Berichte) ergeben sich folgende Feststellungen über die relevante Lage:
Länderinformationsblatt Türkei Version 6, ausgewählte Kapitel, Stand 22.09.2022
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Türkei, Diskriminierung bei Apostasie oder Nicht-Einhaltung des Ramadan, 25.02.2019
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Folgen bei Wehrdienstentzug, Freikauf bei Auslandsaufenthalt, 13.01.2017
COVID-19-Pandemie
Letzte Änderung: 19.09.2022
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Während der Covid-19-Pandemie wurde das staatliche Gesundheitssystem extrem belastet, konnte aber seine Aufgaben bisher weitgehend erfüllen. Es häufen sich Berichte über personelle Erschöpfung und beschränkte Behandlungsmöglichkeiten (AA 28.7.2022, Sitzung 21).
Mit Stand Ende August 2022 verzeichnete die Türkei offiziell rund 100.400 Menschen, die an den Folgen von COVID-19 verstarben (JHU 31.8.2022). Bereits Mitte April 2022 sah die türkische Ärztekammer (TTB) die Zahl der COVID-19-Toten nach zwei Jahren Pandemie allerdings bei geschätzten 274.000 im Widerspruch zu den rund 98.000 zu jenem Zeitpunkt Verstorbenen (bei insgesamt circa 14,78 Millionen Fällen), welche die Behörden vermeldeten. Die Berechnungen der Ärztekammer erfolgten anhand der Übersterblichkeitsrate (Ahval 14.4.2022). Angesichts der erneuten Sommerwelle im Juli 2022, zurückzuführen auf das Ende fast aller Maßnahmen, erneuerte die Ärztekammer den Vorwurf falscher COVID-19-Infektionszahlen. Die tatsächliche Infektionszahl wäre mit 235.000 demnach doppelt so hoch wie die vom Gesundheitsministerium angegebene (Ahval 16.7.2022).
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).
Beginnend mit 1.6.2022 wurde das Tragen von Masken sowohl im Freien als auch in geschlossenen Räumen sowie im öffentlichen Verkehr aufgehoben. In Gesundheitseinrichtungen ist das Tragen von Masken aber noch vorgeschrieben. Per Dekret vom 1.6.2022 wurde bei Einreise in die Türkei die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen PCR-Tests bzw. eines negativen Antigentests bei Nicht-Vorweis einer Impfung oder Genesung aufgehoben (WKO 21.7.2022).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 23.8.2022
Ahval (16.7.2022): Turkey's real COVID-19 figures twice the official numbers - top medical association, https://ahvalnews.com/pandemic/turkeys-real-covid-19-figures-twice-official-numbers-top-medical-association, Zugriff 12.8.2022
Ahval (14.4.2022): More than a quarter of a million Turks killed by COVID-19, medical group saysTurkey, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/more-quarter-million-turks-killed-covid-19-medical-group-says, Zugriff 15.4.2022
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, COVID-19-Zahlen, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 28.2.2022
DS – Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news, Zugriff 28.2.2022
JHU - Johns Hopkins University & Medicine (31.8.2022): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 31.8.2022
WKO – Wirtschaftskammer Österreich (21.7.2022): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 31.8.2022
Politische Lage
Letzte Änderung: 19.09.2022
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu (ÖB 30.11.2021, S.4). Teilweise unter Polizeigewalt aufgelöste Demonstrationen und Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und Femizide (ZO 27.3.2021, Standard 1.7.2021), studentischerseits gegen die Einmischung der Politik an den Universitäten (HRW 6.4.2021, RND 15.7.2021) sowie gegen Jahresende 2021 gegen die rapide Teuerung und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage prägten zuletzt das Land (DW 24.11.2021, DF 12.12.2021).
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, Sitzung 5; vergleiche DFAT 10.9.2020, Sitzung 14).
Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung (EC 19.10.2021, Sitzung 3, 10f). Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022, Sitzung 43). Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und sind die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, Sitzung 2). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, Sitzung 20/Pt. 55; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 3, 10f). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u. a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt, die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, Sitzung 3, 10f).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Artikel ,). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, Sitzung 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, Sitzung 20, Pt. 57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, Sitzung 18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, Sitzung 12).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vergleiche HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, Sitzung 1; vergleiche EP 19.5.2021, Sitzung 7-14).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Ende März 2022 wurde das Wahlgesetz geändert. Die Zehn-Prozent-Hürde für den Eintritt einer Partei ins Parlament, eingeführt von den Generälen nach dem Putsch von 1980, wurde auf sieben Prozent gesenkt. Diese Änderung wurde weithin einerseits als Versuch gewertet, die Opposition zu spalten, und andererseits der schwächelnden ultranationalistischen MHP, welche die AKP-Regierung stützt, den Wiedereinzug ins Parlament zu erleichtern. Anwendung findet das Gesetz nach einer Frist von einem Jahr (AM 4.4.2022; vergleiche AP 31.3.2022).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6 % der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6 % der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen "Volksbündnis" verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6 % bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10 % bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7 % und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vergleiche Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54 %. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45 % (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, Sitzung 11; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 5). Präsidentendekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 5) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, Sitzung 9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidentendekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, Sitzung 12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 19.10.2021, Sitzung 11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, Sitzung 14).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemalige Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft [Stand Februar 2022], im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020) sowie einer ebensolchen nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten (CoE-CoM 2.12.2021). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vergleiche AAN 17.3.2021).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75 % der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S.2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, Sitzung 3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vergleiche ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, Sitzung 5).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, Sitzung 15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, Sitzung 16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, Sitzung 13).
Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister / Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Artikel 45,) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).
Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, Sitzung 11).
[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 19.09.2022
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, Sitzung 18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, Sitzung 4) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, Sitzung 16) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, Sitzung 4).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren vermeintlichen Ableger [TAK], den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, insbesondere für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2022, Sitzung 33). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, Sitzung 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, Sitzung 11, Pt. 27).
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 12; vergleiche HRW 13.1.2022), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, Sitzung 4, 15). Bestehende Spannungen werden auch durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst (EDA 20.6.2022), wo die Türkei ihre Militäraktionen einschließlich Drohnenangriffen auf die autonome Region Kurdistan im Irak konzentriert hat, in welcher sich PKK-Stützpunkte befinden (HRW 13.1.2022).
Die bewaffneten Auseinandersetzungen führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; 26). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, Sitzung 15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 20.6.2022).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen in der Türkei 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, Sitzung 9, İHD 18.5.2020a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 rund 6.064 Tote (3.878 PKK-Kämpfer, 1.360 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten, aber auch 302 Polizisten und 121 sog. Dorfschützer - 600 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum Juli 2015 bis 18.7.2022. Betroffen waren insbesondere die Provinzen, Şırnak (1.003 Tote), Hakkâri (782 Tote), Diyarbakır (553 Tote), Mardin (398) und die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (286), wobei 1.182 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert. Im Verlaufe des Jahres 2022 zählte die ICG (Stand 18.7.2022) 140 Tote (ICG 18.7.2022). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, Sitzung 15). Hierzu betonte das Europäische Parlament im Juni 2022 "die Dringlichkeit der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses unter Einbindung aller betroffenen Parteien und demokratischen Kräfte mit dem Ziel der friedlichen Lösung der Kurdenfrage" (EP 7.6.2022, Sitzung 18, Pt. 30).
Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak, Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 7.9.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2021) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26).
Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April die sog. Operation "Claw Lock"). Ziele waren auch PKK-Führungskader (ICG 7.2022; vergleiche ICG 5.2022). Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich zu Jahresbeginn auf die ländlichen Gebiete der türkischen Provinzen Tunceli/Dersim, Mardin und Şanlıurfa und im März 2022 in den Provinzen Diyarbakır, Mardin, Hakkâri und Hatay (ICG 5.2022). Pro-kurdische, regierungskritische Medien berichteten im Juni 2022 von mehrtägigen Bombardements in ländlichen Gebirgsregionen der Provinz Tunceli/Dersim [Zentralanatolien] im Zuge des Anti-Terrorkampfes, wobei der Zugang zu einigen Dörfern gesperrt wurde und mehrere Hektar Nutzwald abbrannten (Bianet 14.6.2022). Bei einer bemerkenswerten Eskalation wurden am 20.7.2022 in der Provinz Duhok in der autonomen Region Kurdistan im Irak neun Touristen durch Artilleriebeschuss getötet und mehr als 20 verletzt. Die irakischen und kurdischen Regionalbehörden machten die Türkei für den Angriff verantwortlich und gaben scharfe und kritische Erklärungen ab, während Ankara diese Behauptungen zurückwies und die PKK dafür verantwortlich machte (ICG 7.2022). Im Zuge der Eskalation in Nordsyrien begann das türkische Militär mit Angriffen auf kurdisch geführte Kräfte, die sich zu Angriffen auf Armeeeinrichtungen in türkischen Grenzprovinzen bekannten, bei denen mehrere türkische Soldaten getötet wurden. Das Militär setzte auch seine Operationen gegen die PKK im Irak und im Südosten der Türkei fort. Im Nordirak wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums vom 27.8.2022 neun PKK-Kämpfer getötet. Im Südosten der Türkei startete das Militär am 8.8.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Innenminister Süleyman Soylu erklärte am 19.8.2022, dass sich nur noch 124 PKK-Mitglieder innerhalb der Landesgrenzen aufhielten (ICG 8.2022). - Die Operationen der Sicherheitskräfte gegen Zellen/Akteure des sog. IS wurden intensiviert. Die Polizei nahm zumindest 125 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen fest, zumeist Ausländer (ICG 8.2022, 7.2022).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vergleiche Duvar 26.10.2021).
Quellen:
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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung: 20.09.2022
2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, Sitzung 11, Pt. 15; vergleiche HRW 13.1.2022, BS 23.2.2022, Sitzung 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, Sitzung 11, Pt. 15; vergleiche AI 29.3.2022), trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022). Nicht nur die Unabhängigkeit der Justiz, sondern auch die Situation in der Justizverwaltung hat sich merkbar verschlechtert (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2, 14f.; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 21, CoE-CommDH 19.2.2020; Sitzung 4, 28f).
Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist somit der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022, Sitzung 36). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, Sitzung 2, 21; vergleiche CoEU 14.12.2021, Sitzung 16, Pt. 34). Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts KONDA vom Juni 2021 ergab, dass 64 % der Befragten kein Vertrauen in das Justizsystem haben. Unter den Befragten mit kurdischem Hintergrund lag der Wert gar bei 85 % (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15).
Faires Verfahren
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 76 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 22 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 2.2022, Sitzung 11).
Bereits im Juni 2020 wies der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S.12, Pt.16).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 28.7.2022, Sitzung 12; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 8, AI 26.10.2020, HRW 10.4.2019). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 8). Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 12.4.2022, Sitzung 11). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (Turkish Tribunal 2.2021, Sitzung 41; vergleiche HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, Sitzung 12, Pt. 15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020).
Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung
Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, Sitzung 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, Sitzung 18, Pt. 29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, Sitzung 9, Pt. 14).
Unter anderem auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, Sitzung 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, Sitzung 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, Sitzung 44). [Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Politisierung der Justiz
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.) (ÖB 10.2019, Sitzung 17).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, Sitzung 10, Pt. 19).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2021 auf Rang 117 von 139 Ländern (2020: Platz 107 von 128 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator verschlechterte sich von 0,43 auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,31 (Rang 133 von 139) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 134 von 139) sowie bei der Strafjustiz mit 0,36 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,70, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 29.10.2021).
Gemäß Artikel 138, der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, ein in der Verfassung verankertes Grundrecht. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020, Sitzung 6). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, Sitzung 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Mehr als 4.200 Richter und Staatsanwälte wurden seit 2016 abgesetzt und durch regierungstreue Personen ersetzt. Staatsanwälte und Richter sind oft auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen die Wünsche der Regierung entscheiden, werden abberufen und ersetzt (FH 28.2.2022, F1). Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission waren es 3.968 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch 2016, wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung, entlassen wurden. Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken (EC 19.10.2021, Sitzung 4f, 23f).
Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgehaltenen Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos. Während des gesamten Jahres 2020 wurden weiterhin Richter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung und ohne jegliche Rechtfertigung, abgesehen von dienstlichen Erfordernissen, versetzt. Im Mai 2021 versetzte der HSK 3.070 Richter und Staatsanwälte (EC 19.10.2021, Sitzung 23). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, Sitzung 6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (EC 19.10.2021, Sitzung 23).
Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 7f; vergleiche SCF 3.2021, Sitzung 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S.46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 7f).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, Sitzung 3). Dennoch hat das Verfassungsgericht in den letzten Jahren eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt und ausgewählte politische Urteile aufgehoben (FH 28.2.2022, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 8).
Aufbau des Justizsystems
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden. Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und als ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6f). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, Sitzung 24).
Rolle des Verfassungsgerichts
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht (AA 28.7.2022, Sitzung 6), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100 % (ÖB 30.11.2021, Sitzung 7).
Untergeordnete Gerichte ignorieren oder verzögern die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts mitunter erheblich, wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Zur neuesten Rechtssprechung des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit siehe auch das Kapitel Meinungs- und Pressefreiheit / Internet.
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2021, Sitzung 9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 19.10.2021, Sitzung 31).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Artikel 102, (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Artikel 102, (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 9).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB 30.11.2021, Sitzung 15).
Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 30.11.2021, S.15). Mit Ende Mai 2022 waren laut Kommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 27.5.2022 waren 127.130 Anträge gestellt worden. Davon hat die Untersuchungskommission 124.235 bearbeitet, wobei lediglich 17.265 positiv gelöst wurden. 2.895 Fälle waren Ende Mai 2022 noch anhängig. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen (ICSEM 27.5.2022). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 19.10.2021; Sitzung 20). Am 21.1.2022 wurde die Funktionsdauer der Kommission mittels Präsidentendekret um ein Jahr verlängert (Ahval 23.1.2022).
Die Beschwerdekommission steht in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder werden von der Regierung ernannt (ÖB 30.11.2021, S.15). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 30.11.2021, Sitzung 15; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 20). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 30.11.2021, Sitzung 15).
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 20.09.2022
Die Polizei und die "Jandarma" (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1, ÖB 30.11.2021, Sitzung 16). Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 7.2022, Sitzung 2). Die Jandarma mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 186.170 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 16; vergleiche BICC 7.2022, Sitzung 26). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 7.2022, Sitzung 17, 25). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 7.2022, Sitzung 18). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 7.2022, Sitzung 19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 28.7.2022, Sitzung 6).
Die 2008 abgeschaffte "Nachtwache" (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vergleiche Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 18.3.2021; Sitzung 19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 28.7.2022, Sitzung 6; vergleiche BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020). Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vergleiche FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Nachrichtendiensten sind nach wie vor sehr eingeschränkt. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung weiterhin einen erheblichen gerichtlichen und administrativen Schutz. Im Juni 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem Rechtsschutz und Ausnahmen für das Militärpersonal eingeführt wurden. Mit Ausnahme der Fälle von in flagranti begangenen Straftaten unterliegt die Untersuchung von Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, einer vorherigen Genehmigung. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsbehörden ist unwirksam (EC 19.10.2021, Sitzung 15).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vergleiche Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, Sitzung 15, Pt. 38).
Quellen:
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Anadolu – Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 15.2.2022
BI – Balkan Insight (10.6.2020): Turkey Opposition Condemns Move to Arm Night Watchmen, https://balkaninsight.com/2020/06/10/turkey-opposition-condemns-move-to-arm-night-watchmen/, Zugriff 15.2.2022
BICC - Internationales Konversionszentrum Bonn/ Bonn International Center for Conversion (7.2022): Länderinformation - Türkei, https://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/tuerkei/2022_Tuerkei.pdf, Zugriff 26.7.2022
Duvar (18.7.2022): Turkish watchmen batter trans women in western İzmir, https://www.duvarenglish.com/turkish-watchmen-batter-trans-women-in-western-izmir-news-61038, Zugriff 11.8.2022
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FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html, Zugriff 15.2.2022
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Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 20.09.2022
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 28.7.2022, Sitzung 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2021, Sitzung 31).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2021, Sitzung 31). Immer noch kommen Folter und Misshandlung in Haftzentren der Polizei, Gendarmerie, des Militärs sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 34; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 16; İHD 4.10.2021, Sitzung 11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit misshandelt, missbraucht oder möglicherweise gefoltert werden. Zudem sind derartige Übergriffe seitens der Polizei im Süd-Osten des Landes häufiger (USDOS 12.4.2022, Sitzung 4f.). Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2021, Sitzung 31). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß von Folter entsprechen (İHD 4.10.2021, Sitzung 11; vergleiche TİHV 6.2021, Sitzung 13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vergleiche İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S.19, Pt.32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022).
Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).
Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudsstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S.34). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Artikel 9, des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vergleiche EC 29.5.2019).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2020 776 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 358 weitere in den Gefängnissen. 2.980 Demonstranten wurden während rund 850 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 4.10.2021, S.11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).
Beispiele:
Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmeriewache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vergleiche WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).
Quellen:
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TM – Turkish Minute (16.1.2021): 3,362 people killed, 3,534 mistreated or tortured in Turkey in 2020, opposition MP says, https://www.turkishminute.com/2021/01/16/3362-people-killed-3534-mistreated-or-tortured-in-turkey-in-2020-opposition-mp-says/, Zugriff 21.2.2022
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Korruption
Letzte Änderung: 20.09.2022
Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption, der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 10.9.2020).
Nichtsdestotrotz ist Korruption im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet (EP 19.5.2021, Sitzung 16, Pt. 43; vergleiche BACP 6.2020, DFAT 10.9.2020), auch auf den höchsten Ebenen der Regierung (FH 28.2.2022, C2). Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt. Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch (BACP 6.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021). Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen (USDOS 13.3.2019).
Es bestehen keine Anzeichen für Fortschritte bei der Beseitigung der zahlreichen Lücken im türkischen Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung (EP 19.5.2021, Sitzung 16, Pt. 43). Ein grundlegendes Problem ist das Fehlen einer unabhängigen und präventiven Korruptionsbekämpfungsstelle sowie einer interinstitutionellen Koordinierung der Korruptionsbekämpfung (BS 23.2.2022, Sitzung 35). Die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze ist inkonsistent. Die vorhandenen türkischen Anti-Korruptionsbehörden sind im Allgemeinen ineffektiv und tragen zu einer Kultur der Straflosigkeit bei (FH 28.2.2022, C2; vergleiche BACP 6.2020). Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und die Ombudsperson veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020).
Sorge besteht hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 63; vergleiche BACP 6.2020). Zudem gibt es ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der Justiz selbst (BACP 6.2020). So haben beispielsweise die neuen CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara Korruptionsermittlungen gegen die früheren lokalen AKP-Regierungen eingeleitet und eine Reihe von Änderungen vorgenommen, um die Transparenz in der kommunalen Verwaltung zu fördern. Das eigentliche Hindernis für die Versuche der Oppositionsbürgermeister, Korruptionsermittlungen einzuleiten, bleibt jedoch die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz (BS 23.2.2022, Sitzung 13).
Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den durch das Business Anti-Corruption Portal (BACP) befragten Unternehmen als recht häufig eingeschätzt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung empfindet Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko (BACP 6.2020).
Laut Europäischer Kommission macht die Korruptionsbekämpfung keine Fortschritte. Dem Land fehle es nach wie vor an präventiv agierenden Antikorruptionsbehörden. Die Mängel des gesetzlichen Rahmens und der institutionellen Architektur ermöglichten eine ungebührliche politische Einflussnahme in der Ermittlungs- und Verfolgungsphase von Korruptionsfällen. Rechenschaftspflicht und Transparenz der öffentlichen Institutionen müssen, so die Kommission, verbessert werden. Das Fehlen einer Antikorruptionsstrategie und eines Aktionsplans deute auf den mangelnden politischen Willen hin, Korruption entschieden zu bekämpfen. Insgesamt ist Korruption weit verbreitet. Die meisten Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt (EC 19.10.2021, Sitzung 5, 25). GRECO bemängelte insbesondere, dass innert zehn Jahren nur eine von neun Empfehlungen in Bezug auf die Transparenz der politischen Finanzierung, auch im Zusammenhang mit Wahlen, umgesetzt wurde (CoE-GRECO 18.3.2021).
Eine Handvoll Holdinggesellschaften erhält einen großen Teil der öffentlichen Ausschreibungen, auch für Erdoğans Megaprojekte, und dieselben Unternehmen kontrollieren ebenso die meisten türkischen Mediennetzwerke. Darüber hinaus hat die Regierung seit 2016 Hunderte von Unternehmen und NGOs beschlagnahmt und Treuhänder für die Verwaltung von Vermögenswerten in Milliardenhöhe ernannt (FH 28.2.2022, C2).
Die Schattenwirtschaft bleibt eine zentrale Herausforderung für die Türkei (EC 19.10.2021, Sitzung 95). Die Schattenwirtschaft soll in den letzten Jahren enorm expandiert sein. Der Anstieg der illegalen Einnahmen stammt nicht nur aus dem Untergrundsektor wie Prostitution, Drogenhandel und Kraftstoffschmuggel, sondern auch aus der Einflussnahme durch Bestechung bei öffentlichen Ausschreibungen und Schmiergeldzahlungen ausländischer Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 ist der Fluss illegaler Gelder um einen weiteren Aspekt erweitert worden. Im Rahmen der Säuberungsaktionen wurden Unternehmen, die sich im Besitz von Gülenisten befanden, beschlagnahmt und dann verkauft, meist an AKP-Kumpane. Wie sich später herausstellte, zahlten viele Geschäftsleute, denen Verbindungen zu den Gülenisten nachgesagt wurden, hohe Bestechungsgelder, um einer Untersuchung oder einem Prozess zu entgehen (AM 21.5.2021).
Die Regierung bestraft Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass Erstere dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten. Journalisten, denen vorgeworfen wird, die Korruptionsvorwürfe veröffentlicht zu haben, werden ebenfalls strafrechtlich verfolgt. Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehrat (RTÜK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 12.4.2022, Sitzung 63f.).
Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2021 mit einem Punktewert von 38 von 100 (bester Wert) auf Platz 96 von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein (TI 25.1.2022), was einer Verschlechterung, verglichen zum Vorjahr, um zehn Ränge bzw. zwei Basispunkte entsprach (TI 2021).
Quellen:
AM - Al Monitor (21.5.2021): Erdogan in hot spot as Turks question 'mafiazation' of politics, https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/erdogan-hot-spot-turks-question-mafiazation-politics, Zugriff 21.2.2022
BACP – GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2020): Turkey Country Profile, Business Corruption in Turkey, https://www.ganintegrity.com/portal/country-profiles/turkey/, Zugriff 5.11.2020
BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022
CoE-GRECO – Council of Europe – Group of States Against Corruption (18.3.2021): Third Evaluation Round, Second Addendum to the Second Compliance Report on Turkey - ”Incriminations (ETS 173 and 191, GPC 2)”, ”Transparency of Party Funding” [GrecoRC3 (2020)5], https://rm.coe.int/third-evaluation-round-second-addendum-to-the-second-compliance-report/1680a1cac1, Zugriff 21.2.2022
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 21.2.2022
EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 21.2.2022
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf, Zugriff 21.2.2022
FH - Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068831.html, Zugriff am 24.8.2022
FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html, Zugriff 21.2.2022
TI – Transparency International (25.1.2022): Corruption Perceptions Index 2021, https://www.transparency.org/en/countries/turkey, Zugriff 21.2.2022
TI – Transparency International (2021): Corruption Perceptions Index 2020, https://www.transparency.org/en/cpi/2020/index/tur, Zugriff 21.2.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 20.4.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff 21.2.2022
Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Letzte Änderung: 20.09.2022
Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Mit Stand Oktober 2021 gab es über 121.920 Vereine und 5.906 Stiftungen sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen (ICNL 20.11.2021).
Die Beteiligung der Zivilgesellschaft am politischen Prozess ist weiter zurückgegangen, und die die Zivilgesellschaft betreffenden Rechtsvorschriften wurden in den letzten Jahren immer restriktiver. Während die Ressourcen, die Aktivitäten und die Sichtbarkeit regierungsfreundlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen weiter zugenommen haben, sind regierungskritische NGOs, insbesondere Menschenrechtsorganisationen und demokratiefördernde NGOs, systematischen Einschüchterungen ausgesetzt. Sie wurden mitunter zur Schließung gezwungen und ihre Mitglieder verhaftet. Sowohl nationale als auch internationale NGOs leiden unter restriktiven Einschränkungen. Im Allgemeinen sind kritische NGOs von einer echten Konsultation zur Gesetzgebung ausgeschlossen. Insgesamt ist die zivilgesellschaftliche Kultur in der Türkei nach wie vor schwach, und die Abhängigkeit vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen von ausländischer Finanzierung macht sie zur Zielscheibe für von der Regierung geförderte Verschwörungstheorien (BS 23.2.2022, Sitzung 16, 37).
Menschenrechtsverteidiger, etwa der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sowie zivilgesellschaftliche Akteure werden in der Türkei seit Langem von Regierungsvertretern und regierungsnahen Medien als Verfechter ausländischer Interessen porträtiert, welche eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen und/oder die Ziele "terroristischer Organisationen" fördern (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, Sitzung 11). Seit 2016 hat die Regierung mehr als 1.500 Stiftungen und Vereine geschlossen. Im Dezember 2021 fror die Regierung das Vermögen von 770 NGOs mit der Begründung der Terrorismusfinanzierung ein. Leiter von NGOs - insbesondere diejenigen, die sich mit Menschenrechten befassen - sind wegen der Ausübung ihrer Tätigkeit mit Schikanen, Verhaftungen und strafrechtlicher Verfolgung konfrontiert (FH 28.2.2022, E2). Im kurdisch geprägten Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen durch vermehrt ausgeübten Druck staatlicher Stellen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes (AA 28.7.2022, Sitzung 6).
Menschenrechtsorganisationen, beispielsweise solche, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen, werden gegenüber regierungsnahen Organisationen benachteiligt. Zahlreiche NGOs mit Schwerpunkt auf Menschenrechten berichten, dass sie nicht in den Genuss öffentlicher Förderungen kommen. Sie sehen sich auch bürokratischen Hürden bei der Spendensammlung und der Finanzierung durch EU-Gelder ausgesetzt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 30). Laut offiziellen Zahlen waren mit Stand Juli 2021 von allen eingetragenen Vereinigungen nur 1,22 % (1.488 Vereinigungen) in den Bereichen Menschenrechte und Anwaltschaft aktiv (ICNL 20.11.2021).
Obwohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Türkei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen, weist der Rechtsrahmen noch zahlreiche Unvereinbarkeiten mit internationalen Standards auf. Darüber hinaus bestehen trotz der verbesserten Gesetzgebung zu Vereinen und Stiftungen in den Jahren 2004 bzw. 2008 weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere im Hinblick auf die Sekundärgesetzgebung und deren Umsetzung. Tatsächlich wurden seit 2008 keine weitreichenden Reformen durchgeführt. Eine Gesetzesänderung vom März 2020 verlangt die Registrierung aller Mitglieder einer Vereinigung unter Angabe personenbezogener Daten sowie auch die Verständigung über einen Ausschluss oder Ausscheiden der Person binnen 30 Tagen (ICNL 20.11.2021).
Menschenrechtsorganisationen können gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-)Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 28.7.2022; Sitzung 6). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).
Am 27.12.2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das angeblich der Bekämpfung der Terrorfinanzierung dienen soll (AP 27.12.2020, vergleiche DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Gesetz Nr. 7262 war offiziell geschaffen worden, um konkreten Empfehlungen der Financial Action Task Force (FATF) nachzukommen, einer internationalen Organisation zum Monitoring von Geldwäsche und Terrorfinanzierung, deren Mitglied die Türkei ist (FNS 17.5.2022). Dieses erlaubt dem Innenministerium, NGOs ohne Gerichtsbeschluss jährlich zu inspizieren und Mitglieder von Vereinen zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismus ermittelt wird. Per Gerichtsbeschluss können Aktivitäten eines Vereins suspendiert und der Zugang zu Online-Spendenaktionen, so keine Genehmigung vorliegt, gesperrt werden (AP 27.12.2020, vergleiche DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Innenministerium und die Provinz-Gouverneure sind außerdem befugt, die Spendensammlungen der NGOs zu überwachen, und Strafen für nicht genehmigte Kampagnen zu verhängen (EC 19.10.2021, Sitzung 36). Dem Innenminister und den Provinzgouverneuren werden weitreichende Kompetenzen bei der Kontrolle von NGOs eingeräumt. Der Innenminister kann durch Verwaltungsentscheidung ohne vorhergehende Gerichtsverfahren die Tätigkeiten von NGOs suspendieren sowie Vereinsorgane ihrer Funktion entheben und durch Treuhänder ersetzen, wenn der Verdacht bestimmter Verbrechen vorliegt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 30). Darüber hinaus werden alle Vereinigungen und Stiftungen verpflichtet, das Ministerium über Spenden aus dem Ausland zu informieren. Nach der Verabschiedung des Gesetzes sahen sich viele NGOs mit Prüfungen durch das Ministerium konfrontiert, insbesondere diejenigen, die ausländische Mittel erhalten (EC 19.10.2021, Sitzung 36). Das Strafausmaß gegen Gesetzesverstöße wurde drastisch von einst maximal 700 auf bis zu 200.000 Lira erhöht (Independent 27.12.2020). Die Einschätzung, dass es sich beim Gesetz Nr. 7262 in erster Linie um eine Maßnahme zur Einschränkung der Zivilgesellschaft handelt, teilt auch die FATF. Sie setzte die Türkei 2021 auf eine "graue Liste" und ermahnte sie, legitim arbeitende zivilgesellschaftliche Organisationen nicht unter dem Vorwand der Bekämpfung von Terrorfinanzierung unverhältnismäßig zu beschränken (FNS 17.5.2022).
Inzwischen wurde das Gesetz Nr. 7262 um einen Artikel zur Risikoanalyse in Organisationen erweitert. Seit März 2022 erhielten etliche NGOs Briefe vom "Generaldirektorat für die Beziehungen mit der Zivilgesellschaft", die sie zu zusätzlichen Maßnahmen der Selbstkontrolle aufforderten. Die Schreiben gingen an Organisationen, de facto vor allem an jene im Menschenrechtsbereich, denen nach unbekannten Kriterien ein "mittleres" oder "hohes Risiko" zugeschrieben wird. Die NGOs werden gedrängt, innerhalb einer vorgegebenen Frist "notwendige" Untersuchungen zu ihren Finanzierungsquellen, ihren Mitarbeitern und ihren institutionellen Partnern durchzuführen, um ihren sog. Risikostatus festzustellen (FNS 17.5.2022).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022
AP – Associated Press (27.12.2020):Turkish lawmakers pass bill monitoring civil society groups, https://apnews.com/article/turkey-recep-tayyip-erdogan-terrorism-bills-europe-d4e48ebdbba76911dc6fb2a94b201ffd, Zugriff 2.2.2021
BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022
CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf, Zugriff 21.2.2022
DW – Deutsche Welle (27.12.2020): Umstrittenes NGO-Gesetz in der Türkei beschlossen, https://www.dw.com/de/umstrittenes-ngo-gesetz-in-der-t%C3%BCrkei-beschlossen/a-56068756, Zugriff 21.2.2022
EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 21.2.2022
FIDH/ OMCT/ İHD - International Federation for Human Rights/ World Organisation Against Torture/ İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (5.2021): TURKEY PART römisch II - Turkey’s Civil Society on the Line: A Shrinking Space for Freedom of Association, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2021/05/OBS-%C4%B0HD-TURKEY.pdf, Zugriff 7.2.2022
FH - Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068831.html, Zugriff am 24.8.2022
FNS - Friedrich Naumann Stiftung (17.5.2022): Zivilgesellschaft unter Druck, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/zivilgesellschaft-unter-druck, Zugriff 30.5.2022
ICNL – The International Center for Not-for-Profit-Law (20.11.2021): Civic Freedom Monitor: Turkey, https://www.icnl.org/resources/civic-freedom-monitor/turkey#resources, Zugriff 4.2.2022
Independent (27.12.2020): Turkish human rights groups face being shut down as Erdogan passes law stifling NGOs, https://www.independent.co.uk/news/world/europe/turkey-oversight-law-ngos-b1779231.html, Zugriff 21.2.2022
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (30.12.2020): Neues Gesetz alarmiert türkische Zivilgesellschaft, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-neues-gesetz-alarmiert-die-zivilgesellschaft-ld.1594276, Zugriff 21.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 4.2.2022
Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung
Letzte Änderung: 20.09.2022
Seit 2012 verfügt die Türkei über das Amt einer Ombudsperson (Kamu Denetçiliği Kurumu/ Ombudsmanlık), das organisatorisch beim türkischen Parlament verortet ist. Gemäß Eigendefinition besteht die Hauptaufgabe des Amtes der Ombudsperson darin, sich für Einzelpersonen gegenüber der Verwaltung einzusetzen sowie die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Explizit außerhalb der Zuständigkeit des Organs sind Handlungen, die die Ausübung der gesetzgebenden und justiziellen Gewalt betreffen, sowie die Handlungen der türkischen Streitkräfte, die rein militärischer Natur sind (OI o.D.).
Trotz des Anstiegs der Fallzahlen blieb die Institution bei politisch heiklen Fragen, die die Grundrechte betreffen, stumm. Die Ombudsperson ist immer noch nicht befugt, von Amts wegen Untersuchungen einzuleiten und in Fällen mit Rechtsbehelfen zu intervenieren (EC 19.10.2021, Sitzung 12). Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 19.10.2021, Sitzung 29), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 66).
Die 2012 gegründete Menschenrechtsinstitution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 28.7.2022, Sitzung 6). Einige HREI-Mitglieder zeigten eine negative Haltung gegenüber den grundlegenden Menschenrechten, einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter, der Rechte der Frauen und der Rechte von sexuellen Minderheiten. Zudem sprachen sie sich für den Austritt aus der Istanbul-Konvention aus. All dies widerspricht den erklärten Zielen dieser Institution (EC 19.10.2021, Sitzung 29).
Weder die Ombudsperson noch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder sind nicht nach den Pariser Prinzipien akkreditiert. Bislang hat die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung keine Akkreditierung bei der globalen Allianz für nationale Menschenrechtsinstitutionen beantragt und sie entspricht nicht der Empfehlung der Europäischen Kommission hinsichtlich der Standards für Gleichbehandlungsstellen. Beide Institutionen zeigten sich hinsichtlich ihrer Effektivität bei der Behandlung von Anträgen als begrenzt (EC 19.10.2021, Sitzung 29).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022
EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 3.11.2021
OI - Ombudsman Institution of the Republic of Turkey (o.D.): About The Institution, https://www.ombudsman.gov.tr/English/about-the-institution, Zugriff 7.2.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 27.4.2022
Wehrdienst
Letzte Änderung: 20.09.2022
In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden (MFA-NL 11.7.2019). Im Ausland lebende türkische/doppelte Staatsangehörige sind vom 20. Lebensjahr bis zum Ende des 35. Lebensjahres verpflichtet, den Wehrdienst abzuleisten oder diesen mittels Antrag beim zuständigen türkischen Konsulat bis zum Ende des 35. Lebensjahres aufschieben zu lassen (Artikel 38). Sie haben auch die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung von der Wehrpflicht frei zu kaufen. Sie müssen dann lediglich eine Fernausbildung absolvieren (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder, während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 21). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).
Mit dem Gesetz 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt. Es sieht die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst für alle Wehrpflichtigen vor (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019). Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden. Wehrpflichtige Auslandstürken absolvieren statt dieser verkürzten Grundausbildung einen Fernkurs gemäß den Vorgaben des Verteidigungsministeriums und müssen nicht mehr einrücken. Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe beläuft sich mit Stand November 2021 auf rund 3.900 Euro (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahren im Ausland arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 30.11.2021, Sitzung 19). Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (DFAT 10.9.2020) sind u. a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 30.11.2021, Sitzung 20).
Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter "fortgeschrittene psychosexuelle Störungen". Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB 30.11.2021, Sitzung 36; vergleiche EC 6.10.2020, Sitzung 40). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle "Beweismittel" nachgewiesen werden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 36; vergleiche AA 28.7.2022, Sitzung 13).
Einige Wehrpflichtige sind Berichten zufolge schweren Schikanen, körperlichen Misshandlungen und Folter ausgesetzt, die mitunter zum Tod oder Selbstmord führen. Menschenrechtsgruppen berichten über verdächtige Todesfälle beim Militär, insbesondere unter Wehrpflichtigen, die der alevitischen und kurdischen Minderheit angehören. Die Regierung hat solche Vorfälle nicht systematisch untersucht und gibt auch keine Daten darüber heraus. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) und die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) meldeten für die ersten elf Monate des Jahres 2021 mindestens 13 Todesfälle, entweder durch Unfälle oder infolge dubioser Umstände (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6f.).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 22.2.2022
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 22.2.2022
HDN – Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475, Zugriff 22.2.2022
MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf, Zugriff 22.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 27.4.2022
Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee
Letzte Änderung: 10.03.2022
Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen (MFA-NL 11.7.2019).
Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder der kurdischen noch der alevitischen. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Angehörige von Minderheiten schwierig (ÖB 30.11.2021, S.21). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 10.2019). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig, zu sagen, ob Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Beispiele für Misshandlungen von Angehörigen von Minderheiten in der Armee. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. Bei einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirtaş auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten Führer der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (MFA-NL 11.7.2019). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Mezopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MFA-NL 11.7.2019; vergleiche K24 10.5.2018).
Quellen:
K24 – Kurdistan 24 (10.5.2018): Middle East Conscript in Turkish army 'lynched' for singing in Kurdish, MPs say, https://web.archive.org/web/20190203005959/http://www.kurdistan24.net:80/en/culture/e9b13521-081d-402b-9ea4-20f41eea9bb5, Zugriff 22.2.2022 [Der Originallink ist nicht mehr verfügbar.]
Mezopotamya (14.9.2020): Kurdish soldier attacked at military post: römisch eins have no life safety, http://mezopotamyaajansi35.com/en/search/content/view/109378?page=1&key=3b84e1dcd1d3fd2e3c8d8d7731ad0653, Zugriff 22.2.2022
MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf, Zugriff 22.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 7.2.2022
SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (16.9.2020): Türkei: Situation von kurdischen Personen im Militärdienst, https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Herkunftslaenderberichte/Europa/Tuerkei/200915_TUR_Kurden_im_Militaerdienst.pdf, Zugriff 22.2.2022
UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (10.2019): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_2019.odt, Zugriff am 22.2.2022
Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung: 20.09.2022
Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor (AA 28.7.2022, Sitzung 13, vergleiche MFA-NL 11.7.2019, DFAT 10.9.2020), trotz deutlicher Mahnungen des Ministerkomitees des Europarats (AA 28.7.2022, Sitzung 13). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird mit einer Haftstrafe geahndet. Danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Strafen werden solange ausgesprochen, solange sich der Wehrpflichtige der Ableistung des Militärdienstes entzieht. Die Strafe steigt, je länger man sich dem Dienst entzieht (DFAT 10.9.2020). Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakçılığı), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019). Seit Änderung von Artikel 63, des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (AA 28.7.2022, Sitzung 13; vergleiche DFAT 10.9.2020). Ein diesbezüglich publik gewordener Fall ist jener des ehemaligen Leiters der Zweigstelle Siirt des türkischen Menschenrechtsvereins İHD, Zana Aksu. Im September 2021 verurteilte das erstinstanzliche Strafgericht von Eruh (Provinz Siirt) den Militärdienstverweigerer wegen "Desertion" sogar zu 18 Monaten Haft und einer Geldstrafe von 10.000 Lira (ca. 700 Euro) (Ende 2021 war der Fall noch vor dem regionalen Berufungsgericht in Diyarbakır anhängig), obwohl Aksu bereits 2018 in diesem Anklagepunkt für schuldig befunden und 2020 in einem gesonderten Verfahren wegen nicht zulässiger Doppelbestrafung freigesprochen worden war (AI 29.3.2022; vergleiche KTVU 20.9.2021). Die Nichtzahlung von Geldstrafen kann theoretisch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten und zur Einbehaltung von Gehältern und Renten führen. In der Praxis gibt es sehr viele Wehrpflichtige, welche der Wehrpflicht entfliehen, und der Staat ist in den meisten Fällen nicht in der Lage, diese weiterzuverfolgen (DFAT 10.9.2020). Die Verjährungsfrist beträgt bis zu acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtige werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen, jedoch meldet das Verteidigungsministerium nach Artikel 26, dem Innenministerium, wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, damit diese festgenommen werden können (AA 28.7.2022, Sitzung 13).
Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Nichtanerkennung von Gewissensgründen für Wehrdienstverweigerung verurteilt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Der Europarat, insbesondere dessen Ministerkomitee kritisiert die wiederholten Verurteilungen und Inhaftierungen von Kriegsdienstverweigerern wegen Verweigerung des Wehrdienstes; das Fehlen eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens zur Feststellung des Status als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und das Fehlen einer Alternative zum obligatorischen Militärdienst in der Türkei (CoE 27.9.2021, Sitzung 3).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022
AI – Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html, Zugriff 30.3.2022
CoE - Council of Europe (Department For The Execution Of Judgments Of The European Court Of Human Rights) (27.9.2021): Turkey - main issues before the Committee of Ministers - ongoing supervision, https://rm.coe.int/mi-turkey-eng/1680a23cae#page=1&zoom=auto,-275,848, Zugriff 22.2.2022
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 22.2.2022
KTVU - Keep The Volume Up - For Human Rights Defenders (20.9.2021): Zana Aksu, https://www.sessizkalma.org/en/defender/zana-aksu/, Zugriff 30.3.2022
MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf, Zugriff 22.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 7.2.2022
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 20.09.2022
Das Jahr 2021 war durch eine weitere Verschlechterung der Menschenrechtslage und der Grundfreiheiten in der Türkei gekennzeichnet. Weitreichende Beschränkungen für die Tätigkeit von Journalisten, Schriftstellern, Rechtsanwälten, Akademikern, Menschenrechtsverteidigern und kritischen Stimmen wirkten sich weiterhin negativ auf die Ausübung ihrer Freiheiten aus und führten zu Selbstzensur. Die Weigerung der Türkei, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) umzusetzen, insbesondere in den Fällen Selahattin Demirtaş und Osman Kavala, verstärkte die Bedenken hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Verbreitung oppositioneller Stimmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung wurden durch den zunehmenden Druck und die restriktiven Maßnahmen negativ beeinflusst. Es kam zu Rückschritten im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgeldern und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terroristischer Aktivitäten (EU 30.3.2022, Sitzung 16f.; vergleiche AI 29.3.2022). Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam nebst den bereits genannten Rückschritten, überdies zu solchen in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Wahrung von Verfahrensrechten sowie der Verletzung des Rechts auf Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, Sitzung 18, 21, 28, 31, 36, 40). Viele Menschenrechtsverletzungen werden zudem nicht geahndet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 30). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 4, 13, AI 29.3.2022). Sie "und ihre Organisationen sind bei ihren Tätigkeiten anhaltendem Druck ausgesetzt und arbeiten in einem zunehmend schwierigen Umfeld" (EU-Rat 14.12.2021, Sitzung 16, Pt.34). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, Sitzung 29f). Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, Sitzung 16, Pt.34). Zuletzt zeigte sich Anfang Mai 2022 das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und Grundfreiheiten sowie der Lage der Rechtsstaatlichkeit" und "fordert[e] die Staatsorgane der Türkei auf, der gerichtlichen Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern, Wissenschaftlern, Journalisten, geistlichen Führern und Rechtsanwälten ein Ende zu setzen" (EP 5.5.2022, Pt.4).
Regierungsmitglieder haben Mitglieder sexueller Minderheiten offen mit homophoben Äußerungen angegriffen. Vor dem Hintergrund einer zunehmend flüchtlingsfeindlichen Rhetorik haben tätliche Angriffe auf Flüchtlinge und Migranten zugenommen (AI 29.3.2022). Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden weiterhin gemeldet aber nicht ordnungsgemäß untersucht. Hiervon sind vor allem mutmaßliche Mitglieder der Gülenbewegung betroffen (HRW 13.1.2022; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 31).
Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlaments vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, Sitzung 17, Pt.45).
Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z. B. Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 30) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben Tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).
Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, Sitzung 5). Obgleich die EMRK aufgrund Artikel 90, der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, Sitzung 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, Sitzung 10).
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; Sitzung 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Artikel 18, EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S.16). Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; Sitzung 16f). Der Europarat setzte der Türkei im Dezember 2021 eine Frist, Kavala bis 19.1.2022 freizulassen oder eine Begründung für seine Inhaftierung vorzulegen. Ein Gericht in Istanbul lehnte dem zum Trotz die Enthaftung Kavalas ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den EGMR mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies dieses nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022). Schlussendlich wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vergleiche DW 25.4.2022). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei zu einer Geldstrafe von 7.500 Euro, zu zahlen an Kavala, und das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022).
Mit Stand 30.11.2021 waren 14.950 Verfahren beim EGMR aus der Türkei, das waren 21,4 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 30.11.2021), was neuerlich eine Steigerung zum Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutete, als mit Stand 30.11.2020 11.150 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 18,1 % aller am EGMR anhängigen Fälle, stammten (ECHR 30.11.2020). Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, Sitzung 28). Hiervon betrafen 31 Urteile das Recht auf freie Meinungsäußerung, 21 Urteile das Recht auf ein faires Verfahren und 16 das Recht auf Freiheit und Sicherheit (ECHR 17.2.2021).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 25.8.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 28.2.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschaland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 28.2.2022
AI – Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html, Zugriff 30.3.2022
CoE - Council of Europe (3.2.2022): Committee of Ministers refers Kavala v. Turkey case to the European Court of Human Rights, https://www.coe.int/en/web/portal/-/committee-of-ministers-refers-kavala-v-turkey-case-to-the-european-court-of-human-rights, 28.2.2022
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ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 7.2.2022
Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
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Haftbedingungen
Letzte Änderung: 20.09.2022
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 11). Die Haftbedingungen sind, abhängig vom Alter, Typ und Größe usw. unterschiedlich. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Bei Überbelegung einzelner Haftanstalten kann es zu Einschränkungen in der gesundheitlichen Versorgung sowie der Infrastruktur der Haftanstalt kommen (AA 28.7.2022, Sitzung 18; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 11). Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund von Überbelegung, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u. a. die Einrichtungen in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa (ÖB 30.11.2021, Sitzung 11). Während sich die Hafteinrichtungen im Allgemeinen in einem guten Zustand befinden, weisen etliche Einrichtungen bauliche Mängel auf, die sie für eine, über ein paar Tage hinaus gehende, Inhaftierung ungeeignet machen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) besucht (ÖB 30.11.2021, Sitzung 11). Die Regierung gestattet es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren (USDOS 12.4.2022, S.9; vergleiche OMCT 2022). NGOs wie die World Organisation Against Torture (OMCT) orten ein Fehlen einer unabhängigen Überwachung der türkischen Gefängnisse, wodurch die Situation in diesen Gefängnissen verschleiert wird. Hinzu kommt, dass die verfügbaren nationalen Mechanismen wie die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (HREI bzw. TİHEK), die die Türkei als nationalen Präventionsmechanismus im Rahmen des OPCAT eingerichtet hatte, und die 2011 eingerichteten Gefängnisüberwachungsausschüsse, aufgrund der Mängel bei den Nominierungsverfahren der Mitglieder und des Mangels an politischer Unabhängigkeit sowie einer soliden Methodik, unwirksam sind (OMCT 2022). Auch die Europäische Kommission charakterisierte die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen als weitgehend wirkungslos und speziell die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung als nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt (EC 6.10.2020, Sitzung 32).
In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, Sitzung 38). Zum 1.8.2022 gab es insgesamt 384 Strafvollzugsanstalten, darunter 269 geschlossene und 86 offene Strafvollzugsanstalten, vier Kindererziehungszentren, zehn geschlossene und sieben offene Frauenvollzugsanstalten, und acht geschlossene Kindervollzugsanstalten. Die Kapazität dieser Anstalten betrug 275.843 Personen (ABC-TGM 1.8.2022). Die tatsächliche Zahl der Insassen betrug laut Justizministerium rund 314.500 (Stand Ende März 2022), davon waren 12,3 % Untersuchungshäftlinge (ICPR 2022). In der Gesamtzahl der Gefängnisinsassen für März 2022 sind die 426.647 Bewährungshäftlinge nicht enthalten. Das bedeutet, dass insgesamt 741.149 Menschen in Haft oder auf Bewährung waren (OMCT 2022). Die türkische Regierung hat 8,7 Mrd. Lira für den Bau von 36 neuen Gefängnissen in den nächsten vier Jahren bereitgestellt (SCF 15.3.2022). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13 % der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020, Sitzung 31f). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 Sitzung 4f; Sitzung 32 Tab.). Mit März 2022 wurden 374 Inhaftierte pro 100.000 Einwohner gezählt [zum Vergleich: Österreich: 93; Deutschland: 67] (ICPR 2022). Die Belegung war (Februar 2022) mit 108,3 % ebenfalls überproportional. Innert zehn Jahren nahm die Zahl der Häftlinge in der Türkei um 89 % zu (UNILCRIM/CoE 6.4.2022).
Das Europäische Parlament zeigte sich im Juni 2022 "zutiefst besorgt über die Lage in den überfüllten Gefängnissen der Türkei, wodurch sich die ernste Bedrohung, die die COVID-19-Pandemie für das Leben der Gefangenen darstellt, weiter verschärft". Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EP 7.6.2022, Sitzung 19f., Pt. 32; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 31, DFAT 10.9.2020). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt. NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, Sitzung 1). Häftlinge erklärten, dass auf die meisten ihrer Beschwerden nicht eingegangen wurde und dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessert haben (EC 6.10.2020, Sitzung 32).
Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung beschwert sowie über den Umstand, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, Sitzung 1). Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, Sitzung 32).
Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7; vergleiche DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z. B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, Sitzung 29). Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter Übergriffen, darunter lange Einzelhaft, unnötige Entkleidungen und Leibesvisitationen, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung. Berichten zufolge waren auch Besucher von Häftlingen mit Terrorismusbezug Übergriffen, wie Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 20). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, Sitzung 19), zuletzt z. B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).
Ein Problem bei der strafrechtlichen Prüfung von Verdachtsfällen bleibt die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen. Menschenrechtsorganisationen zufolge wird Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert, sodass eine unabhängige Überprüfung nur schwer möglich ist (AA 28.7.2022, Sitzung 17). Aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen geht hervor, dass einige Ärzte aus Angst vor Repressalien ihre Unterschrift nicht unter medizinische Berichte setzen, in denen Folter behauptet wird. Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 8).
Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft (CoE-CPT 5.8.2020), denn seit Januar 2004 gilt die Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen (AA 28.7.2022, Sitzung 17). Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei Weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).
Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte mit Stand Ende April 2022 1.517 kranke Gefangene dokumentieren. 651 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befunden haben. Und 2021 starben mindestens 52 Personen in Haft (İHD 6.2022, Sitzung 10, 13).
Kurdische Häftlinge
Mit Beginn des Ausnahmezustands (2016) wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten, und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, Sitzung 16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, Sitzung 30, 68; vergleiche İHD 6.2022, Sitzung 23). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, Sitzung 30; 68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, Sitzung 30; 68; vergleiche İHD 23.10.2020, Sitzung 7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, Sitzung 55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021).
Hochsicherheitsgefängnisse
In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, Sitzung 11-13). Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV 7.2019, Sitzung 4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, Sitzung 70). Viele Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) oder deren hochrangige Persönlichkeiten befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, Sitzung 36).
Isolationshaft
Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, Sitzung 26). Zur vermehrten Verhängung der Einzelhaft kommt es in den 14 F-Typ-, 13 Hochsicherheits- und fünf S-Typ-Gefängnissen (İHD 6.2022, Sitzung 21). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11 % aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der türkischen NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, Sitzung 26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, Sitzung 25.) Betroffen von der Isolationshaft sind auch Mitglieder sexueller Minderheiten. Es ist möglich, dass LGBT-Häftlinge aufgrund ihrer Identität unabhängig von ihrer Verurteilung jahrelang in Isolation gehalten werden. In einigen Gefängnissen werden Mitglieder sexueller Minderheiten, entgegen ihren Forderungen, in Einzelzellen untergebracht (CİSST 26.3.2021, Sitzung 48). Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Häftlinge sich in der Türkei in Isolationshaft befinden oder wie viele sich das Leben genommen haben, doch nach Schätzungen der Experten sollen etwa 3.000 Personen von Isolationshaft betroffen sein (DW 7.5.2019). Im Mai 2021 forderte das Europäische Parlament "die Türkei auf, alle Isolationshaft und die Inhaftierung in inoffiziellen Haftanstalten zu beenden" (EP 19.5.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Die Covid-19-Pandemie hat die Situation in den Gefängnissen verschärft, da die Überbelegung es schwierig macht, die Infektionen unter den auf engem Raum lebenden Gefangenen zu kontrollieren. Nach Angaben der türkischen Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten haben 55 von 372 Gefängnissen Covid-19-Fälle gemeldet (OMCT 2022).
Im Jahr 2021 starben mindestens 175 Gefangene an den Folgen von COVID-19. Aus den eingelangten Ansuchen schloss die Menschenrechtsvereinigung İHD, dass die Haftbedingungen für die Pandemie nicht geeignet sind und keine hygienischen und gesunden Bedingungen für die Gefangenen geschaffen wurden. Darüber hinaus führten die Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie zu einer Entrechtung der Inhaftierten. Regelmäßige Untersuchungen und Behandlungen kranker Gefangener, einschließlich solcher in kritischem Zustand, wurden unterbrochen. Gefangene, die in regelmäßigen Abständen einen Arzt aufsuchen oder regelmäßig Medikamente einnehmen müssten, stehen vor ernsthaften Problemen (İHD 6.2022, Sitzung 27). Erschwerend komme laut Menschenrechtsverteidigern hinzu, dass wegen der Pandemie keine externen Kontrollen, etwa des Wachpersonals, in den Gefängnissen durchgeführt werden können (DW 17.3.2021).
Die türkische NGO CİSST verzeichnete seit Beginn der COVID-19-Pandemie Beschwerden aus 179 Haftanstalten unterschiedlichen Typus' (Stand: Ende November 2021). Die engen Verhältnisse, auch infolge der Überbelegung, sowohl in den Zellen als auch in den Speisesälen, stellen ein grundlegendes Problem hinsichtlich der COVID-19-Pandemie dar. Was die Hygienemaßnahmen anlangt, so wurden zu Beginn der Epidemie die Gefängnisse regelmäßig desinfiziert. Die diesbezügliche Frequenz hat jedoch abgenommen. Es kam zu etlichen Klagen über schmutzige Bettwäsche, Toiletten und Trinkwasser. In einigen Gefängnissen kann auch infolge der Überbelegung keine Frischluft zirkulieren. In einigen Gefängnissen führen die Gefängnisbeamten vermehrt Leibesvisitationen und Inspektionen durch, ohne die Regeln des Social Distancing einzuhalten bzw. ohne Masken zu tragen. Während der Zelleninspektionen werden die Gefangenen nicht mit Masken ausgestattet. Seifen, Bleich- und Desinfektionsmittel werden nur in einigen Gefängnissen kostenlos verteilt. Obwohl einige Gefangene glaubten, die Symptome von COVID-19 zu haben, wurden ihre Bitten, getestet zu werden, nicht erfüllt. Die Minimierung der Anzahl der Treffen mit den Familien hat die Isolationsbedingungen für die Gefangenen, die allein untergebracht sind, noch verschärft (CİSST 30.11.2021).
Angesichts des hohen Risikos der Ausbreitung von COVID-19 in überfüllten Gefängnissen verabschiedete das Parlament Mitte April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Über 65.000 Personen profitierten mit Stand Juli 2020 von dieser neuen Bestimmung. Sie schloss jedoch nebst Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und Drogen-Delinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen aus, die nach Prozessen im Rahmen der weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen (EC 6.10.2020, Sitzung 32; vergleiche DFAT 10.9.2020, ÖB 30.11.2021, Sitzung 11).
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Todesstrafe
Letzte Änderung: 20.09.2022
Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d. h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 12).
Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vergleiche FIDH 13.10.2020). Und Ende Juni 2022 meinte der Justizminister, dass die Türkei die Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur Abschaffung der Todesstrafe überdenken würde, nachdem Präsident Erdoğan die Todesstrafe im Zusammenhang mit absichtlich gelegten Waldbränden ins Spiel brachte (Reuters 25.6.2022).
Quellen:
Duvar (29.9.2020): Turkish Parliament speaker announces support for return of death penalty, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/09/29/turkish-parliament-speaker-announces-support-for-return-of-death-penalty/, Zugriff 23.2.2022
EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 23.2.2022
FIDH - International Federation for Human Rights 813.10.2020): Death Penalty Cannot be Reinstated in Turkey, https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/turkey/death-penalty-cannot-be-reinstated-in-turkey, Zugriff 3.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022
OSCE – Organization for Security and Co-operation in Europe (17.9.2019): The Death Penalty in the OSCE Area: Background Paper 2019, https://www.osce.org/files/f/documents/a/9/430268_0.pdf, Zugriff 23.2.2022
Reuters (25.6.2022): Turkey re-evaluates death penalty after Erdogan's wildfires comment, https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-wildfire-under-control-after-4500-hectares-scorched-government-2022-06-25/, Zugriff 10.8.2022
Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten
Letzte Änderung: 20.09.2022
Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 2.6.2022), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2021, Sitzung 23; vergleiche BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).
Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 2.6.2022; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2021, Sitzung 23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2021, Sitzung 23f; vergleiche DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgruppen können sich ebenfalls, wenn sie die verwaltungsrechtlichen Vorgaben erfüllen, als Stiftung oder als Verein organisieren (AA 28.7.2022, Sitzung 11).
Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 2.6.2022). Formal seit den Zwanziger-Jahren verboten, als etwa 1925 alle Derwischhäuser geschlossen wurden, organisieren sich die Anhänger des Sufismus in Vereinen und geben ihr Wissen legal, beispielsweise an Universitäten, weiter. An der staatlichen Universität Istanbul etwa besteht ein eigener Lehrstuhl samt Master-Studienlehrgang für Sufismus (DF 19.2.2018).
In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, Sitzung 10). Das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit schließt das Recht ein, die eigene Religion oder Weltanschauung zu verbreiten. Aktivitäten, die darauf abzielen, die eigene Religion zu verbreiten, werden allerdings oft mit Misstrauen betrachtet. Sie werden schnell als "missionarische Aktivitäten" bezeichnet und fallen als solche nicht in den Geltungsbereich des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit (NHC-FBI 19.4.2022, Sitzung 37).
Blasphemie ist nach dem Strafgesetzbuch verboten, das die "Erregung von Hass und Feindseligkeit" unter Strafe stellt, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Darauf stehen Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr, im Falle einer Aufstachelung zur Missachtung des Gesetzes sogar von bis zu drei Jahren. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden. Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert. Die Störung des Gottesdienstes einer religiösen Gruppe wird mit ein bis drei Jahren, die Beschädigung religiösen Eigentums mit drei Monaten bis zu einem Jahr und die Zerstörung religiösen Eigentums mit ein bis vier Jahren Gefängnis bestraft. Da es illegal ist, Gottesdienste an Orten abzuhalten, die nicht als Gebetsstätten registriert sind, gelten diese gesetzlichen Verbote in der Praxis nur für anerkannte religiöse Gruppen (USDOS 2.6.2022). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter von Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).
Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 2.6.2022). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99 % der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 78 % davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Vertreter anderer, nicht-muslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2 % der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31 % der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 6 % der Bevölkerung ausmachen. 4 % der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 2.6.2022; vergleiche BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 12.000-16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'i. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.500 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 2.6.2022).
Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). 3 % bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1 % - und 2 % als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vergleiche USDOS 2.6.2022). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55 % auf 51 %, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99 % steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60 % als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).
Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u. a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 2.2022, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin'sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019). Das Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder der Zulfikar [Symbol von Schiiten, Aleviten und Alawiten] sind hingegen nicht erlaubt (NHC-FBI 19.4.2022, Sitzung 39).
Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichteter Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2021, Sitzung 24). Hierzu stellte das Europäische Parlament im Juni 2022 "mit Besorgnis fest, dass noch immer Hetze und Hassverbrechen gegen religiöse Minderheiten, hauptsächlich Aleviten, Christen und Juden, gemeldet werden und dass die einschlägigen Ermittlungen ergebnislos bleiben" (EP 7.6.2022, Sitzung 13, Pt. 19).
Im Jahr 2021 waren die Bedingungen für die Religionsfreiheit in der Türkei nach wie vor schlecht, ohne dass sich die Situation im Vergleich zum Vorjahr verbessert hätte. Viele Religionsgemeinschaften sahen sich weiterhin mit bürokratischen Hindernissen konfrontiert, die die Ausübung ihrer Religion verhinderten oder ernsthaft einschränkten. Insbesondere weigerte sich die Regierung weiterhin, religiösen Gruppen die Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen. Ebenso unternahm die Regierung keine Schritte zur Wiedereröffnung der Theologischen Schule von Halki (Chalki-Seminar), einem Seminar des Ökumenischen Patriarchats der Ostorthodoxen Kirche. Durch die Nachlässigkeit der Regierung gegenüber Vandalismus und sogenannte "Schatzsucher" wurden religiöse Stätten ernsthaft beschädigt oder zerstört (USCIRF 4.2021, Sitzung 62f.).
Es kommt immer wieder zu Hassverbrechen, inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (BMZ 10.2020), die sich gegen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften und deren Gotteshäuser, zugehörige Einrichtungen, religiöse/spirituelle Führer und Mitglieder richten, und diese Straftaten bleiben zumal ungestraft. Die derzeitige Gesetzgebung ist unzureichend, um gegen Hassverbrechen vorzugehen. Die Straftaten werden weder ausreichend gemeldet noch von den Behörden ausreichend erfasst (NHC-FBI 19.4.2022, Sitzung 37; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 40).
Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an (USDOS 12.4.2022, Sitzung 79), wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USCIRF 12.2021, Sitzung 1, 4). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, Sitzung 68).
Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, wobei sich die Regierung auch mit Ende 2021 weiterhin nicht an ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2013 gehalten hat, wonach der von der Regierung verordnete verpflichtende Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gegen die Bildungsfreiheit verstößt (USDOS 2.6.2022). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 2.6.2022).
Das Verfassungsgericht entschied im April 2022, dass der obligatorische Religionsunterricht gegen die Religionsfreiheit verstößt, und bestätigte damit die beiden früheren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher die Türkei wegen des Prinzips und des Inhalts des obligatorischen Religionsunterrichts kritisiert hatte. Zwar hatte das türkische Erstgericht unter Berufung auf innerstaatliches und internationales Recht bereits vor 13 Jahren zugunsten der klagenden, alevitischen Eltern entschieden, doch hob der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] das Urteil aufgrund der Berufung des Bildungsministeriums wieder auf. Schließlich landete der Fall 2014 auf dem Schreibtisch des Verfassungsgerichts (AM 12.4.2022; vergleiche Bianet 11.4.2022).
Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Muslimen und Aleviten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (FH 2.2022, F4; vergleiche AA 28.7.2022, Sitzung 11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 26; vergleiche BS 23.2.2022, Sitzung 27). Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht-muslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 26).
Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 28.7.2022, Sitzung 11; vergleiche BMZ 10.2020) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 28.7.2022, Sitzung 11).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022
AM – Al Monitor (12.4.2022): Turkey’s top court rules compulsory religion courses violate rights, https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkeys-top-court-rules-compulsory-religion-courses-violate-rights, Zugriff 19.4.2022
AM – Al Monitor (9.1.2019): Turks losing trust in religion under AKP, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/01/turkey-becoming-less-religious-under-akp.html, Zugriff 1.3.2022
BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland] (10.2020): Zweiter Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit, https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2410402/9e394a9928461b6c4ac0d4368b7a26af/201028-zweiter-bericht-der-bundesregierung-zur-weltweiten-lage-der-religionsfreiheit-data.pdf, Zugriff 3.5.2022
Bianet (11.4.2022): Compulsory religion class violates ECHR, Constitutional Court rules, https://bianet.org/english/law/260286-turkey-s-compulsory-religion-class-violates-echr-constitutional-court-rules, Zugriff 19.4.2022
BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022
DF - Deutschlandfunk (19.2.2018): Mystik in der Türkei - Eine Frau leitet einen Sufi-Orden, https://www.deutschlandfunk.de/mystik-in-der-tuerkei-eine-frau-leitet-einen-sufi-orden-100.html, Zugriff 11.5.2022
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Aleviten
[…]
Atheisten, Agnostiker und andere nicht-religiöse Personengruppen
Letzte Änderung: 21.09.2022
Atheisten, Agnostiker und Deisten werden am Arbeitsplatz, in der Familie und im Bildungssystem in ihrem Recht auf Gedanken- und Glaubensfreiheit diskriminiert. Angehörige dieser Personengruppen haben kein Recht auf Befreiung vom obligatorischen Religionsunterricht im Fach "Religiöse Kultur und Ethik". Wer sich kritisch über Religion oder Glauben im Allgemeinen oder über bestimmte Auslegungen, insbesondere des Islams, äußert, muss mit einer Anzeige rechnen und läuft Gefahr, nach dem türkischen Strafgesetzbuch verfolgt zu werden. Dies geschieht insbesondere nach Artikel 216 (3): "öffentliche Herabsetzung der religiösen Werte eines Teils der Bevölkerung". Umgekehrt wird Artikel 216 (3) nicht angewandt, um diese Minderheiten vor hasserfüllten oder verleumderischen Äußerungen zu schützen (NHC-FBI 19.4.2022, Sitzung 6). Im Jahr 2020, beispielsweise, wurde der regimekritische Journalist Enver Aysever wegen Verstoßes gegen Artikel 216/3 des Strafgesetzbuchs verhaftet, nachdem er auf seiner persönlichen Twitter-Seite eine Karikatur veröffentlicht hatte, in der er sich über das Verhalten des muslimischen Klerus während der COVID-19-Pandemie lustig machte. Er wurde später wieder freigelassen, muss sich aber noch wegen Beleidigung religiöser Gefühle vor Gericht verantworten (HI 5.1.2021). Im Mai 2020 ertönte, als Resultat einer technischen Manipulation, das Lied "Bella Ciao" aus den Lautsprechern einiger Moscheen in Izmir. Der Generalstaatsanwalt von Izmir kündigte nicht nur eine Untersuchung des Sabotageakts an, sondern auch derjenigen, die das Video geteilt haben, wegen des Strafdeliktes der "öffentlichen Verunglimpfung religiöser Werte" (Bianet 21.5.2020).
Am 23.10.2020 hielt der Leiter der staatlichen Religionsbehörde (DIYNET), Ali Erbaş, eine Rede anlässlich der Eröffnung einer Moschee in Patnos/Ağrı durch Staatspräsident Erdoğan. Darin richtete Erbaş sich gegen die Ungläubigen und sagte: "Von Menschen, die nicht an das Leben nach dem Tod glauben, wird alles Böse erwartet". Die Vereinigung der Atheisten in der Türkei reagierte mit einer Strafanzeige bei der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul wegen offener Beleidigung nicht-gläubiger Bürger (AD 6.12.2020). Unbeeindruckt von der Klage verkündigte Erbaş Ende März 2021: "Schützen wir unsere Kinder vor anderen Ideologien als dem Islam und verschiedenen Organisationen und Strukturen, die Unglauben, Atheismus, Deismus und Zoroastrismus fördern. Wir würden eine Sünde begehen, wenn wir sie nicht schützen würden" (Duvar 29.3.2021).
Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019; vergleiche HI 5.1.2021) und die Zahl der Nichtgläubigen verdoppelt, sodass der Anteil der beiden Kategorien insgesamt 5 % beträgt. Dieser Prozentsatz steigt insbesondere bei den jungen Menschen unter 30 Jahren an (HI 5.1.2021).
Quellen:
AD - Ateizm Derneği [Atheismus Vereinigung] (6.12.2020): Criminal Complaint, https://www.ateizmdernegi.org.tr/blog/2020/12/06/criminal-complaint/, Zugriff 10.5.2022
Bianet (21.5.2020): Prosecutors Open Investigation After İzmir Mosques Blare 'Bella Ciao' Song, https://bianet.org/english/law/224592-prosecutors-open-investigation-after-izmir-mosques-blare-bella-ciao-song, Zugriff 10.5.2022
Duvar (29.3.2021): Children must be protected from ideologies other than Islam: Turkey's top religious body, https://www.duvarenglish.com/children-must-be-protected-from-ideologies-other-than-islam-turkeys-top-religious-body-news-56839, Zugriff 10.5.2022
DW – Deutsche Welle (9.1.2019): Zahl der Atheisten in Erdogans Türkei steigt, https://www.dw.com/de/zahl-der-atheisten-in-erdogans-t%C3%BCrkei-steigt/a-46992921, Zugriff 1.3.2022
HI - Humanists International (5.1.2021): Freedom of Thought Report - Turkey, https://fot.humanists.international/countries/asia-western-asia/turkey/#Non-believers, Zugriff 10.5.2022
NHC-FBI - Norwegian Helsinki Committee’s Freedom of Belief Initiative [Yıldırım, Mine] (19.4.2022): An Appeal to Move Forward from Aspirations to Actions - Monitoring Report on the Right to Freedom of Religion or Belief in Turkey, https://inancozgurlugugirisimi.org/wp-content/uploads/2022/04/iog-monitoring-report-on-forb-2022-en.pdf, 9.5.2022
Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung: 21.09.2022
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolische und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 12.4.2022, Sitzung 73).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, Sitzung 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).
Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022, Sitzung 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, Sitzung 18, Pt. 30).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 73f.).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 19.10.2021, Sitzung 40). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, Sitzung 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2; vergleiche USCIRF 12.2021, Sitzung 4). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 75).
Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft. Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf. An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Im März 2021 gab das Ministerium Quoten für die Einstellung von Lehrkräften bekannt, jedoch wurden nur drei Lehrkräfte für kurdische Wahlfächer in der gesamten Türkei zugewiesen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 19.10.2021, Sitzung 41).
Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2021; Sitzung 28).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022
bpb – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018#footnode12-12, Zugriff 25.2.2022
BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022
EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 25.2.2022
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 25.2.2022
EP – Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf, Zugriff 29.6.2022
FH – Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022 – Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2022, Zugriff 28.2.2022
HDF – Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf, Zugriff 25.2.2022
MRGI – Minority Rights Group International (6.2018b): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/, Zugriff 25.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
USCIRF – US Commission on International Religious Freedom: Country [USA] (12.2021): Update: Turkey; Religious Freedom in Turkey in 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069569/2021+Turkey+Country+Update.pdf, Zugriff 27.4.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 27.4.2022
Kurden
Letzte Änderung: 21.09.2022
Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, Sitzung 20).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli blieben die meiste Zeit des Jahres 2021 "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26, 73). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 19.10.2021, Sitzung 4). [Anm.: für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)"]
Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 7.6.2022 "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, Sitzung 18, Pt. 30). Im Jahr davor zeigte sich das EP zudem besorgt "über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, Sitzung 16f, Pt. 44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, Sitzung 17, Pt. 44).
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 73) und die meisten blieben es auch (EC 19.10.2021, Sitzung 16). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 19.10.2021, Sitzung 16; vergleiche CCRT 8.4.2021)
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 19.10.2021, Sitzung 16). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). So wurden beispielsweise am 16.6.2022 16 kurdischen Journalistinnen und Journalisten, die eine Woche zuvor in Diyarbakır festgenommen worden waren, nach Gerichtsbeschluss in ein Gefängnis gebracht, vier weitere wurden unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Medienschaffenden wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der verbotenen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) [Dachorganisation der PKK] sowie Terrorpropaganda verhaftet. Ihnen wird vorgehalten, Sendungen für kurdische Fernsehsender im Ausland produziert sowie Interviews mit der KCK-Führung genutzt zu haben, um Anweisungen von diesen zu verbreiten (BAMF 20.6.2022, Sitzung 11; vergleiche VOA 11.6.2022). Im Gegensatz hierzu entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021). Kurdisch-sprachige Medien sind seit Ende des Friedensprozesses 2015 bzw. nach dem Putschversuch 2016 vermehrt staatlichem Druck ausgesetzt. Zahlreiche kurdischsprachige Medien wurden verboten (AA 28.7.2022, Sitzung 10).
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, Sitzung 36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit Langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, Sitzung 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), zum kurdischen Neujahrsfest Newroz (Rudaw 22.3.2022) und am 1. Mai (WKI 3.5.2022).
Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, Sitzung 21).
Übergriffe
Während beispielsweise das niederländische Außenministerium davon spricht, dass vereinzelte gewalttätige Übergriffe mit einer anti-kurdischen Dimension ohne politischen Kontext immer wieder vorkommen (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 47f), veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern im Juli 2021 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, Sitzung 27; vergleiche Bianet 22.7.2021).
Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vergleiche NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vergleiche TP 20.7.2021). Im September wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar 2022 brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022).
Verwendung der kurdischen Sprache
Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2021, Sitzung 28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirkten sich jedoch weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus. Frühere Bemühungen der entmachteten HDP-Gemeinden, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, wurden weiter unterminiert (EC 19.10.2021; Sitzung 41). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern (ÖB 30.11.2021, Sitzung 28) - So wurden 2019 lediglich 59 Kurdisch-Lehrer an staatliche Schulen eingestellt (Bianet 21.2.2022) - sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 28). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AM 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2021, Sitzung 28). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, Sitzung 8.), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte, kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. Und der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AM 10.8.2022). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Wahlkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, Sitzung 21; vergleiche TM 17.9.2020).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, Sitzung 10). So kündigte die türkische Regierung 2013 im Rahmen einer Reihe von Reformen an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (römisch zehn, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, Sitzung 71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 27).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).
Siehe auch das Unterkapitel: "Opposition" und bezüglich kurdischer Gefängnisinsassen das Kapitel: "Haftbedingungen"
Quellen:
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TM – Turkish Minute (17.9.2020): Turkey removes signs in Kurdish as racist attacks on Kurds surge, https://www.turkishminute.com/2020/09/17/turkey-removes-signs-in-kurdish-as-racist-attacks-on-kurds-surge/, Zugriff 25.2.2022
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USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 26.4.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 25.2.2022
VOA – Voice of America (11.6.2022): Police Detain 20 Kurdish Journalists in Turkey Over Alleged Terror Links, https://www.voanews.com/a/police-detain-20-kurdish-journalists-in-turkey-over-alleged-terror-links-/6613073.html, Zugriff 11.8.2022
WKI – Washington Kurdish Institute (3.5.2022): Kurdistan’s Weekly Brief May 3, 2022, https://dckurd.org/2022/05/03/kurdistans-weekly-brief-may-3-2022/, Zugriff 8.8.2022
WKI - Washington Kurdish Institute (22.3.2022): Kurdistan’s Weekly Brief March 22, 2022,https://dckurd.org/2022/03/22/kurdistans-weekly-brief-march-22-2022/, Zugriff 8.8.2022
WKI – Washington Kurdish Institute (28.9.2021): Kurdistan’s Weekly Brief September 28, 2021 – Turkey, https://dckurd.org/2021/09/28/kurdistans-weekly-brief-september-28-2021/, Zugriff 25.2.2022
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 22.09.2022
Artikel 23, der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB 30.11.2021, Sitzung 10; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 48). Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MFA-NL 18.3.2021, Sitzung 27f). Es ist zudem gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat (ÖB 30.11.2021, Sitzung 10). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert werden. 55 befänden sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft, gegen 49 weitere sei eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, Sitzung 27f).
Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vergleiche USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vergleiche USDOS 30.3.2021, Sitzung 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, Sitzung 45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war, und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Allerdings entschied das Verfassungsgericht Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, Sitzung 23, 26).
Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 49).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022
Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256, Zugriff 8.2.2022
FR – Frankfurter Rundschau (11.6.2022): Gefangen in der Türkei: Mehr als 100 Deutsche dürfen nicht ausreisen, https://www.fr.de/politik/gefangen-erdogan-tuerkei-viele-deutsche-duerfen-nicht-zurueck-deutschland-pkk-91604026.html, Zugriff 11.8.2022
HDN – Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000, Zugriff 16.10.2019
MFA-NL – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 16.11.2021
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
TM – Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictions-for-28000-more-citizens/, Zugriff 11.12.2020
TM – Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/, Zugriff 16.10.2019
TM – Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/, Zugriff 16.10.2019
TM – Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/, Zugriff 16.10.2019
USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 4.5.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 12.4.2021
USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff 16.10.2019
Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung: 22.09.2022
Das starke Wachstum von 11 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2021 dürfte sich 2022 deutlich auf prognostizierte 2,7 % abschwächen (GTAI 1.6.2022). Die Weltbank geht sogar, nicht zuletzt infolge des Ukraine-Krieges, nur noch von 1,4 % Wirtschaftswachstum im Jahr 2022 aus (WB 19.4.2022). Die türkische Regierung strebt mit einer Niedrigzinspolitik ein starkes, kurzfristiges Wachstum an, das mit hohen Finanz- und Wirtschaftsrisiken einhergeht. Die Teuerung ist horrend und die Landeswährung hat stark an Wert verloren (GTAI 1.6.2022). Seit einem Jahr hat sich in der Türkei eine Inflation von rund 80 % festgesetzt. Unabhängige Experten gehen sogar von mehr als 120 % aus. Vor allem Lebensmittelpreise steigen fast täglich. Die türkische Lira verliert stetig an Wert. Bekam man 2021 im Sommer noch für neun Lira einen Euro, muss man schon (Stand Sommer 2022) 18 Lira für einen Euro zahlen (Standard 25.7.2022). Die Auslandsschulden sowohl der Unternehmen als auch des Staates geben Anlass zur Sorge. Die Währungsreserven sind niedrig und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 1.6.2022).
Die Arbeitslosigkeit im Land ist hoch (GTAI 1.6.2022). Die Gesamtbeschäftigung und die Erwerbsquote haben im Jahr 2021 das Niveau von vor der Pandemie übertroffen. Die Erholung verlief jedoch ungleichmäßig, wobei die informellen Arbeitsverhältnisse noch immer zurückliegen. Andererseits war die diesbezügliche Erholung bei Frauen schneller als bei Männern. Zwischen Dezember 2020 und Dezember 2021 stieg die Erwerbsbeteiligung der Frauen um 14 % gegenüber 6 % bei den Männern - obwohl die Frauenerwerbsquote der Türkei immer noch die niedrigste unter den OECD-Ländern ist. Auch die Jugendbeschäftigung hat sich erholt, aber 20,1 % der Jugendlichen sind immer noch arbeitslos (WB 19.4.2022). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73 % "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).
Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme- WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vergleiche Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).
Nachdem im Februar 2022 die Mehrwertsteuer für Güter des täglichen Bedarfs von 8 % auf 1 % gesenkt wurde, erfolgte Ende März die Reduktion der Mehrwertsteuer auf zahlreiche weitere Konsumprodukte von 18 % auf 8 %, um die Auswirkungen der Inflation, die offiziell im Februar 2022 54,4 % betrug, zu bekämpfen (DS 28.3.2022). Selbige Reduktion erfolgte Anfang März bereits auf die Stromrechnungen für Privathaushalte sowie bei den Kosten für Bewässerung in der Landwirtschaft (Duvar 1.3.2022).
Einer der größten Gewerkschaftsverbände, Türk-İş, veröffentlichte im März 2022 seine periodische Umfrage zur Hunger- und Armutsgrenze. Demnach sind die monatlichen Mindestausgaben einer vierköpfigen Familie für eine angemessene Ernährung (Hungergrenze) auf 4.928 Türkische Lira (ca. 300 Euro) gestiegen und lagen damit 675 Lira (ca. 41 Euro) über dem Mindestlohn. Die Ausgaben einer vierköpfigen Familie für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Transport, Bildung, Gesundheitsversorgung usw. (Armutsgrenze) beliefen sich auf 16.052 Lira (ca. 980 Euro), was fast dem Vierfachen des Mindestlohns entsprach, der mit Stand März 2022 bei 4.253 Lira (260 Euro) lag. Die Lebenshaltungskosten eines alleinstehenden Arbeitnehmers sind auf 6.473 Türkische Lira (ca. 395 Euro) gestiegen, was den Mindestlohn um 2.200 Lira (ca. 135 Euro) überschritt (Bianet 28.3.2022). Mit Wirkung vom 1.7.2022 wurde der Mindestlohn auf 5.500 Lira [rund 300 Euro] pro Monat festgelegt. Allerdings erhalten nach Angaben der Sozialversicherungsanstalt (SGK) mehr als 40 % aller Arbeitnehmer nur den Mindestlohn (DS 1.7.2022).
Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5 % aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Unter den OECD-Staaten hat die Türkei einen der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20 % des Brutto-Sozialprodukts für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13 %. Die Türkei hat u. a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1 % des BIP (ÖB 30.11.2021, Sitzung 39). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022).
Quellen:
AM – Al Monitor (27.1.2021): COVID-19 pandemic expands poverty in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2021/01/turkey-pandemic-pandemic-expands-poverty-high-inflation.html, Zugriff 24.2.2022
Bianet (28.3.2022): Starvation line tops the minimum wage by 675 lira in Turkey, https://bianet.org/english/human-rights/259711-starvation-line-tops-the-minimum-wage-by-675-lira-in-turkey, Zugriff 29.3.2022
DS – Daily Sabah (1.7.2022): Turkey announces 30% raise in midyear minimum wage hike, https://www.dailysabah.com/business/economy/turkey-announces-30-raise-in-midyear-minimum-wage-hike, Zugriff 16.8.2022
DS - Daily Sabah (28.3.2022): Turkey slashes taxes on several products in bid to curb inflation, https://www.dailysabah.com/business/economy/turkey-slashes-taxes-on-several-products-in-bid-to-curb-inflation, Zugriff 25.5.2022
Duvar (7.6.2022): 14.8 million people in Turkey suffer from undernourishment: UN report, https://www.duvarenglish.com/148-million-people-in-turkey-suffer-from-undernourishment-un-report-news-60908, Zugriff 15.6.2022
Duvar (1.3.2022): Turkey cuts VAT on electricity to 8 percent to combat inflation, https://www.duvarenglish.com/turkey-cuts-vat-on-electricity-to-8-percent-to-combat-inflation-news-60486, Zugriff 25.5.2022
GCT – Greek City Times (8.6.2022): Malnutrition in Turkey explodes as Erdoğan escalates war rhetoric against Greece, https://greekcitytimes.com/2022/06/08/malnutrition-in-turkey-erdogan/, Zugriff 15.6.2022
GTAI – Germany Trade and Invest (1.6.2022): Die Risiken für die türkische Wirtschaft nehmen zu, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsausblick/tuerkei/tuerkische-wirtschaft-waechst-trotz-coronakrise-247908, Zugriff 16.8.2022
KAS – Konrad-Adenauer-Stiftung (15.2.2022): Jugendstudie Türkei 2021, https://www.kas.de/de/web/tuerkei/publikationen/einzeltitel/-/content/jugendstudie-tuerkei-2021-2, Zugriff 24.2.2022
OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_glance-2019-en.pdf?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228759055A97295ED4460FC22E0, Zugriff 24.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
Standard (25.7.2022): Türkei lernt, mit Inflationsraten jenseits der 100 Prozent zu leben, https://www.derstandard.at/story/2000137723848/tuerkei-lernt-mit-inflationsraten-jenseits-der-100-prozent-zu-leben?ref=loginwall_articleredirect, Zugriff 16.8.2022
TM – Turkish Minute (8.6.2022): 90 percent of Turks struggling to make ends meet amid economic crisis: poll, https://www.turkishminute.com/2022/06/08/rcent-of-turks-struggling-to-make-ends-meet-amid-economic-crisis-poll/, Zugriff 15.6.2022
TM – Turkish Minute (7.6.2022): 14.8 million Turks suffer from insufficient food consumption, UN data show, https://www.turkishminute.com/2022/06/07/illion-turks-suffer-from-insufficient-food-consumption-un-data-show/, Zugriff 15.6.2022
WB – World Bank (19.4.2022): The World Bank in Türkiye - Overview - Recent Economic Developments, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3, Zugriff 12.9.2022
WKO – Wirtschaftskammer Österreich (10.5.2022): Die türkische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tuerkische-wirtschaft.html#heading_wirtschaftslage, Zugriff 24.2.2022
Medizinische Versorgung
[…]
Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung: 20.09.2022
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, Sitzung 49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, Sitzung 27).
Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbullah [Anm.: auch als kurdische Hisbullah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbullah im Libanon verbunden], al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 38). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. der militärische Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 4.2.2022).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, Sitzung 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, Sitzung 52; vergleiche AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vergleiche Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen "Präsidentenbeleidigung" oder der "Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation" riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2021, Sitzung 10).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2021, Sitzung 37). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 38). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraph 3, des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 42). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50; vergleiche NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 22). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
● Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
● Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org, http://bruecke-istanbul.com/
● TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB 30.11.2021, Sitzung 39).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Artikel 4, des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Artikel 9, des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Artikel 16, sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50).
Gemäß Artikel 8, des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Artikel 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Artikel 9,) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 38). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Artikel 9, Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Artikel 11, (1)). Artikel 13, des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 30.11.2021, Sitzung 38).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Artikel 19, des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.2.2022) [gültig seit 8.10.2021]: Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962, 24.2.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 24.2.2022
CoE – Council of Europe – Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf, Zugriff 24.2.2022
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 24.2.2022
EU – Europäische Union (4.2.2022): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 3. Februar 2022, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2021/1192, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022D0152, Zugriff 24.2.2022
Independent [türkische Ausgabe] (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1, Zugriff 24.2.2022 (Übersetzung mittels webtran.de)
NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 24.2.2022
NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf, Zugriff 24.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
SCF – Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/, Zugriff 24.2.2022
TR-MFA – Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa, Zugriff 24.2.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 4.5.2022
VB – Verbindungsbeamter des BMI für die Türkei [Österreich] (1.3.2022): Auskunft des VB, per Mail
2. Beweiswürdigung
Einleitend ist anzuführen, dass die im Verfahren aufgenommenen Niederschriften mit den Aussagen der bP vollen Beweis iSd Paragraph 15, AVG über den Verlauf und Gegenstand der Amtshandlung bilden und mit diesem Inhalt als zentrales Beweismittel der Beweiswürdigung unterzogen werden können.
Die bP trat den Gegenbeweis der Unrichtigkeit des darin bezeugten Vorganges nicht an.
Nach der Judikatur des VwGH sind grds. weder die Behörde noch das VwG verpflichtet, einer asylwerbenden Person im Wege eines Vorhaltes zur Kenntnis zu bringen, dass Widersprüche vorhanden sind, die im Rahmen der gemäß Paragraph 45, Absatz 2, AVG vorzunehmenden Beweiswürdigung zu ihrem Nachteil von Bedeutung sein könnten, und ihr aus diesem Grund eine Stellungnahme hiezu zu ermöglichen vergleiche VwGH 29.01.2021, Ra 2021/14/0011; 28.06.2018, Ra 2017/19/0447, mwN).
Ad 1.1.1. Identität und Herkunftsstaat:
Die Feststellungen ergeben sich aus den in diesem Punkt gleichbleibenden persönlichen Angaben im Zuge der Einvernahmen, ihren im Verfahren dargelegten Sprach- und Ortskenntnissen und den seitens der bP vorgelegten Bescheinigungsmittel.
Das Vorbringen der bP, atheistisch und konfessionslos zu sein, erweist sich angesichts der Angaben der bP in ihrer Stellungnahme vom 16.04.2019 als reine Schutzbehauptung, um die bloß behauptete Verstoßung durch ihre Familie in der Türkei zu rechtfertigen (siehe ad 1.1.7.). Denn mit dem Vorbringen, dass sie „als weltoffener Alevite“ (AS 411) mittelfristig mit ihrer existentiellen Ausschaltung rechne, verstrickt sich die bP in Widersprüche, indem sie sich selbst eben nicht als konfessionslos, sondern grundsätzlich dem islamischen Glauben zughörig bezeichnet. Ob das Alevitentum in seiner heutigen Form ein Teil des schiitischen Islam ist, es sich hier um eine separate islamische Konfession handelt oder man von einer eigenständigen Religion sprechen kann, wird sowohl in der religionswissenschaftlichen Forschung als auch von den Anhängern selbst zwar unterschiedlich gesehen vergleiche https://de.wikipedia.org/wiki/Aleviten). Es ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass jemand, der sich selbst als „alevitisch“ bezeichnet, nicht atheistisch ist und sich einer Religionsgemeinschaft zugehörig sieht, die dem schiitischen Islam nahesteht. Daher wird bezweifelt, dass die bP atheistisch sei. Die Behauptung ihrer angeblichen Konfessionslosigkeit blieb zudem unbescheinigt. Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass die bP offiziell nie aus der muslimischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten ist und daher offiziell noch Moslem ist. Auch in den Dokumenten der bP wie z.B. ihrem Personalausweis ist vermerkt, dass die bP Moslem ist. Ihren Angaben zufolge weiß niemand von ihrer vermeintlichen Konfessionslosigkeit bzw. ihrem angeblichen Atheismus. Abgesehen davon unternahm die bP weder in der Türkei noch in Österreich, wo dies einfach und ohne Konsequenzen zu befürchten möglich gewesen wäre, Anstrengungen, um aus der muslimischen Glaubensgemeinschaft auszutreten. In der mündlichen Verhandlung erstattete die bP auch kein ihre Religion betreffendes konkretes Vorbringen mehr. Es kann daher nicht festgestellt werden, dass die bP tatsächlich nicht mehr dem islamischen Glauben angehörig ist.
Ad 1.1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnissen vor der Ausreise:
Dies ergibt sich plausibel aus den in diesem Punkten lebensnahen, gleichbleibenden persönlichen Angaben im Zuge der Einvernahmen. Die Feststellung zur Herkunftsregion ergibt sich aus ihren diesbezüglich plausiblen und daher glaubhaften Angaben, die mit dem Ausstellungsort der beim Bundesamt vorgelegten Identitätsdokumente übereinstimmen.
Gegenteilige Anhaltspunkte ergaben sich für das BVwG nicht.
Ad 1.1.3. Familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat:
Dies ergibt sich plausibel aus den in diesem Punkten lebensnahen, persönlichen Angaben in der Verhandlung.
Gegenteilige Anhaltspunkte ergaben sich für das BVwG nicht.
Ad 1.1.4. Ausreisemodalitäten:
Dies ergibt sich plausibel aus den in diesem Punkten lebensnahen, gleichbleibenden persönlichen Angaben im Zuge der Einvernahmen.
Gegenteilige Anhaltspunkte ergaben sich für das BVwG nicht.
Ad 1.1.5. Gesundheitszustand:
Dies ergibt sich plausibel aus ihren persönlichen Angaben im Beschwerdeverfahren
Ad 1.1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich:
Dies ergibt sich plausibel aus ihren persönlichen Angaben, den von ihr vorgelegten Bescheinigungsmitteln sowie den zitierten amtswegigen Ermittlungsergebnissen des Bundesamtes / Bundesverwaltungsgerichtes.
Ad 1.1.7. Zu den behaupteten ausreisekausalen Geschehnissen / Erlebnissen im Zusammenhang mit staatlichen / nichtstaatlichen Akteuren bzw. den von der bP vorgebrachten Problemen, die sie persönlich im Entscheidungszeitpunkt im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwartet:
Hinsichtlich der Beurteilung der gesetzlichen Mitwirkungs- bzw. Darlegungsverpflichtung der Partei ergeben sich aus der Judikatur insbes. folgende, beachtliche Leitlinien:
Beweislast:
Der EGMR hat in seinem Urteil der Großen Kammer vom 23. August 2016, Nr. 59166/12, J.K. u.a. gegen Schweden, (u.a.) ausgeführt, dass die Beweislast für das Vorliegen eines realen Risikos in Bezug auf individuelle Gefährdungsmomente für eine Person grundsätzlich bei dieser liege, gleichzeitig aber die Schwierigkeiten, mit denen ein Asylwerber bei der Beschaffung von Beweismitteln konfrontiert sei, in Betracht zu ziehen seien und bei einem entsprechend substantiierten Vorbringen des Asylwerbers, weshalb sich seine Lage von jener anderer Personen im Herkunftsstaat unterscheide, im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden sei.
Soweit es um die allgemeine Lage im Herkunftsstaat gehe, sei jedoch ein anderer Ansatz heranzuziehen. Diesbezüglich hätten die Asylbehörden vollen Zugang zu den relevanten Informationen und es liege an ihnen, die allgemeine Lage im betreffenden Staat (einschließlich der Schutzfähigkeit der Behörden im Herkunftsstaat) von Amts wegen festzustellen und nachzuweisen vergleiche die Ausführungen in VwGH Rn. 23 des zu Ra 2016/18/0137 ergangenen Erkenntnisses; 03.09.2020, Ra 2020/19/0221).
Nach der Judikatur des EGMR ist es Sache der beschwerdeführenden Partei über Nachfrage „Beweise“ vorzubringen, die zeigen können, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, sie würden im Fall der Vollstreckung der angefochtenen Maßnahme einem realen Risiko ausgesetzt,, die einer gegen Artikel 3, EMRK verstoßenden Behandlung unterworfen zu werden, wobei dem ein gewisser Grad an Spekulation innewohnen kann und keine „eindeutigen Beweise“ für die Behauptung einer verbotenen Behandlung zu erbringen sind vergleiche zB uva EGMR Paposhvili gg. Belgien, 13.12.2016, Bsw. 41738/10).
Erhöhte Mitwirkungsverpflichtung der Partei:
Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre [VwGH 14.2.2002, 99/18/0199 ua], gesundheitliche [VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601; 14.6.2005, 2005/02/0043], oder finanzielle [vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099] Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann vergleiche auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht und Darlegungslast des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).
Wenn Sachverhaltselemente im Ausland ihre Wurzeln haben, ist die Mitwirkungspflicht und Offenlegungspflicht der Partei in dem Maße höher, als die Pflicht der Behörde zur amtswegigen Erforschung des Sachverhaltes wegen des Fehlens der ihr sonst zu Gebote stehenden Ermittlungsmöglichkeiten geringer wird. Tritt in solchen Fällen die Mitwirkungspflicht der Partei in den Vordergrund, so liegt es vornehmlich an ihr, Beweise für die Aufhellung auslandsbezogener Sachverhalte beizuschaffen (VwGH 12.07.1990, Zahl 89/16/0069).
Dies entspricht auch der sich insbes. aus Paragraph 15, AsylG ergebenden Mitwirkungsverpflichtung sowie aus der Verfahrensförderungspflicht des Paragraph 39, Absatz 2 a, AVG, wonach jede Partei ihr Vorbringen so rechtzeitig und vollständig zu erstatten hat, dass das Verfahren möglichst rasch durchgeführt werden kann.
Glaubhaftmachung:
Nach der Rechtsprechung des VwGH ist - abgesehen vom Fall einer Wahrunterstellung vergleiche dazu etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2019/19/0032, Rn. 13) - die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Asylwerbers zu prüfen. Diese Prüfung erfolgt unter Berücksichtigung der vom EuGH judizierten unionsrechtlichen Anforderungen vergleiche EuGH 25.1.2018, C-473/16 und EuGH 4.10.2018, C-56/17, Fathi). Erst danach erfolgt die Prognoseentscheidung gemäß §§3, 8 AsylG 2005, ob mit dem als glaubhaft erachteten Vorbringen eine wohl begründete Furcht vor Verfolgung oder reale Gefahr der Verletzung maßgeblicher Rechtsgüter des Asylwerbers glaubhaft gemacht wird vergleiche zur Prognoseentscheidung VwGH 8.9.2016, Ra 2015/20/0217, mwN; vergleiche zu der dabei vorzunehmenden einzelfallbezogenen Beurteilung VwGH 2.9.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Behörde einen Sachverhalt grundsätzlich nur dann als glaubhaft anerkennen, wenn der Asylwerber während des Verfahrens im Wesentlichen gleichbleibende Angaben macht, wenn diese Angaben wahrscheinlich und damit einleuchtend erscheinen und wenn erst sehr spät gemachte Angaben nicht den Schluss aufdrängten, dass sie nur der Asylerlangung um jeden Preis dienen sollten, der Wirklichkeit aber nicht entsprechen. Als glaubhaft könnten Fluchtgründe im Allgemeinen nicht angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt vergleiche zB. VwGH 6.3.1996, 95/20/0650). Bloßes Leugnen oder eine allgemeine Behauptung reicht für eine Glaubhaftmachung nicht aus (VwGH 24.2.1993, 92/03/0011; 1.10.1997, 96/09/0007).
Im Allgemeinen erfolgt eine (vorsätzliche) Falschaussage nicht ohne Motiv vergleiche Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Auflage, Rz 246ff).
Im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz kann eine derartige Motivationslage, die den Wahrheitswillen eines Antragstellers/einer Antragstellerin zu beeinflussen geeignet ist, darin liegen, dass sie ihrer Überzeugung nach – uU auch durch Suggestion Dritter vergleiche zB „Die 12 ‚Verbote‘ in der Vernehmung“, https://www.sgipt.org/forpsy/aussage0.htm#Die 12 'Verbote', mwN) beeinflusst - dadurch gesteigerte Erfolgsaussichten erwartet, um den beantragten Status als Asylberechtigter oder als subsidiär Schutzberechtigter und damit einen Aufenthaltstitel samt Zugang zum Arbeitsmarkt und/oder staatlicher Versorgung zu erlangen (sog. „Folgenberücksichtigung“, siehe oben zitierte Quelle; vergleiche auch UNHCR Handbuch, Dez. 2011, B/2/f Auswanderer aus wirtschaftlichen Motiven im Unterschied zu Flüchtlingen).
Aus dem Wesen der Glaubhaftmachung ergibt sich somit insbes.:
● dass die Ermittlungspflicht der Behörde / des BVwG grds. durch die (auf Nachfrage) vorgebrachten Tatsachen und angebotenen Beweise eingeschränkt ist (VwGH 29.3.1990, 89/17/0136; 25.4.1990, 90/08/0067);
● ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte ist die Behörde / das Bundesverwaltungsgericht nicht verpflichtet jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen vergleiche VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314, mwN);
● nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann die Beurteilung eines „gar nicht erstatteten Vorbringens“ mitunter sogar auch zu einer vom VwGH wahrzunehmenden Rechtsverletzung führen vergleiche zB VwGH 9.9.2010, 2007/20/0558 bis 0560; 10.08.2018, Ra 2018/20/0314);
● die allgemeine Behauptung von Verfolgungs- bzw. Gefährdungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen vergleiche VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314, mwN).
Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Ad a) Betreffend ihrer persönlichen Sicherheit / Verfolgung im Herkunftsstaat:
Gem. Paragraph 15, Absatz eins, Z1 AsylG hat eine asylwerbende Person im Verfahren alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte „wahrheitsgemäß“ darzulegen. Hier ergeben sich konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die bP in zentralen Punkten dieser Verpflichtung nicht nachkam, wie sich aus nachfolgenden Ausführungen deutlich ergibt.
Die bP behauptete, aus der Türkei geflohen zu sein, da sie ihren Militärdienst in ihrem Heimatland nicht ableisten wolle, sowie von ihrer Familie in der Türkei bei Rückkehr verstoßen zu werden.
Aus nachfolgenden Gründen ist dieses, als ausreisekausal bezeichnete Ereignis nicht glaubhaft:
Eingangs ist festzuhalten, dass jeder männliche türkische Staatsangehörige ab dem 20. Lebensjahr der Wehrpflicht unterliegt. Das Wehrdienstalter beginnt am 1. Januar des Jahres, in dem der Betreffende das 19. Lebensjahr vollendet und endet am 1. Januar im Jahr des 41. Geburtstags. Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor. Ein Fernbleiben vom Wehrdienst wird mit einer Geldstrafe geahndet.
Die bP gibt an, den Militärdienst nicht ableisten zu wollen und nicht auf ihre kurdischen Brüder schießen zu wollen. Sie habe zwei Semester lang bis 2009 in der Türkei an der Universität Gaziantep studiert. Nach Vorhalt, dass das hieße, dass sie schon ca. 3 Jahre vor ihrer Ausreise nicht mehr studiert habe, antwortete die bP, dass sie ein Fernstudium gemacht habe und dann lange auf das Visum für Österreich gewartet habe. Wenn man studiere, bekomme man keinen Musterungsbefehl. Ihr sei schon vor der Ausreise bewusst gewesen, dass sie den Wehrdienst in der Türkei nicht ableisten wolle (VHS S.7).
Das erkennende Gericht erachtet es wie schon die bB - in Anbetracht des Alters der bP - als durchaus nachvollziehbar und schlüssig, dass die bP als gesunder männlicher türkischer Staatsbürger grundsätzlich der allgemeinen Wehrpflicht in der Türkei unterliegt.
Zum einen ist festzuhalten, dass ohne Musterung nicht gesichert feststünde, dass die bP die Tauglichkeitskriterien erfülle bzw. in naher Zukunft einberufen werden würde. Da die bP weder einer Musterung unterzogen worden sei, noch ein Einberufungsbefehl ergangen sei, wäre folgerichtig anzunehmen, dass sie die Ableistung des Wehrdienstes gegenüber den türkischen Behörden (noch) nicht verweigert hat und somit nicht mit etwaigen Konsequenzen als Wehrdienstverweigerer zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu rechnen habe.
Zum anderen erscheint es nicht glaubhaft, dass die bP die Türkei aufgrund des ihr drohenden Militärdienstes verlassen hat. Viel wahrscheinlicher ist, wie von der bP bereits in der Erstbefragung angegeben, dass ihr Zielland Österreich war, weil „mein Bruder hier lebt und ich hier studieren wollte“ (AS 7). Aus diesem Grund beantragte sie ein Visum zu Studienzwecken, das ihr von der österreichischen Botschaft in Ankara ausgestellt wurde und mit dem sie legal ins Bundesgebiet einreiste. Angesichts des langen Zeitraums, der zwischen ihrem 2009 abgebrochenen Studium und ihrer (erstmaligen) Ausreise 2012 verstrich, erscheint es vielmehr durchaus wahrscheinlich, dass die bP ihren Wehrdienst bereits abgeleistet hat oder sich von ihrer Pflicht freigekauft hat. Denn die Wehrpflicht in der Türkei dauert nur mehr sechs Monate und nur eine einmonatige militärische Ausbildung muss zwingend absolviert werden. Von den restlichen fünf Monaten können sich Wehrpflichtige durch Zahlung eines Geldbetrages freikaufen. Diese Möglichkeit steht insbesondere auch im Ausland Studierenden oder Arbeitenden offen. Hierzu müssen im Ausland lebende türkische Staatsbürger bis zum 38. Lebensjahr persönlich im türkischen Konsulat erscheinen.
Eine bereits erfolgte Ableistung des Wehrdienstes bzw. ein Freikauf davon ist insbesondere deshalb wahrscheinlich, weil die bP ohne Probleme ihr Herkunftland unter Verwendung ihres Reisepasses verließ und in Österreich ihren Reisepass ohne irgendwelche Probleme zu gegenwärtigen von der türkischen Botschaft um den langen Zeitraum von 10 Jahren verlängern lassen konnte. Würde die Einberufung der bP bevorstehen bzw. sie wegen Entziehung vom Wehrdienst gesucht bzw. belangt, so würde ihr die Türkei keinen Reisepass von derart langer Gültigkeit ausstellen. Zudem reiste sie mit diesem Reisepass wiederum in die Türkei ohne Hinweis auf Probleme bei der Grenzkontrolle ein und auch wieder aus, wobei die bP nicht wie von ihr befürchtet, bereits am Flughaften festgenommen und dem Militärdienst zugeführt wurde. Wenig glaubwürdig ist, dass sie diesen Reisepass in ihrer ehemaligen Wohnung verloren und nicht wiedergefunden haben mag (AS 106).
Die Glaubwürdigkeit der bP ist dadurch beeinträchtigt, dass sie seit ihrem Aufenthalt in Österreich die Behörden vorsätzlich täuschte, erst nach ca. 6 Jahren einen Asylantrag stellte, wobei sie selbst nach Antragstellung im behördlichen Verfahren zur Prüfung desselben beharrlich ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachkam, was letztlich gegen das Vorliegen von tatsächlichen Gründen spricht.
Der bP musste sich aufgrund des ihr zu Studienzwecken erteilten Visums sowie der befristeten Aufenthaltstitel stets bewusst sein, dass ihr Aufenthalt in Österreich immer einer Befristung unterlag. Die bP studierte in Österreich zu keinem Zeitpunkt (VHS Sitzung 4f), sondern täuschte die Behörden darüber hinweg, dass sie keinem Studium nachging, und erschlich sich so mehrfache Verlängerungen ihres studienzweckbezogenen Aufenthaltstitels. Als ihr 2014 aufgrund der Nichtverlängerung ihres Aufenthaltstitels drohte, wäre es naheliegend gewesen, dass die bP bei Vorliegen von asylrelevanten Fluchtgründen bereits zu diesem Zeitpunkt einen Asylantrag gestellt hätte oder aber bei Nichtvorliegen von Asylgründen ihrer Pflicht zur Ausreise nachgekommen wäre. Die bP reiste weder aus noch stellte sie einen Asylantrag, sondern versuchte ihren Aufenthalt durch Begehung einer Straftat, nämlich dem Eingehen einer Aufenthaltsehe mit einer ungarischen Staatsbürgerin zu legitimieren, wobei sie nicht davor zurückschreckte, den Behörden falsche Beweismittel vorzulegen, um sich abermals einen Aufenthaltstitel zu erschleichen. Das Vorliegen einer Aufenthaltsehe sowie das Fälschen eines Beweismittels wurde vom Bezirksgericht Mödling in seinem Urteil vom 06.12.2018, 6 U 275/2016 v, rechtskräftig festgestellt.
Die bP gibt vor, dass sie aus seinem Herkunftsstaat wegen drohender Verfolgung bzw. einer realen Gefährdung ihrer hier entscheidungsrelevanten Rechtsgüter „geflohen“ ist und eine solche Gefahr vor allem auch im Falle einer Rückkehr zu erwarten wäre. Auf Grund einer Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz in Österreich kann im Allgemeinen vertretbar geschlossen werden, dass es sich nach den Vorstellungen eines Antragstellers dabei um einen Staat handelt, der auch in der Lage ist, ihm diesen Schutz und das damit verbundene Aufenthaltsrecht zu gewähren. Der allgemeinen Lebenserfahrung nach kann davon ausgegangen werden, dass eine Person in einer solchen Lage, die im Falle einer drohenden Rückkehr tatsächlich Verfolgung bzw. eine reale Gefährdung der entscheidungsrelevanten Rechtsgüter zu gegenwärtigen hätte, sich bemüht, während ihres Aufenthaltes im ausgewählten Schutzstaat, durch sozialadäquates Verhalten, gerade während des Feststellungsverfahrens über die Flüchtlingseigenschaft, währenddessen sie auch lediglich ein vorläufiges und daher noch ungesichertes Aufenthaltsrecht besitzt, in die Gesellschaft zu integrieren und tunlichst alles unterlässt, was für den Hilfe leistenden Staat bzw. dessen Bevölkerung abträglich sein könnte. Wenngleich es für einen Fremden - nicht nur in Österreich - grundsätzlich notwendig, zumutbar und möglich (zB über den Rechtsberater, Flüchtlingsberater, NGOs, Behörden, etc.) ist, sich im Falle der Unkenntnis betreffend der maßgeblichen grundlegenden Regeln, die für ein geordnetes Zusammenleben in dieser Gesellschaft wichtig sind, zu informieren vergleiche zB VwGH 09.03.1995, 93/18/0350), kann wohl auf Grund der rechtskräftigen Verurteilung durch ein Strafgericht in Österreich – wozu es nur bei schuldhaftem (vorwerfbarem) Verhalten (Paragraph 4, StGB [Strafbar ist nur wer schuldhaft handelt]) möglich ist, vertretbar davon ausgegangen werden, dass es der bP auch ohne Einholung derartiger Informationen, selbst unter Berücksichtigung ihrer Herkunft und Person, zumindest latent bewusst war, dass diese Handlung(en), deretwegen sie von einem österreichischen Gericht rechtskräftig verurteilt worden ist, Unrecht darstellen und er im Ergebnis damit aber jenem Staat bzw. dessen Gesellschaft „schadet“, die ihm Sicherheit vor Verfolgung und Aufenthalt gewähren sollen. Eine solche Verhaltensweise ist nach der allgemeinen Lebenserfahrung für einen tatsächlich Schutzsuchenden nicht plausibel. Ein solcher würde tunlichst alles unterlassen was dem, dessen Hilfe er vorgeblich so dringend braucht und die er in Anspruch nehmen will bzw. nimmt, schädlich sein könnte.
Im Ergebnis ergibt sich daraus ein (weiteres) Indiz dafür, dass der in Österreich straffällig gewordene Asylwerber keine subjektive Furcht vor Verfolgung oder der realen Gefährdung seiner im Verfahren entscheidungsrelevanten Rechtsgüter im Falle einer Rückkehr hat bzw. er doch andere Ausreisemotive hatte als jene, die er im Asylverfahren vorbrachte und die Asylantragstellung lediglich ein Versuch ist, dieses Verfahren dazu zu benutzen, um andere asylfremde Zwecke zu erreichen, wie zB die Erlangung von Sozialleistungen, eines Aufenthaltstitels, Aufnahme einer Beschäftigung oder zur Verwirklichung sonstiger persönlicher, im Verfahren verschwiegener, Interessen.
Das BVwG konnte sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der bP verschaffen. Wenngleich dieser, wie auch im gegenständlichen Fall, in seiner Gesamtheit schwer in Worte zu fassen ist, so ergibt sich daraus jedoch im Kontext mit seinen Aussagen ein weiteres Indiz dafür, dass sein dargebotenes ausreisekausales Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht bzw. die Glaubhaftmachung einer Verfolgung bzw. einer relevanten Gefährdung im dargestellten Ausmaß nicht gelungen ist.
Zu ihrer Aufenthaltsehe befragt, erklärte die bP: „Ich wollte heiraten. Ich wollte mir ihr zusammenleben. Ich kannte damals die ganzen österreichischen Gesetze nicht. Ich wusste nicht, dass so etwas passieren wird. Das einzige was ich bisher falsch gemacht habe, sonst habe ich keine Straftat begangen. Ich war jung, ich wusste nicht, was ich tat (VHS Sitzung 9)“. Insbesondere in Anbetracht des Geständnisses der bP zur rechtskräftigen Verurteilung wegen Eingehen von Aufenthaltsehen sowie Fälschung eines Beweismittels demonstriert diese Aussage, dass ein tatsächliches Zusammenleben der „Eheleute“ nicht beabsichtigt gewesen wäre, ein weiteres Mal die Unglaubwürdigkeit der bP.
Diese wiederholten absichtlichen Täuschungen der Behörden zeugen von einem planvollen Handeln der bP und sind ihrer Glaubwürdigkeit insgesamt abträglich.
Hätte die bP bei Rückkehr in die Türkei eine asylrelevante Verfolgung erwartet, so hätte sich ihr spätestens 2014 die Gelegenheit geboten, ihre Asylgründe darzulegen. Dass sie dieses Vorgehen nicht in Erwägung zog, sondern vielmehr dazu überging, die Regeln eines geordneten Fremdenwesens zu missachten, um ihren Aufenthalt in Österreich zu verlängern, spricht keinesfalls dafür, dass der bP asylrelevante Verfolgung tatsächlich drohte. Nicht plausibel erscheint auch die Erklärung der bP, dass sie gedacht habe, das gehe nicht (VHS Sitzung 7), zumal ihrem eigenen Bruder, mit dem die bP ein gutes Einvernehmen pflegt und den sie ein bis zwei Mal im Monat trifft, bereits in Österreich Asyl gewährt wurde und dies der allgemeinen Lebenserfahrung nach wohl mit Sicherheit zwischen den Brüdern thematisiert wurde. Auch aufgrund des vergleichsweise hohen Bildungsstands der bP überzeugt dieses Vorbringen wenig, da die bP als (zumindest ehemaliger) Student sehr wohl über die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, Bescheid wissen müsste. Eher ist davon auszugehen, dass der bP diese Möglichkeiten zur Asylantragstellung bewusst war, ihr keine asylrelevante Verfolgung drohte, sie deswegen keinen Asylantrag stellte und nunmehr zum Schutz ihr damaliges Unwissen um die Asylantragstellungsmöglichkeit behauptet. Es erscheint daher nicht glaubhaft, dass die bP bei Vorliegen von Asylgründen nicht gewusst habe, dass sie Asyl beantragen könne.
Ebenso wenig spricht der Umstand, dass die bP nach Ablauf des Aufenthaltstitels im Jahr 2017 für 11 Monate von Juni 2017 bis Mai 2018 untertauchte und auch in dieser Zeit keinen Asylantrag stellte, für die von ihr behaupteten Asylgründe. Die Begründung der bP für diese Verletzung der Meldepflicht, dass sie keine Unterkunft gehabt und sich nirgends anmelden wollen habe, weil sie Angst gehabt habe, in die Türkei zurückgeschickt zu werden (VHS Sitzung 5), erscheint bei Vorliegen von berechtigten Asylgründen nicht nachvollziehbar, da Asylwerber grds. Anspruch auf eine Unterkunft haben und bei Darlegung von berechtigten Asylgründen Asyl gewährt wird, was auch der bP aufgrund des Schicksals ihres Bruders bekannt ist. Ein derartiges Verhalten ist von einer aus Konventionsgründen verfolgten Person nicht zu erwarten und trägt nicht zur Glaubwürdigkeit der bP bei.
Nachdem die bP also zahlreiche Gelegenheiten zur Asylantragstellung über viele Jahre ungenutzt verstreichen ließ, entschloss sich die bP erst ca. 6 Jahre nach ihrer (erstmaligen) Ausreise aus der Türkei schließlich einen Asylantrag zu stellen. Bei Vorliegen von berechtigten Asylgründen, ist davon auszugehen, dass es dem Asylwerber ein Anliegen ist, diese so rasch als möglich darzulegen, um ehestmöglich den Status eines Asylberechtigten zu erlangen. Die bP hingegen blieb bewusst insgesamt vier ordnungsgemäßen Ladungen des Bundesamts zur Einvernahme fern, dies mit der Begründung: „Ich habe Angst, dass sie mich gleich festnehmen und gleich in die Türkei schicken. Deshalb bin ich gleich nicht hingegangen (VHS Sitzung 4).“ Angesichts der behaupteten Berechtigung der vorgebrachten Asylgründe sowie dem Bildungsstand und Erfahrungshorizont der bP erscheint diese Erklärung nicht nachvollziehbar. Schließlich durchlief ihr Bruder das gleiche Verfahren und ist der bP bekannt, dass dieses zur Asylgewährung führte. Das viermalige unentschuldigte Fernbleiben von Einvernahmeterminen ist daher als ein deutliches Indiz für ein untergeordnetes Interesse der bP an ihrem Verfahren auf Zuerkennung von internationalen Schutz zu werten. Das Verhalten der bP am eigenen Verfahren bewusst nicht mitzuwirken, lässt vielmehr den Schluss zu, dass die bP selbst nicht davon überzeugt ist, dass ihre Gründe asylrelevant bzw. glaubhaft sind. Dieses beharrliche und bewusste Ignorieren der bP von insgesamt vier Ladungen des Bundesamts zur Einvernahme rundet sohin das sich bis dahin abzeichnende Bild zur zweifelhaften Glaubwürdigkeit der bP entsprechend ab.
Bei so später Antragstellung trotz vorhergehender Möglichkeiten trifft die bP eine erhöhte Bescheinigungspflicht. Die bP wurde in der Verhandlung aufgefordert, nachzuweisen, dass sie den Wehrdienst bislang unentschuldigt noch nicht abgeleistet habe, sowie fristgerecht einen Auszug aus dem e-devlet vorzulegen. Während die bP die Frist zur Vorlage eines Auszugs aus dem e-devlet im Wesentlichen unbegründet ungenutzt verstreichen ließ, brachte sie ein als „Wehrdienstbescheinigung“ bezeichnetes Schreiben samt beglaubigter Übersetzung in Vorlage. Dabei handelt es sich um eine sehr schlecht lesbare Kopie eines Schreibens, das behauptetermaßen vom Dorfvorsteher ihres Heimatdorfs unterfertigt worden sei und einen ebenso wenig lesbaren Stempel trägt. Laut Übersetzung bestätigt es, dass die bP, wohnhaft im Dorf römisch 40 Araban/Gazaintep, „ihren Wehrdienst nicht abgeleistet hat“. Die Echtheit dieser Unterlage wird aufgrund der schlechten Lesbarkeit bezweifelt und ist diese anhand der schlechten Qualität der Kopie einer Überprüfung der Echtheit nicht zugänglich. Aus ihr geht auch nicht hervor, ob die bP ihren Wehrdienst unentschuldigt noch nicht abgeleistet hat oder ob er deshalb nicht abgeleistet wurde, weil ein Freikauf erfolgte. Vor dem Hintergrund, dass die bP bisher nicht davor zurückschreckte, Behörden falsche Beweismittel vorzulegen und diese zu täuschen, konnte die bP aufgrund dieser Unterlage nicht glaubhaft machen, ihren Wehrdienst unentschuldigt noch nicht abgeleistet zu haben. Zudem schließt das BVwG aus der Nichtvorlage des Auszuges zum Strafregister aus dem e-Devlet, dass dies deshalb unterlassen wurde, weil sich darin keine Hinweise für die Glaubhaftigkeit der Behauptung der bP finden lassen.
Angesichts dessen, dass ein Erhalt eines Aufenthaltstitels für die bP in Österreich nach den fremdenrechtlichen oder niederlassungsrechtlichen Bestimmungen offenbar nicht (mehr) möglich war und sie Österreich auf Grund des hier lebenden Bruders als Zielland bezeichnete, erhärtet sich die Ansicht des BVwG, dass die bP die Türkei primär rein aus wirtschaftlichen/privaten Interessen verlassen hat und die Antragstellung auf internationalen Schutz im Jahr 2018 lediglich zum Zwecke des Erhalts eines Aufenthaltstitels für Österreich erfolgte. Diese Ansicht erfährt durch folgende Aussage der bP in der behördlichen Einvernahme Bestätigung:
„F: Vorhalt: Sie sind seit dem Jahr 2013 im österreichischen Bundesgebiet aufhältig, aber stellten erst im Jahr 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz, obwohl Sie seit über 5 Jahren nicht mehr in der Türkei aufhältig sind. Wie erklären Sie sich das denn?
A: Am Anfang war ich sowieso legal in Österreich und hatte das Studentenvisum. Dann konnte ich das Visum verlängern. Ich wollte nicht illegal in Österreich bleiben und suchte um Asyl an, nachdem der Aufenthaltstitel abgelaufen war (AS 109).“
Eigenen Angaben zufolge suchte die bP daher im Wesentlichen lediglich danach, ihren illegalen Aufenthalt in Österreich durch Ansuchen um Asyl zu legitimieren. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz unter Umgehung der fremdenrechtlichen Bestimmungen einzig zur Erreichung eines Aufenthaltstitels für Österreich nach dem Asylgesetz unter Umgehung der strengeren Vorschriften des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes eingebracht wurde und nicht um Schutz vor einer relevanten Gefährdung in der Türkei zu erlangen.
Abgesehen davon, ist es das legitime Rechte jeden Staates Streitkräfte zu unterhalten und zur Gewährleistung hierfür seine Staatsangehörigen zum Wehrdienst zu verpflichten und darüber hinaus Staatsangehörige zu bestrafen, wenn sich diese der Verpflichtung entziehen. Selbst für hypothetischen Fall, dass die bP ihren Wehrdienst noch nicht bereits abgeleistet hätte bzw. sich von ihrer Wehrpflicht noch nicht freigekauft hätte, ist es dem erkennenden Gericht nicht ersichtlich, warum die bP nicht aktuell für ihren Freikauf optiert, da sie angibt, monatlich ca. 3.000,- Euro netto zu verdienen und auch auf die finanzielle Unterstützung ihres Vaters und ihres Bruders zurückgreifen könnte, welche sie bereits zuvor finanziell unterstützten (VHS S.10). Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe beläuft sich mit Stand Jänner 2023 auf rund 3.900 Euro und liegt somit durchaus im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten der bP.
Dass die bP in der einmonatigen Grundausbildung für Kampfeinsätze herangezogen würde, ist vollkommen realitätsfremd. Die Befürchtungen der bP erweisen sich vor diesem Hintergrund als nicht glaubhaft.
Aus Sicht des erkennenden Gerichts liefe die bP auch bei regulärer Ableistung des Wehrdienstes nicht Gefahr, als unerfahrener Wehrpflichtige zu Kampfeinsätzen herangezogen werden. Denn das gegenständlich vorgebrachte Bedrohungsszenario der bP, bei der Ableistung des Wehrdiensts in potentielle Konfliktzonen eingezogen zu werden und allenfalls gegen Kurden kämpfen zu müssen, ist der Berichtslage nach unbegründet bzw. nicht glaubhaft. Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung. Daher kann nicht zwingend und allgemein davon ausgegangen werden, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Abstammung in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen, dies insbesondere aus der (nachvollziehbaren) Erwägung heraus, keine Loyalitätskonflikte aufkommen zu lassen. Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt. Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt vergleiche BVwG 02.05.2022, L 510 2161822-1/24E).
Zum Vorbringen der bP in der Einvernahme der bB, dass sie gerade als Kurde während eines noch abzuleistenden Militärdiensts in der Türkei maßgeblich schlechter behandelt werden würde als andere Personen, ist festzuhalten, dass derlei Aussagen bloß unbelegte Behauptungen darstellen, die einer von der bP dargebotenen Tatsachengrundlage entbehren. Derartige Behauptungen stellte die bP zudem in der mündlichen Verhandlung nicht mehr auf. Aus den länderkundlichen Informationen sind solche Gefährdungsmomente nicht ersichtlich und beseht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder der kurdischen noch der alevitischen, sondern wurden Diskriminierungshandlungen lediglich in Einzelfällen dokumentiert.
Ausweislich der Länderfeststellungen werden Kurden ferner bei einer Bestrafung wegen Militärdienstentziehung nicht aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit in asylerheblicher Weise benachteiligt. Die Bestrafung der Nichtbefolgung der Wehrpflicht wird allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt und sind der einschlägigen Berichtslage auch keine Hinweise einer diesbezüglichen Ungleichbehandlung zu entnehmen. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt. Es liegen schließlich in diesem Zusammenhang auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus dem Bundesgebiet von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (BVwG 21.06.2018, L521 2193034-1 mwN zur Rsp).
Festzuhalten ist zudem, dass die bP bei ihrer Erstbefragung zur Wehrdienstableistung lediglich Folgendes angab: „Mein Asylgrund ist der Umstand, dass ich keinen Militärdienst leisten will. Da ich Kurde bin, würde man mich in ein Kurdengebiet senden. Ich will aber nicht auf meine Brüder schießen (AS 11).“ Erst bei der Einvernahme vor der bB steigerte sie dieses Vorbringen folgendermaßen: „Ich möchte nicht zu Militärdienst gehen. Falls ich in die Türkei zurückkehre, muss ich den Wehrdienst antreten. Ich möchte keine Waffe in die Hand nehmen und auf Menschen schießen. Ich habe Angst, dass ich getötet werde, wenn ich den Militärdienst antrete. Sie werden mich an die Front bringen.“ Konkrete Gründe, warum die bP keine Waffen in die Hand nehmen wollen würde, führte sie nicht an. In der Verhandlung wurde die bP zu ihrer Rückkehrproblematik befragt. Dabei gab die bP Folgendes an:
„Erwarten Sie aktuell bei einer Rückkehr in Ihre Herkunftsregion im Herkunftsstaat noch Probleme? Wenn ja, geben Sie bitte detailliert und vollständig alle Probleme an, die Sie persönlich für sich derzeit bei einer Rückkehr erwarten würden.
Wenn ich zurück in die Türkei muss, werden sie mich sofort am Flughafen festnehmen und mich zum Militär schicken. Sie werden mich ins kurdische Gebiet schicken, an die Front. Sie werden mich dort gegen die Kurden kämpfen lassen, da ich auch kurdisch spreche. Sie schicken die Kurden ins kurdische Gebiet, da sie ortskundig sind und die Sprache können. Ich möchte nicht eine Waffe nehmen und gegen mein eigenes Volk kämpfen. Ich möchte auch keine anderen Menschen umbringen. Ich kann keine Menschen umbringen, egal wer er ist.
(Ende der freien Rede) (VHS S.6f)“
Dabei hatte die bP abermals die Möglichkeit, ihre Gewissensgründe, welche der Leistung des Wehrdienstes entgegenstehen, darzulegen. Die bP hat aber wiederum lediglich ganz allgemein „Gewissensgründe“ angeführt, ohne diese näher zu spezifizieren. Auffällig ist, dass die bP auch auf Nachfrage, was sie im Falle der Einberufung zum Militärdienst zu befürchten hätte, niemals eine konkret mit ihrem Gewissen oder ihrer Religion begründete Ablehnung von Waffen ins Treffen führte. Die bP vermochte nicht darzulegen, inwieweit sie eine Gesinnung vertrete, die ihm eine Ableistung des Wehrdienstes unzumutbar mache. Ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte ist die Behörde / das Bundesverwaltungsgericht nicht verpflichtet jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen vergleiche VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314, mwN). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre [VwGH 14.02.2002, 99/18/0199 ua], gesundheitliche [VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601; 14.06.2005, 2005/02/0043], oder finanzielle [vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099] Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann vergleiche auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht und Darlegungslast des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).
Es obliegt dem Asylwerber, alles Zweckdienliche für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung vorzubringen, sowie Bescheinigungsmittel vorzulegen und ist die Behörde nicht verpflichtet, den Antragsteller derart anzuleiten, dass sein Antrag von Erfolg gekrönt sein muss.
Auf dem Boden der gesetzlichen Regelung des Paragraph 19, Absatz eins, AsylG 2005 es weder der Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zu späteren Angaben einzubeziehen, es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind [Hinweis VwGH v 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, und E vom 13. November 2014, Ra 2014/18/0061, sowie das E des Verfassungsgerichtshofes vom 20. Februar 2014, U 1919/2013 ua.] (VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0189, VwGH 17.05.2018, Ra 2018/20/0168-3). Nach Ansicht des VfGH bezweckt diese Regelung den Schutz der Asylwerber davor, sich im direkten Anschluss an die Flucht aus ihrem Herkunftsstaat vor uniformierten Staatsorganen über traumatische Ereignisse verbreitern zu müssen, weil sie unter Umständen erst vor kurzem vor solchen geflohen sind. Daraus ergibt sich auch, dass an die dennoch bei der Erstbefragung erstatteten, in der Regel kurzen Angaben zu den Fluchtgründen im Rahmen der Beweiswürdigung keine hohen Ansprüche in Bezug auf Stringenz und Vollständigkeit zu stellen sind (VfGH 20.02.2014, U 1919/2013-15).
Ergänzend wird seitens des BVwG angeführt, dass auch in diesem Antragsverfahren die antragstellende Partei schon von Anbeginn verpflichtet ist ihren Antrag (wahrheitsgemäß) zu begründen vergleiche etwa auch die Mitwirkungspflicht nach Paragraph 15, AsylG u. die Verfahrensförderungspflicht gem. Paragraph 39, Absatz 2 a, AVG) und wird sie schon bei der Erstbefragung im Rahmen einer offenen Fragestellung nach ihrer Fluchtmotivation und Rückkehrbefürchtung befragt, bei der sie ihre Problemlage angeben bzw. eingrenzen soll. Zwar spricht Paragraph 19, Absatz eins, AsylG davon, dass sich die Erstbefragung nicht auf die „näheren“ Fluchtgründe zu beziehen hat, jedoch ist damit nicht gemeint – und wird durch die Fragestellung im Formular auch keinesfalls suggeriert -, dass der Fremde dazu nichts, nur nach seinem Belieben ausgewählte Teile seiner Fluchtmotivation darstellen braucht oder es überhaupt egal sei, was dazu bei der Erstbefragung angegeben wird.
Die Fragestellung ist jedenfalls eindeutig und auch iSe ordnungsgemäßen, offenen Fragestellung formuliert, damit die Partei hier nicht schon durch die Art der Fragestellung der Gefahr einer, bei einer Befragung zu einem erst zu erhebenden Sachverhalt, in der Einvernahmetechnik verpönten Suggestion ausgesetzt ist.
Aussagehemmende Faktoren wurden seitens der bP nicht konkret dargelegt, die sie daran gehindert hätten, schon bei der Erstbefragung die zumindest im Ansatz bekannt zu geben. Sie hat auch letztlich Österreich als Ort ihrer Schutzsuche gewählt und wäre es nicht plausibel, genau vor jenen Organen/Behörden, die zur Schutzgewährung zuständig und bei Begründetheit in der Lage sind diese zu gewähren, sich dann nicht zu getrauen ihre tatsächlichen Fluchtgründe zu benennen.
Es ist auch nicht generell unzulässig, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen vergleiche VwGH 20.07.2020, Ra 2020/01/0210, mwN).
Das Vertreten einer allgemeinen pazifistischen Gesinnung und das Ablehnen von Gewalt im Allgemeinen ist zu wenig, weil dies letztlich nichts anderes besagt, als dass der Beschwerdeführer dem Grunde nach den Frieden bzw. friedliche Konfliktbereinigung dem Krieg vorzieht, wie dies die überwiegende Mehrzahl von Menschen und wohl auch ein überwiegender Teil von Grundwehrdienern vertritt (dazu bereits AsylGH 17.03.2009, E3 318.536-1/2008-7E; 17.02.2010, E1 312.233; in diesen Fällen hat der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde bereits mit Beschluss abgelehnt, VfGH 27.04.2009, U 1060/09-3; 26.04.2010, U 766/10-3).
Damit konnte die bP die Zweifel des BVwG an der Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens nicht ausräumen und erschien der Einwand zu den angeblichen "Gewissensgründen" der bP eine bloße Schutzbehauptung der bP zu sein, um ihrem Vorbringen insgesamt mehr Gewicht zu verleihen. Aufgrund des sich steigernden, unkonkreten sowie unbegründeten Vorbringens konnte die bP eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen folglich nicht glaubhaft machen.
Darüber hinaus hat die Relevierung des Themas der "Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen" an sich schon keinerlei Einfluss auf gegenständliche Entscheidung, da der türkische Staat den Tatbestand "Wehrdienstentziehung" einheitlich nach dem Militärstrafgesetz ahndet und damit grundsätzlich zwischen der Gruppe "Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, welche den Militärdienst noch nicht angetreten haben" und jener der bloß "Wehrdienstflüchtigen" (Wehrpflichtige, die sich dem zukünftigen Antritt des Wehrdienstes in irgendeiner Weise entzogen haben) nicht unterscheidet vergleiche auch AsylGH vom 14.01.2010, E7 241.551-0/2008-18E). Dass es in der Türkei keinen Wehrersatzdienst gibt, stellt per se noch kein asylrelevantes Vorbringen im Sinne der GFK dar. So ist in Artikel 4, Absatz 3, Litera b, EMRK lediglich festgehalten, dass jede Dienstleistung militärischen Charakters, – oder im Falle der Verweigerung aus Gewissensgründen in Ländern, wo diese als berechtigt anerkannt ist, eine sonstige anstelle der militärischen Dienstpflicht tretende Dienstleistung – nicht als "Zwangs- oder Pflichtarbeit" gilt. Eine Verpflichtung zur Erlassung von Regelungen betreffend einen Ersatzdienst (Zivildienst) bzw. eine "Verpflichtung zur Anerkennung einer Verweigerung aus Gewissensgründen" gibt es somit grundsätzlich nicht für die Mitgliedstaaten vergleiche aber Wehrpflicht iZm Artikel 9, EMRK).
Zudem ist die bP darauf zu verweisen, dass die Option des Freikaufs vom Wehrdienst innerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt, sie im Rahmen der einmonatigen Grundausbildung nicht an Kampfhandlungen teilnehmen würde und deshalb jedenfalls nicht Gefahr laufen würde, einen Menschen umbringen zu müssen.
Selbst bei regulärer Ableistung des Wehrdienstes ergäbe sich für das BVwG kein Hinweis auf einen Einsatz im Kampf bzw. an der Front oder darauf, dass die bP menschenrechtswidrige Handlungen begehen müsste. Schließlich hat das Ermittlungsverfahren keine Beweisergebnisse hervorgebracht, die eine asylrelevante zwangsweise Beteiligung der bP an völkerrechtswidrigen Militäraktionen im Rahmen ihres Wehrdienstes nahelegen würde. In Ansehung der bP kann daher jedenfalls kein im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhtes Risiko einer Teilnahme an Kampfhandlungen erkannt werden.
Das BVwG geht auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens davon aus, dass die bP in zentralen Bereichen, wo es um die Ausreise bzw. ausreisekausale Probleme und Rückkehrbefürchtungen geht, keine bzw. geringe Bereitschaft zeigte wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Dies obwohl sie im Verfahren hinlänglich hinsichtlich der Bedeutsamkeit wahrheitsgemäßer Angaben belehrt wurde. Das Gericht schließt daraus, dass sie es selbst für einen positiven Ausgang des beantragten internationalen Schutzes für abträglich hielt – schon von Beginn an - den Tatsachen entsprechende Angaben zu machen und gelangt das BVwG – wie auch schon das Bundesamt – zur Überzeugung, dass ihre Aussagen in Bezug auf den Herkunftsstaat vom Bemühen getragen sind, ihre persönliche Rückkehrsituation tatsachenwidrig möglichst negativ zu schildern, um für Österreich – unter Umgehung der sonstigen Zuwanderungsregeln - einen Aufenthaltstitel über das Asylverfahren zu erlangen.
Dies lässt für das BVwG nur den Schluss zu, dass sie in Wirklichkeit in Bezug auf ihren Herkunftsstaat keine bzw. keine hinreichenden Fluchtgründe hatte und sie sich deshalb dieser Unwahrheit bediente. So führt auch die Regierungsvorlage 952 römisch 22 . Gesetzgebungsperiode zu Paragraph 18, AsylG 2005 aus: „[…] Wer Interesse an der Schutzgewährung hat, wird auch am Verfahren zur Erlangung des Schutzes mitwirken, wer hingegen die Asylbehörden über Tatsachen zu täuschen versucht, glaubt zumindest keine echten Schutzgründe zu haben.[…]“.
Bei einer abwägenden Gesamtbetrachtung der vorliegenden Länderfeststellungen kann somit nicht erkannt werden, dass der bP bei einer Rückkehr in ihr Heimatland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung im Zuge der Ableistung ihres Militärdienstes oder aus anderen Gründen drohen würde.
Soweit die bP bei der Einvernahme der bB zwei Ereignisse in Türkei schildert, die ihre Diskriminierung als Kurde im Alltag belegen sollen, nämlich, dass die bP 2007 beschuldigt worden sei, Sprit ihrer mit HDP Flaggen geschmückten Tankstelle schwarz zu verkaufen und infolgedessen der Geschäftsbereich durchsucht worden sei, wobei nichts gefunden worden sei und ihr nichts vorgeworfen werde hätte können, und sie im Jahr 2009 in einem anderen Dorf gemeinsam mit ihrem Bruder aufgrund ihrer kurdischen Herkunft als Terroristen beschimpft worden sei, wobei nichts passiert sei, sondern die bP einfach dem Streit aus dem Weg gegangen sei, ist die bP darauf zu verweisen, dass derartigen Nachteile – selbst wenn diese auf der Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe fußen – angesichts der fehlenden Eingriffsintensität keine asylrelevante Verfolgung begründen. Es kam auch nicht hervor, dass dies ausreisekausal gewesen wäre und ist angesichts der späten Asylantragstellung auch nicht glaubhaft, dass sie daraus resultierend eine Rückkehrgefährdung zu gegenwärtigen hätte. Abgsehen davon, können allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung oder gesellschaftliche Nachteile können für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt der bP im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre vergleiche VwGH 07.10.1995, 95/20/0080; 23.05.1995, 94/20/0808), sind hinzunehmen.
Zur pauschalen Situation der Kurden in der Türkei ist festzuhalten, dass sich diese entsprechend der Länderberichte aktuell derart gestaltet, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit keiner, eine maßgebliche Intensität erreichenden, Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sind. Vereinzelte staatliche Aktionen oder solche von Einzelpersonen richten sich gegen Institutionen und Personen, denen ein Naheverhältnis zur PKK unterstellt wird. Auch Personen in gehobener Stellung könnten Ziel dieser Aktionen werden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person der bP haben sollten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht. Insbesondere wurde im gesamten Verfahren brachte kein Sachverhalt vorgebracht, aus dem sich ergeben würde, dass es sich bei der bP um eine exponierte Person handeln würde. Im Lichte dessen kann das Vorbringen der bP zur allgemeinen Situation der Kurden in der Türkei als auch zur allgemeine Sicherheitslage in der Türkei, zu keiner maßgeblichen Gefährdung ihrer Person führen.
Die bP bringt weiters vor, bei Rückkehr von ihren Eltern verstoßen zu werden.
Dabei gab sie in der Verhandlung nunmehr im Unterschied zur vorhergehenden Einvernahmen durch die bB nicht mehr an, dass sie zu ihren Eltern und Geschwistern in der Türkei ein sehr gutes Verhältnis sowie regelmäßigen Kontakt pflege, sondern beschreibt dieses plötzlich als „nicht sehr gut“. Bei ihrer Rückkehr befürchte die bP, mit ihrer Familie Probleme zu gekommen, da sie 10 Jahre lang im Ausland gelebt habe: „Meine Familie wird mich ausstoßen. Ich habe mich hier in Österreich an die Kultur gewöhnt. Ich verstehe jetzt meine Eltern nicht und sie verstehen mich auch nicht. Sie haben andere Gedanken. Meine Gedanken sind auch anders (VHS Sitzung 6f).“ Dieses Vorbringen erscheint dem erkennenden Gericht wenig plausibel, zumal die bP in der Verhandlung angab, dass ihr Vater Geld geschickt hat und ihr Bruder sie unterstützt (VHS Sitzung 10). In der Verhandlung vom Richter dazu befragt, ob die bP durch Dokumente nachweisen könne, dass sie den Wehrdienst bislang unentschuldigt noch nicht abgeleistet habe, gab die bP an, dass sie ihren Vater wegen so etwas fragen werde. Sie habe ihn das letzte Mal auch gefragt, aber der Dorfbürgermeister habe es nicht gegeben (VHS Sitzung 8). Wäre davon auszugehen, dass zu ihrem Vater ein zerrüttetes Verhältnis vorliege, fände zwischen ihnen wohl keine derartige Kommunikation in Erwartung einer Unterstützung mehr statt bzw. würde die bP ihren Vater nicht um einen Gefallen ersuchen und würde bei lebensnaher Annahme schon gar keine finanzielle Unterstützung der bP durch ihren Vater gewährt werden. Letztlich bedeutet ein „nicht sehr gutes“ Verhältnis auch nicht, dass dieses schlecht ist. Vielmehr scheinen sich die Eltern der bP nach ihrem Besuch in der Türkei zu sehnen: „Meine Eltern haben gefragt, warum ich sie nicht besuche und nicht zurück in die Türkei komme, sie sind jetzt alt.“ Auch die Geschwister der bP seien lediglich „ein bisschen angefressen“, weil die bP nicht in die Türkei zurückgegangen sei (VHS Sitzung 6).
In der Verhandlung brachte die bP hinsichtlich der in der Einvernahme noch aufgestellten Behauptungen, mit ihren Eltern in Schwierigkeiten geraten zu können, da sie nicht mehr gewillt wäre, den Islam streng auszuleben, trotz offener Fragestellung und abermaliger Nachfrage zu ihren Rückkehrproblematik nichts die Religion betreffendes mehr vor. Auch angesichts dessen, dass nicht festgestellt werden konnte, dass die bP tatsächlich nicht mehr dem islamischen Glauben angehörig ist, wird daher davon ausgegangen, dass diese Problematik bei Rückkehr nicht besteht.
Die bP äußerte nicht, ihren bisherigen regelmäßigen Kontakt zu ihren Familienmitgliedern in der Türkei abgebrochen zu haben und ist dem zuvor Ausgeführten zu entnehmen, dass die bP zu diesen nach wie vor Kontakt unterhält. Die bP brachte diesbezüglich auch keine konkrete entscheidungsrelevante Gefährdung vor und ist davon auszugehen, dass sich das Verhältnis zu ihren Familienangehörigen nicht wesentlich verschlechtert hat und daher gut ist. Bei der bP handelt es sich um einen gesunden, erwachsenen und arbeitsfähigen Mann im besten Alter, der über Berufserfahrung und ein hohes Bildungsniveau verfügt und grundsätzlich in der Lage ist, seien Lebensunterhalt in seinem Heimatland selbst zu bestreiten, sodass eine dauerhafte Unterstützung der bP durch ihre Familie ohnehin nicht notwendig erscheint. Dass angesichts der Sehnsucht, die ihre Eltern nach der bP ausdrücken, nicht damit zu rechnen sei, dass sie sie die bP bei Rückkehr zumindest anfänglich unterstützen würden, ist abwegig.
Selbst wenn der in der Einvernahme vor dem Bundesamt behaupteten Abfall vom Islam glaubhaft wäre – wovon das BVwG wie ausgeführt nicht ausgeht -, stellte schon das Bundesamt richtigerweise fest, dass sich aus der Anfrage an die Staatendokumentation zum Thema „Diskriminierung bei Apostasie oder Nicht-Einhaltung des Ramadan“ ergibt, dass der Abfall vom Islam in konservativen ländlichen Gemeinden zwar durchaus konfliktbeladen sein kann, die Türkei aber laut Verfassung weiterhin ein säkularer Staat ist, in dem Religionsfreiheit herrscht und sowohl das Bekehren von Andersgläubigen als auch die Apostasie straffrei und legal ist.
Zu dem in der Erstbefragung erwähnten Asylgrund der Zwangsverheiratung erstattete die bP im gesamten Verfahren kein weiteres Vorbringen, sodass diese Problematik jede Aktualität vermissen lässt und folglich darauf nicht weiter einzugehen ist.
Es ist aus der Aktenlage nachvollziehbar, dass die bP Präferenzen hat, in Österreich zu leben. Zur Erreichung dieses Zieles scheut die bP offensichtlich nicht davor zurück im Asylverfahren – trotz ergangener Belehrung und Aufforderung die Wahrheit zu sagen und Hinweis auf nachteilige Folgen im Falle wahrheitswidriger Angaben – über persönliche und für das Verfahren maßgebliche Umstände zu täuschen. Die generelle persönliche Glaubwürdigkeit der bP ist daher im Verfahren schwer beeinträchtigt. Zusammenfassend lässt sich hier erkennen, dass die bP dazu tendiert, ihre bisherigen persönlichen Erfahrungen im Herkunftsstaat aus verfahrenstaktischen Gründen nicht den Tatsachen entsprechend bzw. verfälscht oder übersteigert negativ darzustellen, um dadurch einen Aufenthaltstitel über das Asylverfahren zu erlangen.
Ad b) Betreffend ihrer aktuellen, persönlichen Versorgungssituation mit Lebensnotwendigem (insb. Lebensmittel, Unterkunft) im Herkunftsstaat:
Zur Feststellung, dass die bP – die im Herkunftsstaat sozialisiert wurde, dort bis zur Ausreise auch lebte und sich auch seit der Ausreise über die Lage informiert - im Falle der Rückkehr keine persönlichen Probleme hinsichtlich der Versorgungslage in Bezug auf Unterkunft und Nahrung äußerte, ist anzuführen, dass die bP zum maßgeblichen aktuellen Zeitpunkt derartige Probleme bei einer Reintegration im Herkunftsstaat anlässlich der Aufforderung in der Verhandlung alle Probleme anzugeben, die sie im Falle der Rückkehr erwartet, dezidiert nicht vorbrachte.
Abgesehen davon ergeben sich auch aus der aktuellen Berichtslage nicht eine diesbezügliche, über die bloße Möglichkeit hinausgehende allgemeine und exzeptionellen Umstände hinsichtlich der Versorgungslage.
Ad 1.1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
Das BVwG hat durch die zitierten Quellen Beweis erhoben. Die Verfahrensparteien haben sich im Rahmen des dazu vor der Verhandlung gewahrten Parteiengehörs nicht geäußert. Weder wurde von den Parteien somit eine Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit gerügt, noch, dass es aktuellere Berichte gäbe, die ein anderes, für diese Entscheidung maßgebliches Lagebild darlegen würden.
Zur Beurteilung der aktuellen und entscheidungsrelevanten Situation kommt jeweils den jüngsten Erkenntnisquellen besondere Bedeutung zu und ältere dienen im Wesentlichen der Übersicht über die Lageentwicklung.
3. Rechtliche Beurteilung
Nichtzuerkennung des Status als Asylberechtigte/r
Paragraph 3, AsylG
(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.
(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.
(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (Paragraph 5, BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.
(4b) In einem Familienverfahren gemäß Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer eins, gilt Absatz 4, mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.
(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Flüchtling im Sinne von Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK ist eine Person, die aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.
Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern, ob eine vernunftbegabte Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen aus Konventionsgründen wohlbegründete Furcht erleiden würde (VwGH 9.05.1996, 95/20/0380). Dies trifft auch nur dann zu, wenn die Verfolgung von der Staatsgewalt im gesamten Staatsgebiet ausgeht oder wenn die Verfolgung zwar nur von einem Teil der Bevölkerung ausgeübt, aber durch die Behörden und Regierung gebilligt wird, oder wenn die Behörde oder Regierung außerstande ist, die Verfolgten zu schützen (VwGH 04.11.1992, 92/01/0555 ua.).
Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005 ist eine Verfolgung jede Verfolgungshandlung im Sinne des Artikel 9, Statusrichtlinie. Demnach sind darunter jene Handlungen zu verstehen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15, Absatz 2, EMRK keine Abweichung zulässig ist (Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft, Keine Strafe ohne Gesetz) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon – wie in ähnlicher beschriebenen Weise – betroffen ist.
Nach der auch hier anzuwendenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine Verfolgung weiters ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, 94/20/0858; 14.10.1998, 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, 95/20/0194).
Verfolgung kann nur von einem Verfolger ausgehen. Verfolger können gemäß Artikel 6, Statusrichtlinie der Staat, den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschende Parteien oder Organisationen oder andere Akteure sein, wenn der Staat oder die das Staatsgebiet beherrschenden Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewähren.
Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes müssen konkrete, den Asylwerber selbst betreffende Umstände behauptet und bescheinigt werden, aus denen die von der zitierten Konventionsbestimmung geforderte Furcht rechtlich ableitbar ist vergleiche zB vom 08.11.1989, 89/01/0287 bis 0291 und vom 19.09.1990, 90/01/0113). Der Hinweis eines Asylwerbers auf einen allgemeinen Bericht genügt dafür ebenso wenig wie der Hinweis auf die allgemeine Lage, zB. einer Volksgruppe, in seinem Herkunftsstaat vergleiche VwGH 29.11.1989, 89/01/0362; 05.12.1990, 90/01/0202; 05.06.1991, 90/01/0198; 19.09.1990, 90/01/0113).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.
Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Der Antrag war nicht bereits gemäß §§4, 4a oder 5 AsylG zurückzuweisen.
Nach Ansicht des BVwG sind die dargestellten Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status als Asylberechtigter, nämlich eine glaubhafte Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat aus einem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK angeführten Grund nicht gegeben.
Wie sich aus den oa. Erwägungen ergibt, ist es der bP nicht gelungen eine solche aus ihrer dargelegten Ausreisemotivation und Rückkehrbefürchtung glaubhaft zu machen. Hinsichtlich der Nichtglaubhaftmachung wird hier ausdrücklich auf die Ausführungen in der Beweiswürdigung verwiesen.
Auch die allgemeine Lage ist im Herkunftsstaat nicht dergestalt, dass sich konkret für die beschwerdeführende Partei eine begründete Furcht vor einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung ergeben würde.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Nichtzuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigte/r
Paragraph 8, AsylG
(1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz eins, ist mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach Paragraph 7, zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht.
(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Absatz eins, oder aus den Gründen des Absatz 3, oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß Paragraph 9, Absatz 2, vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
(5) In einem Familienverfahren gemäß Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer 2, gilt Absatz 4, mit der Maßgabe, dass die zu erteilende Aufenthaltsberechtigung gleichzeitig mit der des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, endet.
(6) Kann der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden, ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen. Diesfalls ist eine Rückkehrentscheidung zu verfügen, wenn diese gemäß Paragraph 9, Absatz eins und 2 BFA-VG nicht unzulässig ist.
(7) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten erlischt, wenn dem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird.
Artikel 2, EMRK lautet:
„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. (2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt: a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen; b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern; c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.
Während das 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.
Artikel 3, EMRK lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche zB VwGH 26.06.2019, Ra 2019/20/0050) ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Artikel 3, EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Artikel 3, EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Artikel 3, EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Artikel 3, EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Artikel 3, EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen.
Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder Artikel 3, EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. Der EuGH hat dazu festgehalten, dass das "Vorliegen einer solchen Bedrohung ... ausnahmsweise als gegeben angesehen werden" kann, "wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt (...) ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region ‚allein durch ihre Anwesenheit‘ im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein" vergleiche EuGH 17.2.2009, C-465/07, Elgafaji, Rn. 35). Auch wenn der EuGH in dieser Rechtsprechung davon spricht, dass es sich hiebei um "eine Schadensgefahr allgemeinerer Art" handelt (Rn. 33), so betont er den "Ausnahmecharakter einer solchen Situation" (Rn. 38), "die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre" (Rn. 37). Diesen Ausnahmecharakter betonte der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung, Urteil vom 30. Jänner 2014, C-285/12, Diakite, Rn. 30.
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Artikel 3, EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen vergleiche zum Ganzen VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).
Weiters hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Artikel 3, EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt vergleiche VwGH 23.03.2017, Ra 2017/20/0038 bis 0040; 06.11.2018, Ra 2018/01/0106, jeweils mwN).
Ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte ist die Behörde / das Bundesverwaltungsgericht nicht verpflichtet jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen vergleiche VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314, mwN). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (zB ihre familiäre [VwGH 14.02.2002, 99/18/0199 ua], gesundheitliche [VwSlg 9721 A/1978; VwGH 17.10.2002, 2001/20/0601; 14.06.2005, 2005/02/0043], oder finanzielle [vgl VwGH 15.11.1994, 94/07/0099] Situation), von dem sich die Behörde nicht amtswegig Kenntnis verschaffen kann vergleiche auch VwGH 24.10.1980, 1230/78), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht und Darlegungslast des Asylwerbers (VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279).
Dies entspricht der sich insbes. aus Paragraph 15, AsylG ergebenden Mitwirkungsverpflichtung sowie aus der Verfahrensförderungspflicht des Paragraph 39, Absatz 2 a, AVG, wonach jede Partei ihr Vorbringen so rechtzeitig und vollständig zu erstatten hat, dass das Verfahren möglichst rasch durchgeführt werden kann.
Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Im gegenständlichen Fall ist es der bP nicht gelungen, ihre vorgebrachte individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr im dargestellten Ausmaß glaubhaft zu machen, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.
Die bP hat im Verfahren keine relevanten Erkrankungen dargelegt, weshalb sich daraus kein Rückkehrhindernis ergibt.
Unter Berücksichtigung der individuellen Situation der bP ist festzuhalten, dass hinsichtlich der Lebensbedingungen in ihrem Herkunftsstaat von einer lebensbedrohenden Notlage, welche bei einer Rückkehr die reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung iSd Artikel 3, EMRK indizieren würde, aus Sicht des BVwG nicht gesprochen werden kann. Dies wurde von der bP weder konkret dargelegt noch kann dies amtswegig festgestellt werden.
Es kam im Verfahren nicht hervor, dass konkret für die bP im Falle einer Rückverbringung in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr bestünde, als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt zu sein.
Dies wäre nur dann der Fall, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrschen würde, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, und stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat vorliegen. Dies wäre dann der Fall, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Artikel 2, oder 3 MRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (VwGH 01.03.2018, Ra 2017/19/0425).
Die bP hat in der Verhandlung persönlich nicht vorgebracht, dass sie im Falle einer aktuellen Rückkehr, insbesondere hinsichtlich der Erlangung von Lebensmittel oder Unterkunft, Probleme erwarten würde. Es ist festzuhalten, dass die bP, welche im Herkunftsstaat sozialisiert wurde und der die dortige Situation hinreichend bekannt ist, in der Verhandlung im Rahmen einer suggestionsfreien, offenen Fragestellung aufgefordert wurde, „alle Probleme“ anzuführen, die sie aus aktueller Sicht im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat erwarten würde. Dabei äußerte sie insbesondere nicht, dass sie selbst hinsichtlich der Lebensbedingungen in Bezug auf die Erlangung von Lebensnotwendigem, wie etwa Nahrungsmittel oder Unterkunft, Probleme erwarten würde. Gerade bei solchen Umständen, die in der persönlichen Sphäre des zu bewerteten Staat aufgewachsenen und sozialisierten Fremden liegen, kommt der persönlichen Aussage dazu besondere Bedeutung zu.
Es bedurfte daher diesbezüglich nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keiner weiteren Auseinandersetzung mit aus maßgeblicher aktueller Sicht gar nicht vorgebrachter persönlicher Rückkehrproblematik. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann die Beurteilung eines „gar nicht erstatteten Vorbringens“ mitunter sogar auch zu einer vom VwGH wahrzunehmenden Rechtsverletzung führen vergleiche zB VwGH 09.09.2010, 2007/20/0558 bis 0560; 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).
Abgesehen vom Faktum, dass die bP zuletzt nicht äußerte, dass sie aktuell im Falle der Rückkehr nicht in der Lage wäre, das zum Leben unbedingt Erforderliche erlangen zu können, ist Folgendes anzumerken:
Bei der bP handelt es sich um einen gesunden, arbeitsfähigen Mann mit Schulbildung, der in der Türkei sozialisiert wurde, der die Landessprache spricht und dort auch nach wie vor über familiäre / verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte verfügt. Die bP war auch vor der Ausreise schon im Herkunftsstaat als Geschäftsführer der elterlichen Tankstelle erwerbstätig und sammelte in Österreich Erfahrungen in der Gastronomie. Unter Zugrundelegung dieses Persönlichkeitsprofiles und der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ist somit nicht ersichtlich, weshalb gerade bei der bP eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende exzeptionelle Gefahr bestünde, dass sie im Falle der Rückkehr in eine aussichtslose und damit Artikel 3, EMRK relevante Lage geraten sollte. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fordert das Prüfungskalkül des Artikel 3, EMRK für die Annahme einer solchen Menschenrechtsverletzung das Vorhandensein einer die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz bedrohenden Lebenssituation unter exzeptionellen Umständen (VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095), was gegenständlich nicht vorliegt.
Es wäre der bP zumutbar, durch eigene und notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. ihrer Eltern oder ihres in Österreichs aufhältigen Bruder – erforderlichenfalls unter Anbietung ihrer gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung – jedenfalls auch nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, beizutragen, um das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer 'Schatten- oder Nischenwirtschaft' stattfinden. Auf kriminelle Aktivitäten wird hiermit nicht verwiesen.
Ergänzend ist anzuführen, dass auch eine Rückkehrhilfe (über diese wird im erstinstanzlichen Verfahren schon informiert) als Startkapital für die Fortsetzung des bisherigen Lebens in der Türkei gewährt werden kann.
Auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ergibt sich somit kein „reales Risiko“, dass es derzeit durch die Rückführung der beschwerdeführenden Partei in den Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe kommen würde.
Es war unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher zu Recht kein Status als subsidiär Schutzberechtigter zu gewähren.
Kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen / Rückkehrentscheidung
Paragraph 10, AsylG Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme
(1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß Paragraphen 4, oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß Paragraph 5, zurückgewiesen wird,
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und in den Fällen der Ziffer eins und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, nicht erteilt wird.
(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55,, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des Paragraph 58, Absatz 9, Ziffer eins bis 3 vorliegt.
Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Aufenthaltstitel gem. Paragraph 57, AsylG
Gegenständlich wurde der Antrag auf internationalen Schutz gem. Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch in Bezug auf den Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen.
Zu prüfen ist nunmehr gem. Absatz 2, leg cit von Amts wegen, ob der bP ein Aufenthaltstitel gem. Paragraph 57, AsylG zukommt
Paragraph 57, AsylG Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz
(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Absatz eins, Ziffer 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Absatz 3 und Paragraph 73, AVG gehemmt.
(3) Ein Antrag gemäß Absatz eins, Ziffer 2, ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.
(4) Ein Antrag gemäß Absatz eins, Ziffer 3, ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können.
Ein Sachverhalt, wonach der bP gem. Paragraph 57, Absatz eins, Ziffer eins -, 3, AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen wäre, liegt hier nicht vor.
Da sich die bP nach Abschluss des Verfahrens nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG [Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung] fällt und ihr auch amtswegig kein Aufenthaltstitel gem. Paragraph 57, AsylG zu erteilen war, ist diese Entscheidung gem. Paragraph 10, Absatz 2, AsylG mit einer Rückkehrentscheidung gem. dem 8. Hauptstück des FPG [Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Fremde] zu verbinden.
Dem zur Folge hat das Bundesamt gemäß Paragraph 52, Absatz eins, FPG [Rückkehrentscheidung] gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (Z1) oder nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde (Z2).
Gemäß Absatz 2, leg cit hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Z2) und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Die bP ist Staatsangehörige der Türkei und keine begünstigte Drittstaatsangehörige. Es kommt ihr auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher ist gegenständlich gem. Paragraph 52, Absatz 2, FPG die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zu prüfen.
Rückkehrentscheidung
Das Bundesamt hat gegenständlich entschieden, dass zur Erreichung von in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Interessen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung dringend geboten ist.
Gemäß Paragraph 52, FPG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens in Österreich käme:
Paragraph 9, BFA-VG
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraph 45, oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.
Anmerkung, Absatz 4, aufgehoben durch Artikel 4, Ziffer 5,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 56 aus 2018,)
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraphen 52, Absatz 4, in Verbindung mit 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 4, FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß Paragraph 53, Absatz 3, FPG vorliegen. Paragraph 73, Strafgesetzbuch (StGB), Bundesgesetzblatt Nr. 60 aus 1974, gilt.
Artikel 8, EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“
Für die Beurteilung, ob ein relevantes Privat- und/oder Familienleben iSd Artikel 8, EMRK vorliegt, wird auf die im Erkenntnis des BVwG v. 16.01.2019, L504 1314867-3, dargestellte höchstgerichtliche Judikatur verwiesen.
Ob eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes sowie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Dabei obliegt es dem Fremden integrationsbegründende Umstände, denen maßgebliche Bedeutung zukommen könnte, geltend zu machen vergleiche etwa VwGH 22.01.2014, 2012/22/0245).
Nicht näher substantiierte – bloße – Behauptungen können keine maßgebliche Verstärkung der Interessen des Fremden dartun vergleiche etwa VwGH 24.09.2009, 2009/18/0294).
Auf Grund der Ermittlungsergebnisse ergibt sich das Vorhandensein eines relevanten Privatlebens iSd Artikel 8, EMRK.
Die Beziehung der bP zu ihrem ebenfalls in Österreich lebenden Bruder erfüllt mangels eines wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisses nicht die Kriterien eines Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK, weshalb sie nur unter den Schutzbereich ihres Privatlebens in Österreich fällt.
Da die Rückkehrentscheidung somit einen Eingriff in das Recht auf Privatleben darstellt, bedarf es diesbezüglich einer Abwägung der persönlichen Interessen an einem Verbleib mit den öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendung, somit, ob eine Rückkehrentscheidung zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Im vorliegenden Fall ist der Eingriff gesetzlich vorgesehen und verfolgt gem. Artikel 8, Absatz 2, EMRK legitime Ziele, nämlich
● die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, worunter auch die geschriebene Rechtsordnung zu subsumieren ist;
● die Verteidigung der Ordnung und Verhinderung von strafbaren Handlungen.
Unter Zugrundelegung der Abwägungskriterien und der Ermittlungsergebnisse (einschließlich der Beschwerdeangaben) ergibt sich Folgendes:
Für die bP spricht im Wesentlichen, dass sie seit 2011 im Bundesgebiet ist. Außergewöhnliche Integrationserfolge in gesellschaftlicher, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht vermag sie unter Berücksichtigung aller von ihr vorgebrachten Umstände und Bescheinigungsmittel nicht vorzuweisen. Die bP vermochte sich auf Deutsch mündlich gut zu verständigen, sodass ihr Sprachniveau zwischen A1 und A2 liegt, wiewohl sie keine Prüfungen gem. GER für Sprachen erfolgreich abgelegt hat, woran letztlich ua auch die Möglichkeit zu Studieren gescheitert ist. Am 21.02.2022 meldete die bP das Gewerbe der „Reinigung von Polstermöbeln und nicht fest verlegten Teppichen“ an und ist seit 15.04.2022 gewerblich selbstständig tätig. Sie gibt ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von ca. EUR 3.000,- an.
Gegen die bP spricht, dass sie ihren Aufenthalt in Österreich nur unter Vorspiegelung der Aufnahme eines Studiums einen befristeten Aufenthaltstitel erhielt. Als dieser nicht verlängert wurde, versuchte sie mittels Scheinehe ihren weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu legalisieren und als ihr dies nicht gelang, stellte sie – nach weiterem, nicht rechtmäßigen Aufenthalt - einen Asylantrag. Dieses Verhalten verstößt gröblich gegen ein geordnetes Fremdenrecht. Die bP verletzte ihre Meldepflicht besonders gravierend, indem sie in einem Zeitraum, als sie über keinen Aufenthaltstitel mehr verfügte, untertauchte. Weiters ist die bP viermal einer Ladung des Bundesamtes unentschuldigt ferngeblieben und hat damit nicht nur ihre Mitwirkungspflicht verletzt, sondern durch ihr Verhalten auch gezeigt, dass sie nicht gewillt ist, sich der österreichischen Rechtsordnung zu unterwerfen.
Die bP wurde vom BG Mödling am 11.12.2018 rechtskräftig wegen des Vergehens nach Paragraphen 117, (1), 117 (4) FPG und Paragraph 293, (2) zu einer Geldstrafe von 200 Tags zu je 4,00 EUR (800,00) im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt.
Aus dem Betreuungsinformationssystem ergibt sich, dass die bP lediglich im Jahr 2018 für zwei Monate Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezog. Die bP wird von ihren Eltern und dem in Österreich aufhältigen Bruder unterstützt. Durch Inanspruchnahme der staatlichen Leistung bekundet sie finanzielle Hilfsbedürftigkeit. Seit 15.04.2022 ist die bP jedoch gewerblich selbstständig tätig und dem angegebenen Einkommen nach wirtschaftlich selbsterhaltungsfähig.
Im Rahmen der Abwägung ist einleitend anzumerken, dass es im Sinne des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 8, BFA-VG grds. maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich (spätestens nach Abweisung seines unbegründeten Antrags auf internationalen Schutz durch das Bundesamt) die bP ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (VwGH 10.04.2017, Ra 2016/01/0175). Daran kann auch eine allenfalls lange Dauer eines Rechtsmittelverfahrens, mag den Fremden daran auch kein Verschulden treffen, nichts ändern (VwGH 15.03.2018, Ra 2018/21/0034).
Bei der Interessensabwägung ist unter dem Gesichtspunkt des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 5, BFA-VG (Bindungen zum Heimatstaat) auch auf die Frage der Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat Bedacht zu nehmen (VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0135). Ein diesbezügliches Vorbringen hat freilich im Rahmen der Gesamtabwägung nicht in jeder Konstellation Relevanz. Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Heimatland vermögen deren Interesse an einem Verbleib in Österreich nicht in entscheidender Weise zu verstärken, sondern sind vielmehr – letztlich auch als Folge eines seinerzeitigen, ohne ausreichenden [die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich vorgenommenen Verlassens ihres Heimatlandes – im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0188 mwN).
Gegenständlich kamen keine unüberbrückbaren Hindernisse hervor, wonach die bP nicht wieder in der Türkei eine Existenz aufbauen könnte.
Eine Trennung der Ehepartner ist nur dann gerechtfertigt, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung und den „Familiennachzug“ (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271). Bei der Ehe mit der ungarischen Staatsbürgerin handelte es sich um eine Aufenthaltsehe, weshalb die bP vom BG verurteilt wurde. Die bP hat zu dieser keinen Kontakt und ist auch in Unkenntnis ihres gegenständlichen Aufenthaltsortes.
Die bP befindet sich im Verhältnis zu ihrem Alter erst sehr kurze Zeit im Bundesgebiet. Sie wurde in der Türkei sozialisiert und hat dort bei weitem ihr überwiegendes Leben verbracht. Sie verfügt dort auch über Familienangehörige. Von einer Entwurzelung kann daher nicht gesprochen werden. Zu ihrem in Österreich aufhältigen Bruder hat die bP nur ein- bis zweimal im Monat Kontakt und ist von diesem auch finanziell nicht abhängig.
Ein behördliches Verschulden, welche die zeitliche Komponente dermaßen in den Vordergrund treten lassen würde, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unzulässig sei, kann aus der Aktenlage nicht entnommen werden und wurde von der bP auch nicht konkret vorgebracht (in Bezug auf ein gewisses Behördenverschulden in Bezug auf die Verfahrensdauer vergleiche auch bei Vorliegen weitaus engeren Bindungen im Sinne des Artikel 8, EMRK und einem ca. zehnjährigen Aufenthalt im Staat der Antragstellung das Urteil des EGMR Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).
Auch eine langjährige Abwesenheit vom Herkunftsstaat, unter schwierigen äußeren Verhältnissen, die bei einer Rückkehr einer Gefährdung der Existenzgrundlage nahe kommen könnte, vermag dieser Umstand, angesichts ihres Verhaltens (missbräuchlich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, um unter Umgehung der fremdenrechtlichen Vorschriften ihren Aufenthalt in Österreich "quasi zu erzwingen") der Erlassung einer Rückkehrentscheidung für sich betrachtet noch nicht im Wege stehen (VwGH 05.10.2017, Ra 2017/21/0119).
Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 02.10.1996, 95/21/0169; 28.06.2007, 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).
Nach Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofes kann ein allein durch freigänge Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt keinen Rechtsanspruch aus Artikel 8, EMRK bewirken vergleiche idS VfSlg. 14.681/1996 sowie VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007 wenn auch zu anderen Verwaltungsrechtsmaterien). Eine andere Auffassung würde sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen (VfGH 12.06.2010, U613/10).
Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und unter Einbeziehung der oa. Judikatur der Höchstgerichte ist gegenständlich ein überwiegendes öffentliches Interesse – nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, konkret das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung und Stärkung der Einwanderungskontrolle sowie zur Verhinderung von strafbaren Handlungen insbesondere in Bezug auf den verwaltungsstrafrechtlich pönalisierten, nicht rechtmäßigen Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet, an der Aufenthaltsbeendigung der beschwerdeführenden Partei festzustellen, das ihre Interessen an einem Verbleib in Österreich überwiegt. Die Rückkehrentscheidung ist daher als notwendig und nicht unverhältnismäßig zu erachten.
Die persönlichen Bindungen in Österreich lassen keine besonderen Umstände im Sinn des Artikel 8, EMRK erkennen, die es der beschwerdeführenden Partei schlichtweg unzumutbar machen würde, auch nur für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Aufenthalts- bzw. Niederlassungsverfahrens in ihr Heimatland zurückzukehren vergleiche zB. VwGH 25.02.2010, 2008/18/0332; 25.02.2010, 2008/18/0411; 25.02.2010, 2010/18/0016; 21.01.2010, 2009/18/0258; 21.01.2010, 2009/18/0503; 13.04.2010, 2010/18/0087; 30.04.2010, 2010/18/0111; 30.08.2011, 2009/21/0015), wobei bei der Rückkehrentscheidung mangels gesetzlicher Anordnung hier nicht auf das mögliche Ergebnis eines nach einem anderen Gesetz durchzuführenden (Einreise- bzw. Aufenthalts)Verfahrens Bedacht zu nehmen ist vergleiche VwGH 18.09.1995, 94/18/0376).
Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privatleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass einwanderungswillige Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Asylantragstellung, allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet, in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrages unterlassen und in rechtskonformer Art und Weise vom Ausland aus ihren Antrag auf Erteilung eines Einreise- bzw. Aufenthaltstitels stellen, sowie die Entscheidung auch dort abwarten, letztlich schlechter gestellt wären, als jene Fremde, welche, einer geordneten Zuwanderung widersprechend, genau zu diesen verpönten Mitteln greifen, um ohne jeden sonstigen anerkannten Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich zu erzwingen bzw. zu legalisieren. Dies würde in letzter Konsequenz wohl zu einer unsachlichen Differenzierung der einwanderungswilligen Fremden untereinander führen vergleiche Estoppel-Prinzip bzw. auch den allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen, VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007) und würde angesichts der Publizitätswirksamkeit der Asylentscheidungen wohl den Nachzieheffekt für andere einwanderungswillige Fremde in Richtung nicht rechtmäßiger Zuwanderung in Verbindung mit rechtsmißbräuchlicher Asylantragstellung verstärken.
Es erfolgte daher zu Recht die Erlassung einer Rückkehrentscheidung.
Zulässigkeit der Abschiebung
Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
Paragraph 50, FPG Verbot der Abschiebung
(1) Die Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
(2) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Artikel 33, Ziffer eins, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974,), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005).
(3) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Die Zulässigkeit der Abschiebung der bP in ihren Herkunftsstaat ist gem. Paragraph 46, FPG gegeben, da nach den gegenständlichen, die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des Paragraph 50, FPG ergeben würden.
Frist für freiwillige Ausreise
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
Paragraph 55, FPG Frist für die freiwillige Ausreise
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß Paragraph 68, AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß Paragraph 18, BFA-VG durchführbar wird.
(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. Paragraph 37, AVG gilt.
(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß Paragraph 18, Absatz 2, BFA-VG aberkannt wurde.
(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Absatz eins, ist mit Mandatsbescheid (Paragraph 57, AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.
Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Das Bundesamt hat die Frist für die freiwillige Ausreise gegenständlich iSd Paragraph 55, Absatz 2, FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides festgelegt. In der Beschwerde wurde dem nicht konkret entgegengetreten. Insbesondere wurden keine besonderen Umstände dargelegt, wonach eine längere Frist erforderlich wäre.
Einreiseverbot
Das Bundesamt ein Einreiseverbot für die Dauer von 5 Jahren verhängt und dieses auf Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 2, Ziffer 8, FPG gestützt.
Paragraph 53, Einreiseverbot
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
Anmerkung, Absatz eins a, aufgehoben durch Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2013,)
(2) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist, vorbehaltlich des Absatz 3,, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige
1. wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß Paragraph 20, Absatz 2, der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, in Verbindung mit Paragraph 26, Absatz 3, des Führerscheingesetzes (FSG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 120 aus 1997,, gemäß Paragraph 99, Absatz eins,, 1 a, 1 b oder 2 StVO, gemäß Paragraph 37, Absatz 3, oder 4 FSG, gemäß Paragraph 366, Absatz eins, Ziffer eins, der Gewerbeordnung 1994 (GewO), BGBl. Nr. 194, in Bezug auf ein bewilligungspflichtiges, gebundenes Gewerbe, gemäß den Paragraphen 81, oder 82 des SPG, gemäß den Paragraphen 9, oder 14 in Verbindung mit Paragraph 19, des Versammlungsgesetzes 1953, BGBl. Nr. 98, oder wegen einer Übertretung des Grenzkontrollgesetzes, des Meldegesetzes, des Gefahrengutbeförderungsgesetzes oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist;
2. wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1 000 Euro oder primären Freiheitsstrafe rechtskräftig bestraft wurde;
3. wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist, sofern es sich dabei nicht um eine in Absatz 3, genannte Übertretung handelt;
4. wegen vorsätzlich begangener Finanzvergehen oder wegen vorsätzlich begangener Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden ist;
5. wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften, mit denen die Prostitution geregelt ist, rechtskräftig bestraft worden ist;
6. den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag;
7. bei einer Beschäftigung betreten wird, die er nach dem AuslBG nicht ausüben hätte dürfen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige hätte nach den Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes für denselben Dienstgeber eine andere Beschäftigung ausüben dürfen und für die Beschäftigung, bei der der Drittstaatsangehörige betreten wurde, wäre keine Zweckänderung erforderlich oder eine Zweckänderung zulässig gewesen;
8. eine Ehe geschlossen oder eine eingetragene Partnerschaft begründet hat und sich für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, zwecks Zugangs zum heimischen Arbeitsmarkt oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen, aber mit dem Ehegatten oder eingetragenen Partner ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK nicht geführt hat oder
9. an Kindes statt angenommen wurde und die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, der Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt oder die Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausschließlicher oder vorwiegender Grund für die Annahme an Kindes statt war, er jedoch das Gericht über die wahren Verhältnisse zu den Wahleltern getäuscht hat.
(3) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Ziffer 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;
2. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;
3. ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist;
4. ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;
5. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;
6. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (Paragraph 278 a, StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (Paragraph 278 b, StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (Paragraph 278 c, StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (Paragraph 278 d, StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (Paragraph 278 e, StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (Paragraph 278 f, StGB);
7. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet;
8. ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt oder
9. der Drittstaatsangehörige ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt.
(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.
(5) Eine gemäß Absatz 3, maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. Paragraph 73, StGB gilt.
(6) Einer Verurteilung nach Absatz 3, Ziffer eins,, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 15.12.2011, Zahl 2011/21/0237 zur Rechtslage vor dem FPG idgF (in Kraft seit 01.01.2014) erwogen, dass bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbotes nach dem FrÄG 2011 eine Einzelfallprüfung vorzunehmen vergleiche ErläutRV, 1078 BlgNR 24. Gesetzgebungsperiode 29 ff und Artikel 11, Absatz 2, Rückführungs-RL) sei. Dabei hat die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchen zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, MRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Ziffer eins bis 9 des Paragraph 53, Absatz 2, FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 anzunehmen.
In den Fällen des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinne der Ziffer 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht.
Zudem ist festzuhalten, dass - wie schon nach bisheriger Rechtslage vergleiche VwGH 20.11.2008, 2008/21/0603) - in Bezug auf strafgerichtliche Verurteilungen nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern immer auf das zugrunde liegende Verhalten (arg.: Einzelfallprüfung) abzustellen ist. Maßgeblich sind Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild; darauf kommt es bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots an.
Paragraph 53, Absatz 3, FPG idgF hat im Vergleich zur Rechtslage vor dem 01.01.2014 keine inhaltliche Änderung erfahren. Daraus ist zu schließen, dass auch in Bezug auf die vom VwGH statuierten (obgenannten) Kriterien, die bei der Verhängung des Einreiseverbots und seiner Dauer zur Anwendung gelangen sollen, kein Wandel stattgefunden hat. Aus diesem Grund erachtet das Bundesverwaltungsgericht diese auch nach wie vor als anwendbar. Bei der Stellung der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in Paragraph 53, Absatz 3, FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 umschriebene Annahme gerechtfertigt ist (VwGH 19.02.2013, 2012/18/0230).
Es bestehen keine (verfassungsrechtlichen) Bedenken dagegen, dass das Gesetz bei den Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes im Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer 8, FrPolG 2005 nicht auf das Vorliegen einer rechtskräftigen gerichtlichen Bestrafung des Fremden wegen Beteiligung am Eingehen einer Aufenthaltsehe nach Paragraph 117, Absatz eins, oder 2 in Verbindung mit Absatz 4, FrPolG 2005 abstellt, sondern nur auf das in der erstgenannten Bestimmung umschriebene Verhalten. Die Behörde ist daher befugt, das Vorliegen eines solchen Verhaltens selbständig zu prüfen und auf Basis entsprechender Feststellungen ein Einreiseverbot zu erlassen. Das gilt sinngemäß auch für ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FrPolG 2005. Das korrespondiert auch mit der generellen Auffassung, ein Fehlverhalten kann auch dann zur Beurteilung der für ein Aufenthaltsverbot erforderlichen Gefährdungsprognose herangezogen werden, wenn dieses Verhalten (noch) nicht zu einer gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Bestrafung geführt hat. Eine solche Vorgangsweise verstößt auch nicht gegen die Unschuldsvermutung, wobei es in einem solchen Fall - sofern das Fehlverhalten bestritten wird - "selbstverständlich" in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren getroffener Feststellungen bedarf vergleiche E 22. Jänner 2014, 2012/22/0246; E 24. Jänner 2012, 2010/18/0264; E 21. Februar 2013, 2012/23/0042).
Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Das Bundesamt hat von ihrem Ermessen zur Erlassung eines Einreiseverbotes Gebrauch gemacht und hat dieses gem. Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer 8, FPG mit dem Höchstmaß von fünf Jahren festgesetzt.
Wie sich aus den Feststellungen ergibt, stellt das bisher gesetzte Verhalten, um sich in Österreich aufhalten zu können, welches zu einer Verurteilung nach dem FPG und nach dem StGB führte, eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit iSd Paragraph 53, Absatz 2, FPG dar und läuft das Gesamtverhalten mit der Täuschung und dem zum Teil nicht rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet auch anderen, in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen, wie etwa jenem an einem geordneten Fremdenwesen zuwider.
Die bP wurde vom BG Mödling am 06.12.2018, rechtskräftig am 11.12.2018 wegen Paragraphen 117, (1), 117 (4) FPG und Paragraph 293, (2) StGB zu einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen verurteilt. Davon ausgehend stütze sich das Bundesamt zu Recht auf das Eingehen einer „Aufenthaltsehe“ und damit auf eine Erfüllung des Tatbestandes des Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer 8, FPG.
Auch was die gewählte Dauer des Einreiseverbotes betrifft, ist diese als angemessen anzusehen. In Bezug auf die zeitliche Dauer des gegen die bP erlassenen Einreiseverbots gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 2, Ziffer 8, FPG im Höchstausmaß von 5 Jahren war ihr grobes Fehlverhalten, was die Ein- und Ausreise in europäische Mitgliedstaaten regelnden Bestimmungen angeht, zu berücksichtigen. Besonders schwer ins Gewicht fällt der Umstand, dass sich die bP den ersten Einreise- bzw. Aufenthaltstitel (Studierender) bereits erschlichen hat, zumal sie nie in Österreich studiert hat bzw. nicht wirklich ernsthaft beabsichtigte. Nachdem der ihr zuletzt erteilte Aufenthaltstitel mit dem Zweck Studierender nicht mehr verlängert wurde, ging die bP zur Erlangung eines Aufenthaltstitels eine Aufenthaltsehe mit einer ungarischen Staatsbürgerin ein, weswegen sie auch vom BG Mödling rechtskräftig verurteilt wurde.
Anstatt ihrer Ausreiseverpflichtung nachzukommen, stellte die bP sodann, nach mehrmonatigem rechtswidrigem Aufenthalt und Verschleierung ihres tatsächlichen Aufenthaltsortes für die Behörden, einen als rechtsmißbräuchlich zu wertenden Antrag auf internationalen Schutz und konnte dadurch auf Grund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG weiterhin im Bundesgebiet verbleiben, was deutlich ihr bewusstes Ignorieren der fremdenrechtlichen Bestimmungen in Österreich darlegt, weshalb insgesamt von einem negativen Persönlichkeitsbild der bP auszugehen ist.
Von einem positiven Gesinnungswandel in kurzer Zeit konnte somit nicht ausgegangen werden. Sie war in Österreich während ihres Aufenthaltes als „Student“ 13 Monate beschäftigt. Zu bedenken ist ferner der (finanzielle) Schaden, den die bP im Falle der Aufrechterhaltung der Scheinehe wie seines Verbleibs in Österreich der Republik Österreich durch die Vorspiegelung falscher Tatsachen zugefügt hätte, zumal ihm im Falle eines Verbleibs im Bundesgebiet die Inanspruchnahme zahlreicher Leistungen offen gestanden wäre, die er als Drittstaatsangehöriger ohne ehelich abgeleiteten Aufenthaltstitel nicht hätte konsumieren können. In letzter Konsequenz erwies sich die 5jährige Dauer des Einreiseverbotes als angemessen.
Da sich sowohl das Einreiseverbot an sich, als auch die Befristung dieses als rechtmäßig erweisen, war die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
ECLI:AT:BVWG:2023:L504.2208114.2.00